Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Sechstes Kapitel

An einem Sonntagvormittag Anfang April, an einem milden, windstillen Frühlingstag mit hohem Himmel, saß Per vor dem Restaurant auf der Langelinje und beobachtete den unaufhörlich vorüberziehenden Strom von Spaziergängern, die nach dem Kirchgang und dem Frühstück sich ein wenig sonnen und die Lungen mit frischer, salziger Luft füllen wollten.

Sein Äußeres hatte sich im Laufe der letzten Monate verändert. Er war mager geworden, was ihm indessen nicht schlecht stand, und der Spitzbart, den er sich in der Absicht zugelegt hatte, älter zu erscheinen, verlieh seinem Gesicht mehr Charakter. Auch sein Ausdruck war nicht mehr sorglos und keck. Wie er so dasaß, den Kopf in die Hand gestützt, und auf die sonntäglich gekleideten Spaziergänger schaute, war es nicht schwer, seinem Blick und den zusammengezogenen Brauen anzusehen, daß er ein junger Mann war, dem das Leben die erste bittere Enttäuschung bereitet hatte.

Es war ihm wirklich sehr schlecht ergangen. Bisher hatte er bei der Planung und der Gestaltung seiner Zukunft Geduld und starkes Selbstvertrauen besessen, war er umsichtig, beherrscht und bisweilen klug berechnend gewesen; doch nach dem Zusammenstoß mit Oberst Bjerregrav hatte er alle nüchterne Besonnenheit verloren. In der Hoffnung, sich an dem Obersten und an Professor Sandrup, oder wer es nun sei, der seinem Erfolg im Wege stand, rächen zu können, hatte er nicht nur eine Reihe von hervorragenden Fachleuten der Stadt aufgesucht und ihnen seine Arbeit gezeigt, sondern er war auch in allen Redaktionen der Tageszeitungen gewesen, um Artikel über seine Ideen anzubringen. Ja er hatte schließlich sogar den verzweifelten Versuch unternommen, eine Audienz beim Innenminister zu erlangen, um ihm klarzumachen, wie dringend nötig es sei, die gesamte Wasserwirtschaft völlig umzustellen. Überall war er nur auf Lächeln und Achselzucken gestoßen, wenn man ihm nicht gar die Tür gewiesen hatte.

Bei allem Mißgeschick war es ein Unglück für ihn, daß er einsam war und keinen Menschen hatte, mit dem er vertraulich über seine Enttäuschungen reden und bei dem er seinem Zorn hätte Luft schaffen können. Nun schlug seine Erbitterung nach innen, machte ihn menschenscheu und erweckte in ihm die krankhafte Vorstellung, daß er einer bewußten, geplanten Verfolgung ausgesetzt sei. Seine früheren Studiengenossen vom Polytechnikum mied er überall. Er bildete sich ein, sie hielten ihn für verrückt, was übrigens einige von ihnen auch taten. Seit mehr als einem Jahr hatte er das »Gryde« nicht mehr betreten, obwohl er wußte, daß sich Lisbeth längst mit einem anderen getröstet hatte. Er hegte eine wahre Abscheu gegen die Künstler, die Lieblinge der Nation, die dieselbe Abgötterei mit der Natur trieben wie die Geistlichen mit dem Jenseits und die deswegen auch als begnadete Wesen betrachtet wurden, als Boten »des Geistes« zwischen Himmel und Erde. Bei Lichte besehen, waren diese Bilderanbeter und Stimmungsprediger in all ihrer Lächerlichkeit gar nicht so unschuldig und ungefährlich, wie er geglaubt hatte. Sie hatten ebenfalls dazu beigetragen, den Glauben an den Menschen als den Herrn der Erde und ihren alleinigen Beherrscher zu untergraben.

In diesen Tagen des Mißerfolgs erwachte in ihm wieder jenes düstere, streitbare Gefühl der Einsamkeit, das ihn während seines Heranwachsens im Elternhaus gequält hatte. Wie er sich dort zwischen Eltern und Geschwistern heimatlos gefühlt hatte, so kam er sich auch jetzt in der heimischen Gesellschaft wie ein in die Irre gegangener Fremder vor. In seinen Landsleuten sah er lauter selbstgerechte Sideniusse, die ihre kleinbürgerliche Engstirnigkeit mit der hochmütigen Geringschätzung der Pharisäer gegenüber dem Glanz und der Herrlichkeit der Welt übertünchten. Oft dachte er daran, welch ein Segen es doch für die Katholiken sein müsse, daß ihre Priester nicht heirateten. Die geistige Verkrüppelung, die durch die falsche Demut der Kirche erzeugt wurde und die sich in protestantischen Ländern von Generation zu Generation vererbte, konnte sich dadurch nicht in der Bevölkerung nach oben und unten fortpflanzen und alle Begriffe auf den Kopf stellen wie im Lande des Buckelkönigs, wo das Kleine groß und das Schiefe gerade genannt wurde.

Nun hatte er außerdem noch mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen, unter anderem mit Geldsorgen. Obwohl er in letzter Zeit wieder sehr sparsam gelebt hatte wie ein armer Student und die allerbilligsten Kellerwirtschaften in der Gegend der Borgergade aufgesucht und zusammen mit Droschkenkutschern und Dienstleuten gegessen hatte, waren seine von Neergaard geerbten Mittel fast aufgebraucht. Er hatte ausgerechnet, daß sein Geld höchstens noch zwei Monate reichen würde, und was dann? Sollte er abermals ein prügelnder Schulmeister werden? Oder sollte er von neuem seine Bettelgänge zu Fabrikanten und Handwerkern aufnehmen, um Kopierarbeiten zu bekommen?

Außerdem hatte er Liebeskummer, denn er konnte Fransisca nicht vergessen. Mitunter saß er regungslos in der Betrachtung einiger Kleinigkeiten versunken, die ihn an sie erinnerten – eine vertrocknete Blume, die sie einst in seinem Knopfloch befestigt, einen Neckbrief, den sie ihm in Spiegelschrift geschrieben, ein blaues seidenes Band, das er eines Abends von ihrem Hals gelöst hatte. Ja, wenn er in der Dämmerung seine einsamen Spaziergänge unternahm und die anderen jungen Leute sah, die in bestem Einvernehmen mit allen himmlischen und irdischen Mächten den Sonnenuntergang oder die Frühlingsluft mit ihren Liebsten oder jungen Frauen am Arm genossen, befiel ihn mitunter seine alte Schwäche. Dann fragte er sich, ob er sein Glück nicht einem Hirngespinst geopfert habe, ob er nicht ebensogut gleich jetzt alle stolzen Träume begraben könne, um wie die anderen zu werden, die sich bescheiden nützlich machten, sich im Laufe der Zeit einmal mit einer Fransisca verheirateten und geachtete Bürger und glückliche Familienväter im Lande des Buckelkönigs wurden.

Und nicht genug damit. Als hätten sich alle Mächte verschworen, seine Standhaftigkeit zu erproben, hatte ihn auch noch vor ein paar Tagen ein trauriges Ereignis daheim in der Hjertensfrydgade erschreckt. Der Oberbootsmann war plötzlich gestorben. Der alte Mann hatte am Vormittag seine gewohnte Runde über den Amalienborg Plads, durch die Borgergade bis zur Antonistræde zurückgelegt. Er befand sich schon auf dem Heimweg, als er an der Ecke der Goters- und Adelgade plötzlich zusammenbrach und auf dem Pflaster liegenblieb. Er hatte noch genug Besinnung gehabt, seinen Namen und seine Wohnung zu stammeln. Durch einen dichten Haufen von Neugierigen, die sich sofort um ihn geschart hatten, war er in eine geschlossene Droschke getragen und nach Hause gefahren worden. Hier stand seine Frau gerade am Spion und hielt nach ihm Ausschau, als draußen die Droschke hielt; als sie einen Polizisten den Arm zum Wagenfenster hinausstrecken sah, um die Tür zu öffnen, wußte sie, was geschehen war, und rannte die Treppe hinunter. Per, der sich in seinem Kämmerchen aufgehalten und die plötzliche Unruhe im Haus bemerkt hatte, war auf die Diele hinausgetreten, um zu hören, was vorgefallen sei. Von hier aus hatte er dann gesehen, wie Madam Olufsen vor der Droschkentür resolut den Polizisten beiseite schob und einen Augenblick später ins Haus trat, den schlaff herabhängenden Körper des Oberbootsmanns in ihren Armen. Ganz allein, ohne Hilfe anzunehmen, hatte die dreiundsiebzigjährige Frau ihren sterbenden Gatten die steile Treppe hinaufgetragen. Der Polizist schritt in amtlicher Würde hinterdrein und trug Olufsens grauen Zylinder und braunen Stock. Man schickte schnell zu einem Arzt. Die von dem Unglück völlig verwirrte Frau des Schiffszimmermanns rannte aus eigenem Antrieb zu einem Pastor. Per und der Polizist waren inzwischen Madam Olufsen behilflich, ihren Mann zu Bett zu bringen, wo er dann wenige Minuten später, den Kopf an ihrer Brust, einschlief.

