Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Am folgenden Tag fuhr Per nach Hause. Inger gegenüber erwähnte er gleich die freie Stelle eines Wegebauassistenten, lediglich, um ihr zu zeigen, daß er auch außerhalb Kopenhagens gesucht habe, ohne jedoch etwas Passendes zu finden – denn »der Posten ist ja ganz unmöglich«.

So vergingen die Tage im alten, gleichmäßigen Trott, während der Herbst mit allerlei wechselndem Wetter über das Land fuhr. Per hatte hier und da ein paar Vermessungsarbeiten. Größere Aufgaben fand er jedoch zur Zeit nicht.

Inger merkte, daß eine Veränderung mit ihm vorgegangen war. Gleich zu Anfang war er rührend glücklich gewesen, wieder zu Hause zu sein, wollte am ersten Tag die Kinder kaum aus den Händen lassen und hatte ihnen allen Geschenke mitgebracht. Aber es war etwas Rastloses über ihn gekommen und dazu – ihr gegenüber – etwas Zurückhaltendes, fast Scheues, was ihm gar nicht ähnlich sah. Sonst saß er oft stundenlang mit einer Pfeife oder einer Zigarre am Fenster und verfolgte das Ziehen der Wolken, jetzt konnte er nirgends Ruhe finden. Sie hörte ihn in seinem Zimmer auf und ab gehen, als säße ihm das Reisefieber noch in den Gliedern. Dann klagte er auch über Schlaflosigkeit und ließ sich allabendlich in seinem Zimmer auf dem Sofa das Bett machen, da er durch die kleine Ingeborg gestört werde, die erkältet war und nachts viel hustete.

Im stillen machte sie sich ihre Gedanken darüber. Überhaupt, seine Reise und deren Ergebnisse beschäftigten sie auf mancherlei Weise. Ein Grund, weshalb sie stets so ungern nach Kopenhagen ziehen wollte, war die Anwesenheit von Pers ehemaliger Braut in der Hauptstadt. Der Gedanke, die beiden könnten sich zufällig wieder begegnen, würde ihr unangenehm sein. Sie stellte sich jetzt vor, dies sei tatsächlich geschehen und Per habe dabei selbst eingesehen, wie bedrückend das Verhältnis werden konnte. Daß er sich noch nicht genauer über die Ursache für seinen veränderten Entschluß ausgesprochen hatte und daß er sich insgesamt vor ihr ein wenig geniert fühlte, verstand sie in dem Fall sehr gut.

Aber es mußte doch ein Ausweg aus alldem zu finden sein. In Rimalt konnten sie nicht wohnen bleiben, ohne Gefahr zu laufen, in Schulden zu geraten. Sie hatte schon ein paar unbezahlte Rechnungen, die sie peinigten, die sie jedoch vorläufig Per gegenüber nicht erwähnen wollte. Der hatte zur Zeit Sorgen genug, der Ärmste! Einen anderen Grund für seine Unruhe sah sie gerade in seiner Sorge um ihre Zukunft; und es tat ihr so leid, daß sie ihm nicht mit einem guten Rat helfen konnte.

Eines Nachmittags hielt ein Reiter vor dem Hof und wünschte Per zu sprechen. Inger war gerade im Keller beschäftigt und konnte den Fremden nicht sehen. Doch sie erkannte sofort seine Stimme. Es war der junge Gutsbesitzer Brück. Was will der hier? dachte sie erstaunt und recht unruhig.

Er seinerseits war nicht weniger überrascht, Per zu Hause nicht anzutreffen. Als Inger zum Vorschein gekommen war und ihn hereingebeten hatte, erklärte er, ihr Mann habe ihn wegen einer Vermessungsarbeit herbestellt, die dieser auf Budderuplund vorgenommen habe. Er habe seine Resultate mit dem alten Lageplan des Gutes vergleichen wollen, den Herr Brück deshalb mitbringe. Inger entschuldigte ihren Mann vielmals und mußte mit Herrn Brück eine Zeit im Wohnzimmer sitzen und ihn unterhalten, was ihr sehr unangenehm war, zumal sie allerhand Kinderwäsche hatte bügeln wollen und einen Bolzen für das Plätteisen in den Herd gelegt hatte.

Sie konnte gar nicht begreifen, wo Per blieb. Zur Kaffeezeit war er noch zu Hause gewesen, und der Kutschwagen stand im Torweg. Weit konnte er also nicht sein.

Im Umgang mit Herrn Brück bedrückte sie vor allem dessen Stottern, das jegliche Unterhaltung mir ihm erschwerte, zumal er selbst sehr unglücklich über diesen Fehler war. Aus dem Grunde hatte sie sozusagen Mitleid mit ihm, ja – sie meinte sogar, sie hätte ihren Widerwillen gänzlich überwinden können, wenn er nur nicht diese Augen gehabt hätte. Sie waren klein und stahlgrau, und schon als Junge hatte er einen zwingenden, ja brutalen Blick gehabt, der sie ihm gegenüber stets unsicher machte.

Über eine halbe Stunde verging, ehe Per kam. Er brachte viele und – wie es Inger schien – merkwürdig ungeschickte Entschuldigungen vor, worauf sich die beiden Herren in sein Zimmer zurückzogen.

