Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Elftes Kapitel

Berlin, den 12. Oktober

Jetzt will ich Dir von meinem eigentlichen Eintritt in die große Welt berichten; er vollzog sich nicht ohne einen Anflug von Komik. Du kennst ja die Fahrt nach Berlin und weißt, sie ist nicht gerade sehr abwechslungsreich. Ich gestehe es ehrlich, ich schlief fest ein und wachte erst wieder auf, als wir in den Stettiner Bahnhof ratterten. Ich taumelte hinaus zum Droschkenhalteplatz, bekam mein Gepäck und gab dem Kutscher den Bescheid: »Hotel Zimmermann, Burgstraße« – ein Hotel, das mir Dein Onkel empfohlen hatte. Doch der Kutscher stierte mich an und wiederholte in seinem Berliner Dialekt: »Bu'straße, Bu'straße?« Dann schüttelte er seinen dicken Bierschädel und erwiderte: »Kenn ick nich!« Ein paar andere Droschkenkutscher kamen herzu, und nach und nach entstand ein kleiner Auflauf. »Bu'straße? Bu'straße?« sagten sie alle und schüttelten die Köpfe. »Die kenn ick nich!« Da stand ich nun! Plötzlich hob einer von ihnen den Finger und rief: »Ach so . . . Burrrrrrgstrrrrrraße!« Und bei diesem scharfen Trommelwirbel von »Rrrrs« wachte ich erst wirklich auf. Da spürte ich, daß ich der Heimat den Rücken gekehrt hatte. Das erste Ergebnis der Reise war die Erkenntnis, daß ein Däne, der sich im Ausland aufhält, seinen Sinn für Konsonanten entwickeln muß.

Doch nun höre weiter! Als der Wagen vor dem Hotel Zimmermann hielt – nebenbei bemerkt, ein verwahrloster Kasten mit einer altertümlichen Freitreppe, die bis dicht an den Bürgersteig hinabreicht –, empfing mich ein Hausknecht, der ein Schurzfell trug. Aber was passierte? Kaum hatte er die Wagentür geöffnet, da rannte er auch schon verstört ins Haus zurück und schrie: »Herr Zimmermann! Herr Zimmermann! . . . Ein Herr mit Orden!« Das ganze Haus lief zusammen, der Wirt kam eilends barhäuptig zu mir auf die Straße hinaus. Tableau! Unterdessen hatte ich einen erstaunten Blick auf meinen Rockaufschlag geworfen: Da hing noch im Knopfloch ein welkes Restchen der Rose, die Du mir heute morgen beim Abschied angesteckt hattest. Mein Liebes, daß Dein letztes Geschenk ein solches Mißgeschick auslösen sollte! Denn Du kannst Dir vielleicht den Empfang vorstellen, der mir zuteil wurde, als man den Zusammenhang entdeckte. Doch glaube mir, ich verschaffte uns beiden Genugtuung! Als ich in mein Zimmer gekommen war, klingelte und schimpfte ich in einem fort wie ein wahrer Ritter des Großkreuzes. Und als der Kellner mit dem Fremdenbuch hereintrat, konnte ich mich nicht bezwingen und setzte ein flottes »von« vor meinen Namen. Schüttle nicht den Kopf! Du hättest sehen sollen, wie es half! Als ich ausging, stand der Wirt im Flur und verbeugte sich. Eigenhändig riß er mir die Tür auf mit einem untertänigsten »Herr Baron«. Das war die zweite Erfahrung, die ich an meinem ersten Reisetag machte: Ein Adelstitel wäre gar nicht zu verachten. Das hat mir Dein Onkel im übrigen schon früher gesagt. Es ist zwar lächerlich; aber eine Voraussetzung, Macht über Menschen zu gewinnen, besteht zweifellos darin, daß man den Mut hat, ihre Torheiten auszunutzen.

