Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel

Im August hatte Per seine Kampfschrift beendet und las sie eines Tages seinem Freund Ivan vor, der nicht viel davon verstand, aber dennoch bleich vor Erregung war und sofort um die Erlaubnis bat, die Druckkosten bezahlen zu dürfen.

Nun bereitete er sich also darauf vor, auf die große Reise zu gehen. Bereits seit einiger Zeit nahm er Sprachunterricht nach einer »leicht faßlichen Methode« und hoffte in ein paar Wochen zum Aufbruch bereit zu sein. Aber vorher wollte er, wie er es sich vorgenommen hatte, um Jakobes Hand anhalten. Und er beschloß, dies am 3. September, der auf einen Sonntag fiel, zu tun. Bis dahin hatte ihm der Schneider den ersten seiner neuen Anzüge versprochen, die er nach englischer Mode bequem arbeiten ließ, weil Jakobe einmal in seiner Gegenwart – wohl absichtlich – gesagt hatte, sie ziehe diese der französischen vor.

Ursprünglich hatte er warten wollen, bis sein Buch erschienen und in der Presse besprochen war. Doch nun war er ungeduldig geworden und wollte der Unruhe und Spannung ein Ende bereiten, in die ihn der Gedanke an die Werbung versetzte. Zuletzt konnte er nachts kaum noch schlafen. Sein ganzes Wohl und Wehe hatte er auf diesen einen Wurf gesetzt. Deshalb überlief es ihn eines Tages heiß und kalt, als er Leutnant Hansen-Iversen in einem Café traf, der bestimmt zu wissen glaubte, die Verlobung Jakobes mit Eybert sei jetzt eine abgemachte Sache.

Am festgesetzten Tag – es war ein strahlender Sonnentag, auf allen Bahnhöfen wimmelte es von Menschen – ging er bereits vormittags von Hause fort, in der Hoffnung, Jakobe allein zu finden und mit ihr unter vier Augen reden zu können, ehe der übliche zahlreiche Sonntagsbesuch eintraf.

Aber gleich von Anfang an hatte er Unglück, denn es erwies sich, daß er den Tag sehr schlecht gewählt hatte. Als er gegen zwei Uhr auf »Skovbakken« ankam, fand er das Haus voller Gäste. Die drittälteste Tochter des Hauses, die fünfzehnjährige Rosalie, hatte Geburtstag, und einige weibliche Verwandte sowie ein schmetterlingsbunter Schwarm von Freundinnen des jungen Mädchens waren neben anderen Bekannten erschienen, um zu gratulieren. Unter den Letztgenannten befand sich auch der lange Kandidat Balling, der Literaturfanatiker, der – nachdem er bei Nanny abgeblitzt war – nun Rosalie dazu ausersehen hatte, einst an seinem erhofften Ruhm teilzuhaben.

Zugegen war auch noch ein anderer Herr, den Per schon früher hier getroffen hatte: Kandidat Israel, ein ältlicher, unverheirateter Privatlehrer, der auf der Salomonschen Seite mit dem Haus verwandt war. Er war ein kleiner, unbeholfener, schlicht gekleideter Mann mit scheuen, nervösen Bewegungen. Stets steckten seine Hände in den Rockärmeln. Er drehte den fast kahlen Kopf, der auf einem dünnen Vogelhals saß, bald hierhin, bald dahin, als befürchte er ständig, jemandem im Wege zu sein. Wenn man ihn nicht gerade reden hörte – und er war am liebsten nur Zuhörer –, erriet man schwerlich, daß er Aron Israel war, der in gewissen Kreisen einen Ruf genoß, der an den Dr. Nathans heranreichte. Er war ein stiller Gelehrter mit einem ungeheuren Wissen auf verschiedensten Gebieten. Und doch dachte man nicht zuerst an seine Gelehrsamkeit, wenn sein Name genannt wurde. Was ihm Ansehen eintrug, war seine seltene Uneigennützigkeit, eine Selbstlosigkeit von besonderer, erhabener Art, wie man sie namentlich bei Juden antrifft. Vergeblich waren an ihn ehrenvolle Berufungen an die Universität ergangen. Er hatte nicht einmal eine Lehrerstelle annehmen wollen, um keinem, der vielleicht darauf angewiesen war, den Platz streitig zu machen. Er war ziemlich reich, lebte dennoch sehr bescheiden und zurückgezogen, gab aber im stillen bedeutende Summen weg, vornehmlich an arme Studenten. Mit seinen zwei älteren, ebenfalls unverheirateten Schwestern bewohnte er ein altertümliches Haus in der Svjertegade. Seine enge Stube, deren Wände von der Decke bis zum Fußboden gefüllte Regale aufwiesen, war ein Treffpunkt für seine ehemaligen Schüler und für andere junge Studenten, die ihn um Rat fragten, Bücher von ihm liehen und seine Gefälligkeit auf jede Art rücksichtslos ausnutzten. Größere Originalität als Wissenschaftler oder Pädagoge besaß er jedoch nicht. Nur wer die Menschen vor allem nach ihrem Charakter beurteilte, konnte ihn neben einen revolutionären Geist wie Dr. Nathan stellen. Er selbst bewunderte diesen vielumstrittenen Mann außerordentlich und trat oft mit aller Leidenschaft für ihn ein. Er zog dann gegen die Engherzigkeit zu Felde, mit der man manchmal auch in jüdischen Kreisen – teils aus Furcht, teils aus Eifersucht – Nathans Auftreten mißbilligte und ihn nach den allerdings oft komischen kleinen Schwächen beurteilte, die häufig gekrönten Geistesgrößen anhaften und wie schellenklingende Narrenpagen die Schleppe königlichen Purpurs tragen.

Per, der sich von Herrn Israels unscheinbarem Äußeren täuschen ließ und auch nicht die zum Verständnis seines Wertes nötigen Voraussetzungen mitbrachte, hatte ihn stets recht überheblich behandelt. Dennoch hatte ihm dieser Mann ständig großes Interesse entgegengebracht. Er war stets ein aufmerksamer Zuhörer gewesen, wenn sich Pers Zunge nach Tisch löste und er laut und vortragsmäßig seine Zukunftsideen entwickelte. Auch heute war Per noch nicht lange im Zimmer, als Herr Israel sich ihm bescheiden näherte und eine Unterhaltung über seine Studien begann.

Jakobe hatte sich bisher nicht sehen lassen. Sie war auf ihrem Zimmer und erschien erst, als die meisten Gäste gegangen waren. Sie hatte sich den forschenden Blicken, vielleicht gar den taktlosen Fragen derjenigen nicht aussetzen wollen, die auf ihre Verlobung mit Eybert warteten – zumal ja das entscheidende Wort in diesem Verhältnis noch nicht gesagt war.

Sie selbst hatte Eyberts endgültige Frage bislang abgewehrt. Sie wollte die Entscheidung hinauszögern, bis Per abgereist war. Zu ihrer Beschämung mußte sie gestehen, daß er sie seit geraumer Zeit mehr beschäftigte, als dies angängig war in einem Augenblick, da sie im Begriff war, sich einem anderen hinzugeben. Während der letzten schlaflosen Nächte mußte sie sich Gewalt antun, nicht an ihn zu denken; sie war indessen überzeugt, daß die entwürdigende Macht, die er über ihre Phantasie gewonnen hatte, von dem Tage an zu Ende war, da sie ihn fern wußte.

