Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Jakobe hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen. Sie saß an ihrem kleinen Schreibpult, hatte den Kopf in die Hand gestützt und blickte durch das Fenster hinaus auf die Baumwipfel des Gartens, die im Wind schwankten. Ihre Augen waren groß und glänzend, sie atmete heftig. Vor ihr lag Pers Brief, den sie soeben mit der Vormittagspost erhalten hatte.

Sie wußte nicht, was sie mehr bedauern sollte: die Anstrengung, die es ihn augenscheinlich gekostet hatte, all diese rücksichtsvollen Formulierungen auszuarbeiten, oder die Heuchelei, mit der er sich und ihr zu verbergen suchte, was die eigentliche Ursache für ihre Trennung war. – Daß er bis zuletzt einen solchen Mangel an Fähigkeit und Mut zeigte, der Wahrheit fest ins Auge zu sehen! Was hätte sie nicht dafür gegeben, wenn er nur dieses eine Mal ganz offen und ehrlich eingestand, daß er eine andere liebte. Aber nein! Das Koboldhafte lag ihm zu stark im Blut. Seine Scheu vor dem Licht konnte er nicht überwinden. Das war das »Sideniussche« an ihm, daß er seine natürlichen Gefühle unter allen Umständen ausschmücken mußte. Wie damals die nationale Bedeutung seiner Zukunftspläne seinen Egoismus hatte überdecken müssen, so sollte ihm jetzt die Religion als Deckmantel dienen für seine Verzagtheit, seinen jämmerlichen Rückzug.

Gut! – Sie stand auf, legte die Hände auf ihren Kopf und preßte sie auf das Haar. Weswegen sich jetzt noch länger mit solchen Grübeleien quälen? Ihre Gedanken durften sich ja jetzt von ihm abwenden. Nichts hatten sie mehr zu schaffen in den dunklen Regionen, in denen sich sein Geist bewegte. Sie war frei. Ein Schlußpunkt war hinter die Verirrungen ihres Herzens gesetzt. Ihr armes, lächerliches Liebesmärchen war zu Ende.

Ihr blieb nur noch übrig, die Eltern zu benachrichtigen. Und dann fort von hier! Die Erde brannte ihr unter den Füßen. Aller Wahrscheinlichkeit nach kam Per nach Kopenhagen zurück, um seine Angelegenheiten zu ordnen, und sie wollte nicht Gefahr laufen, ihm auf der Straße in die Arme zu rennen. Außerdem konnte sie ihren Zustand kaum noch länger verbergen. Sie hatte eine Ahnung, als habe die Mutter wieder Verdacht geschöpft, und sie wollte unbedingt jeder Erklärung aus dem Wege gehen – zumindest vorläufig. Daher wollte sie schon am nächsten Tag abreisen. Alles war ja vorbereitet; es war also kein Grund vorhanden, noch länger zu zögern.

Da fiel ihr ein, daß sie gerade jetzt die Mutter allein antreffen würde. Rosalie war mit den Kleineren baden gegangen, und ihr Vater und Ivan waren längst in die Stadt gefahren.

Unten im Wohnzimmer saß die Mutter an der Nähmaschine zwischen Bergen von leinenen Laken, die sie gerade umsäumte.

»Immerzu Arbeit, liebe Mama!« sagte Jakobe und küßte sie auf die Stirn. »Wenn du nicht über deinen Abrechnungen sitzt, hast du irgendwas anderes Mühseliges vor.«

Ihr Ton machte die Mutter sogleich mißtrauisch. Doch ohne sich etwas anmerken zu lassen, klopfte Frau Lea der Tochter die Wange und erwiderte: »Ja, mein Kind, Arbeit war zu meiner Zeit das Mittel, das Leben ertragen zu können. Und übrigens – ich glaube, es gibt auch kein anderes.« Dann setzte sie das Rad wieder in Bewegung und ließ die Maschine rattern.