Ich habe mich ein wenig Unter den Linden umgesehen, und jetzt sitze ich bei »Bauer« und schreibe Dir diesen Brief. Von der Straße tönt ein Sausen und Brausen herein, daß ich gar nicht mehr im Zweifel bin, mich hier an einem Weltzentrum zu befinden. Ich habe ein Gefühl, als säße ich mitten in einem riesigen Wasserrad. Und was sind die Millionenstädte auch anderes als ungeheure Turbinen, die Menschenströme ansaugen und wieder ausspeien, sobald sie sie ihrer Energie beraubt haben! Welch eine Konzentration von lebendiger Kraft! Es ist etwas Erhebendes, den Boden unter den Füßen erbeben zu fühlen, wo sich die Energie von zwei Millionen Menschen entlädt. Was können wir nicht alles in künftigen Jahrhunderten ausrichten, wenn wir erst gelernt haben, Arbeitswerte zu akkumulieren, im Vergleich zu denen die heutigen wie ein Kinderspiel wirken.

Doch für heute genug . . .

 

den 17. Oktober

Ich habe zwei Zimmer in der Karlstraße 25 gemietet. Adresse: Frau Kumminach, zweite Treppe links. Ich habe beschlossen, vorläufig in Berlin zu bleiben. In all dem Trubel und dem Lärm liegt etwas, das mich innerlich elektrisiert. Ich fühle förmlich, wie mich diese Großstadtluft auflädt. Herrrrrlich! Was für ein Donnerwetter* möchte ich über die Ostsee schicken. Hin zu unseren stickigen Ufern! Von hier aus gesehen, wirken die Verhältnisse und Leute daheim doppelt provinziell. Hier haben die Menschen, bis hinab zum Straßenfeger, ein ganz anderes Format. Dagegen erinnern selbst die Salonlöwen der Østergade immer noch etwas an eine Unschuld vom Lande. Oder vergleichen wir unsere Leutnants mit einem deutschen Offizier in seinem langen Mantel mit den großen blutroten Aufschlägen! Zu Hause sehen sie, weiß Gott, aus wie uniformierte Seminaristen.

Ich habe Dr. Nathan heute einen Besuch abgestattet. Er wohnt sehr hübsch in der Nähe vom Königsplatz und scheint sich in seinem freiwilligen Exil recht wohl zu befinden, trotz verschiedentlicher bitterer Äußerungen. Er empfing mich sehr freundlich; aber offen gestanden: Er hat mir nicht gefallen. Ich versuchte, ihm eine Vorstellung, über den Inhalt meines Buches zu vermitteln, doch von technischen Fragen hat er offensichtlich nicht die geringste Ahnung. Alle Augenblicke unterbrach er mich mit den allerdümmsten Fragen. Er wußte kaum, was eine Turbine ist. Unsere ganze Unterhaltung war für die Katz. Das war für mich eine bittere Enttäuschung. Überhaupt, es ist sonderbar mit solchen Leuten wie Nathan, die einen neuen Kulturstaat auf den romantischen Ruinen des Mittelalters aufbauen wollen – sie verstehen weiß Gott selbst nicht, worauf sie sich da eingelassen haben. Sie erinnern mich an jene akademisch ausgebildeten Architekten, die eine künstlerisch vielleicht sehr wirkungsvolle Zeichnung von einem Neubau anfertigen können, sich dann aber nicht darum kümmern, wo das Bauholz herkommen soll, wo die Steine gebrannt werden und so weiter. Dazu gehören andere Fähigkeiten! Männer wie Nathan sind jetzt bloß im Wege! Mir fällt ein, in einem der Bücher, die Du mir diesen Sommer geliehen hast – war es vielleicht eins von Nathan selbst? –, stand die unzweifelhaft richtige Bemerkung, daß die Voraussetzung für die Renaissance im fünfzehnten Jahrhundert die Erfindung des Kompasses war. Er ermöglichte die Entdeckung Amerikas und erleichterte die Ausnutzung der schon bekannten Kolonien, deren Reichtümer ins verarmte Europa strömten und die durch Priester und Mönche eingeschüchterte Menschheit erneuerten und Mut, Handelskraft und Abenteuerlust belebten. Genauso bildet – so meine ich – die Entwicklung moderner Kraftmaschinen die Voraussetzung für den nächsten großen kulturellen Fortschritt; und wer ohne Verständnis hierfür Prophezeiungen über die Zukunft anstellt, pustet Seifenblasen in die Luft, zur Belustigung von Poeten und anderen Unmündigen.