Als sie ihn jetzt in seinem neuen englischen Anzug erblickte, kroch sie unwillkürlich in sich zusammen. Der entschlossene, forschende Blick, mit dem er sie beobachtete, weckte in ihr eine Ahnung von dem Entschluß, mit dem er gekommen war. Zuerst vermied sie daher, in seine Nähe zu kommen. Doch als sie erkannte, daß sie seiner Werbung wohl kaum entgehen konnte, und da auch sie diesem unerträglichen Verhältnis ein Ende machen wollte, entschloß sie sich, so schnell wie möglich eine Entscheidung herbeizuführen.

Sie ging allein in den Garten hinunter und spazierte auf einem der Wege in der Nähe des Hauses auf und ab. Sie vermutete, er würde sie hier aufsuchen, wo sie am ehesten ohne Zeugen blieben.

Sie hatte sich in ihrer Berechnung nicht getäuscht. Schon nach wenigen Minuten vernahm sie seine schnellen Schritte in einem der Seitengänge. Plötzlich wurde ihr schwindlig. Sie blieb stehen und suchte gleichsam Zuflucht bei einer großen Steinvase, die auf einem mit Efeu bewachsenen Sockel stand. Sie tat so, als sei sie mit dem Ordnen einer Ranke beschäftigt, die sich am Stein hinaufwand; doch ihre Hände zitterten. Als sich die Schritte näherten, nahm ihr Herzklopfen so stark zu, daß die Sonnenflecken auf dem Kies vor ihren Augen tanzten. Nun hörte sie ihn hinter sich, und sie drehte sich um.

»Was wollen Sie von mir?« schrie sie fast, als sei sie überrascht worden. »Warum verfolgen Sie mich?«

Per entblößte ehrerbietig den Kopf und bat um Erlaubnis, einen Augenblick mit ihr sprechen zu dürfen. »Aber Sie sehen so müde aus, Fräulein Jakobe! Wollen Sie sich nicht lieber setzen?«

Er wies auf eine Bank, die sich an den Sockel der Steinvase lehnte. Sie konnte sich wirklich kaum aufrecht halten und mußte Platz nehmen.

Als sie saß, setzte sich Per in angemessener Entfernung neben sie. Zwei Minuten später hatte er um sie geworben.

Er sprach das, was man – wie er wußte – bei einer solchen Gelegenheit sagen mußte, und fügte hinzu: »Glauben Sie mir, Fräulein Jakobe, ich hätte darüber nicht gesprochen, wenn es mir möglich gewesen wäre, zu schweigen. Denken Sie nicht, daß es nur eine flüchtige Sommerverliebtheit sei . . . was Sie vielleicht annehmen wegen der kurzen Zeit, die ich das Glück hatte, Sie zu kennen. So kurz die Zeit auch war, sie hatte für mich trotzdem in mancherlei Hinsicht entscheidende Bedeutung. Schon früher gestand ich Ihnen, daß von dem Tage an, da ich das Haus Ihrer Eltern betrat und Sie zum ersten Mal sah, ein neues Leben für mich begann. Fräulein Jakobe! Man behauptet, es mangle mir nicht an Fähigkeiten – und ich glaube es selbst! Ich bilde mir sogar ein, man brauchte mich dringend hier in der Heimat. Zugleich aber spüre ich, daß ich ohne Sie wohl kaum das erreichen kann, was ich erstrebe . . . Ich weiß recht gut, wieviel Sie schon für meine Entwicklung bedeuteten. Nicht allein mein persönliches Glück, sondern meine ganze Zukunft und mein Wohlergehen hängen von der Antwort ab, die Sie mir nun geben.«

Er hatte ausreden dürfen. Sie hatte sich nicht entschließen können, ihn zu unterbrechen, denn sie mußte sich eingestehen, daß nur das unwürdige Verlangen, diese Liebesworte zu hören, sie zum Bleiben veranlaßt hatte. Außerdem lag etwas in seiner Stimme, das ihre Widerstandskraft erlahmen ließ. Ihr tiefer männlicher Klang überwältigte und betäubte sie. Obwohl er in seinen letzten Worten mehr unklug offenherzig gewesen war, als er es selbst ahnte, begriff sie dennoch nicht, daß er die ganze Zeit über mehr von sich erfüllt gewesen war als von ihr.

Durch ihr Schweigen und ihren finsteren Gesichtsausdruck beunruhigt, fuhr Per fort: »Es ist mir sehr wohl klar, wie vermessen es von mir ist, um Ihre Hand anzuhalten. Sie sind eine vielumworbene Dame, schön, klug, reich; ich hingegen bin nur ein armer unbekannter Ingenieur, der lediglich seine Zukunftsaussichten zu bieten hat. Allein ich fordere keine endgültige, entscheidende Antwort von Ihnen. Ich bitte Sie nur, mir ein klein wenig Hoffnung . . . den Bruchteil eines Versprechens mit auf meine Reise in die Welt zu geben. Vertrauen Sie mir, Fräulein Jakobe! Es gibt nichts, was ich nicht wagen . . . nichts, was ich nicht tun werde, um Ihren Beifall zu erringen!«

Während der erste Teil seiner Rede schon vorher genau überlegt war, hatte er das letzte unvorbereitet aussprechen müssen; nur Jakobes anhaltendes Schweigen hatte ihn zu so weitgehenden Eingeständnissen veranlaßt. Nun wußte er nichts mehr zu sagen. Er verbeugte sich, wie um zu erklären, daß er bereit sei, sein Urteil zu empfangen.

Endlich nahm sich Jakobe zusammen. »Ich sollte Ihnen eigentlich für Ihre gute Meinung über mich danken. Im übrigen bin ich fest davon überzeugt, daß Sie Ihre Gefühle für mich weit überschätzen. – Ohnehin«, und sie schnitt ihm schnell das Wort ab, als er Einwände erheben wollte, »ist jede weitere Erklärung überflüssig, wenn ich Ihnen bekenne, daß ich – bereits verlobt bin.«

»Es stimmt also doch? . . . Mit Eybert, nicht wahr?«

»Danach zu fragen, haben Sie kein Recht«, erwiderte sie kurz angebunden, stand auf und ging. – Wie von einem Hirnschlag getroffen, blieb Per auf der Bank zurück und starrte ihr ausdruckslos nach.

Auf der Terrasse saßen Frau Salomon und Aron Israels zwei kleine dickliche, schlichte und einfältige Schwestern. Sie riefen Jakobe an, als sie vorbeieilte. Aber sie tat, als hörte sie es nicht, und lief in ihr Zimmer hinauf. Sobald sie eingetreten war, zog sie einen Handschuh ab und preßte den Handrücken gegen die Wangen, um zu fühlen, ob sie brannten. Ihr Busen wogte, ihre Knie zitterten. Daß ihr das begegnen mußte! Sie kam sich vor wie jemand, der glücklich einer Todesgefahr entronnen war . . . Hastig und unbeherrscht befreite sie sich auch vom anderen Handschuh und von ihrem Hut und warf alles auf das Bett, so als werfe sie etwas Schmutziges von sich. Gänzlich ermattet sank sie auf einen Lehnstuhl nieder. – Gut, daß es nun überstanden war, daß sie ihn nicht mehr sehen würde! Sie schloß die Augen und drückte die Hand gegen die Seite. Oh, dieses wilde Herzklopfen! Wie sie es zur Genüge kannte! Wieviel stürmische Stunden, wieviel kummervolles Glück es zurückhämmerte in ihre Erinnerung!