Frau Lea trug jetzt bei der Arbeit eine Brille – sie war im letzten Jahr überhaupt sehr gealtert. Jakobe ging eine Weile im Zimmer auf und ab, guckte ein wenig in eine Zeitung, legte sie wieder weg und setzte sich dann in einen Lehnstuhl neben die Mutter.

»Mama«, sagte sie, »ich habe doch neulich schon mit dir darüber gesprochen, daß ich Lust hätte, wieder einmal Rebekka in Breslau zu besuchen. Ich glaube, jetzt mache ich wirklich Ernst damit. Aber mein Geld ist in diesem Jahr zu früh alle geworden. Kannst du Papa nicht um einen kleinen Zuschuß bitten?«

»Das kann ich gern tun«, erwiderte die Mutter etwas zögernd. »Wann willst du denn reisen?«

»So schnell wie möglich. Vielleicht schon morgen.«

Die Mutter hielt die Nähmaschine an und sah ihr diesmal ins Gesicht. »Du willst also allein fahren?«

»Ja.«

»Und deine Hochzeit?«

Jakobe hatte sich vornübergebeugt. Sie ertrug den Anblick der Augen ihrer Mutter nicht; so unheimlich groß und schwarz waren sie hinter den geschliffenen Brillengläsern. »Ja – weißt du«, sagte sie, wobei sie ihre Hände krampfhaft schloß und wieder öffnete, »ihr könnt es ja ebensogut gleich erfahren – meine Verlobung ist gelöst.«

Es entstand ein langes Schweigen.

»Deswegen bist du also die ganze letzte Zeit so unzugänglich gewesen?«

»Bin ich so gewesen? Dann müßt ihr mir verzeihen!«

Die Mutter stand auf. Sie trat zu Jakobe, nahm ihren Kopf zwischen die Hände, bog ihn in die Höhe, so daß sich ihre Augen trafen. »Verheimlichst du uns noch etwas anderes, mein Kind?« fragte sie.

»Du hast kein Recht, mich danach zu fragen«, antwortete Jakobe mit Tränen in den Augen. »In Liebesangelegenheiten soll man verschwiegen sein – das hast du selbst mir beigebracht.«

Einen Augenblick stand die Mutter unschlüssig da. Dann zog sie ihre Hände zurück und entfernte sich.

»Was meinst du, wieviel Geld brauchst du?« Sie war an das andere Ende des Zimmers gegangen, wo sie einen Tisch abräumte; es war, als habe sie keine Ruhe mehr zum Stillsitzen.

Jakobe nannte eine größere Summe.

Die Mutter blickte wieder auf. »Du gedenkst also längere Zeit wegzubleiben?«

»Ja, das kannst du doch wohl verstehen, Mama, daß es für mich nach allem, was vorgefallen ist, hier in der Heimat nicht gerade angenehm sein wird. Eine aufgelöste Verlobung gibt ja immer Anlaß zu Klatsch und Tratsch. Es tut mir leid, daß ich dir und Papa diese Unannehmlichkeiten bereite – aber auch das müßt ihr mir bitte verzeihen.«

»Wir sind ja nie sehr froh über diese Verbindung gewesen. Jetzt haben wir allerdings geglaubt . . .«, begann die Mutter. Als sie aber Jakobes Ungeduld bemerkte, vollendete sie den Satz nicht. Und nun sprachen sie eine Zeitlang nur von praktischen Dingen, die die Reise und ihre Vorbereitung betrafen.

Als Jakobe wieder auf ihrem Zimmer war, legte sie die Sachen zum Einpacken bereit und suchte alles zusammen, was sie zurücklassen wollte. Ein großer Teil dieser Arbeit war übrigens schon getan. Im stillen hatte sie seit längerem die Vorbereitungen für diesen neuerlichen Aufbruch von daheim getroffen, der vielleicht ihr letzter wurde. Unter anderem hatte sie sorgfältig die Briefe ihrer Freundinnen geordnet, gebündelt und versiegelt und die Namen der Absenderinnen darauf geschrieben, damit nichts in unrechte Hände kam, falls sie nicht mehr zurückkehrte. Jetzt tat sie dasselbe mit Pers Briefen. Und als sie den Namen Sidenius auf das Päckchen schrieb, mußte sie trotz ihrer trüben Stimmung lächeln. Nun blieb sie also doch davor verschont, diesen barbarischen Namen zu tragen!