Seit jenem Tag hatte sich Per in seinen Kammern nicht mehr wohl gefühlt. Zum ersten Mal hatte er den Tod so nahe gesehen. Das Bild der starren, unschönen Leiche, die in der Etage direkt über ihm mit offenem Mund lag, hielt ihn nachts wach; und tagsüber, wenn er an seinem Tisch saß, den Kopf in die Hände gestützt, und gedankenverloren auf seine Zeichnungen starrte – auf diese fünf, sechs unglückseligen Blätter, die alle seine Gedanken und seinen Willen beherrschten –, dann war es ihm, als spottete die Totenstille, die über dem Hause lag, und die Grabeskälte, die durch die Decke zu ihm herabzudringen schien, all seiner Mühe. Sie erinnerten ihn daran, wie klein und armselig sogar das siegreichste Geschick gegenüber der Macht des Todes wurde, wie sekundenkurz selbst das längste Menschenleben im Vergleich zur Unendlichkeit des Nichts war.

Per war in den letzten vierundzwanzig Stunden nicht zu Hause gewesen. Um sich abzulenken, hatte er Cafés und Billardstuben besucht und die Nacht in der Gesellschaft einer fremden Frau zugebracht, einer der barmherzigen Schwestern der Straße. Nun saß er hier hinter seinem leeren Glas – durch die Stadt gejagt von dem seit seiner Kindheit verhaßten Klang der Kirchenglocken, der ihn den ganzen Vormittag wie ein beschwörendes Murmeln begleitet hatte. Niemals fühlte er sich so unzufrieden, mißmutig und niedergeschlagen wie an einem Feiertag, wenn er durch die langen Reihen geschlossener Geschäfte ging und auf allen Promenaden und in den Parks sonntagsfrohe Bürger sah. Da schritt ein fettnackiger Herr einher, die Nase in die Luft gereckt, die Hände auf dem Rücken – ein Jurist, vermutete Per, vielleicht ein Betrüger, ein Halsabschneider, der sich in irgendeiner Kirche Absolution für die Sünden der Woche geholt hatte und nun seinen wiedergeborenen Adam mit einer Havannazigarre im Mund an die frische Luft führte. Jetzt kam ihm ein anderer fettnackiger Herr entgegen, ein Zwillingsbruder des ersten, mit einer üppigen Blondine am Arm und einem reizenden kleinen Mädchen an der Hand – ein glücklicher Familienvater, der hier im Leben seine Berufung als Vertreter für Zinnknöpfe gefunden oder vielleicht eine segensreiche Existenz auf den Handel mit Klosettpapier aufgebaut hatte. Dort gingen Studenten und Soldaten, lachende junge Mädchen und säuerlich lächelnde alte Damen; sie alle führten ihr kleines, ordentlich eingerichtetes Schneckenhaus spazieren, das für sie die Welt bedeutete. Bescheidene Leute! Glückliche Menschen! Brave, rechtgläubige Sideniusse.

Per fuhr beim heiseren Pfiff einer Dampfsirene zusammen. Ein großer Frachtdampfer glitt unter den kräftigen Schlägen der Schraube zum Hafen hinaus. Auf seinem schwarzgestrichenen Rumpf spiegelte sich die Sonne, und über den Schornsteinrand quoll der Rauch in dicken schwarzen Wolken. Auf der Kommandobrücke stand der Kapitän, die Hand am Maschinentelegrafen. Über dem Achtersteven wehte die englische Handelsflagge.

Bei diesem Anblick überfiel Per eine brennende Sehnsucht, zu reisen, weit weg zu fahren und sein Leben unter anderen Menschen in einem anderen Land von vorn zu beginnen, nach Amerika auszuwandern, nach Australien oder noch weiter fort, in ein fernes, unbekanntes Land, ohne Küsterseelen und Kirchenglocken.

Der Gedanke war ihm nicht fremd, die Versuchung nicht neu. Was hielt ihn eigentlich zurück? Er empfand nichts von der Zaubermacht des Vaterlandes, von der Neergaard in jener Nacht gesprochen hatte und deren Opfer er geworden war. Da die Auflösung der Wohnung seiner Wirtsleute in Nyboder bevorstand, verlor er ohnehin seine letzte Zufluchtsstätte hier in der Heimat. War es nicht hoffnungslos, eine Zukunft in diesem kleinen, schlechtverwalteten Land zu erwarten, das vom Schicksal zum sicheren Untergang verurteilt schien? In diesen Tagen nach dem Tod des Oberbootsmanns mußte Per oft daran denken, was ihm der Alte von den Erlebnissen seines langen Lebens erzählt hatte, das sich von jener Schlacht am Gründonnerstag draußen auf der Reede, deren Zeuge er auf dem Arm seiner Mutter gewesen war, durch die lange Reihe der Demütigungen hinzog bis zu der beispiellosen Zerstückelung, die jener Donnerstag vor Ostern eingeleitet hatte. Doch wozu sich an ein zum Tode verurteiltes Land klammem., das im Lauf eines Menschenalters zusammengeschrumpft war und nun als bleiches, schlaffes Rudiment am kraftstrotzenden Körper Europas dahinsiechte?

Ein neues Leben! Eine andere Erde, ein fremder Himmel! . . . Ihm wuchsen gleichsam frische Kräfte, wenn er nur daran dachte. Während seine Augen den dahinziehenden Dampfer verfolgten, erwachten in ihm wieder die alten Freibeutergelüste seiner Jugend. Er sagte sich, in der Ferne – weit fort – wartete vielleicht das große Siegesglück. Dort gingen vielleicht seine goldenen Kindheitsträume in Erfüllung. Da konnte man möglicherweise noch die Prinzessin und das halbe Königreich gewinnen – selbst wenn die Prinzessin schwarz und das Königreich nur eine Palmeninsel in der Südsee war!

In diesem Augenblick fiel ein Schatten auf seinen Tisch. Vor ihm stand ein kleiner, modisch gekleideter Herr, lüftete den Hut und lächelte gewinnend – Ivan Salomon.

»Dachte ich mir doch, daß Sie es sind! Wie amüsant! Es ist lange her, seit ich Sie das letzte Mal gesehen habe! Ich glaube, Sie meiden Ihre alten Freunde. Wie geht es Ihnen?«

Per erhob sich halb und murmelte einige Worte. Er war nicht gerade erfreut über diese Begegnung, forderte aber dennoch den anderen auf, Platz zu nehmen.

Salomon setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und schlug mit dem Knauf seines Stockes ein paarmal auf dessen eiserne Platte, um den Kellner heranzurufen.

»Darf ich Ihnen etwas anbieten? Ich sehe, Ihr Glas ist leer. Einen Absinth?«

»Danke, ich möchte nichts.«

»Ein Glas Bier vielleicht? Oder ein Glas Wein . . . ein Glas englischen Portwein beispielsweise? Würde Sie das nicht locken? Hier werden erstklassige Waren serviert.«

»Vielen Dank, ich möchte nichts«, wiederholte Per sehr bestimmt. Melancholisch dachte er, daß er in dem anderen einen wahren Freund habe, sogar einen Bewunderer. Und er erinnerte sich an ein Sprichwort, das er einmal gehört oder gelesen hatte: Niemand ist so allein, daß er nicht seinen Narren hat.

Salomon bestellte sich ein Glas Eiswasser und bot Zigarren aus einem silbernen Etui an.

»Sie haben sich natürlich in Ihrer Arbeit vergraben, Herr Sidenius! Ja, die großen Erfinder! Deswegen haben Sie die Einsamkeit gesucht, nicht wahr? Das habe ich mir fast gedacht. – Nun, wann soll denn die Bombe platzen? Darf die Welt bald eine Überraschung von Ihrer begnadeten Hand erwarten?«

Per antwortete nur mit einem Achselzucken.

»Ich will Ihnen verraten, daß man auf Sie wartet, mit Sehnsucht wartet. Ich sage zu den Leuten, die darüber jammern, daß sich bei uns nichts Bedeutendes mehr ereignet, wartet ab, eine neue Generation wächst in unserem Vaterland auf. Von der wird die Revolution ausgehen.«

Per wollte noch immer nicht das Thema aufgreifen. Salomons Schmeicheleien berührten ihn stets unangenehm, weil jener schamlos Gedanken und Hoffnungen enthüllte, die einzugestehen er sehr oft selbst kaum den Mut hatte.

»Haben Sie Nathans letzte Abhandlung in ›Lyset‹ gelesen? Sie kennen sie nicht? Ach, das müssen Sie lesen, das ist genau das Richtige für Sie! Ganz ausgezeichnet, versichere ich Ihnen! Wie er da die – wie er sich ausdrückt gemolkenen Ästhetiker hierzulande bis zur Nacktheit entkleidet und die Männer der Initiative und der kühnen Taten ans Gewehr ruft! Einfach wunderbar!«

Per sah überrascht auf. »Dr. Nathan?« fragte er.