In ihrer Beschämung versuchte sie, sich den Einfluß, den dieser fremde unsympathische Mann auf sie hatte, damit zu erklären, daß nicht er selbst, sondern die von ihm wachgerufenen Erinnerungen sie so mit Unruhe erfüllten. Um Pers Bild zu verdrängen, ließ sie die großen Schatten ihrer ersten Jugend an sich vorüberziehen, durchlebte noch einmal all ihre alten Leidenschaften von dem Zeitpunkt an, da sie als dreizehnjähriges Mädchen die schmerzliche Wollust unter ihrer linken Brust gefühlt hatte, bis zur letzten folgenschweren Enttäuschung, nach der ihr Herz sich schloß wie eine zurückgestoßene Hand, die sich zur Faust ballt.

Doch nun erklang der Gong, der zu Tisch rief. Sie fuhr hoch und schaute nach der Uhr. Es waren wirklich fast zwei Stunden vergangen. – Und Eybert wartete sicher unten! Sie faßte sich an die Stirn und wurde ganz still. An ihn hatte sie in all den Stunden nicht ein einziges Mal gedacht!

Die Vormittagsgäste waren längst gegangen. Nur ein paar Freundinnen des Geburtstagskindes waren noch da, außerdem Kandidat Balling, Aron Israel und seine Schwestern. Balling umkreiste mit hochgekämmter Löwenmähne Rosalie, die freudestrahlend mitten im Zimmer stand, ihren Arm in den Philip Salomons geschoben, bereit, zu Tisch zu gehen und als Königin des Tages den Ehrenplatz an der Seite ihres Vaters einzunehmen. Eybert war tatsächlich gekommen. Und an der anderen Ecke des Zimmers unterhielt sich Per scheinbar ruhig mit Ivan.

Rasende Erbitterung erfüllte Jakobe, als sie ihn erblickte. Doch dann fiel ihr ein, daß er wahrscheinlich hiergeblieben war, um keinen Verdacht zu erregen und durch ein plötzliches Verschwinden Anlaß zu Klatsch zu geben. Wie peinlich es ihr auch war, mit ihm zusammen sein zu müssen – im stillen war sie ihm für seine Umsicht dankbar.

Als man sich zu Tisch begab, sorgte sie dafür, daß sie so weit wie möglich voneinander entfernt saßen. Überhaupt bemühte sie sich, so zu tun, als wäre er gar nicht da. Sie konnte aber nicht umhin, zu bemerken, daß er gegen seine Gewohnheit den Wein kaum anrührte. In auffälliger Weise füllte er mehrmals sein Glas mit Wasser, das er lediglich mit ein paar Tropfen Wein färbte. Schließlich war zu erkennen, daß er das in besonderer Absicht tat. Er führte irgend etwas im Schilde und wollte sich im voraus gegen den Verdacht sichern, er habe unter Alkoholeinfluß gehandelt.

Wilde Angst erfaßte sie auf einmal . . . Was hatte dieser wahnsinnige Mensch vor?

Das Essen ging jedoch zu Ende, ohne daß etwas geschah. Die Gesellschaft zerstreute sich im Garten; die jungen Damen rauchten Zigaretten, die Herren dicke schwarze Zigarren mit dem Bismarckporträt auf der Leibbinde.

Frau Salomon, Eybert, Aron Israel und seine zwei Schwestern hatten sich in eine geschlossene Gartenlaube gesetzt, wo die Hausfrau persönlich den Kaffee einschenkte. Auch Jakobe hatte hier Zuflucht gesucht. Plötzlich verdunkelte Pers breite Gestalt den Eingang. Sein Gesichtsausdruck war sorglos und heiter, die Haltung aber herausfordernd.

»Verzeihen Sie, Herr Sidenius«, sagte Frau Salomon, die in jüngster Zeit dem unverfrorenen Freund ihres Sohnes gegenüber mit großer Bestimmtheit auftrat. »Hier darf nicht geraucht werden. Ivan ist gewiß unten am Wasser. Der Kaffee wird gleich dorthin gebracht.«

Per zog sich schweigend zurück, und Jakobe schaute die Mutter überrascht an. So dankbar sie ihr auch war, daß sie ihn weggeschickt hatte, fühlte sie sich dennoch von ihrem Ton ein wenig verletzt. Ahnte sie etwas? Es war nicht unmöglich. Die Mutter hatte einen wachen Blick.

Im übrigen war Jakobe fest entschlossen, wenn Per zukünftig nicht aus eigenem Taktgefühl das Haus meiden sollte, die Eltern über seine Werbung zu unterrichten. Um jeden Preis wollte sie davor bewahrt bleiben, noch öfter mit ihm zusammenzutreffen. Sie lehnte ihren müden, schmerzenden Kopf gegen die Balkenwand der Laube und schloß einen Augenblick die Augen im schönen Vorgefühl der Ruhe, die sie endlich wieder genießen würde, wenn sie ihn nicht mehr sehen mußte.

Im selben Augenblick hörte sie seinen Namen nennen. Aron Israel hatte in aller Unschuld angefangen, über den zwei Wochen alten Artikel im »Falken« zu reden. Hell begeistert sprach er sich über »diese kühnen, phantasievollen Zukunftspläne für Land und Leute« aus.

»Ich bin . . . natürlich . . . nicht imstande zu sagen . . . oder zu beurteilen, ob das Projekt praktisch durchführbar ist«, erklärte der kleine Herr in seiner seltsam stammelnden verlegenen Art. »Doch Herr Sidenius scheint ja ernsthaft zu glauben, daß wir in Anbetracht unserer besonderen geographischen Lage und unserer . . . wie man bemerken muß . . . bisher ungenutzten . . . oder . . . besser . . . bisher unbeachteten natürlichen Hilfsquellen spezifische Bedingungen haben, ein Industrieland ersten Ranges zu werden, vor allem, wenn die modernen Maschinen, von denen er spricht . . . diese Wellenmaschinen und Windmotore oder wie er sie nennt . . . erst entwickelt sind. Wie gesagt, ich erdreiste mich nicht, die technische Seite der Sache einschätzen zu wollen; aber mir scheint, allein in dem Gedanken liegt etwas unerhört Ansprechendes . . . die Naturkräfte zu verwandeln, die wir bisher als unsere Feinde und als Vernichter des Landes betrachtet haben . . . den Westwind, den Wellenschlag, die Luftbewegung überhaupt . . . sie zu verwandeln in unsere wirklichen Reichtumsquellen, in einen unerschöpflichen Energievorrat, der gerade unsere ärmsten Gebiete in ein wahres Eldorado umbilden könnte. Das klingt fast wie ein Märchen.«

Seine Worte erregten einige Unruhe unter den Zuhörern. Eybert lächelte etwas nervös. Frau Salomon bot noch mehr Kaffee an. Kandidat Balling, der nun auch hereingekommen war, sah den Redner mitleidsvoll an. Sogar die beiden alten Fräulein Israel bekamen nach und nach das Gefühl, als habe sich der Bruder auf unsicheren Boden vorgewagt. Als er schwieg, entstand eine längere Pause.