Die Untersuchungen nahmen mehrere Stunden in Anspruch, und Per bat Herrn Brück, doch noch zu Abend dazubleiben. Außerdem verabredete man, Per solle gelegentlich nach Budderuplund kommen, um die umstrittenen Strecken noch einmal zu vermessen, und er legte fest, dies bereits am folgenden Tag zu tun – nach Tisch, wenn das Wetter aufklaren würde. Er wollte – wie er sagte – die Arbeit gern schnell erledigt haben.

»Ich muß dann aber auch dran denken, gleich Ihre berühmten Hühnerrassen zu besichtigen. Meine Frau hat mich schon mehrfach darum gebeten; sie hat nämlich auch sehr viel Interesse für solche Dinge.«

Daraus ergab sich nun ganz von selbst, daß Herr Brück beim Abendessen Inger vorschlug, ihren Mann nach Budderuplund zu begleiten.

»Ich glaube, ich kann Ihnen einen Stamm Cochinchinahühner zeigen, um den sie mich beneiden werden.«

Inger bedankte sich, wie man für eine Einladung zu danken pflegt, wenn man nicht daran denkt, sie anzunehmen. Doch als sie am nächsten Tag vom Schlafzimmerfenster aus sah, wie der Wagen herausgezogen wurde, bereute sie fast ihren Entschluß. Es war ein schöner Septembertag mit Sonnenschein, und sie wußte, daß der Weg nach Budderuplund durch ein paar der schönsten Waldstreifen der ganzen Gegend führte. Dann dachte sie auch daran, daß es Per vielleicht aufheiterte, wenn sie mitführe. Und letztlich hatte auch sie im Grunde Lust, das alte Gut wiederzusehen, auf dem sie als Kind mehrmals mit ihren Eltern zu Gast gewesen war. Wenn sie sich zudem noch für ein paar ihrer Plymouth-Rocks einige echte Cochinchinahühner eintauschen konnte, dann mußte man das einen guten Fang nennen.

Sie riß das Fenster auf und rief Per zu, der gerade auf den Wagen steigen wollte: »Willst du mich mithaben?«

Sie hatte das Gefühl, er verstehe sie nicht richtig. Er starrte sie mit einem so verblüfften Ausdruck an, daß sie lachen mußte.

»Verstehst du mich denn nicht, Liebster? – Ich will mit!«

Da nickte er nur.

Der Falbe wurde also wieder ausgespannt und der Gig durch den Ponywagen mit den roten Samtpolstern ersetzt. Auch das Staatsgeschirr kam zum Vorschein, und eine halbe Stunde später fuhren sie los.

Der Weg führte über die Bahngeleise und stieg dann allmählich an über einen Hügel mit weiter Aussicht auf Fluß und Wiesen. Auf der anderen Seite des Bergrückens fiel der Boden steil ab und bildete eine breite bewaldete Schlucht, deren hundertfarbiges Blättermeer in der Sonne flimmerte. Bald schloß sich der Wald um sie, der Weg wurde weich und schwer, und Per ließ den Falben Schritt gehen.

Er saß die ganze Zeit über schweigend. Inger hingegen war lebhaft und summte leise vor sich hin, aus Freude darüber, daß sie mitgekommen war. – Lange genug hatte sie zu Hause gesessen und Trübsal geblasen. Hier im Wald wurde sie nun ganz überschwenglich vor Entzücken. Wie schön war es hier! Diese herrlichen Bäume! Diese Unendlichkeit der Farben! . . .

Dicht über ihnen zwitscherte ein einzelner Vogel, der sie zu begleiten schien. Sie konnte das kleine Geschöpf nicht entdecken, hörte es aber bald hier, bald dort, wenn es fast schelmisch sein »Tirili! Bin hie!« wiederholte. Tief atmete sie auf und fühlte sich so befreit, als sei auf einmal alles, was sie bedrückt und gequält hatte, von ihr genommen. Zuletzt fand sie sogar, hier müsse man laut singen. Aber da fiel ihr ein, wie niedergeschlagen Per aussah, und daher begnügte sie sich damit, wiederum nur zu summen.

Plötzlich faßte sie Per beim Arm, um ihn zum Anhalten zu bewegen. »Sieh doch!« flüsterte sie.

Vor einem Dickicht stand in einiger Entfernung ein Reh. Mit hohen, gespitzten Ohren und großen, weitgeöffneten Augen war es auf dem Sprung und starrte zu ihnen herüber. Per hielt an. Auch das Wild rührte sich nicht vom Fleck, sondern verharrte mit erhobenem Kopf und beäugte sie mit beinahe trotzigen Blicken. Ein paarmal bewegte es die Ohren, und endlich streckte es auch den Hals ein wenig vor. Plötzlich jedoch, als sei es aufgeschreckt durch seine eigene Bewegung, drehte es sich um und setzte in langen Sprüngen durch das Unterholz davon.

»Hallo!« rief ihm Inger unwillkürlich nach, während sich das Geräusch raschelnder Blätter und geknickter Zweige in der Tiefe des Waldes verlor.

Auch auf Per begannen die Natureindrücke zu wirken. Die düsteren Stimmungen wichen. Die Berührung von Ingers Hand hatte sich in ihm fortgepflanzt wie ein Zittern. Die Lebenshoffnung flammte wieder auf. Aber es war ein Strohfeuer.