 

den 19. Oktober

Nein, den Onkel Deiner Mutter habe ich noch nicht besucht. Ich habe es absichtlich aufgeschoben, bis ich im Deutschen ein bißchen sicherer geworden bin. Neulich bin ich an seiner Villa in der Tiergartenstraße vorbeigekommen; es ist ja ein wahres Schloß. Hier spricht man davon, er sei fünfzigfacher Millionär. Gib mir bitte Hinweise, damit ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe. Was ist ein »Geheimer Kommerzienrat«? Ich meine, muß man ihn mit Exzellenz anreden? Berichte eingehender über die Familienverhältnisse. Er hat eine Frau (Gemahlin?) und eine Tochter. Sind noch mehr Kinder da?

 

den 21. Oktober

Als ich heute ins Café »Bauer« komme – wen sehe ich da wohl sitzen, einen Banditenhut im Nacken, einen Knotenstock zwischen den ausgestreckten Beinen? Fritjof! Hätte ihn übrigens fast nicht wiedererkannt: Er ist in letzter Zeit furchtbar alt geworden, sein Bart ist grau, seine Augenlider sind rot und geschwollen. Doch trotz allem ist er noch eine recht stattliche Erscheinung. Sogar hier in Berlin erregt er Aufsehen. Er ist wegen einiger Gemälde hergekommen, die er bei einem Kunsthändler ausgestellt hat. Auch als Maler hat er hier Erfolg, und die Zeitungen schreiben viel über ihn. Ich habe davon nicht viel Ahnung, aber er zog mich mit hin, damit ich seine Werke bewundern sollte. Es sind gewiß auch allerlei brillante Dinge darunter. Vor allem gab es da ein paar riesige Bilder von der Nordsee mit mächtigen Wellen. Während ich sie betrachtete, konnte ich nicht umhin, mich in die Zukunft zu versetzen, wenn meine tausendtonnigen Eisenbojen – Du erinnerst Dich sicher noch an sie aus meinem Buch – erst wohlvertäut vor Jütlands Westküste in der Brandung liegen und ihr die Energie abzapfen. Ich fragte Fritjof, ob er noch nie, wenn er diese Riesenwogen am Strand gemalt habe, von Wehmut erfaßt worden sei bei dem Gedanken an die herrliche Menge Energie, die verlorenging und schon seit Jahrtausenden für Menschheit und Kultur ungenutzt geblieben war. Doch er fing gleich an zu poltern und stimmte das alte Jammerlied von der Niedrigkeit der Industrieseele und der Entweihung der Natur an. Ich wollte von ihm wissen, ob er denn nichts Anziehendes an dem Gedanken finde, all die unerschlossenen Pferdekräfte für die Gesellschaft dienstbar zu machen, sie mittels Leitungen über das Land zu verteilen, sie in jütische Städte zu bringen, ja in jedes Haus zu senden, damit zum Beispiel eine Näherin in Holstebro ihre Maschine oder eine Mutter in Viborg die Wiege ihres Kindes von den Wellen der Nordsee in Gang setzen lassen kann. Da hättest Du sein Gesicht sehen sollen! »Was?« schrie er, daß sich die Leute im Saal umdrehten. »Wollt ihr Lauser mein Meer in ein Lasttier verwandeln?«

Er ist wirklich unverbesserlich. Ich hatte aufrichtig Mitleid mit ihm. Als ich ihn so stehen sah mit seinem Schlapphut, dem Knotenstock und dem lässig gebundenen Schlips, rasend vor Entrüstung, da sagte ich mir: Der letzte Künstler! In zwanzig Jahren wird man solche Leute in Irrenanstalten stecken. Und wenn sie sterben, wird man sie ausstopfen und in Museen aufstellen, zwischen den Mammuten der Vorzeit und den dreihöckrigen Kamelen.

