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Sechstes Kapitel.
Burgei.

Sehen wir auch treffliche Menschen, die sich für die Durchführung eines guten Werkes vereinigt, in Zeiten der Gefahr nicht immer standhaft bleiben, so darf uns Wankelmut bei Menschen nicht wundern, welche Genossen eines verwerflichen Unternehmens, eines Verbrechens, gewesen.

Zu denjenigen, die ihren inneren und äußeren Halt bei der Rückkehr des Grafen verloren, zählte der Schlossamtmann in erster Reihe; Furcht und Gewissensbisse halfen zusammen, den Mann zunächst auf persönliche Sicherheit bedacht zu machen.

Und so waren seine Vorbereitungen auch bald getroffen, seine leicht bewegliche Habe beisammen.

Der Graf hatte nach seiner Rückkehr kaum sein Zimmer betreten, als Schlossamtmann Beiwart, in wilder, fieberhafter Aufregung und seinen Sohn mit krampfhafter Hand hinter sich her ziehend, nach einem abgelegenen Teile des Schlossgartens eilte und dort nach sorgfältiger Umschau mit halb erstickter Stimme sagte:

»Mein Sohn – wir müssen fort, wir müssen fliehen – und sogleich!«

»Fliehen, Vater? Wohin? Auch ich?« fragte der Sohn bestürzt.

»Frage nicht! Rüste Dich mit dem Nötigsten!« fuhr Beiwart fort: »Reise sogleich! Und hier …«, erdrückte ihm ein Blatt Papier in die Hand – »hier ist Ort und Stelle bezeichnet, wo wir und wieder sehen … Fort jetzt – ohne Widerrede – fort, mein Sohn!«

»Ich soll den Pächter und die Seinigen nicht mehr sehen? Ihnen nicht mehr Trost zusprechen?«

»Fort, mein Sohn! Hinweg, sag' ich!«

»Ohne Abschied von den Unglücklichen?«

»Soll ich Dich kniefällig bitten – Dein unglücklicher Vater? … Seh' und tröste den Pächter später; – auch zu seinem Besten ist, was ich Dir zu vertrauen habe!«

»So will ich denn – doch schweren Herzens …«

»Ja, mein Sohn – Deinem Vater zu Liebe – Deinem unglücklichen Vater!« rief Beiwart und fiel Otfried um den Hals.

»Lebt wohl! Auf Wiedersehen!«

»Leb' wohl! … Nur zwei Worte noch mit dem Junker – ich folge Dir! …«

Dieser Abschied wurde in demselben Augenblicke genommen, in welchem ein tief erschütterndes Wiedersehen den Pächter Lotfahr mit seinen Kindern Remi und Burgei wieder zusammenführte.

Die Begrüßung des von der Sterbestelle des Weibes zurückkehrenden Vaters und seiner aus dem Turm entlassenen Kinder war wortlos und deshalb umso ergreifender.

Stumm eilte man sich entgegen und umschlang sich weinend und von Schmerz zusammenzuckend. Nicht einmal die Rufe »Vater!« und »Meine Kinder!« wurden hörbar.

Wortlos, wie man sich begrüßt, ging man dann eine Strecke weiter, nach dem Pachthofe Lotfahrs zu. Der Pächter, in der Mitte gehend, hielt rechts den Sohn Remi in seinem Arme, links sein Töchterlein Burgei. In einiger Entfernung folgte Tobias, der den Auftrag hatte, das jüngste Kind aus dem Hause eines fernen Verwandten abzuholen …

Es war eine trauererregende Gruppe, die sich so über den Wiesengrund langsam hinbewegte – denselben Weg, den vor Wochen der Junker, vertraulich und schmeichelnd an der Seite des Pächters ging, um ihn zu der verhängnisvollen Reise zu bewegen ….