Eybert fühlte sich berufen, die Situation zu retten. »Ja, an Märchendichtung, mein Lieber, haben wir hierzulande nie Mangel gehabt.«

»Hört!« tönte es wie Löwengebrüll aus Ballings Mund, dessen Blutdurst erwachte, sobald jemand gelobt wurde.

Ermuntert durch diesen Zuruf, fuhr Eybert fort: »Mit den Wildgänsen fliegen zu wollen ist ja leider stets unsere Nationalkrankheit gewesen, und es ist für uns wahrhaftig – politisch wie kommerziell – eine teure Liebhaberei geworden. Nathan schrieb einmal in einem Nachruf über eine verkrachte Existenz aus seinem Bekanntenkreis die ewig wahren Worte: Hierzulande lebt, altert und stirbt man als Phantast.«

Aron Israel zupfte eine Weile an seinem dünnen Spitzbart. Dann entgegnete er fast entschuldigend: »Ja, liegt darin nicht auch ein gewisser Aberglaube? Ich meine, unsere jungen Leute bleiben . . . durchweg . . . in ihrem Streben auffallend dicht auf dem Boden der Tatsachen. Als Lehrer habe ich Gelegenheit, unsere Jugend recht genau kennenzulernen; und oft hat es mich verblüfft, wie selten ihre Einbildungskraft von Dingen beherrscht wird, die außerhalb des alltäglichen Lebens liegen. In neun von zehn Fällen gehen ihre Zukunftsträume nicht über eine bescheidene Lebensstellung hinaus: ein Bürgermeisteramt, eine einträgliche Arztpraxis, eine beschauliche Pfarrstelle auf dem Lande. Für mich liegt daher etwas Interessantes . . . etwas Anziehendes darin, einen jungen Mann zu treffen, der – wie Herr Sidenius – sich so hohe Ziele setzt . . . so phantastisch große Ziele, wenn Sie wollen . . .«

»Ich möchte mit Ihnen nicht über einzelne Worte streiten«, unterbrach ihn Eybert ziemlich scharf, während Frau Salomon nochmals Kaffee anbot und die beiden Fräulein Israel verstohlen durch Zeichen bemüht waren, ihren Bruder zum Schweigen zu bringen. »Vielleicht sollte man uns in der Tat eher ein verträumtes als ein phantastisches Volk nennen. Das Resultat ist – leider – dasselbe.«

Diese Worte bestätigte Balling mit einem Spruch aus seiner Zitatensammlung: »Ja, wir sind ein Nebelvolk mit unklarem Verstand und schwachem Willen«, rief er aus, ohne allerdings den Autor zu nennen. Statt dessen warf er sich um so mehr in die Brust.

Aron Israel wartete wieder eine Zeitlang bescheiden ab, ob die anderen noch mehr hinzufügen wollten. Dann erwiderte er: »Ist es denn schlimm, wenn ein junger Mann träumt? Ich meine . . . haben nicht unsere Großen ihren Wert für uns gerade durch ihre reichen Träume? Ja hat überhaupt je einer in der Welt eine bedeutende Tat vollbracht, ohne sie zuvor geträumt zu haben? Im Grunde entwickelt sich wohl jede Wirklichkeit aus unseren Phantasien und . . .«

»Gottbewahre!« fiel ihm Eybert lachend ins Wort. »Das ist eine andere Sache! Wenn man sich nicht nur mit dem Phantasieren begnügt, sondern seine Träume auch zu verwirklichen versteht, ja dann . . .«

»Ich weiß nicht recht. Für die Persönlichkeit selbst existiert jedenfalls kaum ein entscheidender Wertunterschied zwischen beiden Dingen. Das heißt . . . liegt nicht im Traum ebenso wie im Wünschen und Hoffen – als dessen Vater und Mutter man sie vielleicht bezeichnen könnte etwas von einer geheimen Zauberkraft, die die Persönlichkeit über die Grenzen hinaus wachsen lassen kann, die Geburt, Erziehung, Gewohnheit, Erbe und andere Zufälligkeiten abgesteckt haben . . . und somit . . . jedenfalls anscheinend . . . die Schranken der Natur zu überwinden vermag. Selbst wenn es Herrn Sidenius beispielsweise nicht gelingt, seine kühnen Phantasien zu verwirklichen . . . was ohne Zweifel das Wahrscheinlichere ist . . . so können sie dennoch für seine persönliche Entwicklung von größter Wichtigkeit sein. Und das ist . . . ideell gesehen . . . wohl das Wichtigste.«

»Entschuldigung, meine Herren«, unterbrach Frau Salomon etwas nervös die Unterhaltung; sie hatte Jakobe beobachtet, die mit angestrengtem Ausdruck in den Augen zuhörte. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber wir wollten noch gern eine Spazierfahrt machen. Der Wagen hält vor der Tür. Ich höre meinen Mann schon mit der Peitsche knallen.«

Aron Israel wurde verlegen. Alle erhoben sich sofort und gingen. Auch Jakobe folgte, doch langsamer und in gewissem Abstand. Als sie die breite Marmortreppe hinaufgestiegen und auf der Terrasse vor der Villa angekommen war, blieb sie hier einen Augenblick stehen, stützte die Hand auf das Geländer und sah gedankenvoll aufs Meer hinaus.

Der Wagen – ein Charaban – hielt vor der Treppe, und auf dem Kutschbock saß Philip Salomon in höchsteigener Person, zwei der größeren Kinder neben sich. Rosalie und ihre Freundinnen zogen es vor, zu Hause zu bleiben und Krocket zu spielen. Kandidat Balling wollte daher ebenfalls nicht mit. Auch Aron Israel und Onkel Heinrich entschuldigten sich, der Abend werde ihnen zu kühl. Nanny, nach der der Vater nun fragte, war nicht zu finden; gleich nach Tisch war sie fortgegangen, denn sie hatte sich mit Dyhring am Bahnhof verabredet. So gab es reichlich Platz für Per und Ivan, was ganz gegen Frau Salomons Berechnungen war. Noch im letzten Augenblick versuchte sie, die beiden zum Bleiben zu überreden. Sie schlug ihnen vor, Ballings Beispiel zu folgen und sich den jungen Mädchen gegenüber galant zu zeigen. Doch Per tat, als hörte er es nicht, und setzte sich behäbig auf einen der äußeren Plätze.

Die Sonne ging unter. Über dem Wald leuchtete der Himmel rot. Kein Windhauch regte sich. Zuerst fuhr man ein Stück auf dem Strandweg entlang, dann bog man in den Wald ein, wo sie Dämmerung umfing. Hier ließ Philip Salomon die Pferde auf dem sandigen Weg in Schritt fallen.