Kurz vor Tisch wurde sie zum Vater gerufen, der sie bei geschlossenen Türen in der Bibliothek erwartete. Er küßte sie schweigend auf die Stirn und begann sofort von ihrer Geldangelegenheit zu sprechen. Per erwähnte er mit keinem Wort. »Wieviel brauchst du denn, was meinst du?« fragte er und holte sein Notizbuch vor.

Jakobe nannte eine Summe, die beträchtlich kleiner war als die, von der sie der Mutter gegenüber gesprochen hatte. Sie hatte nicht den Mut, sich noch einmal der Frage auszusetzen, wie lange denn die Reise dauern solle.

Der Vater sagte nichts und schrieb die Summe auf, die er jedoch aus freien Stücken verdoppelte. »Morgen bringe ich dir einen Kreditbrief mit.«

Bei Tisch war Jakobe bemüht, munter auszusehen, und im Grunde war sie jetzt auch froher und unbeschwerter als seit langem. Der drückende Nebel der Ungewißheit, der ihr Bewußtsein so lange belastet hatte, wich nun allmählich. Hätte sie sich nur von der Vorstellung befreien können, daß sie dem Tod entgegenfuhr, dann würde sie sich ganz glücklich gefühlt haben.

Doch die Todesahnungen hatten sich nun einmal ihrer Phantasie bemächtigt. Wie Fieberträume jagten sie ihr jeden Augenblick kalte Schauer durch die Seele. Daher wollte sie sich ihrer Mutter auch nicht anvertrauen. Sie wollte nicht, daß auch sie sich ängstigte, und hoffte, durch ihre Lebhaftigkeit jedes Mißtrauen verscheuchen zu können.

Vater und Mutter schienen denn auch ziemlich beruhigt zu sein. Ivan dagegen war völlig vernichtet. Er, der sonst bei jedem Bissen über tausenderlei Dinge redete, sprach diesmal während der ganzen Mahlzeit kein Wort.

Nach Tisch ging er zum Vater in die Bibliothek, wo dieser schon saß und schrieb. »Störe ich?«

»Nein, du kommst mir gerade recht. Ich wollte dich schon rufen lassen. – Hast du was auf dem Herzen?«

»Sicherlich dasselbe wie du. Ich habe einen Brief von Sidenius bekommen – bloß ein paar Zeilen –, über die pekuniären Abmachungen zwischen dir und ihm. Er bittet mich, dir mitzuteilen, daß es natürlich seine Absicht ist, dir das Geld zurückzuzahlen. Er möchte aber eine kleine Frist haben.«

Darauf antwortete Philip Salomon nichts. Er konnte sich nicht überwinden, Pers Namen in den Mund zu nehmen. »Ich möchte dich um etwas anderes bitten«, sagte er und nahm das Schreiben, das er gerade ausgefertigt hatte. »Tu mir den Gefallen und fahre hiermit sofort zur Stadt. Sorge dafür, daß es so schnell wie möglich gedruckt wird. Wie du siehst, ist es eine Mitteilung an unseren Bekanntenkreis. – Du kannst dir unterwegs ausrechnen, wieviel Exemplare wir etwa brauchen. Aber sie müssen rechtzeitig fertig sein, so daß sie spätestens morgen mit der Abendpost verschickt werden können.«

Auf dem Papier standen nur die Worte: »Philip Salomon und Frau geben hiermit bekannt, daß die Verlobung ihrer Tochter Jakobe mit Herrn P. Sidenius aufgehoben ist.«

 