 

den 23. Oktober

Gestern hatte ich einen großen Tag. Neulich las ich in den Zeitungen von einem Versuch mit einer neuartigen Flußsperre. Er sollte in Anwesenheit von geladenen Ingenieuren in der Nähe der kleinen Stadt Berkenbrück unternommen werden, ein paar Stunden von hier. Ich wollte mir das gern ansehen und ging deshalb zur dänischen Gesandtschaft, weil ich annahm, man würde sich verpflichtet fühlen, mir bei der Beschaffung einer Einladung zu helfen. Nie aber habe ich ein Paar vor Erstaunen so kugelrunde Augen gesehen wie die des Beamten, dem ich mein Ansinnen vortrug. Der Mann mußte sich in den Stuhl zurücklehnen, um wieder zu Atem zu kommen. Er erinnere sich, sagte er, daß man schon einmal einen Freiplatz für eine durchreisende dänische Schauspielerin im hiesigen Königlichen Schauspielhaus besorgt habe. Auch habe man einst einigen Gelehrten Zutritt zu den Handschriftensammlungen der Bibliothek verschafft – doch dies! Ein älterer Herr, der aus dem Nebenzimmer trat – es war sicherlich der Gesandte in höchsteigener Person –, maß mich mit noch tieferem Entsetzen und ließ mich in väterlichen Wendungen wissen, daß man dergleichen Vergünstigungen in einem fremden Land wahrhaftig nicht erwarten dürfe. Auf jeden Fall müßte die Gesandtschaft, ehe irgend etwas in dieser Sache unternommen werden könne, mit dem Ministerium daheim konferieren. Ich solle schriftlich ein Gesuch in zwei gleichlautenden Exemplaren mit den erforderlichen Empfehlungen, Beglaubigungen und Examenszeugnissen der verschiedenen Lehranstalten einreichen, die ich seit meinem siebenten Jahr besucht habe, und ähnliches. Kurz, ich merkte, daß ich mich plötzlich wieder in meinem lieben alten Dänemark befand, im Himmelreich des Wortgeklingels. Da beschloß ich denn, auf eigene Faust mein Glück zu versuchen. Gestern morgen fuhr ich mit dem ersten Zug nach Berkenbrück. Der Oberingenieur stellte mir sofort eine Einladungskarte aus, ja bedankte sich sogar für mein Interesse an dem Vorhaben und gewährte mir Einblick in alle Unterlagen über die Vorarbeiten.

Ich möchte versuchen, Dir eine Vorstellung von dem zu vermitteln, was ich zu sehen bekam. Erst muß ich jedoch berichten, daß es sich darum drehte, ein Stück Flußbett trockenzulegen, um einen Brückenpfeiler ausbessern zu können. Anfangs hatte man versucht, auf die übliche Weise einen Damm quer durch den Fluß zu legen. Doch die Strömung war zu stark. Man konnte den Damm nicht schließen, ohne vorher einen Umleitungskanal zu bauen, was unter den gegebenen Verhältnissen zu umständlich und kostspielig gewesen wäre. Dann war man daraufgekommen – und das ist das Neue und Sinnreiche daran –, den Strom selbst das Schließen der Lücke vornehmen zu lassen, indem man eine riesige Holzkiste, die genau die Größe der Dammöffnung hatte, darauf zutreiben ließ und sie mit der nötigen Belastung vom Ufer her steuerte. Der Versuch verlief ausgezeichnet. Als die Holzkiste anschlug, krachte es beunruhigend in der Dammverschalung, und das Wasser stieg stark; die Strömung führte sie aber haargenau an die richtige Stelle, und zuletzt saß sie, fest in den Damm hineingetrieben, wie ein Korken in einem Flaschenhals. Es war ein ergreifender Anblick. Ich hätte gewünscht, Du wärst dabeigewesen. Die Wirkung erhöhte sich noch dadurch, daß in einigem Abstand ein paar Sprengschüsse ertönten. Dort verschafft man dem Fluß einen zeitweiligen Ablauf in ein Moor mit einem See.

Hinterher wurde Champagner gereicht, und zwar in einem Zelt, das man eigens auf dem Platz errichtet hatte. Bei dieser Gelegenheit wurde eine Reihe von Reden gehalten. Schließlich – nun falle aber nicht vom Stuhl – ergriff auch ich das Wort und brachte ein Hoch auf den deutschen Technikerstand aus, der hier erneut der Welt einen glänzenden Beweis seiner Überlegenheit geliefert hatte. Ich kam ganz gut zurecht. Natürlich haperte es ein bißchen mit der Sprache, aber wo mir die Worte fehlten, half ich mir mit einer ausdrucksvollen Handbewegung. Die Rede erregte große Begeisterung. Von allen Seiten wurde ich umringt, man drückte mir die Hand, und ein anwesender Reporter bat mich auf der Heimfahrt um ein Interview. Du kannst heute meinen Namen im »Tageblatt« finden.