Eine einzige Bemerkung von Inger löschte es wieder: »Schade, daß du kein Jäger bist. Das muß ein frisches, vergnügtes Leben sein! Du solltest es auch mal versuchen; so frei und ledig aller Sorgen durch Wald und Feld zu streifen wäre bestimmt gut für deine Gesundheit. Meinst du nicht auch?«

»Das kann mir kaum nützen. Zu solchen Sachen muß man erzogen worden sein. Und ich bin in Wirklichkeit niemals richtig der Natur vorgestellt worden. Deswegen fühle ich mich ihr gegenüber wohl auch so fremd.«

»Wem gehört eigentlich der Wald hier?«

»Der gehört zu Budderuplund.«

»Denk an, so weit erstrecken sich die Gemarkungen?«

»Ja, es ist ein großer Besitz. Dieser Etatsrat ist ein steinreicher Mann.«

»Ja, das ist er wohl.«

Kurz darauf verließen sie den Wald. Vor ihnen öffnete sich eine neue Aussicht über die meilenbreiten Wiesen bis zum Ackerland auf der anderen Seite. Aber dann kam wieder Wald und dahinter ein noch höherer Hügel mit einer noch weiteren Aussicht auf die fruchtbare Landschaft. Im Vordergrund, am Südabhang des Bergrückens, lag ein großes weißes Gebäude mit zwei kurzen Türmen und einem ansehnlichen Park. Das war Budderuplund.

Inger betrachtete es eine Zeitlang schweigend. »Sieh an, so groß war der Garten? Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern.«

»Ja, solch ein Garten wäre ein hübscher Tummelplatz für Hagbarth«, sagte Per auf sonderbare Art; es klang wie unterdrücktes, leises Lachen. »Zu Hause wird ihm allmählich der Raum zu eng, er braucht mehr Ellbogenfreiheit.«

»Was ist das für ein großes Gebäude, das dahinter liegt . . . das mit der hohen Rückwand?«

»Es ist die Scheune, und dahinter liegen die Ställe und die Meierei. Alles modern eingerichtet und ganz erstklassig. Das muß man den Deutschen lassen, sie haben Ordnung in ihren Sachen.«

»Glaubst du nicht doch, daß sie es sonderbar finden, weil ich mitgekommen bin?«

Per hielt das Pferd an. Er war sofort bereit haltzumachen. »Wir können ohne weiteres umkehren, wenn du meinst.«

»Nein, ich fürchte, sie haben uns schon gesehen. Da geht ein Herr die Allee entlang. Ist das nicht Thorvald Brück?«

»Doch, es sieht wirklich so aus, als ob es der junge Herr Brück ist.«

»Nun ja, dann geht es nicht mehr. Und erinnere dich, Per, daß ich so furchtbar gern diese chinesischen Hühner haben möchte. Du mußt mir versprechen, daß wir nach dem Geflügelhaus gehen. Das übrige werde ich dann schon besorgen.«

Es war in der Tat Thorvald Brück, der die alte Lindenallee heraufkam, die von der Landstraße zum Anwesen führte. Auch er hatte den kleinen Ponywagen gesehen und das Pferd wiedererkannt, und als sie durch das Hoftor fuhren, stand er auf der Freitreppe, um sie zu empfangen.

Während ein Bediensteter herzulief, um Per die Zügel abzunehmen, half Brück Inger höchstpersönlich aus dem Wagen und dankte ihr ehrerbietig, daß sie gekommen sei.

Der Etatsrat begrüßte sie im Gartenzimmer. Er war ein großer, stattlicher Herr mit kurzgeschnittenem silberweißem Haar, einem bartlosen Kinn, dicken Augenbrauen und einer Adlernase. Trotz seiner dreiundsiebzig Jahre hielt er sich genauso ritterlich aufrecht wie der Sohn. Man merkte, daß unter seiner wettergebräunten Haut altes Kriegerblut floß. In einer Sprache mit ausgeprägt holsteinischem Akzent machte er Inger einige Komplimente über ihr gesundes Aussehen und fragte dann nach ihren Eltern. Per dagegen behandelte er ein wenig von oben herab. Es wurde Wein und Obst angeboten, und eine allgemeine Unterhaltung kam in Gang.

Nach einiger Zeit erhob sich Per.

»Ja, Sie wollen hinaus auf die Gemarkung«, sagte der Etatsrat. »Mein Sohn hat mir davon erzählt. Unterdessen wollen wir gut achtgeben auf Ihre Frau Gemahlin.«

»Frau Sidenius interessiert sich für unsere Hühnerzucht«, warf Thorvald Brück stark stotternd ein. »Ich hoffe, ich kann meine Begleitung anbieten. Vielleicht macht es Ihnen Freude, wenn Sie ein paar alte Erinnerungen aus Budderuplund auffrischen können.«

Per ging zur Tür, und Inger wurde plötzlich ein wenig verlegen, weil sie so allein zwischen den fremden Herren zurückblieb. Sie hatte einen Einwand auf der Zunge, aber da gab im selben Augenblick der Etatsrat dem Diener den Auftrag, das Federvieh herauszulassen.