Plötzlich entsann er sich jener letzten Unterhaltung mit Fritjof im Café, bei der dieser auf den jüdischen Schriftsteller in einer Weise angespielt hatte, die er damals nicht verstand oder die zu verstehen er sich nicht bemüht hatte. Nun weckte Salomons Mitteilung doch seine Neugier. Er erkundigte sich, was dieser Universitätsdoktor eigentlich geschrieben habe, und der andere erbot sich sofort, ihm die genannte Abhandlung zu leihen.

»Bemühen Sie sich nicht«, wehrte Per ab. »Ich werde sie kaum noch lesen können.« Und nachdem er sich zurückgelehnt hatte, fügte er wie beiläufig hinzu: »Ich denke nämlich daran, bald auszuwandern.«

»Sie wollen fortgehen?« Es klang fast wie ein Angstschrei.

»Ich habe die Absicht.«

»Für immer?«

»Vielleicht.«

Der kleine Ivan senkte den Blick und saß eine Zeitlang schweigend da. Er hatte von Pers Projekt und von Oberst Bjerregravs und Professor Sandrups abweisender Haltung gehört; er hatte aber nicht daran glauben wollen, daß man in unseren Tagen noch verkannt werden könnte.

»Eigentlich verstehe ich recht gut, daß Sie den Wunsch haben wegzukommen«, sagte er. »Es gibt hier vorläufig wohl kaum günstigen Boden für Sie. Ich muß da an Ihre Bezeichnung für unser berühmtes polytechnisches Institut denken. Sie nannten es eine ›Brutanstalt für Büroangestellte‹. Ich finde den Ausdruck brillant. Er ist durchaus treffend. Alles ist heute darauf ausgerichtet, die Mittelmäßigkeit zu fördern. Für Ausnahmen ist kein Platz mehr, kein Verständnis. Ja, es gibt nicht mal ein Bedürfnis für das Besondere, Herausragende, Bahnbrechende. Es ist schon so, wie Nathan schreibt: wir haben uns zu lange leichtfertig auf die Phantasie verlassen und dadurch in bedenklichem Grad die Willenskraft der Nation geschwächt.«

»Schreibt er das?«

»O ja – und noch viel mehr. Ich werde Ihnen auf jeden Fall die Abhandlung schicken. Sie müssen sie lesen! – Gedachten Sie sehr weit weg zu reisen?«

»Ich weiß nicht. Ich habe es mir noch nicht näher . . .«

»Aber Sie werden zurückkehren. Sie werden bald zurückkehren! Davon bin ich fest überzeugt! Die Zukunft hier gehört Ihnen! Doch vielleicht ist es, wenn man's recht bedenkt, gar nicht so abwegig, sich mal für kurze Zeit unsichtbar zu machen. Das wird sogar ganz klug sein. Ein Aufenthalt im Ausland schafft immer Prestige. Wenn Sie nur eine Anstellung bei einer der bekannten englischen oder französischen Ingenieurfirmen bekämen, zum Beispiel bei Blackbourn & Gries, dem Unternehmen, das die großen Brücken baut. Wir hatten mit den Leuten hin und wieder geschäftliche Verbindungen. Aber vielleicht haben Sie schon andere Pläne?«

Per antwortete ausweichend.

Salomon spielte mit seinem buntseidenen Taschentuch. Die ganze Zeit über brannte ihm eine Frage auf der Zunge, doch er fand nicht den Mut, sie auszusprechen. Es war die Frage nach den Reisekosten. Er kannte Pers Verhältnisse weit besser, als dieser ahnte, und wußte auch von dessen Geldschwierigkeiten. Es war stets sein großer Kummer gewesen, daß Pers Haltung es ihm bisher unmöglich gemacht hatte, seine freundschaftliche Hilfe anzubieten. Nun hoffte er, endlich Gelegenheit zu haben, Per einen jener Dienste zu leisten, die er so gern Leuten anbot, an deren Talent und Zukunft er glaubte. Diese Opferwilligkeit war bei ihm nicht ausschließlich eine Frage der Eitelkeit. Trotz mancher lächerlicher Eigenschaften war Ivan in seinem innersten Wesen ein uneigennütziger, kindlich mitfühlender Mensch, voller Hilfsbereitschaft und Anbetung, dessen einzige Leidenschaft darin bestand, daß seine Abgötter die ihren zufriedenstellen können.

Auf einmal stand der junge Salomon mit einem Ruck auf, als hätte ihn ein Mechanismus im Stuhlsitz in die Höhe geschnellt. »Ich bedauere, daß ich Sie jetzt verlassen muß«, erklärte er. »Ich habe meiner Mutter und meiner Schwester versprochen, mit ihnen zu unserem Landsitz zu fahren. Da sehe ich schon den Wagen kommen.«

Auf dem schmalen, tiefer gelegenen Fahrweg, der das Restaurant von der Promenade trennte und über den eine geschwungene Brücke führte, näherte sich eine große herrschaftliche Equipage. Hinter den beiden stattlichen braunen Pferden mit silberbeschlagenem Zaumzeug thronten ein Kutscher und ein Diener in blauer Livree, und hinter diesen wiederum erblickte man zwei seidene Sonnenschirme, der eine weiß, der andere lila.

»Hätten Sie nicht Lust, meine Familie zu begrüßen?« fragte Salomon. »Meine Mutter und auch meine Schwester würden sich bestimmt freuen, Sie kennenzulernen.«

Per kam mit Ausflüchten. Er hatte keine Lust, sich hier vor den Augen aller vorstellen zu lassen. Doch Salomon hatte dem Kutscher bereits ein Zeichen gegeben, und einen Augenblick später hielt der Wagen am Fuße der Treppe, die vom Restaurant zum Fahrweg hinunterführte.

Unter den Sonnenschirmen saßen zwei Damen, von denen die eine – die jüngere – sofort Pers Blick fesselte. Übrigens hatte er sie schon einmal gesehen, doch unter einer Maske und ohne zu wissen, wer sie war. Es war in jener Karnevalsnacht vor über einem Jahr gewesen, als er Frau Engelhardt das erste Mal begegnet war. Er erinnerte sich dunkel, daß sie in jener Nacht die Schneekönigin gewesen war und ein weißseidenes, tief ausgeschnittenes Kleid getragen hatte, das über und über mit Diamanten besät war. Seither hatte er sie sich stets als eine blasse, üppige, aufgeputzte Jüdin gedacht, die ihre Reize und Juwelen ausstellte wie ein Krämer seine Waren. Und nun sah er ein blutjunges Mädchen vor sich, kaum älter als achtzehn, neunzehn Jahre, an deren jüdischer Herkunft zwar nicht zu zweifeln war, die aber ein frisches, regelmäßiges Gesicht mit roten Wangen hatte, das von dichtem lockigem Haar umwogt wurde. Sie war auffallend, doch nicht geschmacklos in ein wolfsgraues, enganliegendes Samtkostüm gekleidet. Auf dem Kopf trug sie einen lila Hut, an dem sich zwei große buntseidene Schleifen, riesigen Schmetterlingsflügeln gleich, entfalteten. Ihre schönen schwarzbraunen Augen, voll Leben und Schelmerei, betrachteten ihn mit unverkennbarem Interesse, mit einer dreisten Neugier, die ihn fast verwirrte.

Die Mutter hatte indessen Pers Gruß mit leichtem, gemessenem Nicken beantwortet. »So also sehen Sie aus«, sagte sie. »Mein Sohn hat schon oft von Ihnen gesprochen. Sie sind Ingenieur, nicht wahr?«

Per antwortete mechanisch, er wandte keinen Blick von dem jungen Mädchen, deren Augen ebenfalls nicht von ihm ließen, wenn sie sich auch mehr und mehr hinter den langen Wimpern versteckten.

Übrigens dauerte die Begegnung nicht lange. Ivan stieg in den Wagen, und nachdem Frau Salomon versichert hatte, daß die Freunde ihres Sohnes in seinem Elternhaus allzeit willkommen seien, tauschte man noch einmal einen zeremoniellen Gruß, der Diener schwang sich auf den Bock, und der Wagen rollte davon.

Mit glühenden Wangen ging Per zur Stadt zurück.

Er konnte den verwegenen Ausdruck dieser strahlenden schwarzbraunen Augen nicht vergessen. Und plötzlich sah er das junge Mädchen ganz deutlich vor sich, so wie es in jener Karnevalsnacht an ihm vorüber durch die Menge geschritten war – halbnackt, eine Goldkrone im dunklen wolligen Haar, mit langem wallendem Schleier, auf dem Diamanten schimmerten.

Da war es, als flüsterte ihm die Stimme des Versuchers ins Ohr: »Die schwarze Prinzessin . . . und das halbe Königreich!«

 

Seinem Versprechen getreu, schickte Salomon noch am selben Abend Dr. Nathans umstrittene Abhandlung an Per, der sich in Ermangelung einer anderen Beschäftigung sofort darin vertiefte. Schnell war er gepackt von Sprache und Ton, die ganz anders waren, als er es erwartet hatte. Er dachte an Bücher ähnlicher Art – an Martensens Ethik zum Beispiel –, aus denen er als Junge an seinen freien Nachmittagen hatte vorlesen müssen, eine Beschäftigung, die nicht ohne Einfluß auf sein Verhältnis zur außerhalb seines Fachs liegenden Literatur geblieben war. Hier fand er klar und deutlich ausgesprochen, was seine eigenen Erfahrungen ihn gelehrt hatten. Er freute sich im stillen über die geistreichen und schonungslosen Angriffe auf all das, was er selbst hierzulande haßte, besonders auf das kleinliche und selbstgerechte Pfaffentum, auf die Sideniusse, die auch diesem Mann als das Unglück und die Schande des Landes erschienen.