Übrigens lernte ich bei dieser Gelegenheit einen Mann kennen, der mir hier sehr von Nutzen sein kann. Er ist Lehrer an der Technischen Hochschule in Berlin und erwies sich – so klein ist die Welt – als guter Bekannter von Aron Israel, weshalb er sich ein bißchen für dänische Verhältnisse interessiert. Professor Pfefferkorn bat mich beim Abschied, ihn zu besuchen.

 

den 24. Oktober

Du wirfst mir Äußerungen über Nathan vor, liebste Freundin, und scheinst fast ein wenig ärgerlich, daß ich ihn nicht als Führer betrachten kann. Hierzu möchte ich nur erklären: Ich habe dem Mann natürlich ebenfalls viel zu verdanken – das erkenne ich bereitwillig an; aber als das Universitätsprodukt, das er schließlich ist, wird er immer ein unverbesserlicher Ästhet bleiben, ohne Verständnis, ja ohne einen Blick dafür, was das praktische Leben verlangt. Als ich kürzlich versuchte, ihn mit meinem Projekt vertraut zu machen, ließ er mich kaum zu Wort kommen. Er redete immerzu von einem Theaterstück, das er gelesen hatte, und von den politischen Zuständen in der Heimat und weiß Gott wovon. Alles, was er über mein Projekt zu sagen hatte, war lediglich, daß er es »ziemlich phantastisch finde«. Nun bitte ich Dich! Und den Mann soll ich als Führer anerkennen! In Wirklichkeit ist er kaum weitblickender als Fritjof, hat nicht ein Fünkchen Ahnung davon, was für Wunder die Zukunft in ihrem Schoß trägt und daß diese Wunder die Weltordnung – auch die politische – auf den Kopf stellen werden. Phantastisch! Ich gestehe Dir: Durch meinen Aufenthalt hier bin ich in der Auffassung bestärkt worden, daß für uns nichts »phantastischer« wäre, als wenn wir – mit unseren natürlichen Reichtumsquellen – das ängstliche und bescheidene Aschenputteldasein fortsetzten, das die Herrschenden als beste Bürgschaft für unsere nationale Selbständigkeit und als natürlichen Boden unserer Kultur ansehen. Ich halte dafür, daß es bei der Winzigkeit unseres Territoriums nur ein Mittel gibt, uns unter den Staaten zu behaupten, nämlich Geld. Wie ich in meiner Abhandlung schrieb: »Ein so liliputartiges Land wie das dänische ist schon an und für sich eine Absurdität; ein so kleines und armseliges Land ist heute auf die Dauer eine Unmöglichkeit.« Wir müssen uns durch Überfluß Achtung verschaffen. Die Lösung ist Geld, Geld und nochmals Geld. Der Glanz des Goldes muß »Licht über das Land« bringen, wovon Nathan und die anderen stets so viel sprechen. Eine Kultur der Armut ist schließlich stets ein Fressen für die Pfaffen.

Ich denke oft an Venedig, das doch nur eine kleinere Stadt war und sich trotzdem zu einer Weltmacht entwickelte. Städte wie Hjerting oder Esbjerg haben im modernen nordeuropäischen Verkehr eine ähnlich zentrale Lage wie seinerzeit die Lagunenstadt. Hier im Ausland träume ich von einem Hjerting der Zukunft, wo sich Handelspaläste mit goldenen Kuppeln über breiten Kais erheben und kleine elektrisch betriebene Gondeln wie Schwalben über das blanke Wasser der Kanäle huschen.