Mit ein paar Männern, die Stäbe und Maßkette trugen, ging Per eine Stunde an den Gräben entlang. Es war ihm kaum möglich, seine Gedanken auf die Arbeit zu konzentrieren. Die Leute sahen ihn denn auch mehrmals erstaunt an. Bitter bereute er nun, was er getan hatte. Er hatte sich in sich selbst geirrt. Er hatte geglaubt, daß er mehr mit dem Leben fertig sei, als er es in Wirklichkeit war. Er konnte und wollte noch nicht aufgeben.

Inzwischen machte Inger mit dem Etatsrat und dessen Sohn einen Rundgang auf dem Hof. Man besichtigte die Ställe, die Meierei und den Hühnerhof, und der Etatsrat führte sie zuletzt sogar in die Küche und durch die Vorratskammern, ja bis hinab in die historisch denkwürdigen Kellerverliese des Hauptgebäudes, die Reste einer mittelalterlichen Burg, auf denen das neue Schloß erbaut worden war.

Als Per zurückkam, fand er sie alle drei im Gartenzimmer.

Der Etatsrat, der von Inger sehr entzückt schien, wollte sie nun überreden, zum Essen dazubleiben. Inger sah Per fragend an, der jedoch die Einladung ablehnte. Auf eine fast kränkende Art und Weise – jedenfalls schien es Inger so – bat er darum, man möge anspannen lassen.

Thorvald Brück begleitete sie ein Stück zu Pferd. Er ritt eine hohe, gelbe, langschweifige Stute, die er – offenbar Inger zu Ehren – unter dem linken Schenkel tanzen ließ, daß ihr Schaum um das Maul stand. Kerzengerade saß er da in seinem enganliegenden französischen Reitanzug. Inger versuchte, Per in die Unterhaltung mit einzubeziehen, was ihr jedoch nicht gelang. – »Diese Pferde- und Hundegeschichten interessieren mich nicht«, erklärte er hinterher. Ein Stück vor dem Wald verließ der Reiter sie und bog in einen Seitenweg ab, der in einem Bogen nach Budderuplund zurückführte. Er fiel sofort in einen kurzen Galopp, und als er eine Strecke entfernt war, folgte ihm Inger noch eine Zeitlang mit den Augen.

»Zu Pferd sieht er übrigens ganz gut aus«, sagte sie.

»Er entstammt ja auch einer alten Soldatenfamilie. Soviel ich weiß, wäre auch er Offizier geworden, wenn er nicht diesen betrüblichen Sprachfehler gehabt hätte. Manchmal ist es wirklich schon peinlich, ihm zuzuhören.«

Inger saß einen Augenblick schweigend da und schaute vor sich hin. »Ja, der Ärmste. Übrigens, ich fand, heute war es gar nicht so schlimm.«

»Hast du nun die chinesischen Hühner bekommen?« fragte Per.

Inger wurde rot. Das hatte sie ganz vergessen. »Ach, wie ärgerlich! Ich bin ganz sicher, ich hätte sie bekommen, ein oder zwei Paare, wenn ich bloß danach gefragt hätte . . . Der Etatsrat war so ungemein liebenswürdig.«

»Ja, das war er wahrhaftig«, sagte Per verstimmt.

Zur Dämmerstunde waren sie wieder zu Hause. Per klagte über Kopfschmerzen und ging in sein Zimmer. Er zündete sich eine Pfeife an und setzte sich ans Fenster. Doch bald stand er wieder auf, hängte die Pfeife an den Nagel und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, ohne Ruhe zu finden. Er kam sich vor wie der unbrauchbarste Mensch auf Erden, wie ein unglückliches Zwitterwesen, das das Leben liebte, ohne den Mut zu haben, sich ihm hinzugeben, und es verachtete, ohne es lassen zu wollen.

Da klopfte jemand zaghaft an seine Tür. Es war Hagbarth, der geschickt worden war, um ihm gute Nacht zu sagen.

Als er die Befangenheit des Jungen sah, traten ihm Tränen in die Augen. Mit einem Ausruf nahm er den Kleinen und hob ihn zu sich empor. Eine Zeitlang stand er da und hielt ihn in den Armen wie jener lustige Silen das Dionysoskind im Ørstedspark.

»Du hast doch keine Angst vor Vater, nicht wahr, Hagbarth?«

»Nei-nein«, schluckte der Junge.

»Wir beide, wir werden schon miteinander auskommen. Meinst du nicht auch?«

»Doch«, sagte Hagbarth und machte sich schwer, um herunterzukommen. Bei Zärtlichkeitsausbrüchen des Vaters fühlte er sich mitunter noch weniger wohl als bei dessen Mißfallensäußerungen.

Sobald er zur Erde gekommen war, schlüpfte er zur Tür hinaus. Per ließ sich verzweifelt auf einen Stuhl fallen und preßte die Hände vor das Gesicht.

 

Eine Woche später fuhren Inger und Per zum Bøstruper Pfarrhaus, wo sie seit Pers Rückkehr noch nicht gewesen waren.

Das Verhältnis zwischen Per und seinen Schwiegereltern hatte sich im Laufe der Jahre zu einer verborgenen Feindschaft entwickelt, die auf beiden Seiten nur mit Rücksicht auf Inger im Zaum gehalten wurde. Diesmal aber kam es doch anders.