Besonders begeistert war er vom Schluß der langen Abhandlung, wo der Verfasser als Antwort auf die Angriffe, denen seine Tätigkeit von vielen Seiten her ausgesetzt war, in dichterischer Form den ersten Eindruck von seiner Heimat wiedergab, den er bei seiner Rückkehr von einem mehrjährigen Studienaufenthalt im Ausland gewonnen hatte. Er erzählte, wie er nach einer Schnellzugfahrt vorbei an den lärmerfüllten großen Städten des wiedergeborenen Deutschlands, durch das ameisengeschäftige Hamburg und das erneuerte Kiel eines frühen Morgens mit dem Dampfer nach Korsor gekommen sei, wo ihn schon beim Einlaufen in den stillen und leeren Hafen ein Gefühl ergriffen habe, als glitte er in eine andere Welt, in ein überirdisches Traumreich. Und dieses Empfinden habe sich auch nicht verloren, als er mit dem anbrechenden Tag durch das Land gefahren war, in einem schwerfällig ratternden Zug, der allmählich alle anderen Reisenden in den Schlaf rüttelte und jede Viertelstunde auf einer kleinen Station hielt, wo ein paar Bauern mit grundtvigianischen Pilgerhüten und großen Tabakspfeifen warteten – nicht auf den haltenden Zug, sondern auf den, der eine oder zwei Stunden später eintraf. Es war, als sei er in ein Land geraten, wo die Zeit für niemanden Wert hatte, wo alle buchstäblich die Ewigkeit vor sich hatten. Und der Eindruck hatte sich noch verstärkt, als er Kopenhagen erreichte und durch die engen Straßen ging, wo sich in den dazwischenliegenden Jahren anscheinend nichts verändert hatte. Das Pflaster war genauso erbärmlich, die Läden noch ebenso provinziell, die Droschken fuhren in demselben Schneckentempo wie eh und je, und die Theaterplakate kündigten dieselben naiven Ritterdramen an wie zu der Zeit, da er abgereist war. Es war, als habe das Leben hier stillgestanden, während in Europa auf allen Gebieten eine gewaltige Entwicklung stattgefunden hatte, eine geistige Revolution, die die Gesellschaftsordnungen umgeformt und den Menschen höhere und kühnere Ziele gesetzt hatte.

Schließlich – so erzählte Dr. Nathan – sei er in die Nähe von Gammelholm gekommen, wo Studenterforeningen seinen Sitz hat, zufällig zu der Zeit, da er dort während seiner Kandidatenjahre mit einigen Studienfreunden den täglichen Nachmittagskaffee zu trinken pflegte. Weil er es nicht für ausgeschlossen hielt, den einen oder anderen alten Bekannten anzutreffen, sei er hineingegangen. Und groß war seine Überraschung, als er hier fast die ganze Gesellschaft versammelt sah, um denselben Tisch, in derselben Ecke und genau derselben Gruppierung wie vor vielen Jahren, als er noch unter ihnen gesessen hatte. Sie waren unterdessen alle älter geworden, einer hatte schon graue Haare bekommen, einige waren mager, die meisten jedoch fett geworden. Ihr Gesichtsausdruck, ihre Bewegungen und besonders ihre selbstgefällige, langsame Sprechweise offenbarten eine früh eingetretene geistige Erschlaffung. Es schien, als hätten sie sich all die Jahre nicht vom Fleck gerührt. Ja sogar ihre Unterhaltung, der er unerkannt am Nebentisch eine Zeitlang zugehört hatte, bestand aus demselben geschraubten theologisch-philosophischen Geschwätz, mit dem sie schon seinerzeit Kaffee und Tabak gewürzt hatten. Sie verriet, daß nichts von dem, was man im letzten Menschenalter ringsum in Europa gedacht, geleistet und gedichtet hatte, über die Grenzen dieses Landes gedrungen war. Im selben Augenblick sei ihm klargeworden, wo er sich befand. Er war in Dornröschens Reich gekommen, wo die Zeit stillstand und der blasse Rosenflor der Phantasterei und das zählebige dornige Gestrüpp der Spekulation heimtückisch den inneren Verfall verdeckten. Doch im selben Augenblick, so schloß der Autor, habe er auch seine Berufung erkannt. Wie jener »von weit her heimkehrende« Mann im Märchen, der dem schlafenden Torwächter das Horn »Hahnenschrei« aus der Hand wand, um die Streiter aus ihrem bleiernen Schlaf zu wecken, so hatte er versucht, jene aufzurütteln, die in diesem Lande noch Leben in sich hatten, vor allem die Jugend, und unter ihr die Stärksten und Kampflustigsten, die den Mut hatten, das zähe Traumgespinst, den verfilzten, verhärteten Kokon zu durchstechen und zu zerschlagen, in den sich der Geist der Nation eingekapselt hatte.

Besonders dieses letzte Kampfsignal trieb Per während der Lektüre das Blut in die Wangen. Er hatte das Gefühl, als sei dieser aufstachelnde, anfeuernde Aufruf direkt an ihn gerichtet, ja ganz besonders an ihn. Seine Hand fiel schwer auf die Tischplatte, und zweimal sagte er ganz laut wie zur Bekräftigung: »Ja! Ja!« Er erinnerte sich, daß der Oberst damals sein Projekt spöttisch als eine Herausforderung an den dänischen Technikerstand bezeichnet hatte. Wohlan! Das sollte es werden! . . . Denn nun wußte er es: er war dazu geboren, auf seinem Gebiet zum Erlöser aus dem Dornröschenschlaf zu werden, zum Bahnbrecher in dieser stumpfsinnigen Gesellschaft dickblütiger Pastoren- und Küstersöhne. Ivan hatte recht gehabt. Man wartete auf ihn. Ja, auf ihn.

Per stand auf. Ohne an den toten Oberbootsmann zu denken, der noch da oben in seinem mit weißem Papier ausgeschlagenen Sarg lag, ging er mit festen Schritten auf und nieder. Und plötzlich preßte er die geballte Faust gegen die Stirn, wobei er im Takt sein bekräftigendes »Ja – ja – ja!« wiederholte.

Er dachte an Fräulein Salomon. Er sah ihre großen schwarzbraunen Augen vor sich mit dem neugierigen, dreisten und zuletzt – hinter dem Wimpernschleier – fast lockenden Blick.

Niemals zuvor war ihm der Gedanke gekommen, daß er seine Pläne auch durch eine reiche Heirat fördern könnte. Dazu hatte er bislang viel zu fest auf seine eigenen Fähigkeiten vertraut – und im übrigen hatte ihn auch stets etwas daran abgestoßen. Nun sagte er sich, daß es im Kampf um das große Ziel nichts nützte, wenn man zu genau in der Wahl der Mittel war. Eine Jüdin? Ja, warum nicht? Fräulein Salomon war jung und hübsch und – soweit er es hatte sehen können – auch ungewöhnlich schön von Gestalt. Es war Zeit, sich von der kindischen Vorstellung zu befreien, das Glück sei etwas, das den Leuten in den Schoß fiel wie ein Lotteriegewinn. Auf alle Fälle gab es kein anderes zuverlässiges oder wirklich wertvolles Glück als das, was man dem Schicksal abtrotzte. Wie ein wildes Tier, wie eine krummzahnige Bestie, wie den goldborstigen Eber aus dem Märchen mußte man das Glück jagen, fangen und binden . . . eine Beute des Schnellsten, des Stärksten, des Mutigsten!

 

Ein paar Tage später fand die feierliche Beerdigung des Oberbootsmanns statt. Am Abend vorher war die Leiche in die Kapelle übergeführt worden. Am Begräbnistag versammelten sich die alten Freunde des Hauses zu einem stillen Frühstück vor der Beerdigung. Um zwölf Uhr hielt der junge Didriksen vor dem Haus mit seiner Droschke, in der Madam Olufsen und der alte Bendtz mit den Kränzen fuhren, während sich das übrige Gefolge zu Fuß nach Holmens Kirkegaard begab.

Es war ein beinahe sommerlicher Frühlingstag. Zwischen den Gräbern grünten schon viele Büsche, und über den Grabsteinen schwirrten die Vögel in ausgelassenen Liebesspielen. Die kleine stille Trauerschar betagter, hinfälliger Gestalten, die sich langsam und schwankend, gestützt auf Stöcke und Regenschirme, in ihrem verschossenen und altmodischen Sonntagsstaat den Friedhofsweg hinauf bewegte, nahm sich im hellen Sonnenschein recht gespenstisch aus. Nur Per, der als letzter folgte, schien im Bund mit der lebendigen, sich verjüngenden Natur ringsum. Zwar war auch er auf seine Weise von der Feierlichkeit ergriffen, doch die Macht des Todes über ihn war gebrochen. Als er mit den anderen einen Kreis um das Grab bildete und den sonnenbeschienenen Sarg in die dunkle, enge und kalte Grube gleiten sah, mischte sich ein fast wollüstiges Gefühl in sein Grauen. Noch gehörte er dem Leben und der Sonne. Noch sang das Blut voll Verheißung in seinen Ohren, noch – noch!