Die Unterhaltung im Wagen war die ganze Zeit über recht lebhaft, besonders Eybert redete sehr viel. Per dagegen sagte kein Wort. Unbeweglich saß er da; nur seine Augen blickten hin und her, und unablässig wechselte er die Farbe. Nachdem ihn Jakobe am Vormittag im Garten verlassen hatte und die erste Wirkung ihrer Antwort etwas verblaßt war, wiederholte er im stillen immerzu den Satz: »Ich will noch nicht aufgeben.« Zuviel hatte er auf diese Hoffnung aufgebaut, um sie nun gleich fahrenzulassen. Das Fundament seines Lebenswerks würde einstürzen, so meinte er, wenn ihn hier das Glück im Stich ließ. – Und doch, alle diese Zukunftssorgen waren im Laufe des Tages mehr und mehr durch den Kummer oder die Enttäuschung verdrängt worden, daß er Jakobes Liebe nicht besaß. Er hatte nicht gewußt, daß sie so viel für ihn bedeutete. Zwar hatte er noch immer einen Blick dafür, daß sie keine Schönheit war. Doch der Gedanke war ihm geradezu unerträglich, daß ein anderer sie besitzen sollte. Eigenliebe und verletzte Eitelkeit hatten ihn in den vergangenen Stunden so weit erhitzt, daß er sich einbildete, er liebe sie wirklich. Zum ersten Mal in seinem Leben glaubte er das Wort Anbetung zu verstehen. So wie er sie jetzt vor sich sah, das schmale blasse Gesicht von dunklem vollem Haar umrahmt, gegen den Hintergrund eines flammenden Sonnenuntergangs und der schwarzen, feierlich anmutenden Bäume, erschien sie ihm als eine Heilige. Er geriet außer sich bei dem Gedanken, daß dieser weichliche Eybert oder sonst ein Herr Fischblut ihre stolze schöne Jungfräulichkeit entweihen, daß überhaupt ein anderer als er den unergründlichen Sibyllenblick dieser pechschwarzen Augen in irdischer Liebeswonne brechen lassen sollte! – Aber das würde auch nicht geschehen. Mit zusammengebissenen Zähnen wiederholte er sich, daß er noch nichts verloren geben wolle. Seine Lebensdevise »Ich will!« mußte nun ihre Probe bestehen. Auf Biegen oder Brechen!

Was er eigentlich unternehmen wollte, um Jakobes Gunst zu erzwingen, wußte er noch nicht. In dieser Beziehung wollte er den Zufall walten lassen und blind seinen Eingebungen folgen. Auf einen kleinen Triumph konnte er in seiner Niederlage bereits bauen. Bei Tisch und jetzt während der Fahrt glaubte er bemerkt zu haben, daß Jakobe die Liebenswürdigkeiten Eyberts lästig waren und sie sich mitunter zwingen mußte, nicht ungehalten zu werden über den ziemlich vertraulichen Ton, den er sich ihr gegenüber schon erlaubte. Nun machte er eine neue Beobachtung. An einem der roten Gatter, die für sie geöffnet wurden, stand eine arme Frau und verkaufte Blumen. Eybert erwarb einen Strauß und überreichte ihn Jakobe mit galanten Worten. Sie nahm ihn auch, doch ohne zu danken. Per bemerkte, wie sie ihn die ganze Zeit auf dem Schoß hielt, ohne ein einziges Mal daran zu riechen.

Unterdessen waren sie nach Raadvad gekommen und verließen den Wald. Eine Weile fuhren sie den Lundtofter Weg entlang, dann bog Philip Salomon links in einen Nebenweg ein, um über Eremitagesletten heimzukehren.

Der Abend war schon weit vorgeschritten. Von den Niederungen und den kleinen Teichen stieg weißer Nebel auf. Überall war es still. In der weiten Ebene hörte man keinen anderen Laut als den mehrstimmigen Gesang einer Wandergruppe, die in einigem Abstand durch den Wald zog.

Die Pferde begannen zu schnauben, und die Damen zogen ihre Schultertücher fester um sich.

Von neuem belebte sich die Unterhaltung, die einen Moment ins Stocken geraten war, durch einige Rothirsche, die am Wege ästen. Die beiden alten Fräulein Israel ergriffen nämlich diese Gelegenheit und erzählten eine Geschichte von einem schwedischen Studenten aus Lund, der gewettet hatte, ein Rudel dieses königlichen Wilds einholen und ein bestimmtes Tier einfangen zu können, der jedoch nach einstündiger wilder Jagd durch den Wald einen Herzschlag erlitt und tot hingestürzt sei.

»Glauben die Damen wirklich dies Histörchen?« fragte Eybert lächelnd. »Ich erinnere mich, es als junger Bursche schon gehört zu haben. Aber – ehrlich gesagt – schon damals hatte ich Bedenken.«

Wie aus einem Munde verbürgten sich beide Fräulein für die Wahrheit der Erzählung. Sie hätten es beide seinerzeit in »Dagen« gelesen.

»Bei allem Respekt, ich bezweifle es trotzdem«, neckte Eybert. »Selbst ein halbirrer Schwede käme wohl kaum auf solche verrückte Idee. Jedenfalls würde er sehr bald beim Laufen wieder zur Vernunft kommen, und sein Herz bliebe heil.«

Per, der sich von der Geschichte persönlich getroffen fühlte, nahm die Worte auf wie einen hingeworfenen Fehdehandschuh. »Ich finde, es klingt sehr glaubwürdig«, warf er ein.

Wegen seines voraufgegangenen langen Schweigens und des herausfordernden Tons, in dem er sprach, erregte die Bemerkung einiges Befremden.

»So, da gehören Sie, Herr Sidenius, in diesem Fall also auch zu den Gläubigen!« meinte Eybert.

»Ich glaube«, erwiderte Per, »ein Mann, der auch nur ein klein wenig Selbstachtung besitzt, führt aus, was er sich vorgenommen hat. – Koste es, was es wolle!« Bei den letzten Worten suchte er Jakobes Blick einzufangen, die zur Seite schaute, als sie es bemerkte.

»Das klingt recht hübsch und vor allem männlich«, antwortete Eybert und sah lächelnd zu den Damen hin. »Doch die unbarmherzige Natur hat uns unüberwindbare Schranken gesetzt, die selbst der männlichste Wille respektieren muß. Gott hat nun einmal die ebenso anmutigen wie wohlschmeckenden Hirsche mit vier langen flinken Beinen ausgerüstet, während wir Menschen uns mit einem Paar Stelzen begnügen müssen, die sich am besten zu einer mehr besonnenen Gangart eignen.«

»In diesem Fall geht es aber nicht nur um Schnelligkeit, sondern auch um Ausdauer. Und letztere wirkt Wunder hier in der Welt. Wie das Sprichwort sagt, Herr Fabrikant, wer zuletzt lacht, lacht am besten!«

Eybert zog die Augenbrauen hoch; er begann die versteckte Drohung in den Worten des anderen zu verstehen. Mit einem mitleidigen Blick wandte er sich ab und erwiderte nichts. »Übrigens«, begann er und wandte sich wieder an die Damen, »mir fällt ein, daß ich selbst in jungen Jahren einmal eine Geschichte erlebte, die etwas an diese mit dem schwedischen Studenten erinnert, wenn sie auch kein so tragisches Ende nahm. Wie ich mich entsinne, befand ich mich mit einigen Freunden auf dem Heimweg von einem Waldausflug. Bei Klampenborg hatten wir einen Wagen gemietet, um auf dem Strandweg heimzufahren. Da bot uns einer von den Freunden eine Wette an. Er wollte die letzte halbe Meile laufen und verpflichtete sich, gleichzeitig mit uns in Kopenhagen zu sein, wie schnell wir die Pferde auch traben ließen. Die Wette kam natürlich zustande, und als wir Konstantia erreicht hatten, stieg der junge Mann ab und begann zu rennen. Wir hatten ein Paar steifbeinige Droschkenpferde, folglich war an dem Wettlauf nichts Ungewöhnliches. Doch nachdem mein Freund fünf Minuten dahingejagt war, fauchte er schon wie ein Blasebalg, und nach zehn blieb er auf einmal stehen und erklärte feierlich, er bewege sich keinen Schritt mehr weiter, denn ›es sei ungerecht gegen die Gäule‹. Darauf stieg er – ganz gerührt über sich und mit verschiedenen treffenden Bemerkungen, wie moralisch verwerflich es sei, vernunftlose Tiere zu mißbrauchen – wieder in den Wagen.«