Was Pastor Blomberg besonders aufbrachte, war der Mangel an Aufmerksamkeit, den Per insgesamt für seine Worte an den Tag legte. Bei der Schwiegermutter waren es die weniger guten finanziellen Verhältnisse, unter denen ihre Tochter in letzter Zeit leben mußte, die ihren Unwillen gegen Per nährten. Daß er jetzt von seiner Reise in die Hauptstadt ohne das geringste Ergebnis zurückgekehrt war, milderte die Stimmung gegen ihn nicht.

Nach ein paar unheilverkündenden Zusammenstößen beim Abendessen kam es im Wohnzimmer zu einer erregten Auseinandersetzung.

 

Die nervöse Stimmung, in der sich Per in jüngster Zeit befand, machte ihn empfindlich und mißtrauisch. Als ihm nun der Schwiegervater ziemlich rücksichtslos seine Gleichgültigkeit vorwarf, sich und seiner Familie eine gesicherte Zukunft zu schaffen, wurde Per wütend und schrie, er verbitte sich in dieser Sache jede fremde Einmischung. Der Schwiegervater rügte diese Äußerung und vor allem seinen Ton. Da aber sprang Per ganz unbeherrscht auf, schlug vor dem Schwiegervater auf den Tisch und rief, er werde sich seine Vormundschaft nicht länger gefallen lassen.

Derartige Worte hatte man bislang noch nie im Pfarrhaus zu Bøstrup gehört. Etwa eine Minute lang herrschte Grabesstille im Zimmer. Dann stand der Pastor auf in seiner ganzen untersetzten Majestät, schob den Stuhl zurück und sagte: »Ich möchte dich allen Ernstes ersuchen, uns zukünftig mit solchen Szenen zu verschonen.« Darauf verließ er das Zimmer und begab sich in sein Studierzimmer.

Seine Frau folgte ihm mit entsetzter Miene.

Per ließ anspannen, und kurz danach fuhren er und Inger vom Hof, ohne Abschied genommen zu haben. Wie durch einen Nebel hatte er einige Augenblicke lang Ingers totenblasses Gesicht am andern Tischende im Wohnzimmer gesehen. Und dieser Anblick hatte ihn wieder zur Besinnung gebracht. Seither wagte er nicht, sie anzusehen, und bei der ganzen Heimfahrt wurde nicht gesprochen. Aber er merkte, daß sie trotz ihrer warmen Hüllen vor Kälte zitterte, so daß der ganze Wagensitz erbebte.

Als sie zu Hause angelangt waren, wurde sie ruhiger. Sie ließ nicht nur zu, daß er ihr aus dem Kutschmantel half, sondern bat ihn sogar, er möge ihn für sie an den Haken hängen. Dann ging sie ins Kinderzimmer, um nach den Kleinen zu sehen, und machte darauf die gewohnte abendliche Runde durch das Haus.

Per begab sich auf sein Zimmer und zündete die Lampe an. Als er den Zylinder aufsetzen wollte, merkte er, daß er zitterte. Dann setzte er sich mit einer Zeitung auf seinen Stuhl am Schreibtisch und harrte ängstlich und gespannt der Dinge, die da kommen würden.

Eine Viertelstunde später hörte er Inger ins Schlafzimmer gehen, und nach einer weiteren Viertelstunde kam sie zu ihm herein – zu seiner Überraschung halb ausgezogen, in Unterrock und Frisiermantel.

»Du siehst, daß dein Bett wieder hier aufgeschlagen ist«, sagte sie und schüttelte sein Kopfkissen zurecht. »Es entspricht doch wohl deinem Wunsch?«

»Ja, danke – es ist gut«, sagte er hinter seiner Zeitung.

»Ingeborgs Husten ist übrigens viel besser.«

Hierauf erwiderte Per nichts. Da setzte sich Inger in den Schaukelstuhl am Ofen, und eine Zeitlang schwiegen sie beide.

»Ja, Per – nun müssen wir wohl doch Ernst machen und sehen, daß wir hier wegziehen«, begann sie.

»Wieso meinst du?«

»Das weißt du doch. Denn was heute abend passiert ist, war ja kein Zufall. Jetzt hinterher wird mir erst klar, daß es sich schon lange zugespitzt hat.«

»Es tut mir leid, daß es passiert ist, vor allem für dich und die Kinder. Schon mit Rücksicht auf euch hätte ich mich beherrschen sollen. Aber daß ich für meine Person nach allem, was vorgefallen ist, nicht mehr ins Bøstruper Pfarrhaus gehen kann und vielleicht auch gar nicht mehr dort aufgenommen werde, wird hoffentlich nicht zur Folge haben, daß auch ihr verbannt werdet. Es wäre doch wirklich zu unnatürlich, wenn du dich aus dem Grund mit deinen Eltern ganz überwirfst.«

Inger saß vorgebeugt da und stützte den Kopf schwer auf die Hand. Sie blickte zur Erde. »Wie kränkend du manchmal bist, ohne es selber überhaupt zu wissen! Denkst du vielleicht, ich könnte irgendwo aus und ein gehen, wo du ausgeschlossen bist? Obendrein noch mit den Kindern?«

»In deinem eigenen Elternhaus, Inger?«

»Am allerwenigsten da – natürlich. Aber ich meine, unter diesen Umständen wäre der Aufenthalt hier für uns beide ohnehin ganz unmöglich. Es wäre sowieso schon schwer genug geworden.«