Am selben Abend, da diese Nachricht überall in dem großen Bekanntenkreis der Familie Salomon verbreitet wurde, kam Per zurück in die Stadt seiner Kindheit an den großen, stillen Wiesen. Unerkannt und ohne selbst irgendeinen von den alten Bekannten aufzusuchen, verbrachte er hier einen Tag allein mit seinen Erinnerungen. Und jetzt erging es ihm nicht so wie das letzte Mal, als er die Stadt beim Tode seines Vaters wiedergesehen hatte. Ihre kleinbürgerliche Unansehnlichkeit, ihre winkligen Gassen und armseligen Läden waren ihm damals halb komisch vorgekommen und hatten sein Mitleid erregt. Da allmählich vor allem die Kindheitseindrücke sein Gefühlsleben nährten und formten, hatte sein Verhältnis zur Vaterstadt einen fast religiösen Charakter angenommen. Aus Berlin und Tirol, aus Rom und Kopenhagen hatten seine Gedanken Pilgerfahrten nach diesem entlegenen Ort unternommen, wo die Fäden seines Schicksals zusammenliefen und sich in der Ewigkeit verloren. Die kleine Wiesenstadt am Fuß hoher Bergrücken war für ihn das A und O der Welt geworden, durch das der Weg zurückführte zum Ursprung aller Dinge.

Als er gegen Abend vom Friedhof zurückgekehrt war und im Café des Hotels beim Abendbrot saß, brachte ihm der Kellner einige Zeitungen, darunter auch die Tageblätter der Stadt, an deren Namen und Aussehen er sich noch vom Pfarrhaus her erinnerte. Aus diesem Grunde sah er zuerst in diese Lokalzeitung. Auf der ersten Seite stand ein längerer »Brief aus der Hauptstadt«, der verschiedenes vom augenblicklichen Gesprächsstoff in Kopenhagen wiedergab. Zwischen den neuesten Nachrichten vom Hof und aus der Theaterwelt, vom Tivoli und Zirkus fand er auch einen ausführlichen Bericht über einen »aufsehenerregenden Selbstmord« in der guten Gesellschaft. Ein junger, hoffnungsvoller Mann, ein ehemaliger Kavallerieoffizier, hatte sich unter sehr romantischen Umständen das Leben genommen. Er hatte, so hieß es, eine jungverheiratete Dame aus der jüdischen Geldaristokratie geliebt und geglaubt, daß seine Liebe erwidert werde. Als er sich dann in seinen Hoffnungen getäuscht sah, hatte er sich unmittelbar nach der Rückkehr von einem ihm zugestandenen Stelldichein eine Kugel durch den Kopf gejagt.

Per war beim Lesen abwechselnd bleich und rot geworden. Obwohl keine Namen genannt waren, obwohl er nichts darüber gehört hatte, daß Leutnant Iversen tot sei, war er sich doch sofort im klaren, daß dieser Bericht nur ihm und Nanny gelten konnte . . . Nanny, deren nackte Arne noch vor wenigen Wochen seinen Hals umschlungen hatten! Er las den Artikel mit einem Gefühl zu Ende, als krieche ihm eine Schlange den Rücken hinunter. In entsprechender Weise war die ganze blutige Begebenheit geschildert. Der gewissenhafte Briefschreiber verschonte die Leser weder mit der Beschreibung des beschmutzten Fußbodens, auf dem man die Leiche gefunden hatte, noch mit einer Schilderung des Sofas, von dem er heruntergerollt war, oder des mit der Gehirnmasse bespritzten Teppichs. Ja sogar der Inhalt eines Briefes, den der Tote hinterlassen hatte, wurde in einer Art und Weise ausgebeutet, daß er, ohne den gesetzlich geschützten Bereich des Privatlebens zu verletzen, sehr geschickt die Neugier des Publikums befriedigte.

Per begab sich auf sein Zimmer. Hier ging er unablässig auf und ab. Lange konnte er den Eindruck nicht verwinden. Ihm wurde schwarz vor Augen, wenn er daran dachte, wie nahe er selbst daran gewesen war, in den Netzen dieses elenden Weibes hängenzubleiben, daß er es ebensogut hätte sein können, der jetzt ein Opfer der skandalwütigen Federn der Journalisten wurde, falls nicht . . . Ja – falls nicht!