Nach der Beerdigung ging er nach Hause, um sich umzukleiden. Er wollte Salomons einen Besuch abstatten.

Doch daheim in der Hjertensfrydgade harrte eine sonderbare Überraschung seiner. Auf dem Tisch lag eine Visitenkarte – eine Karte mit einer Adelskrone und dem Namen Baronin von Bernt-Adlersborg. Erst glaubte er, sie sei irrtümlich zu ihm gelangt; dann entdeckte er aber, daß auf der Rückseite ein paar Zeilen standen. In liebenswürdigen, fast unterwürfigen Wendungen erbat die Baronin eine Unterhaltung mit ihm und gab eine Zeit an, zu der sie an diesem und am folgenden Tag im Hotel d'Angleterre anzutreffen sei.

Nun kam auch die Frau des Schiffszimmermanns herein und erzählte tiefbeeindruckt von einer vornehmen Dame, die in einer Equipage vorgefahren sei und nach ihm gefragt habe. Sie habe ihr diesen »Zettel« gegeben und sie gebeten, ihn auf seinen Tisch zu legen.

Per starrte wieder auf die Karte.

Baronin von Bernt-Adlersborg! – Nie im Leben hatte er den Namen gehört.

»Das muß wohl ein Irrtum sein. Hat sie wirklich nach mir gefragt? . . . Hat sie meinen Namen genannt?«

»I gewiß doch! Herr Sidenius, sagte sie. Und sie war schrecklich traurig, daß sie den Herrn nicht getroffen hat.«

Eine Reihe kühner Phantasiegebilde durchzuckte Pers Kopf. »Wie sah sie aus?« wollte er wissen. »War sie jung?«

»Ja. Sie kann wohl so in meinem Alter gewesen sein«, antwortete die brave Frau, die nahe an die Fünfzig war.

»Und es war eine Dame . . . eine wirkliche Dame?«

»Jesses doch! Sie hatte einen Pelz in der Kutsche.«

Per sah auf die Uhr. Wenn er die mystische Baronin heute noch treffen wollte, so war keine Zeit zu verlieren. Er war ziemlich gespannt, die Lösung des Rätsels zu erfahren. Daher gab er den Besuch bei Salomons auf, zog seine besten Kleider an und machte sich auf den Weg.

Der langbärtige Hotelportier kam ihm anfangs etwas hochmütig entgegen; als er aber hörte, wen Per suchte, verneigte er sich ehrerbietig, riß vor ihm die Treppentür auf und läutete Sturm an einer Glocke, die im selben Augenblick einen Diener und ein Stubenmädchen von oben herbeirief. Mit einer Feierlichkeit – so kam es Per vor –, als sei er ein König, der einer Königin seine Aufwartung machen will, geleiteten ihn diese beiden die breite, mit Teppichen belegte Treppe hinauf und durch einen langen Gang, an dessen Ende er an eine schwedisch sprechende Kammerzofe übergeben wurde, die seine Karte in Empfang nahm und ihn in ein Zimmer führte, in einen kleinen Salon, der mit der üblichen – Per allerdings sehr beeindruckenden – Hoteleleganz ausgestattet war: mit einigen hellroten Plüschmöbeln und einem Glasprismenkronleuchter.

Per ließ sich nicht so leicht verblüffen, aber hier fühlte er sich dennoch etwas beklommen. Ihm schoß plötzlich der Gedanke durch den Kopf, daß er sich in eine Narrenfalle habe locken lassen und daß alles eine Komödie sei, die einer seiner Feinde arrangiert hatte, um ihn zum besten zu haben.

Zum Nachdenken blieb ihm indessen nicht lange Zeit. In diesem Augenblick trat eine hochgewachsene Dame aus dem Nebenzimmer ein.

Jung war sie nicht, schön noch weniger. Ihr Gesicht war verblüht, die Nase verdächtig rot. Ihre tiefschwarze Kleidung dünkte Per recht einfach. Und doch konnte man keinen Augenblick zweifeln, daß sie eine Dame der großen Welt war. Ihre Gestalt und ihr Wesen – nicht zuletzt die Art, wie sie ihm die Hand reichte und für sein Kommen dankte – drückten einen feinen zurückhaltenden Anstand und ein Taktgefühl aus, die sich nicht erwerben ließen, sondern die besondere Eigenart vornehmer Geschlechter sind.

»Es hat Sie, hoffe ich, nicht verwundert, Herr Sidenius, daß ich Sie gern einmal sehen und ein wenig mit Ihnen plaudern möchte«, begann sie, als man einander gegenüber in den roten Lehnstühlen Platz genommen hatte. »Sie waren ja der letzte Freund und Vertraute meines lieben verstorbenen Bruders. Sie sind auch derjenige, der sein letztes Lebewohl an die Welt vernahm . . .«

Jetzt begriff Per den Zusammenhang. Er erinnerte sich plötzlich an das, was ihm der Rechtsanwalt im Zusammenhang mit Neergaards Nachlaß erzählt hatte, daß sein Gönner noch zwei Schwestern habe, von denen eine mit einem reichen schwedischen Gutsbesitzer verheiratet sei.

Die Baronin fuhr fort: »Schon lange hegte ich den Wunsch, den Mann kennenzulernen, mit dem mein einziger Bruder sich so eng verbunden fühlte, ja in dem er gleichsam ein verjüngtes Bild seiner selbst gefunden hatte – wie er uns in dem hinterlassenen Brief hinsichtlich der Testamentsbestimmungen schrieb. Allein das langwierige Krankenlager meines innig geliebten Gatten fesselte mich an mein fernes Heim. Ja, es war mir nicht einmal vergönnt, an der Beerdigung meines teuren Bruders teilzunehmen.«

Die eigenartige Ausdrucksweise der Baronin und auch einige sonderbare Gesichtszuckungen verrieten eine weit vorgeschrittene Nervosität. Nach den letzten Worten brach sie in heftiges Weinen aus und preßte ihr Spitzentaschentuch an die Augen.

Per war unangenehm berührt und schwieg. Er konnte noch immer nicht ein gewisses Unbehagen überwinden, wenn er an sein Verhältnis zu dem exzentrischen Selbstmörder erinnert wurde.

»Ja, ich habe viel Kummer gehabt«, klagte die Baronin, als sie sich ein wenig beruhigt hatte. »Sie müssen mir daher gestatten zu weinen . . . Wie Sie vielleicht wissen, hat der Herr nun auch meinen ritterlichen Gatten von meiner Seite gerissen, so daß ich einsam und verlassen bin.«

Per hielt es für das richtigste, seine Teilnahme durch ein Neigen des Kopfes zu bezeigen.

»Ich möchte Ihnen versichern, Herr Sidenius, daß ich oft daran gedacht habe, Ihnen zu schreiben – auch im Namen meiner Schwester –, damit Sie nicht glaubten, Ihr Wohlergehen sei uns gleichgültig. Aber ich konnte nie so recht den Mut dazu finden. Und auch Ihnen hätte wohl nichts daran gelegen, mit einer wildfremden und vielleicht gleichgültigen Dame zu korrespondieren . . .«

Per zwang sich dazu, hastig einen Einwand zu murmeln.

»Ja, ja . . . offen gestanden hätte ich Sie wohl auch heute nicht mit dem Wunsch belästigt, mich zu besuchen, wenn nicht . . . ja, ich muß es Ihnen sagen . . . Als ich heute auf den Friedhof kam und die schönen, ganz frischen Blumen auf dem Grab meines Bruders erblickte, wußte ich sofort, wer so liebevoll an seinen Todestag gedacht hatte. Da spürte ich das unwiderstehliche Bedürfnis, Sie zu sehen und Ihnen zu danken, daß Sie mit treuer – darf ich es aussprechen? – Sohnesliebe die Erinnerung an meinen unglücklichen Bruder bewahren.«

Per starrte auf seine Schuhspitzen und wurde dunkelrot. Aus dem tiefsten Winkel seines Bewußtseins huschte ein Gedanke zu Frau Engelhardt. Er ahnte nicht einmal, wo Neergaard begraben lag.