»Und wohin, hast du gedacht, sollten wir ziehen?«

»Du sprachst kürzlich von der Stelle eines Wegebauassistenten an der Westküste. Um die solltest du dich vorläufig bewerben, meine ich. Und zwar lieber heute als morgen.«

»Weißt du auch, wozu du mich da aufforderst? Erstens beträgt das Gehalt nicht einmal zweitausend Kronen, und viel Aussicht auf einen Nebenverdienst wird es in der Gegend wohl auch nicht geben. Und zweitens ist das, soviel ich weiß, einer der ödesten Landstriche von ganz Dänemark: nichts als Dünen und Heide und meilenweit im Umkreis keine anderen Menschen als Kleinbauern und Fischer.«

»Aber wir haben doch schließlich uns beide«, erwiderte sie eifrig. »Und das vielleicht mehr als hier . . .«

»Liebe Inger! Du hängst doch so sehr an deinen Eltern und an deiner alten Heimat und an deinen Jugendbekannten, und du hast es so gern warm und schön um dich her. – Nein, mein Kind, das wäre ein zu großes Opfer, das ich da von dir forderte. Hinterher würdest du mir – und zwar mit gutem Grund – bald Vorwürfe machen, wenn ich darauf einginge.«

Sie hatte ihr Gesicht in beide Hände gelegt und saß ganz still. »Gebe Gott, daß ich bloß wüßte, was du nun eigentlich willst«, sagte sie zuletzt und brach in Tränen aus. Und mit einem plötzlichen, unbeherrschten Ausbruch sprang sie auf und schrie: »Du peinigst mich!« Ohne Gutenachtgruß lief sie ins Schlafzimmer und zog die Tür heftig hinter sich zu.

Per blieb sitzen und starrte die geschlossene Tür mit kranken Blicken an. Ein paarmal zuckte es in ihm. Er wollte aufstehen und hineingehen, aber die unsichtbare Hand hielt ihn zurück. Das durfte nicht geschehen! Die große entscheidende Stunde war gekommen! Das Unglück war da. Ingers Kritik war erwacht. Und sie war ja kein unterirdischer Kobold. Deswegen mußte und sollte sie dem Leben und dem Licht zurückgegeben werden. Sie und die Kinder! – Mit ihm mochte es dann gehen, wie es wollte!

 

Es war am folgenden Abend. Die Kinder waren zu Bett gebracht und die beiden Dienstmädchen noch in der Küche beschäftigt. Inger hatte gerade die Lampe im Wohnzimmer angezündet, sie saß auf dem Sofa und stopfte Kinderstrümpfe, als Per aus seinem Zimmer hereinkam. Obwohl er den ganzen Tag über zu Hause gewesen war, hatten sie seit dem letzten Abend nur ein paar Worte miteinander gewechselt. Inger hatte beobachtet, wie er sie und die Kinder seltsam scheu umkreiste, ohne sich mit ihnen einlassen zu wollen. Ja, in der Mittagsstunde, als die Kinder schliefen, hatte sie ihn im Kinderzimmer überrascht, wo er an Hagbarths Bett stand und mit sonderbar verzweifeltem Gesicht den Jungen anstarrte.

Per ging mehrmals im Zimmer auf und ab. Dann setzte er sich ihr gegenüber an den Tisch. Keiner konnte sich überwinden, das erste Wort zu sagen.

»Hast du denn über das nachgedacht, worüber wir gestern abend sprachen?« fragte Inger endlich.

»Ja, ich habe überhaupt an nichts anderes gedacht. Doch ehe wir weiter darüber sprechen, müssen wir uns meiner Ansicht nach über eins klarwerden: Ich meine natürlich die Vorfälle gestern abend bei deinen Eltern. Du hast ja selbst gesagt, es sei nichts Zufälliges gewesen, und du hast absolut recht. Selbst wenn meine Worte vielleicht anders klangen, als dies in einem ruhigen Augenblick der Fall gewesen wäre, so haben sie doch das ausgedrückt, was mehr als eine zufällige Stimmung bei mir ist.«

»Das habe ich schon lange gemerkt, Per.«

»Nun, das sagtest du ja schon gestern. Aber wenn du, liebe Inger, also recht gut die tiefe Kluft kanntest, die mich von deinem Vater und seinem Kreis – und in gewisser Hinsicht auch von dir – trennt, ist es da nicht merkwürdig, ja ist es nicht unverantwortlich, daß wir beide noch immer nicht mehr darüber gesprochen haben? Der Fehler liegt an mir – ich weiß es genau. Eine Art Feigheit hat mich dazu gebracht, dir die ganze Wahrheit zu verbergen. Aber eigentlich habe ich sie bis in die letzte Zeit hinein selber nicht ganz gekannt.«

»Da irrst du dich, Per. Ich habe deinen Standpunkt sehr wohl gekannt. Du hast mir gegenüber ja nie ein Hehl daraus gemacht. Ich weiß genau, daß du nicht auf dieselbe Weise glaubst wie wir andern, und das hat mich natürlich oft betrübt. Aber Vater sagt, auch derjenige, der in Christus nur einen edlen, vollkommenen Menschen sehen will, hat das Recht, sich Christ zu nennen und auf die Seligkeit zu hoffen, wenn er sonst aufrichtig ist in seinem Verhältnis zu Gott und in seiner Lebensweise ehrlich und gottesfürchtig.«

»Aber ich glaube überhaupt nicht an Gott, Inger.«

»Du glaubst nicht an Gott?« Sie ließ ihre Stopfarbeit fallen und starrte ihn mit demselben bleichen, reglosen Gesicht an wie am Abend zuvor im Pfarrhaus.