Er blieb stehen. Es war, als öffne sich bei diesem Wort tief in seinem Innern ein Fensterladen, und bei dem hereinströmenden Licht jagten halbvergessene Bilder aus seinem vergangenen Leben schattenhaft vorüber. Er sah sich selbst in jener Nacht vor langer Zeit, als er vor Frau Engelhardts Bett flüchtete, angeekelt von den Freuden, die Huren schenken. Er erinnerte sich an eine andere Szene, die noch weiter zurücklag, aus seinen Knabenjahren, als ihn das schwarzäugige Bettelmädchen vom Riisager Hof verführen wollte, wobei ihn aber im entscheidenden Augenblick seine Scheu rettete, die er bei den schamlosen Worten und Gebärden des verdorbenen Kindes empfand. Und er dachte an die vielen anderen Gelegenheiten, da er bestimmt sich selbst vernichtet hätte, falls – ja falls er nicht in seinem Innern instinktive Scheu vor der Sünde gehabt hätte, falls er nicht durch seine Eltern – und hier wohl vor allem durch seinen Vater und dessen jahrhundertealtes Pastorengeschlecht – in geheimem Bündnis mit den lebenerhaltenden Mächten gestanden hätte, denen er in jugendlichem Übermut hatte trotzen wollen. Das Sideniussche Erbe, das er den Fluch seines Lebens genannt hatte, es war geradezu ein Amulett geworden, ein gesegnetes Zeichen, das er verborgen bei sich getragen hatte und dem er es verdankte, daß es ihm nicht schlimmer ergangen war.

Doch diese angeborene Kraft, sich zu befreien, dieser Selbsterhaltungstrieb, der ganz unabhängig von allen Glaubenslehren gewirkt hatte – was war das anderes als Gottes eigener Geist, der »heilige Geist« der Bibel, der Schutzengel der Christen, der unsichtbar seinen Fuß vor dem Straucheln bewahrte und ihn erlöst aus allen Verirrungen führte?

Er hatte sich ans Fenster gesetzt, das nach der kleinen, menschenleeren Straße hinausging. Er wohnte ziemlich hoch und schaute hinaus über ein Gewimmel von roten Dächern und weißen Schornsteinen, hinter denen die Sonne gerade unterging.

Ihm war, als verstehe er erst jetzt so richtig sich selbst und alles, was in den letzten Tagen mit ihm vorgegangen war. Zwar war er sich schon auf Kærsholm seines Christentums bewußt geworden, aber er hatte sich hier wohl doch mehr dem Befehl seines aufgeschreckten Gewissens gebeugt als dem Zeugnis seines Herzens und seines Verstandes. Erst in diesen Augenblicken ging ihm der Glaube auf, wie das Licht der Erkenntnis, das alle dunklen Stimmungen durchbrach. Während er so dasaß, die Hand unter dem Kinn, und in den gelbroten Abendhimmel blickte, vollzog sich in ihm das große Wunder, die neue Menschwerdung, die schon so lange vorbereitet war.

Am nächsten Morgen ging er frühzeitig zum Friedhof hinaus. Er nahm Platz auf der kleinen Bank vor der Hecke, die das Grab der Eltern umgab. Es war ein schöner, sonniger, windstiller Augustmorgen, und er war ganz allein. Auf dem großen, von einer Mauer umgebenen Friedhof war kein Mensch zu hören oder zu sehen. Überall in der Luft flimmerte das Gespinst des Altweibersommers. Hecken und Büsche waren mit Silberfäden überzogen, und jeder Blütenkelch und Grashalm war schwer von goldenen Tropfen. Oben in den alten turmhohen Pappeln, die eine breite Allee über den Friedhof bildeten, säuselte es leise. Aber unten an den Gräbern regte sich kein Blatt, und die Stille war so tief, als entströme sie der Ewigkeit selbst.