»Aber jetzt muß ich Sie erst einmal richtig anschauen«, fuhr die Baronin fort. Sie fühlte sich immer mehr angezogen von diesem schweigsamen und verlegenen jungen Mann, der sich schämte, seine Liebeswerke zu bekennen. »Wie gesund und wohl Sie aussehen! Sie gehören sicherlich nicht zu diesen jungen Menschen von heute, die leichtsinnig ihre Jugend aufs Spiel setzen. Wie alt sind Sie, Herr Sidenius?«

»Dreiundzwanzig.«

»Oh, noch so jung! . . . Gott gebe, daß es Ihnen stets gut geht. Ich weiß, was für eine schwere Jugend Sie gehabt haben. Mein Bruder hat uns davon geschrieben. Ihre Mutter ist früh gestorben. Und Ihren Vater . . . ja, Ihren Vater haben Sie gar nicht gekannt.«

Das Samtpolster des Lehnstuhls schien plötzlich unter Per zu glühen. Er beeilte sich, das Thema zu wechseln. »Befinden Sie sich hier nur auf der Durchreise, gnädige Frau?« fragte er.

»Ja – ach ja! Gestern abend bin ich angekommen und fahre, so Gott will, morgen weiter. Ich bin unterwegs zu meiner Schwester, der Hofjägermeisterin Prangen. Sie hat – wie Sie vielleicht wissen – die letzten Jahre ihrer Gesundheit wegen im Süden gelebt. Denken Sie, ich habe sie jetzt seit über zwei Jahren nicht gesehen, und wir drei Geschwister haben doch nie so recht ohneeinander leben können. Es war viele Jahre mein einziger Kummer, daß ich fern von meinem geliebten Vaterland weilen mußte. Und Alexander ging es genauso. Auch er hing an der Heimat mit der ganzen Liebe seines reichen, warmen Herzens. Sicherlich haben Sie gehört, Herr Sidenius, daß Seine Königliche Hoheit der Prinz von Wales seinerzeit so gnädig war, sich für meinen Bruder zu interessieren. Damals war auch die Rede von seiner Anstellung bei unserer Gesandtschaft in London. Unter einer solchen Protektion hätte sich ihm ja ohne Zweifel eine glänzende Karriere eröffnen können. Doch all dem zum Trotz, was einen Mann wie Alexander bei diesem Angebot hätte locken können, entschloß er sich, es nicht anzunehmen. Meine verehrte Mutter lebte damals noch in Kopenhagen, und meine Schwester war zu jener Zeit unverheiratet . . . Alexander liebte Kopenhagen und vergötterte sein Zuhause. Er fühlte sich einfach nicht wohl fern von den bekannten, lieben Stätten. Ich glaube, seine Schwermut stammte von der Stunde her, da meine Mutter starb und er allein zwischen all den Erinnerungen zurückblieb. Zudem war er in letzter Zeit auch körperlich krank . . . Und doch! Daß er das tun konnte!«

Die Erinnerung an das traurige Ende des Bruders übermannte die Baronin, und wieder wurde das Taschentuch an die Augen geführt. Per nutzte die Gelegenheit und stand auf, um sich zu verabschieden.

Die Baronin, die auf ihrem Stuhl sitzen blieb, nahm mit mütterlicher Wärme seine Hand zwischen ihre beiden und sagte: »Wie froh bin ich, Sie nun kennengelernt zu haben! Ich hoffe sehr, daß wir uns öfter treffen werden. Wollen Sie mir versprechen, mich zu besuchen, wenn ich aus dem Ausland zurückgekommen bin? Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich den Sommer bei meiner Schwester und bei meinem Schwager auf Kærsholm verbringen, und ich bin überzeugt, daß auch Sie ihnen von Herzen willkommen sein werden.«

»Vielen Dank . . . wenn ich nur nicht störe«, stammelte Per. In seiner Verlegenheit wußte er nichts anderes zu antworten.

»Aber ich bitte Sie, lieber Freund! Bedenken Sie, daß Sie nun gewissermaßen mit zur Familie gehören! So will ich zumindest den letzten Wunsch meines Bruders auffassen. Und ich bin überzeugt, in dieser Hinsicht denkt meine Schwester ebenso wie ich. Lassen Sie es sich nun recht gut gehen. Und noch einmal vielen Dank, daß Sie gerade heute Alexanders so liebevoll gedacht haben.«

Per schritt langsam, zuletzt fast zögernd die Hoteltreppe hinab. Erst jetzt wurde ihm klar, wie bedeutungsvoll diese neue Bekanntschaft für ihn werden konnte, falls er sie ohne allzu viele Skrupel mit Klugheit und Energie ausnutzte. Durch einen abenteuerlichen Zufall eröffnete sich ihm hier ein Weg zu Menschen mit bedeutendem Einfluß. Wenn er nicht irrte, lag das Gut des Hofjägermeisters Prangen sogar auf demselben Gebiet, durch das er seinen mitteljütischen Verbindungskanal zu führen gedachte, was für diesen Mann folglich ein besonderer Grund sein mußte, sich für seinen Plan zu interessieren. Es galt, keine Chance ungenutzt zu lassen. In dem hohen Spiel, das nun gewagt werden sollte, konnte er nicht genug Trümpfe in der Hand haben.

Einen Augenblick lang dachte er daran, daß es für ihn nun vielleicht nicht mehr nötig sei, mit dem Hause Salomon in nähere Verbindung zu treten. Wie sehr er sich auch von dem jungen Mädchen angezogen fühlte, besonders erpicht darauf, in eine jüdische Familie einzuheiraten, war er gerade nicht. Und wer konnte wissen, welche Möglichkeiten sich ihm durch eine Heirat in aristokratische Kreise eröffnen konnten?

Auf der anderen Seite: Im Salomonschen Hause würde er wahrscheinlich die führenden Männer der Börse, die Bankdirektoren und Großindustriellen der Stadt, kurz, jenen kleinen Kreis der Geldleute treffen, die im eigentlichen Sinne die übrige Welt regierten. Selbst ohne alle Spekulationen auf eine Ehe würde es für ihn von großer Bedeutung sein, mit solchen Leuten zusammenzukommen und Gelegenheit zu haben, sie für sein Werk zu gewinnen. Die Baronin reiste außerdem ab, und er hatte keine Zeit zu warten. Heute, morgen, jedenfalls im Laufe der nächsten zwei, drei Monate, mußte er den Zauberstab erobert haben, der ihm Macht über die Menschen verlieh und der in seiner Hand in einen Donnerkeil verwandelt weiden sollte.

Per war auf den Markt gekommen und sah zur Uhr am hohen Eckhaus hinauf. Es war noch Zeit für einen Besuch bei Salomons, und er beschloß, die Gelegenheit wahrzunehmen. Doch er war noch ein wenig verwirrt von seinem Erlebnis mit der Baronin. Deshalb ging er für einen Augenblick in ein Café und trank ein Glas Bier, um sich ein wenig zu beruhigen und sich auf den Besuch vorzubereiten. Noch nie hatte er seinen Fuß über eine jüdische Schwelle gesetzt, doch er hatte viel von den alten Sitten und Vorschriften gehört, auf deren Befolgen großes Gewicht gelegt wurde. Es galt nun, einen guten Eindruck zu machen, und er war besorgt, daß er einen Fehler begehen könne.

Allmählich kehrte er zu seinen alten Gedankenkreisen zurück. Er konnte sich nicht genug darüber wundern, daß jene unüberlegten Redensarten, die ihm damals in der Nacht bei Neergaard entschlüpft waren, so weitreichende Folgen gehabt hatten. Denn die Worte der Baronin bewiesen deutlich, daß vor allem die hingeworfene Bemerkung über seine Herkunft den Bruder beeindruckt hatte. Er erinnerte sich, daß er damals seine Geschwätzigkeit sogleich bereut, es aber nicht der Mühe wert gefunden hatte, den Fehler zu berichtigen. Jetzt wünschte er allerdings, er hätte es getan.

Nun wennschon! Er trank sein Glas aus. Was geschehen war, war geschehen! Zweifelhafte Handlungen konnten mitunter gute Früchte tragen. Jedenfalls: Wer vorwärts will, darf nicht zurückschauen . . .

 

Die Familie des Großhändlers Salomon gehörte zu den wenigen in der Stadt, die im Zentrum ein ganzes Haus bewohnten. Es lag in der Gegend der Bredgade und war ein älteres zweistöckiges Gebäude. Von der Straße aus machte es auf den ersten Blick keinen besonderen Eindruck, denn es war zwischen zwei großen Mietskasernen eingeklemmt. Bei näherem Hinsehen entdeckte man allerdings, daß eine eigene vornehme Würde darüber ruhte. An dem hohen blauschwarzen Ziegeldach und an der Breite der Fensterpfeiler erkannte man, daß das Haus vornehmen Ursprungs war. Die älteren Leute in der Nachbarschaft nannten es denn auch noch »das Palais«. Es hatte seinerzeit einer verschuldeten adligen Familie gehört, von der es der Vater des Großhändlers Salomon Anfang der dreißiger Jahre gekauft hatte. Von der Toreinfahrt gelangte man durch eine moderne Glastür in eine Vorhalle, die so hoch und groß war, daß die Schritte darin widerhallten. An den Wänden hingen Rüstungen, alte Bronzegeräte und prachtvolle orientalische Waffen, so daß man das Empfinden hatte, ein Museum zu betreten. Im Hintergrund führte eine Doppeltreppe mit vergoldetem Geländer zum ersten Stock.