»Nein, und ich habe es gewiß schon lange nicht mehr getan. Überall, wo ich ihn gesucht habe, fand ich nur mich selbst. Und für den, der sich seines eigenen Ichs richtig bewußt wird, ist ein Gott überflüssig. Es liegt für ihn weder Tröstliches noch Abschreckendes in der Vorstellung an eine solche übernatürliche Persönlichkeit, ob er sie sich nun als gütigen Vater oder Richter denkt.«

»Wie du redest! Ich glaube, Per, du wirst noch einmal ein sehr unglücklicher Mensch.«

»Vielleicht. – Weißt du übrigens, daß es Menschen gibt, auf die das Unglück eine seltsam verlockende, anziehende Macht ausübt? Etwa so, wie die Moorlöcher und dunklen Waldseen einzelne Menschen anlocken.«

»Das müssen solche sein, die ganz verhärtet sind in Sünde und ihre Freude finden am Sündigen. Es steht auch was in der Bibel darüber.«

»Tatsächlich? Es gilt auf jeden Fall nicht für alle. Es gibt nämlich Menschen, die ins Unglück gedrängt werden von ihrem religiösen Instinkt, der ihnen sagt, daß nur Kummer und Entbehrung, ja vielleicht erst Hoffnungslosigkeit ihren Geist befreien könnten. Es gibt auch, wie du weißt, Pflanzen, die nur im Schatten und in der Kälte gedeihen und doch Blüten tragen . . .«

»Solche Menschen kenne ich nicht.«

»Dabei sind sie gar nicht selten, gerade bei uns! Unsere Geschichte beweist es. In glücklichen Zeiten fehlt es uns meistens an bedeutenden Persönlichkeiten. Aber dafür kann unsere Trübsal auch ›Adler aus Spatzeneiern ausbrüten‹, wie sich Pastor Fjaltring einmal ausdrückte.«

»Pastor Fjaltring! An den denkst du?«

»Ja – auch an ihn.«

»Also, dann verstehe ich dich überhaupt nicht. Der hat sich doch erhängt!«

»Allerdings, das hat er getan. Leider. Ich habe ihn in diesen Jahren oft vermißt. Und eigentlich habe ich mir bis zu dieser Stunde sein trauriges Ende nie recht erklären können. Doch in letzter Zeit scheine ich ihn auch in diesem Punkt besser zu verstehen. Die Ursache für seine verzweifelte Tat sehe ich jetzt nämlich in seinem Verhältnis zu seiner Frau. Du erinnerst dich wohl noch, daß ich dir von seinem Benehmen dieser unheimlichen, völlig zerrütteten Person gegenüber erzählt habe. Jetzt denke ich mir, daß sie ursprünglich ein dem seinen ganz entgegengesetzter Charakter gewesen sein kann – ein vielseitiger, vollblütiger Mensch, geschaffen für Sonnenschein und Freude, daß er dann Gewissensbisse gehabt hat, weil er sie festhielt in einem Schattendasein, das reifend und befreiend auf ihn gewirkt hat, in dem sie jedoch zugrunde gehen mußte. Als sie dann starb, gewannen die Gewissensqualen die Oberhand. Die Verantwortung für den seelischen Mord, den er beging, konnte er nicht tragen. Er nahm sich ja das Leben kurze Zeit nach ihrem Tod.«

»Weshalb erzählst du mir im Grunde dies alles?« fragte Inger und sah ihn mißtrauisch an. »Wir haben ja von ganz anderen Dingen gesprochen.«

Per zögerte mit der Antwort. »Weil ich meine, Inger, daß diese Ehetragödie zur Belehrung dienen kann – und als Warnung – auch für uns.«

»Für uns?« Die Stopfarbeit fiel ihr wieder in den Schoß. »Für uns . . . Was meinst du damit?«

Per blickte zu Boden und antwortete nicht. Plötzlich war er so weiß im Gesicht geworden, daß Inger unwillkürlich einen Angstschrei ausstieß.

»Per! Per! Was hast du denn nur in letzter Zeit? Habe ich dich beleidigt? Waren es die Kinder? So sag doch, was mit dir geschehen ist!«

Doch Per bekam kein Wort hervor.