Die Erzählung hatte Erfolg. Die alten Damen lachten, und Philip Salomon drehte sich um und meinte: »Wenn der Mann noch lebt, werde ich als Vorstandsmitglied des Tierschutzvereins ihn für eine Ehrenmedaille vorschlagen.«

Per brach vor Wut der kalte Schweiß aus; obwohl Jakobe nicht in das Gelächter eingestimmt hatte, marterte ihn der Triumph des Nebenbuhlers und stachelte ihn an, sich Genugtuung zu verschaffen.

Als die alten Fräulein Israel endlich genug gelacht hatten, sagte er: »Ich bedaure Sie, Herr Fabrikant, daß Sie den Glauben an die Willenskraft so früh verloren haben. Ich hätte Lust, Sie zu fragen: Haben Sie noch Hoffnung, diesen Glauben wiederzugewinnen, wenn ein anderer es übernimmt, das Wort Ihres Jugendfreundes einzulösen?«

Eybert zog von neuem die gelben Brauen hoch. »Wie bitte? Ich verstehe Sie nicht!«

»Ich frage: Besteht noch Hoffnung, daß Sie den Glauben an die Willenskraft wiedergewinnen, wenn ein anderer das Wort Ihres Jugendfreundes einlöst? In diesem Fall würde ich es nämlich gern übernehmen. Und zwar auf der Stelle.« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang Per aus dem Wagen und begann, neben dem Gefährt herzueilen.

Philip Salomon hielt die Pferde an und forderte in ziemlich energischem Ton: »Herr Sidenius . . . ich bitte doch darum . . . setzten Sie sich wieder in den Wagen!«

Doch Per rief ausgelassen: »Herr Salomon, ich kann Ihnen versichern . . . es ist wirklich eine Wohltat, sich ein bißchen die Beine zu vertreten. Und bedenken Sie, worum es sich hier dreht: Noch weiß keiner, was das alles für Gott, König und Vaterland bedeuten kann, wenn der Folketingsabgeordnete Eybert vom siebten Kreis im Holbæk-Bezirk seinen Glauben an die Willenskraft zurückgewinnt! Und um mein Herz machen Sie sich keine Sorgen! Das hält schon durch!«

»Gleichviel, Herr Sidenius«, entgegnete Philip Salomon fast befehlend. »Ich kann nicht zulassen, daß Sie neben dem Wagen herlaufen.«

»Nein, es ist auch das beste, ich gewinne einen Vorsprung!«

Per drückte sich den Hut fest auf den Kopf und raste davon. Obwohl Philip Salomon sofort auf die Pferde einschlug, um ihn einzuholen, war er nach wenigen Minuten aus dem Blickfeld verschwunden – im Nebel untergetaucht.

»Das ist doch wirklich zu toll!« murmelte Salomon, dunkelrot vor Zorn, und gab den Pferden noch einen Hieb mit der Peitsche. Aber da griff Frau Salomon ein.

»Du brauchst die Pferde wirklich nicht so anzustrengen«, wandte sie sich an ihren Mann. »Herrn Sidenius hat es sicherlich nicht bei uns gefallen. Auf seine Art hat er einen Anlaß gesucht, sich zu entfernen. Von hier aus hat er ja auch den kürzesten Weg zum Bahnhof, wenn er quer durch den Wald geht.«

Diese Erklärung klang einleuchtend; denn obwohl die Pferde immer noch scharf ausgriffen, sah man nichts von ihm. Eine Abkürzung hatte er nicht einschlagen können, da man sich in fast gerader Richtung auf »Skovbakken« zubewegte und außerdem die Tiergehege überall zugesperrt waren.

Die Damen Israel waren wie aus den Wolken gefallen über Per und konnten es nicht lassen, Frau Salomon Bemerkungen über des jungen Mannes Mangel an Lebensart zuzuflüstern. Selbst Ivan fand den Einfall reichlich unpassend, und Eybert erlaubte sich lächelnd eine etwas gewagte Formulierung über die mögliche Veranlassung zu Pers plötzlichem »Verschwinden«.

Jakobe sah schweigend den Mond an, der blutrot über der schwedischen Küste aufstieg. Es schien so, als hätte die Szene keinen Eindruck auf sie gemacht. Und doch fühlte sie sich tief gekränkt dadurch und zugleich so eigenartig befreit, daß sie nahe daran war, laut aufzulachen. Wie erbittert sie auch übers Pers Benehmen war, nachdem sie gemerkt hatte, daß er nach einem ganz bewußten Plan vorging – in ihrem Innern hatte es sie doch sehr befriedigt, auf den unbeherrschten Ausbruch männlicher Leidenschaft warten zu können. Und nun hatte sich diese »Naturkraft« in einem Dummejungenstreich entladen!

Unterdessen war man bis Springforbi gekommen und bog in den Strandweg ein. Hier an der See wehte ein leichter Wind den Nebel davon. Um die Köpfe der Pferde summten riesige Mückenschwärme.

Man war fast zu Hause, als Philip Salomon auf einmal die Pferde anhielt. »Was ist denn das? Kommt da nicht Louise gelaufen? Es muß etwas passiert sein!«

Ein Dienstmädchen des Hauses kam ihnen auf dem Weg entgegengeeilt. Noch ehe sie ganz heran war, schrie Salomon: »Was ist los? Ist etwas geschehen?«

»Ja, da ist . . . da ist«, stieß das atemlose Dienstmädchen hervor, »was mit Herrn Sidenius . . .«

»Ist er zu Hause?« riefen drei, vier Stimmen auf einmal.

»Ja, und bestimmt ist ihm was zugestoßen. Ich soll schnell den Doktor holen.«

»Gott, was ist mit ihm los?« fragte Ivan leichenblaß.

»Ich weiß nicht . . . Herr Sidenius ist ohnmächtig. Herr Dyhring hat ihm von des Fräuleins Tropfen gegeben; aber ich glaube nicht, daß er schon wieder bei Besinnung ist.«

Schweigend biß sich Philip Salomon auf die aufgeworfenen Lippen und ließ den Pferden die Peitsche um die Ohren knallen. Auch er war blaß geworden. Alle waren sie still und bleich, als man in fliegender Hast nach Hause jagte.

Schon vor dem Tor empfing sie ein Schwarm erschrockener junger Mädchen, und als man an der Freitreppe vorfuhr, erschien Aron Israel mit Balling und Nanny. Kurz darauf kam Dyhring, und zuletzt trat Per heraus, noch etwas fahl, die Hemdbrust zerknittert, doch mit einem breiten Lächeln, das heiter und zufrieden wirken sollte.