Das Mädchen, das Pers Karte in Empfang genommen hatte, geleitete ihn in eine Art Bibliothek und bat ihn, Platz zu nehmen. Per setzte sich in einen mit Leder bezogenen Sessel und sah sich aufmerksam um.

Schwere rotweinfarbene Seidengardinen vor den Fenstern . . . Ein zolldicker moosartiger Teppich über dem ganzen Fußboden . . . Goldledertapeten . . . Ein achteckiger, mit Silber und Perlmutter eingelegter Tisch mitten im Raum . . . In den Regalen kostbar gebundene Bücher . . . An den Wänden Gemälde . . . An der Decke ein wertvoller Kirchenkronleuchter mit Inschrift . . . An der Wand ein antiker reichgeschnitzter Tisch mit altem Silber, mit Humpen, Krügen und Bechern – unter den letzteren sogar einige alte Altarkelche.

 

Wenn nicht der Besuch bei der Baronin und die Gedanken, die dadurch in ihm geweckt worden wären, voraufgegangen wären, dann hätte all die Pracht einen noch stärkeren Eindruck auf ihn gemacht, als dies jetzt der Fall war. Und doch imponierte ihm alles außerordentlich. Halb gegen seinen Willen war er überwältigt von der schamlosen Verkündigung der Macht des Geldes. Ein eigenartig fröstelndes Behagen überfiel ihn bei dem Gedanken an diese gewaltige Macht, die die Erbschätze fremder Völker, ja sogar die heiligen Gefäße der Kirche zu Schmuckstücken für das Gemach eines Juden hatte werden lassen.

Per lächelte ein wenig verlegen. Es ließ sich nicht leugnen – die Prinzessin Salomon hatte wirklich nicht nur ihre Schönheit als Ersatz dafür zu bieten, daß sie »schwarz« war.

Die Tür zum Nebenzimmer ging auf. Ein kleiner Herr von abstoßendem Äußeren trat ein und verneigte sich tief. Obwohl er sicherlich schon an die Sechzig sein mochte, war er sehr modern und auffallend jugendlich gekleidet. Er trug einen kurzen hellen Überrock, und ein Monokel schaukelte an seiner Brust. In der Hand hielt er einen blanken Zylinder.

»Mein Name ist Direktor Delft«, sagte er mit etwas fremdem Tonfall. »Ich bin ein Onkel des Hauses.«

Die ausgesuchte Höflichkeit des Mannes versöhnte Per mit seinem häßlichen Affenkopf.

»Mein Name ist Sidenius.«

»Oh – der junge Ingenieur vermutlich? Mein Neffe hat oft von Ihnen gesprochen. Bitt schön, nehmen Sie doch Platz! Frau Salomon – meine Schwester – ist augenblicklich durch eine Schneiderin in Anspruch genommen. Sie wird gleich zu Ihren Diensten sein. Bitt schön, machen Sie es sich bequem!«

Per setzte sich wieder. Der Onkel nahm in einiger Entfernung Platz.

»Darf ich mir erlauben, Sie zu fragen . . . hatte ich bereits früher die Ehre, Sie hier im Hause zu sehen, Herr Sidenius?«

»Nein. Ich habe die gnädige Frau und das Fräulein Tochter neulich zum ersten Mal getroffen.«

»Ach ja, meine Nichte Nanny . . . Ich glaube, ich habe davon gehört.« Es entstand eine kleine Pause, worauf Herr Delft mit einem Lächeln und in einem Ton, der jeden anderen als Per mißtrauisch hätte werden lassen, die Bemerkung hinwarf: »Meine Nichte ist recht nett, nicht wahr? . . . Finden Sie nicht auch, Herr Sidenius?«

Per war dennoch etwas erstaunt. Mit nachsichtigem Lächeln blickte er zu dem sonderbaren kleinen Mann hinüber und entgegnete: »Ich finde Fräulein Salomon sehr hübsch. Eine vollendete Schönheit.«

»Ja, nicht wahr? Sie gehört nicht zu den Dutzendschönheiten, das darf man wohl behaupten . . . Doch ich kann Ihnen versichern, Herr Sidenius, sie zieht auch manchen jungen Mann seit Jahr und Tag ins Haus. Denn was vermag nicht alles die Schönheit! Und die Jugend! Übrigens . . . mein Schwager ist ja nicht ganz unbemittelt.«

Der Mann ist wohl nicht recht gescheit, dachte Per und gab die Unterhaltung auf.

Der andere aber fuhr fort: »Wenn Sie des öfteren das Haus mit Ihrem Besuch beehren, werden Sie sich sicher darüber amüsieren können. Man kann in dieser Beziehung wirklich höchst seltsame Beobachtungen anstellen. Denn – nicht wahr, Herr Sidenius? – Geld ist magnetisch. Diese kleinen runden Metallstücke ziehen die tiefsten menschlichen Gefühle an . . . bringen die edelsten Regungen des Herzens ans Tageslicht. Achtung, Freundschaft, Liebe. Habe ich nicht recht?«

Per begann ernsthaft ungeduldig zu werden. Zum Glück kam nun das Mädchen zurück. Es hielt die Tür zum Nebenzimmer offen und bat ihn einzutreten.

Per kam in einen Raum oder vielmehr in einen Saal, der in noch höherem Maße als die Vorhalle und die Bibliothek das Gefühl in ihm wachrief, das Märchenreich des wirklichen Reichtums – der Millionen – zu betreten. Der große Raum mit seiner prachtvollen, leicht gewölbten Decke im Rokokostil, aus deren Ecken dicke Putten auf glänzend vergoldeten Posaunen zum Gericht bliesen, war der Gesellschaftssaal des alten Palais. Hier, wo einst zwei Reihen dünnbeiniger Stühle an der Wand und ein paar hohe Pfeilerspiegel wahrscheinlich das ganze Mobiliar gebildet hatten, erblickte man jetzt einen Überfluß an Möbeln und Dekorationsgegenständen. Bequeme Sofas, tiefe weiche Sessel, Tische, Hocker, Bärenfelle und Gruppen von Blattpflanzen, Säulen mit Statuetten, Glasschränke mit Nippsachen und wieder Sessel und kleinere und größere Tische, neue Gruppen von Blattpflanzen und Kunstwerke und ein Porträt auf einer Staffelei. Ungefähr in der Mitte des Zimmers stand ein aufgeschlagener Konzertflügel. Aus einem kleinen Raum nebenan, der als Wintergarten eingerichtet war und in dem sich Palmen, Gummibäume und zwitschernde Vögel befanden, hörte man das Plätschern eines Springbrunnens.

Endlich entdeckte Per Frau Salomon auf einem Hocker am Fenster, wo sie ganz häuslich nähte. Sie empfing ihn freundlich und reichte ihm die linke Hand zum Willkommensgruß.

Sie hatten kaum ein paar Sätze gewechselt, als Per die Tür im Wintergarten hörte und darauf ein lustiges Summen, aus dem sich schnell ein helles Trällern entwickelte. Einen Augenblick später stand Fräulein Nanny in Hut und Mantel in der Türöffnung. Als sie den Fremden im Zimmer erblickte, hielt sie mit drollig erschrockener Miene in ihrem Gesang inne und führte den Muff zum Mund, als wollte sie einen Ausruf unterdrücken.

Per stand auf und verbeugte sich. Nicht einen Augenblick fiel ihm ein, daß sie von seiner Anwesenheit gewußt hatte, so natürlich hatte sie sich verstellt.

»Bist du noch da, mein Kind?« sagte die Mutter. »Ich glaubte, du seist gegangen. – Ich brauche wohl nicht vorzustellen. Sie kennen meine Tochter, nicht wahr?«

Per antwortete mit einer neuerlichen Verbeugung. Sein Blick gab dabei ein wenig zu offenkundig seinen Gefühlen Ausdruck. Noch ehe er sie gesehen hatte, allein beim Klang ihrer Stimme, die in seinen Ohren wie das Klingen von Goldstücken tönte, hatte er seinen Entschluß gefaßt. Sie war das Mittel! Hier war der Schatz, der gehoben werden mußte! – Wie sie sich dort in der Tür zeigte, die Sonne und das Vogelgezwitscher hinter sich, jung und üppig, verlockend wie eine morgenländische Bajadere, erschien sie ihm wie die Märchenfee mit den palmenblattschwingenden Genien des Sieges im Gefolge.

Fräulein Nanny setzte sich einen Augenblick. Sie nahm auf dem achten Teil eines Hockers Platz. Nun begann eine jener üblichen Unterhaltungen, bei der einander fremde Menschen sich Gelegenheit verschaffen, im Schutz von Redensarten eine Untersuchung des gegenseitigen Äußeren, des Wesens und der Umgangsformen anzustellen.

Per war kein Meister in der Konversation. Er war stets von sich und seinen Problemen zu stark beansprucht. Außerdem interessierten ihn die gewöhnlichen Gesprächsthemen nicht. Er wußte kaum Bescheid über all das, was sich in Theatern, in der Stadt, in Politik und Literatur ereignete. Er fühlte sich nicht einmal verpflichtet, unterhaltend zu sein. Wenn es ihm dennoch mehrfach gelungen war, auf Frauen Eindruck zu machen, so war dies durch eine Art Überrumpelung geschehen, durch einen wohlberechneten Tigersprung aus dem Hinterhalt des Schweigens zu den offensten und freimütigsten Eingeständnissen.