Obschon nach einer Weile Vater und Kinder ihre Sprache wieder fanden, so wurden dennoch nur wenige Worte des Schmerzes hörbar, bis man den Pachthof selbst erreichte und die große, liebe Familienstube betrat … Hier wich der Bann der Lippen, das Herz floss von Weh und Rührung über …

»Hab' ich Euch? Hab' ich Euch?« sagte der Pächter, seine Arme noch einmal um den Hals der Kinder schlingend: »Getrennt hat man Euch von einander! Hunger und Durst hat man Euch leiden lassen!«

»Was ist das gegen die Leiden der Mutter?« sagte Remi: »Ach – und ist sie wirklich dahin? Und auch Ihr habt sie nicht wieder gesehen?«

»Als ich kam und ihr Schicksal erfuhr – was alles vorüber«, erwiderte Lotfahr bebend: »O, wir haben keinen anderen Trost als den: ihren Leib konnten sie töten, ihre Seele konnte keinen Schaden leiden! … Burgei – mein Kind – was hast Du? Warum so unruhig?«

Burgei hatte sich von dem Arme des Vaters losgemacht und eilte an das Fenster und durch die Stube.

»Ich weiß nicht, wie mir ist!« rief sie: »Ich möchte nicht mehr leben! Ich möchte bei der Mutter sein! … Luft! Es wird mir zu enge hier und überall! … O, was für eine Welt, die eine solche Mutter tötet!«

Sie öffnete das Fenster und fuhr, von Weh oft stockend, unter Schluchzen fort:

»Hier stand sie noch zuletzt … und sah gerade hinaus – und sieht die Rumorknechte kommen und sagt zu mir: ‚Burgei, dort kommen die Knechte, hast Du nicht gehört, wer in der Nachbarschaft was verbrochen hat?' – Und bald treten die Knechte herein – sagen – dass sie die Mutter suchen – und sie lacht noch, weil sie irren oder scherzen; – und als sie Ernst machen und ihr die Hände binden wollen – wird sie blass und wird rot, ergreift das Nächste und will sich standhaft wehren – in Zorn und Abscheu weist sie die Verruchten aus dem Hause – ich rufe den Bruder, den Tobias, wer nur in der Nähe ist – und wie wir kommen und helfen wollen … Vater! Vater! Da ist die Mutter gebunden – die Arme über dem Rücken – kann nicht mehr weinen, nicht reden – sieht nur starr in die Luft zu Gott in die Höhe, was er da zulasse – und wie man sie fortführt – die Haare aufgelöst im Nacken – sieht sie nach uns und bringt nur die Worte hervor: ‚Denkt an Eure Mutter!'«

Burgei verfiel einem krampfhaften Schluchzen und rief dann in heftiger Wallung:

»O, dass wir so arm und ohnmächtig sind. Nicht ruh'n noch rasten würde meine Seele, die zu verfolgen, die meine Mutter getötet haben! Wer nie im Unglück gewesen, der weiß nicht, wie schlecht diese Welt ist, wie erbärmlich die Menschen sind!«

»Hätten wir Macht und Ansehen gehabt – wie leicht wäre der Mutter geholfen gewesen!« sagte Remi.

»Auch Geld – auch Reichtum, mein Sohn, hätte das Übel abgeleitet!« bemerkte Lotfahr.

»Es wäre auch nicht zum Ärgsten gekommen, wenn noch Mut und Wahrhaftigkeit zu finden wäre«, rief Burgei: »Warum hat kein Nachbar die Mutter in Schutz genommen? Warum hat keiner gewagt zu sagen, dass er an die schwarze Anklage nicht glaube – dass er die Mutter nie Kreise ziehen, bei nächtlicher Weile nie Kräuter streuen gesehen? Alle wussten die Wahrheit, und niemand hat Zeugnis für sie vor den Richtern gegeben! … O Mutter, Mutter – wenn Du aus jener Welt auf uns herunter siehst – frag' unser Herz – wie dieses für Dich gesprochen hätte, wenn unser Zeugnis verlangt worden wäre? … Aber es ist der Tag aller Tage noch nicht angebrochen. Du bist nicht mehr zu retten, Mutter, aber an Zeugnis Deiner Unschuld soll es nicht fehlen! Täglich, stündlich will ich Dein Bild den Leuten vor Augen führen – will ihr Gewissen aufregen und sagen – seht hin – und so war sie – so habt Ihr Gottvergessenen sie in ihrer Unschuld verlassen! … Ja fort! Es soll auch gleich geschehen!«

Lotfahr wollte die Aufgeregte beschwichtigen und zurückhalten, als sein Blick durch das Fenster fiel und schmerzlich betroffen haften blieb.