Über eine Stunde konnte er ganz ungestört hier sitzen. Er war in einer glücklich-bewegten feierlichen Stimmung und ging ganz auf in dem ihm so fremden und wunderbaren Gefühl der Ruhe und des inneren Friedens. Sogar die Erinnerung an Inger trat in diesen Augenblicken in ihm zurück. Dagegen dachte er mitunter an Jakobe. Jetzt, da er selbst den Weg der Erlösung gefunden hatte, mußte er an diejenigen denken, die keinen Rat für ihr Leid wußten. Für Jakobe gab es wohl kaum Hoffnung. Doch für die fehlgeleitete dänische Jugend war gewiß die Zeit bald gekommen, da sie sich ergreifen ließ von einer Sonnenaufgangsstimmung, wie sie ihn jetzt beseelte und durchglühte. Er erinnerte sich an einige prophetische Worte aus Poul Bergers großer Bekenntnisdichtung:

»Nacht und Finsternis sind entschwunden. Gottes Tag mit Frieden und Glück bricht wieder an für alle, die beten wollen. Gleich den Wildenten, die die Hälse strecken, wenn sie auf ihrem langen Flug über öde Berge in der Ferne das Meer erblicken, gleich schmachtenden Soldaten, die sich nach tagelangem Marsch in sengender Sonne auf staubiger Landstraße am Fluß niederwerfen, um zu trinken; so – o Menschheit – sollst du deinen Durst stillen am wiedergefundenen Quell der Gnade!«

 

Der Bruch zwischen Jakobe und ihrem Verlobten erregte in dem ausgedehnten Bekanntenkreis der Familie Salomon größtes Aufsehen. Sogar auf der Börse besprach man das Ereignis. Zum zweiten Mal gelang es Per durch seine Verbindung mit dem Haus Salomon, daß er eine vielberedete Persönlichkeit in Kopenhagen wurde.

Nanny, die allmählich ihren Schreck über den Selbstmord von Leutnant Iversen überwand, war eifrig unterwegs, um sich aushorchen zu lassen. Schnell hatte sie die Zusammenhänge verstanden und fand aufrichtige Freude daran, zu erzählen, daß Jakobe, die Ärmste, so schändlich betrogen worden sei. In einem paradiesisch aussehenden Sommerkostüm mit unschuldsweißen, lang herabhängenden Florärmeln, ein Paar Engelsflügel auf dem Hut, ging sie bei Freunden und Bekannten aus und ein und vertraute ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, daß der Verlobte der Schwester – dieser gemeine Kerl –, statt nach Amerika zu gehen, sich in ein Bauernmädchen vergafft habe. Man stelle sich vor: in eine ganz gewöhnliche Landpomeranze. Und mit zum Himmel erhobenen Augen deklamierte sie:

»Er begoß seinen Schmerz und fand seinen Trost
Ganz unten bei der Sagosuppe . . .«

 

Unter denen, die das Gerücht auf Umwegen erfuhren, war Oberst Bjerregrav. Der alte Krieger war tatsächlich fest entschlossen gewesen, Per im Kampf um sein großes zukünftiges Werk zu unterstützen, ja notfalls persönlich gegen das Kopenhagener Publikum in die Schranken zu treten. Doch je mehr Tage vergingen, ohne daß er etwas von ihm sah, desto bedenklicher wurde er. Er ärgerte sich über den Unverstand, mit dem sich Per gerade jetzt auf die Bärenhaut legte, da seine Anwesenheit am allernotwendigsten war.

Anfangs hatte er es für eine neuerliche Äußerung von Pers jugendlichem Übermut gehalten. Nach und nach wurde ihm jedoch klar, daß hier etwas Ernstes dazwischengekommen sein mußte. Und als nun die Nachricht von der aufgehobenen Verlobung bis zu ihm gelangte, wurde er noch mehr verstimmt.