Während das junge Mädchen erzählte, bildete er sich im stillen ein Urteil über die Größe des Vermögens, das der Großhändler Salomon besaß. Seine Augen schweiften verstohlen durch den Saal. Und es schwindelte ihm bei dem Gedanken, daß all das vielleicht einmal sein Eigentum werden konnte.

Zum Glück war Fräulein Nanny imstande, die Unterhaltung ganz allein zu bestreiten. Doch während sie dort auf der Ecke des Hockers saß – in äußerst korrekter Haltung, die Ellenbogen in die Seite gepreßt, den kleinen, mit Schleifen geschmückten Samtmuff auf dem Schoß – und ihren hübschen roten Mund nicht stillstehen ließ, waren auch ihre Augen geschäftig und untersuchten dreist Pers Person, vom vollen lockigen Haar bis hinab zu den Knöcheln, die über den ein wenig ländlichen Schuhen sichtbar waren.

Frau Salomon wurde schließlich ein wenig unruhig durch ihre Redseligkeit. »Liebes Kind, du vergißt noch deine Klavierstunde.«

»Ach ja, liebe Mama.«

Nanny stand schnell auf. Mit einem hastigen Blick auf die Mutter und einem zögernden, sprechenden auf Per eilte sie hinaus.

Per wirkte nach ihrem Weggang recht zerstreut. Er gab Frau Salomon, die von seinen Studien zu sprechen begonnen hatte, ziemlich verrückte Antworten. Er war entzückt von dem jungen Mädchen. Sogar ihr Gang, der ihm mißfallen hatte, als sie hereingekommen war, weil er ein wenig schwerfällig und watschelnd war, hatte ihn, als sie fortging, aus demselben Grund völlig bezaubert. Er erschien ihm ausgeprägt weiblich, so fraulich – ein unbewußtes Tänzeln.

Doch nun entdeckte er mitten im Raum eine schwarzgekleidete Gestalt, eine Dame, die durch eine Tür hinter ihm eingetreten sein mußte.

»Meine Tochter Jakobe«, stellte Frau Salomon vor.

Per war überrascht. Er hatte überhaupt nicht an die Möglichkeit gedacht, daß noch andere Kinder in der Familie sein könnten als die beiden, die er kannte – und ein besorgter Gedanke schlich sich sogleich zu den Millionen, die er in seiner Phantasie schon in Besitz genommen hatte. Vielleicht waren da noch mehr! durchzuckte es ihn plötzlich mit Schrecken.

Die junge Dame schien einige Jahre älter als die Schwester zu sein; sie war größer und schlanker, in Pers Augen geradezu unheimlich mager. Sie erinnerte überhaupt mehr an ihren Bruder Ivan, hatte wie dieser stark ausgeprägte jüdische Züge, eine wachsbleiche Haut, eine große gebogene Nase, einen breiten Mund und ein kurzes, abgeflachtes Kinn.

Wirkte sie bereits durch ihr Äußeres unangenehm auf ihn, so verbesserte sich der Eindruck nicht, als sie voll Überlegenheit – schweigend und aus der Entfernung – seinen Gruß beantwortete. Nach einer Weile verabschiedete er sich deshalb.

»Das war also das vielbesprochene Naturgenie«, sagte Fräulein Jakobe, kaum daß sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. »Er macht keinen besonders zivilisierten Eindruck.«

»Seine Erziehung wurde wohl ein wenig vernachlässigt«, meinte Frau Salomon. »Er hat stets unter sehr drückenden Verhältnissen gelebt, erzählte Ivan.«

Die Tochter zuckte die Achseln.

»Natürlich . . . sie sind ja alle bettelarm in diesem Land. Gott gebe, daß auch nur ein einziges Mal eine Begabung geboren wird, die aus reichen Verhältnissen stammt. Auf die Dauer ist es etwas Erbärmliches – dieser Stempel der Armut, der sogar die Besten verunstaltet. – Außerdem war er ja nicht mal hübsch. Nanny posaunte ihn neulich als einen wahren Byron aus.«

»Hm, hübsch . . . aber er sieht recht gut aus.«

»Mit den Glotzaugen! Ich fand ihn geradezu häßlich«, entgegnete die Tochter und schloß geräuschvoll ein Buch, in dem sie geblättert hatte. »Er wirkte auf mich so unangenehm wie ein glasäugiges Pferd. Und dann sah er sehr brutal aus«, fügte sie nach einer Weile hinzu, mit einem Ausdruck, als durchzucke sie eine dunkle Erinnerung.

»Ich glaube, er hat dich verärgert, Jakobe.«

»Das hat er auch. Ich möchte wissen, woher die Herren heutzutage diese Schlächtermanieren haben, wenn sie uns Frauen betrachten. Es ist, als ob sie mit den Blicken abwiegen wollten, wieviel Pfund Fleisch wir am Körper haben.«

»Ja, er war etwas ungebildet, das habe ich auch bemerkt. Aber man muß dieser Art von jungen Menschen etwas zugute halten«, warf Frau Salomon sanftmütig ein.

»Ja, das sagst du immer. Ich verstehe wirklich nicht, warum wir mit Ivans mißglückten Genies gequält werden sollen. Wir wissen doch, was dabei herauskommt – selbst bestenfalls. Das hast du bei Fritjof Jensen gesehen. Er hat hier im Haus nichts als Liebenswürdigkeiten erlebt. Ich weiß sogar, daß Vater ihm mehrmals aus Geldverlegenheiten geholfen hat. Und nun wütet auch er in den Zeitungen gegen ›die Juden‹.«

»Nun ja, mein Kind, laß uns nicht wieder davon anfangen . . .«

»Mir deucht, ich rieche Christenblut!« ertönte es in diesem Augenblick, und in einer halbgeöffneten Tür tauchte das schreckeinflößende Gesicht des Onkels auf.

»Ach, du bist es!« begrüßte ihn Frau Salomon. »Komm nur herein. Wir sind jetzt allein . . . Mir schien, als hörte ich die Kinder.«

»Hier ist die ganze Bande!« sagte er.

Und herein stürmte eine Schar schwarzäugiger Kinder im Alter von zwölf bis vier Jahren, alle noch in ihren Mänteln. Nicht weniger als fünf an der Zahl, und jedes so gesund und quicklebendig, daß ihr Anblick Per zur Verzweiflung gebracht hätte. Eine Zeitlang erfüllte ein ohrenbetäubender Lärm das Zimmer, denn von all den roten Kindermündern stand auch nicht einer still. Alle hatten sie etwas zu berichten. Bald umschwärmten sie die Mutter, bald die Schwester oder den Onkel. Die dunklen Augen glänzten vor Eifer, denn jedes der Kleinen brannte darauf, zum Erzählen zu kommen.

Als man endlich wieder sein eigenes Wort verstehen konnte, bemerkte der Onkel: »Darf ich zur neuesten Erwerbung des Hauses gratulieren? Vorhin traf ich hier einen jungen Mann – Herrn – ja, wie hieß er doch gleich? Es war ein unangenehmer Name. Sohn eines Schwarzrocks, nicht wahr?«

»Fängst du auch noch davon an?« rief Frau Salomon aus. »Ich will jetzt nichts mehr von dem Menschen hören. Er ist ein Bekannter von Ivan, und er hat uns heute einen Besuch abgestattet. Punktum . . . Bleibst du zu Tisch, Heinrich?«

»Hier? – Lea, meine Schwester, hast du je einen koschern Schweinebraten gekostet?« fragte der kleine Mann, aus dessen Worten klug zu werden oft sogar für seine nächsten Angehörigen schwer war, wußte man doch nie, was Spaß und was Ernst war.

Frau Salomon mußte lachen.

»Du hast dich schon in der Küche erkundigt, merke ich. Doch still! Ich höre Salomon!«

Überwältigt von den Eindrücken, die er in dem reichen Haus empfangen hatte, und noch ganz erfüllt von seinem großen Entschluß, war Per inzwischen zurück nach Nyboder gegangen. Er war durch menschenleere Nebenstraßen geschritten, denn er hatte das Bedürfnis, allein zu sein. Nun war nicht nur der Weg zu seinem Ziel gefunden, sondern auch das Mittel. »Philip Salomons Schwiegersohn« – das war das Zauberwort, das ihm die Flügeltore des Lebens öffnen und ihm die Menschen untertan machen sollte.

Und warum an seinem Erfolg zweifeln? Wenn er an die vielen wunderlichen Erlebnisse seines Lebens zurückdachte, mußte er dann nicht Ivan recht geben, der einst jene Worte von seinem Aladdin-Glück geprägt hatte? Lag nicht eine Art Vorbedeutung darin, daß gerade er, Nannys Bruder, zuerst die Götterschrift auf seiner Stirn gedeutet hatte: Ich komme, ich sehe, ich siege!


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