 

den 25. Oktober

Heute nur zwei Worte in aller Eile. Ich komme eben vom Geheimen Kommerzienrat, dem ich die Grüße überbrachte. Die Frau und das junge Fräulein traf ich zu Hause an. Man empfing mich sehr freundlich. Deine Halbkusine ist eine vollendete Schönheit, und dabei so auffallend schlicht in ihrem Auftreten, fast ein bißchen verlegen. Doch sie ist ja noch blutjung. Ansonsten war der Ton sehr vornehm. An jeder Tür, durch die ich ging, stand ein Diener. Die Unterhaltung fand im Wintergarten statt, den Du ja kennst. Am meisten redeten wir von Euch, obwohl ich natürlich unser Verhältnis nicht erwähnte, sondern lediglich als guter Freund Eures Hauses auftrat. Übermorgen geben sie eine große musikalische Abendgesellschaft, zu der ich auch gebeten wurde. Ungefähr dreihundert Einladungen sollen verschickt worden sein.

Ich sitze hier im Mantel, da ich mit Fritjof verabredet bin. Wir verbringen häufig die Abende gemeinsam, und trotz unserer verschiedenen Auffassungen kommen wir recht gut miteinander aus. Er kann wirklich sehr nett sein. Er hat mich mit einigen seiner deutschen Kunstkollegen bekannt gemacht, halbirre Burschen wie er selbst, aber lustig und fidel. Ist es eigentlich nicht lächerlich? Nun ist es schon mehrfach passiert, daß man zwischen mir und Fritjof Ähnlichkeit gefunden hat. Einmal hat man mich sogar gefragt, ob ich vielleicht ein jüngerer Bruder von ihm sei. Verstehst Du das?

 

den 27. Oktober

Wieder ein inhaltsreicher Tag! Schrieb ich Dir nicht kürzlich von einem Professor Pfefferkorn, der Lehrer an der hiesigen Technischen Hochschule ist und mich bat, ihn zu besuchen? Heute war ich bei ihm. Er wohnt draußen in Charlottenburg, fast neben der Schule, einem wahren Palast mit Säulen und Statuen; sie soll rund zehn Millionen gekostet haben. Professor Pfefferkorn führte mich selbst durch die Lehranstalt. Ich habe die Hörsäle, die Laboratorien und ein paar interessante Versuchswerkstätten gesehen, die zur Schule gehören. Am meisten zog mich jedoch eine Sammlung vorzüglich gearbeiteter Modelle von den bedeutendsten Ingenieurprojekten der Welt an, Brückenanlagen, Schleusen, Fundamentierungen und so weiter, ein Museum, das sicher kaum seinesgleichen hat. Pfefferkorn versprach, mir die Erlaubnis zu besorgen, dort zu studieren, was im allgemeinen schwer zu erreichen sein soll; ich bin natürlich begeistert darüber. Es ist ja geradezu eine Schatzkammer! Mir ist übrigens der Gedanke gekommen, hier einige Vorlesungen bei einem Professor Freitag zu hören, einem jüngeren Mann, der sich durch ein Werk über Elektromotoren großes Ansehen erworben hat. Überhaupt, mein Liebes, ich werde nicht auf der faulen Haut liegen. Es kribbelt mir förmlich in den Fingerspitzen, wieder eine Logarithmentafel in die Hand zu nehmen. Mein Buch ist gar nichts, auf jeden Fall viel zuwenig! Aber warte ab! Ja, Pedant Sandrup und seine mickrigen verknöcherten Bürokraten können bald einpacken! In zehn Jahren wird es bei uns anders aussehen!

Neulich stand ich mit Fritjof auf dem Rathausturm neben der Fahnenstange, 250 Fuß über der Straße. Die Sonne ging gerade unter, aber die Luft war klar. Ich konnte ein paar Meilen in die Runde sehen. Überall hohe Häuser und lange Straßen, in denen schon die Laternen brannten, Telegrafendrähte und Schornsteinrauch und elektrisch erleuchtete Bahnhofshallen, in denen die Züge ein- und ausfuhren. – Und weit draußen in der Ferne erblickte man verstreute Fabrikanlagen, mit denen sich die Stadt bis ins Unendliche fortzusetzen schien. Da mußte ich daran denken, daß hier noch vor ein, zwei Menschenaltern nur eine unansehnliche kleinere Stadt mit Tranfunzeln und Postkutschenverkehr gelegen hat. Und es erfaßte mich ein solcher Stolz, Mensch zu sein, daß ich zu Fritjofs heftigem Ärger meinen Hut zu schwenken begann. Herr Jesses! Diese Burschen mit ihrer »Kunst« auf bemalter Leinwand! Der Anblick solch eines elektrisch beleuchteten Bahnhofsgebiets ist weit ergreifender als alle Madonnen Raffaels zusammen. Wenn ich an eine Vorsehung glaubte, so würde ich jeden Morgen niederknien und meine Hosen beschmutzen aus lauter Dankbarkeit dafür, daß ich in diesem stolzen Jahrhundert geboren bin, da sich der Mensch endlich seiner Allmacht bewußt wird und anfängt, die Welt nach seinem Gefallen umzuschaffen – und in solchem Ausmaß, wie es sich kein Gott in seinen kühnsten Phantasien träumen ließ!