»Sehen Sie, Herr Fabrikant, ich habe Wort gehalten!« rief er triumphierend, noch ehe der Wagen hielt.

»War es eine Wette?« riefen die jungen Mädchen wie aus einem Munde und drängten sich um den Wagen.

»Und was war der Einsatz, wenn man fragen darf?« erkundigte sich Nanny. Sie stand allein auf der untersten Treppenstufe und sah mit spitzbübischem Blick vielsagend von Eybert auf Jakobe und wieder zurück.

Ivan sprang sogleich vom Wagen und faßte mit ängstlicher Miene Pers Arm. »O Gott, Sidenius, Sie sind ja krank gewesen!«

»I wo, es war nichts. Nur ein kleiner Schwindelanfall. Ich war auch dumm; wie sich jetzt erweist, hätte ich mich gar nicht so zu beeilen brauchen.«

Nun stiegen auch die anderen aus dem Wagen, noch immer stumm. Nur Philip Salomon sagte zum Stallknecht, indem er ihm mit verbissener Miene die Zügel zuwarf: »Schick Kristian der Louise nach! Wir sind ihr unterwegs begegnet. Der Doktor braucht sich nicht herzubemühen!«

In den folgenden Minuten waren alle auf der halbdunklen Diele versammelt, wo die Jüngeren das Ereignis mit der ausgelassenen Lebhaftigkeit besprachen, die oft auf einen überstandenen Schreck folgt. Ivan führte das große Wort. Auf einmal war er vor Begeisterung ganz außer sich über Pers Heldentat und ließ sich wieder und wieder berichten, wie Nanny und Dyhring, die gerade aus dem Wald zurückkehrten, ihn auf der Treppe gefunden hatten, unfähig zu sprechen, und wie er kurze Zeit später im Wohnzimmer ohnmächtig geworden war.

Vor der Garderobe half Eybert Jakobe beim Ablegen. Mißtrauisch beobachtete er sie, während er mit einer zögernden Bewegung die Pelzstola von ihren noch bebenden Schultern nahm.

»Ich glaube, unterwegs habe ich gefroren«, bemerkte sie, um ihr unbezwingbares nervöses Zittern zu entschuldigen. Sofort danach ging sie die Treppe hinauf, um in ihr Zimmer zu gelangen.

Obwohl Per lachte und laut sprach, als denke er gar nicht an sie, hatte er sie nicht einen Augenblick aus den Augen gelassen. In seiner tödlichen Erregung hatte er sich geschworen, heute abend noch mit ihr zu reden, und sollte er auch vom Balkon aus in ihr Schlafzimmer eindringen. Da erblickte er auf einmal Eyberts Blumenstrauß, den sie auf das Fensterbrett gelegt und dort vergessen hatte. Sofort ergriff er die Gelegenheit, sich ihr zu nähern.

»Fräulein Jakobe! Ihre Blumen!« rief er ihr nach. In zwei, drei Sprüngen war er mit dem Strauß die Treppe hinauf.

Aber er kam nicht bis ganz nach oben. Jakobe hatte gerade die oberste Stufe erreicht, und von hier aus streckte sie – ohne sich umzudrehen, ja ohne ihm zu danken – die Hand nach den Blumen aus.

Doch statt sie ihr zu geben, ergriff er ihre Hand, und als er sich vergewissert hatte, daß niemand oben auf dem Flur war – küßte er ihre Hand mit großer Heftigkeit. Jakobe sank in die Knie. Sie vermochte ihm nicht einmal mehr die Hand zu entziehen. Und als er das merkte, war er im nächsten Augenblick neben ihr und schloß sie in seine Arme.

»Sie lieben mich!« flüsterte er, über sie gebeugt. »Nicht wahr? Sie wollen mir gehören?«

Ihre seelische Kraft war erschöpft. Ein wollüstiges Zittern überfiel sie in seinen starken Armen, und ihre Hände suchten in der Luft unwillkürlich die seinen.

»Sie wollen mir gehören?« wiederholte er. »Ist das wahr?«

»Ja, ja«, raunte sie, erregt vom Schweißgeruch seines noch erhitzten Körpers. Ihr Kopf sank an seine Schulter.

»Ich komme wieder, morgen vormittag . . . Dann reden wir näher darüber.« Noch einmal preßte er sie an sich, dann sprang er in ein paar Sätzen die Treppe hinab und stand wieder unter den anderen auf der Diele.

Das Ganze hatte nicht länger als eine halbe Minute gedauert. Von dem Augenblick an, da Per wußte, daß der Sieg errungen war, wurde er wieder er selbst. Er unterhielt sich, als sei nichts geschehen, und ging mit den anderen in den Gartensaal, wo nun der Tee serviert wurde.

Doch allmählich stellten sich die Nachwirkungen der unerhörten Anspannung ein. Nun, da der Todessprung gelungen war, konnte er es fast nicht begreifen, daß er ihn gewagt hatte. Wenn er zurückdachte, wurde ihm schwarz vor Augen. Blickte er in die Zukunft, schwindelte ihm ebenfalls. Noch immer konnte er nicht an das Vorgefallene glauben. War es denn möglich? Sollte er für alle Zeiten seine Geldsorgen los sein? War er – Per Sidenius, der arme Pastorssohn – jetzt künftiger Millionär? Ja, es war Wirklichkeit! Er hielt den Zauberstab in der Hand! Die Welt hatte sich ihm erschlossen mit allen ihren märchenhaften Herrlichkeiten!

Obgleich es ihm recht gut gelungen war, seine Erregung zu verbergen, hatten doch mehrere Anwesende, vor allem einige der älteren, das Gefühl, auf der Treppe müsse sich vorhin Entscheidendes zugetragen haben. Die Tatsache, daß Jakobe sich nicht blicken ließ, bestärkte diese Vermutung. Die Stimmung sank daher immer mehr und wurde schließlich bedrückend. Eybert ging schweigend und mit aschfahlem Gesicht herum und näherte sich Per ein paarmal auf eine Weise, die hier und da Unruhe erweckte. Lediglich Kandidat Balling merkte von alldem nichts. Er redete laut und gespreizt über Literatur, in der Hoffnung, man werde ihn auffordern, die Gesellschaft durch Vorlesen zu unterhalten.

Endlich kam das Dienstmädchen mit der sehnsüchtig erwarteten Nachricht, der Wagen sei vorgefahren, der die Gäste zum Bahnhof bringen sollte. Nun brachen alle hastig auf. Nur Eybert, der nicht nach Kopenhagen wollte, blieb noch eine Weile sitzen, weil er hoffte, Jakobe würde nun, da es ruhig geworden war, herunterkommen. Als er indessen zehn Minuten vergeblich gewartet hatte, stand er auf und verabschiedete sich schweigend.

»Nun, Philip«, begann Frau Salomon, als sie endlich mit ihrem Gatten allein war, »was hast du dazu zu sagen?«

»Du hast recht, Lea. So kann das nicht länger weitergehen. Er ist völlig unzurechnungsfähig.«

»Das habe ich dir ja schon immer erklärt.«

»Gleich morgen rede ich mit Ivan. Er muß zur Einsicht kommen, daß wir diesen Burschen unmöglich wieder einladen können.«

»Ich fürchte bloß, es ist bereits zu spät! . . . Hast du Jakobe einmal richtig angesehen?«

 

Nachdem der Wagen abgefahren war, eilte Nanny sofort auf ihr Zimmer. Dann schlich sie sich an Jakobes Tür und lauschte. Weil drinnen alles ruhig war, schaute sie durch das Schlüsselloch. Im Zimmer brannte kein Licht. Hieraus schloß sie, daß die Schwester schon zu Bett gegangen sei. Enttäuscht schlich sie in ihr Zimmer zurück.