»Sieh dort, mein Sohn, wer kommt!« sagte er halblaut zu Remi.

»Der Graf!« sagte dieser überrascht und ungewiss, was er von dem Besuche halten sollte. …

Graf Starrenberg, gefolgt von Burghardt, welcher eine große Papierrolle trug und von zwei Dienern, trat nach Kurzem wirklich in die Stube.

An der Türe blieb er einen Augenblick stehen und blickte den Pächter schmerzlich an.

»Lotfahr!« sagte er dann mit bewegter Stimme.

»Herr Graf … O dass ich so vor Ihnen« … sagte der Pächter, einen Schritt entgegen tretend.

»Nicht doch – sagt, dass ich vor Euch mit so beschwerter Seele treten muss!« erwiderte der Graf: »Hat nicht mein eigen Blut – mein Sohn – so schwer an Euch gesündigt?«

Er kam dem Pächter näher und fuhr fort:

»Erlasst mir Worte, mein Leid und Mitleid zu gestehen … Eine kleine Gabe – freilich zu klein, um Euren Schmerz zu lindern – erlaubt mir Euch zu bieten.« …

Die Papierrolle aus Burghardts Händen nehmend, setzte er hinzu: »Seid Her von einem meiner Güter – und hört im Angesichte Gottes meinen Schwur: den Schuldigen, sofern sie Menschenarm erreichen kann, soll ihre Stunde schlagen!«

»Herr eines Rittergutes?« dachte sich Remi: »Wie schnell geht da des Vaters Wunsch nach Reichtum in Erfüllung!«

»Ihr aber, Remi Lotfahr«, wandte sich der Graf zu diesem, »erlaubt, dass ich der Führer Eures Schicksals werde. Groß ist mein Einfluss, wo ich nützen will. Den schnellsten Weg zur Bildung und zu Ansehen führ' ich Euch!«

»Wie soll ich danken?« erwiderte Remi.

Der Graf überhörte diese Frage und wendete sich zu Lotfahr zurück.

»Euer Töchterlein – wo habt Ihr es?« fragte er.

Aber statt einer Antwort erhob sich Lärm in der Ferne, der sich wie die Windsbrau näher wälzte. Man konnte deutlich die Rufe vernehmen: »Haltet sie! Nieder mit der Frechen! Steiniget sie!«

»Was ist das?« sagte der Graf und eilte an das Fenster: »Ein förmlicher Aufstand!«

»Würget sie!« schrie das aufgeregt Volk bereits vor der Türe: »Reißt sie in Stücke! Das Hexenkind! In Stücke mit ihr! In Stücke!«

Die Türe sprang auf, und Burgei, von einer wütenden Schar verfolgt, stürzte in die Stube; – aber die Gefahr, in der sie schwebte, hatte sie keineswegs eingeschüchtert, denn sie wendete sich, unbekümmert um den Besuch in der Stube, gegen die verfolgende Schar und rief im Tone des heiligsten Zornes:

»Ihr Feiglinge und Wichte! Nur herbei und tötet die Wahrheit auch, nachdem Ihr die Unschuld getötet!«

Nun wollte das Volk in die Stube dringen, um sie zu ergreifen, nur der Anblick des Grafen, der drohend entgegen trat und sagte: »Keinen Schritt weiter! Zurück!« bannte es wieder an der Schwelle fest.

»Helfershelfer des Mordes! Knechte des Wahns und Aberglaubens!« fuhr Burgei fort: »Alle wusstet Ihr, dass meiner Mutter kein Fehl anhing, ihr kanntet sie als Muster der Unschuld, des Glaubens; und ihr floht vor dem Zeugnis, zu dem Euch Gott berufen! Elende, Undankbare! Manche haben den Segen der Wohltat vor unserer Türe genossen – gingen erbaut und beglückt von den Worten der gütigen Mutter – und als die Tage des Unglücks kamen – floht Ihr, gabt falsches Zeugnis gar – ließt meine Mutter verraten, fangen, richten – sterben! – mein Mütterlein sterben! – in Rauch und Flammen verderben! … Sterben! … Mein Mütterlein sterben!«

Hier verfiel Burgei von der höchsten Aufregung in krampfhaftes Schluchzen und brach schmerzlich zusammen …


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