Unterdessen war Jakobe in aller Stille abgereist. Noch bevor Per in Kopenhagen ankam, war sie schon auf dem Weg nach Berlin. Nach ihrem langen, gefängnisähnlichen Alleinsein auf dem Lande erschien ihr sogar die eintönige Eisenbahnfahrt als Befreiung. Und als sie am Abend vom Stettiner Bahnhof ins Central-Hotel fuhr, genoß sie fast mit Wollust, wie die Weltstadt sie wie eine brausende Brandung umgab. Die Menschenmassen in der Friedrichstraße in der elektrischen Märchenbeleuchtung, die langen Reihen der Droschken, das Klappern der Pferdehufe auf dem Asphalt, die erleuchteten Geschäftspaläste, die Züge der Stadtbahn, die über ihrem Kopf dahinratterten, endlich das riesengroße Hotel selbst, in dem eilige Leute hin und her schwärmten wie Bienen in einem Korb, während auf Treppen und Korridoren alle möglichen fremden Sprachen erschallten – das alles ließ ihr Herz höher schlagen in schmerzlicher Sehnsucht nach dem Leben.

Sie fühlte sich wie ein Mensch, der in seine Heimat zurückgekehrt ist. In diesem brodelnden, lichtumstrahlten Menschengewimmel fühlte sie sich geborgen. Zwar wußte sie gut, wieviel Schlechtes sich darin verbarg, wie viele armselige Schiffbrüchige es täglich zu Boden warf und unter seinem Schlamm begrub. Sie kannte die hilflosen Scharen der Armen in den großen Weltstädten, diese graue, bleiche, hohläugige Armut, mit der verglichen sich die rotwangige Armut auf dem Lande noch wie Wohlstand ausnahm. Und dennoch! Sogar das Leben dieser Heimatlosen, dieser heruntergekommenen Großstadtbettler erschien ihr in diesem Augenblick hundertmal reicher als das gesicherte Maulwurfsdasein des Bauern. Und sie begriff so gut, daß sie sich trotz Hunger und Elend weiter an das Großstadtpflaster klammerten, bis der Tod sie wegspülte. Solch eine Millionenstadt hatte etwas von der Zauberkraft des Meeres. Es lag etwas von der märchenhaften Zugkraft der Wellen in diesem mörderischen Daseinskampf, in diesem wilden Taumel, in diesem unaufhörlichen Auf und Ab, das bis zum Augenblick des Untergangs unablässig mit neuen, grenzenlosen Möglichkeiten lockte.

Wie jedesmal langten Jakobes Gedanken schließlich bei dem Kind an, das sie zur Welt bringen sollte. Sie hoffte, daß es – wenn es nach seinen nordischen Vorfahren artete – nicht zu diesen Maulwurfsmenschen gehören würde, zu diesen an das Heimatdorf gefesselten Sklaven, für die die Welt oder doch das Glück aufhörte, wenn sie nicht mehr den Rauch aus dem Schornstein ihrer Mutter sehen konnten. Sie hoffte, daß ihr Kind in diesem Fall ein Sproß des Meeres werden möge, eine Wikingernatur, erfüllt von kampfesfrohem Fernweh, das mit der Unrast ihres jüdischen Blutes verwandt war, mit diesem Wandertrieb, mit diesem ruhelosen, aber zielbewußten Streben, das so viele Männer und Frauen ihres Stammes zu Führern der Menschheit gemacht hatte.

Denn immer mehr erschien es ihr als die endgültige Lebensweisheit, daß nur im Kampf Glück war – wenn aus keinem anderen Grund, dann deshalb, weil er das tiefste Vergessen schenkte. Mit dem Leben verhielt es sich eigentlich wie mit dem Krieg: Die mitten im Schlachtgetümmel waren, dachten am wenigsten an Gefahr, fürchteten sich am wenigsten vor dem Blut. Stets waren es die im Troß, die das Magenkneifen hatten. Auf den bleichen Gesichtern der Marodeure spiegelten sich Schrecken des Kampfes.


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