Doch Jakobe war noch auf. Die Balkontür war offen, und sie stand draußen auf dem Balkon im Mondenschein und lauschte dem Geräusch des Wagens, der Per fortbrachte. Ihr Gesicht war in der letzten halben Stunde alt geworden, es war düster und vergrämt. Sie verharrte wie eine Bildsäule, bis das letzte Wagengerassel hinter dem Wald erstorben war.

Dann ging sie hinein und schloß die Tür hinter sich. Einige Male schritt sie im Zimmer auf und ab; dann setzte sie sich auf die Chaiselongue und preßte das Gesicht in ihre Hände.

Lange saß sie so, in tiefer Verzweiflung und Scham. Das also war das Ende! Bis hierher hatte ihre schwer erkämpfte Selbstverleugnung sie gebracht! Auf schmähliche Weise, als Zerrbild erfüllte sich nun ihr Traum, ihr Jugendtraum von einem heldenhaften Geliebten!

Sie versuchte nicht, die Gefühle zu beschönigen, die sie in Pers Arme getrieben hatten. Sie unternahm es auch nicht, sich selbst zu betrügen und sich einzureden, sie sei noch imstande, sich aus dieser sinnlichen Verirrung zu lösen. Sie spürte nur zu gut: Sie war in seiner Macht. Und ihre Demütigung würde nur noch größer werden, wenn sie sich obendrein eingestehen mußte, daß sie sich willenlos hingegeben hatte! Hier fand sich kein rettender Ausweg! Ihr Schicksal war besiegelt. So minutenkurz ihre Begegnung auch gewesen war, sie hatte in seinen Armen gelegen, seine Lippen hatten die ihren berührt, und sie hatte bei seiner Umarmung Liebeswonnen geahnt – sie war schon halb die Seine.

Es wurde leise an die Tür geklopft, und Nanny steckte den Kopf herein. »Oh, Entschuldigung! Du sitzt im Mondenschein und träumst.«

»Was willst du?«

»Verzeihung . . . ich hörte, daß du noch auf bist, Kannst du mir nicht ein paar Haarnadeln borgen?«

»Sieh selbst nach, ob welche da sind.«

Nanny war im Nachthemd. Eigenartig katzenhaft bewegte sie sich durchs Zimmer zu Jakobes Kommode und durchstöberte die Schubfächer. Plötzlich drehte sie sich um und setzte sich auf den unteren, halb herausgezogenen Schubkasten. Das Mondlicht fiel auf sie und durchdrang das dünne Gewand, so daß die Formen ihres Körpers sich darunter abzeichneten.

Den Oberkörper einschmeichelnd vorgestreckt, erkundigte sie sich mit ein bißchen Ängstlichkeit in der Stimme: »Darf man gratulieren?«

Jakobe durchfuhr es wie ein eisiger Schauer. »Was meinst du damit?«

»Oh, Entschuldigung. Es soll vielleicht noch ein Geheimnis sein. Aber da möchte ich dir sagen, daß es nicht besonders gut gewahrt worden ist.«

»Geheimnis? Wieso? Ich verstehe kein Wort.«

»Oho, du spielst die Unschuldige! Was für wichtige Dinge hast du vorhin auf der Treppe mit Herrn Sidenius verhandelt?«

Der Klang der letzten Worte rief bei Jakobe geradezu Übelkeit hervor. Sidenius! Was für ein Name! . . . Frau Sidenius!

»Und dann der Wettlauf – hm!« fuhr Nanny fort. »Das kam mir ja gleich ein bißchen verdächtig vor.«

Jakobe richtete sich entschlossen auf. »Na schön, du kannst es meinetwegen genausogut heute abend erfahren. Ich habe mich verlobt mit – dem Mann, den du eben erwähnt hast. Das ist die ganze Erklärung, wenn sie dich interessieren sollte!«

Einen Augenblick war es still.

»Wenn sie mich interessieren sollte? . . . Was soll das heißen? Ich freue mich natürlich deinetwegen.«

»So? Wirklich?« fragte Jakobe.

»Was du bloß hast! Warum sollte ich mich nicht darüber freuen! . . . Oh . . . jetzt verstehe ich: Du meinst vielleicht, daß ich selbst . . . Ich erinnere mich, einmal hast du mich mit Herrn Sidenius aufgezogen. Aber in dieser Beziehung brauchst du dir nicht die mindesten Sorgen zu machen. Ich will nicht bestreiten, dein Verlobter hat mir immer sehr gut gefallen. Aber ich glaube trotzdem, du und er, ihr beide paßt viel besser zusammen.«

Aufmerksam blickte Jakobe auf. »Wieso glaubst du das?«

»Tja – ihr seid nun einmal beide so etwas Höheres. Ich dagegen bin bloß ein armer, gedankenloser Alltagsmensch, ein leichtsinniges, oberflächliches Ding. Das hast du mir oft genug vorgeworfen. – Aber jetzt werden die Leute was zu reden haben! Der arme Eybert!«

Jakobe stand ungeduldig auf. »Hör mal, Nanny, es ist schon spät. Du mußt ja frieren, so wie du dasitzt!«

»Ich störe wohl? Gottbewahre, dann gehe ich natürlich. Dann gehe ich.« Trotzdem blieb sie noch ein wenig sitzen. Und wieder lag etwas eigenartig Listiges in der Art, wie sie dann auf bloßen Füßen durch das Zimmer glitt. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Du bist wirklich fürchterlich langweilig. Daß du aber auch nie ein bißchen interessant erzählen kannst! Ich hatte mich so auf eine vertrauliche Unterhaltung mit dir gefreut. Es ist doch langsam an der Zeit, daß ich von einer älteren und erfahrenen Schwester belehrt werde für den Fall, daß ich selbst in die schreckliche Lage gerate, einem schnurrbärtigen Mann meinen Mund reichen zu müssen.«

»Ja, du mußt schon entschuldigen – ich bin müde«, erwiderte Jakobe und begann sich auszukleiden.

»Wie scheinheilig du tust! Rede mir bloß nicht ein, du gehst jetzt zu Bett! Mußt ihm natürlich heute abend noch schreiben . . . ihm dein Herz ausschütten in einsamer Nachtstunde, den Geliebten in veilchenfarbener Tinte umarmen und ihm zehntausend Küsse mit der Morgenpost schicken. Aber ich gebe dir einen guten Rat, meine Liebe! Sei am Anfang etwas zurückhaltend! Sei überhaupt einigermaßen vernünftig! Erinnerst du dich noch daran, als Rebekka sich verlobte? Sie mußte die erste Zeit Lippenpomade verwenden, weil er sie wund geküßt hatte. Und wie ich die Männer kenne, gehört dein Bräutigam bestimmt zu denjenigen, die sich nehmen, was ihnen zusteht. Gute Nacht, meine glückliche Schwester! Und träume nicht allzu angenehm!«


 << zurück weiter >>