Inger streckte über den Tisch ihre Hand nach ihm aus als Liebkosung. »Du bist krank, Lieber! Und du weißt selbst nicht, was du sagst. In letzter Zeit nimmst du alles so schrecklich schwer. Und ich habe gerade in diesen Tagen solch ein Bedürfnis, fröhlich zu sein und alle unsere Sorgen zu vergessen! Womit plagst du dich denn jetzt wieder? Sind es die Geldangelegenheiten, Lieber?«

»O nein.«

»Aber was dann?«

»Es ist etwas viel, viel Schlimmeres, Inger.«

»Aber dann sage es mir doch!«

»Ich kann nicht. Nicht auf die Art.«

»Fühlst du dich krank?«

»Nein.«

Plötzlich zuckte es wie ein Blitz über Ingers Gesicht. »Willst du mir eine Frage aufrichtig beantworten, Per?«

»Ja.«

»Hast du, als du neulich in Kopenhagen warst, deine frühere Verlobte getroffen – dieses Fräulein Salomon?«

Per sah überrascht auf. »Nein.«

Sie sah ihn immer noch mißtrauisch an. »Du lügst!« sagte sie plötzlich und stand auf. Der Strumpf flog im selben Augenblick über den Tisch. »Jetzt verstehe ich alles!« Mit heftigen Schritten ging sie durch das Zimmer. »Du hast mit deiner ehemaligen Braut gesprochen und dich wieder in sie verliebt!«

»Ich sage dir doch, es stimmt nicht.«

»Na gut, dann war es eine andere! Denn irgendwas steckt dahinter. Jetzt ist mir die ganze Sache klar! Das Ganze ist eine widerliche Komödie gewesen. Du willst dich von mir scheiden lassen, um eine andere zu heiraten. Das ist doch deine Absicht, nicht wahr? Sag es nur offen heraus!«

Per überlegte einen Augenblick. Es kam ihm der Gedanke, daß er ihr gerade am besten dienen würde, wenn er auf ihre Einbildungen einging und sich selbst für schuldig erklärte. Ohne zwingende Gründe gab sie sicher nie ihre Einwilligung zu einer gesetzlichen Scheidung, und er mußte doch gerade versuchen, sie dahin zu bringen, daß sie ihn haßte und verachtete. Um so eher würde sie ihn vergessen. Und wenn er auf so vieles verzichten wollte, konnte er doch wohl auch seine Ehre gleich mit zum Opfer bringen. »Ja«, sagte er und senkte den Kopf.

Inger war mitten im Zimmer stehengeblieben. Da stand sie mit verfärbtem Gesicht, die Arme über der Brust verschränkt. Ihre Augen waren nur noch zwei große schwarze Pupillen. »Und das hast du mir fast drei Wochen lang feige verheimlicht! Vater hat also doch recht gehabt! Und ich habe dich immer verteidigt! . . . Und deine Schlaflosigkeit! Und deine Kopfschmerzen . . . Ich muß lachen, wenn ich daran denke, daß ich mich um dich gesorgt und mir den Kopf zerbrochen habe, wie ich dich erfreuen und aufheitern könnte. Und du hast dich unterdessen nach einer anderen gesehnt und gegrübelt, wie du uns am leichtesten loswerden kannst. So eine widerliche Komödie! So hinterhältig. So feige!«

Im Kinderzimmer, zu dem die Tür offenstand, begann das Baby zu weinen. Inger ging wieder im Zimmer auf und ab und sprach allmählich mehr mit sich selbst als mit ihm. Erst als das Kind zu schreien begann, ging sie hinüber.

Per richtete sich auf, nahm den Kopf zwischen beide Hände und stöhnte. Jetzt war es geschehen. Das Opfer war gebracht. Und er gelobte sich, bis zuletzt auszuharren.

Inger kehrte zurück. Wieder ging sie ein paarmal im Zimmer hin und her. Schließlich blieb sie vor ihm stehen. »Hast du mir denn gar nichts zu sagen? So sage doch, daß es nicht wahr ist!«

Per schüttelte den Kopf. »Nein, Inger – was würde das schon nützen?«

Sie blieb trotzdem noch eine Weile stehen. Dann wandte sie sich schluchzend von ihm ab und ging ins Schlafzimmer zurück. »So feige! So hinterhältig!« hörte er sie rufen, als sie die Tür hinter sich zuschlug.

Kurz darauf merkte er Unruhe im Haus. Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen. Inger gab den Dienstmädchen laut Anweisungen. Im Hof klapperten die Holzschuhe des Knechts. Man öffnete die Tür zum Wagenschuppen und zog den Wagen heraus.

Heute abend schon will sie weg! dachte er voll Angst.

Jetzt weckte man die Kleinen. Ingeborg weinte, Hagbarth fragte, ob es brenne. Überall ertönte Ingers befehlende Stimme. Eines der Dienstmädchen kam ganz durcheinander auf Socken ins Wohnzimmer gerannt, um etwas zu holen. Als sie jedoch Per bemerkte, kehrte sie entsetzt um. Auch Inger kam einmal herein, schon vollständig in Reisekleidung, mit Hut und Mantel.

»Wenn es denn sein muß, Inger, dann sollte doch lieber ich wegfahren. – Oder warte doch wenigstens bis morgen!«

Sie antwortete nicht. Sie stand vor dem Schreibschrank und nahm ihr Wirtschaftsgeld und andere Kleinigkeiten heraus.

»Darf ich die Kinder noch sehen?«

»Nicht mehr heute abend! Zu Hause bei Vater und Mutter kannst du uns von jetzt an treffen.«

Eine halbe Stunde später rasselte der Wagen vom Hof. Per hatte sich nicht gerührt. Als sich das letzte Geräusch der Räder auf der Straße verlor, hob er sein blasses Gesicht aus den Händen und blickte unwillkürlich zum Himmel empor.

»Ist es jetzt genug?«


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