 

Nachdem Per abgereist war, hatte Jakobe, da sie nicht mehr unmittelbar durch ihn beeinflußt wurde und die Aussicht auf eine jahrelange Trennung ihren Lebensmut erschlaffen ließ, einen vorübergehenden Rückfall von Mißmut über ihr Verhältnis zu ihm gehabt. Schon als sie seinen ersten Brief bekam und besonders als sie ihm schreiben wollte, merkte sie, wie fremd er ihr innerhalb weniger Tage geworden war. Plötzlich hatte sie ihm wenig zu sagen. Ihre Kritik war wieder erwacht. Die Anfechtungen meldeten sich von neuem. Abermals war es für sie eine demütigende Qual, seine jugendlichen Briefe zu lesen, die so viel Gleichgültiges enthielten und so wenig von seiner Liebe und nichts von seiner Sehnsucht verrieten.

Nach einigen Wochen traf Ivan eines Tages auf der Straße Aron Israel. Der Gelehrte zeigte ihm einen Brief, den er am Morgen von einem alten Freund aus Berlin, Professor Pfefferkorn, erhalten hatte, worin sich dieser sehr lobend über Per äußerte. Ivan bat darum, den Brief mit nach Hause nehmen zu dürfen. Nachdem er ihn den Eltern im Wohnzimmer vorgelesen hatte, sandte er ihn Jakobe in einem großen geschlossenen Umschlag mit der Aufschrift: »Vive l'empereur!« Im Brief stand: »Übrigens bin ich gegenwärtig eng verbunden mit Deiner Heimat durch einen jungen Mann, einen Ingenieur Sidenius, der, wie er mir berichtete, ein persönlicher Bekannter von Dir ist, eine bemerkenswerte Naturbegabung, von der die dänische Nation sicherlich noch Ungewöhnliches erwarten darf. Ich habe mich einige Male mit ihm unterhalten und dabei Gelegenheit gehabt, die Ideen kennenzulernen, mit denen er sich beschäftigt und die mich interessiert haben. Selten bin ich einem Menschen begegnet, der eine so unmittelbare, unbefangene und lebendige Vorstellung von der Natur und ihren Erscheinungen besitzt. Zwar möchte ich nicht behaupten, daß mir seine Auffassung besonders zusagte, dazu ist sie mir zu sehr der Erde zugewandt; aber ihr gehört die Zukunft. Es hilft wenig, wenn wir Älteren darüber seufzen. Jede Zeit hat ihre Ideale. Wenn ich Deinen jungen Landsmann ohne Zaudern und Zagen kühnste Pläne für eine Umgestaltung der Gesellschaft schmieden sehe, erreichbar durch eine immer vollkommenere Bezwingung der Naturkräfte, dann meine ich den Prototyp eines tatkräftigen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts vor mir zu haben.«

Mit heißen Wangen und wogender Brust hatte Jakobe diese Zeilen gelesen. Und nun geschah etwas für sie sehr Ungewöhnliches: Sie brach in Tränen aus. Sie weinte nicht allein aus Freude, sondern auch aus Scham, weil sie von Zweifel und Unruhe erfüllt gewesen war und Per in ihren Gedanken aufs neue verraten hatte. »Der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts.« Ja, das war das Wort, das die großen Gegensätze seines Wesens erhellte, die Schwächen entschuldigte und die Kraft erklärte. Er war gleichsam der erste formlose Entwurf eines künftigen Gigantengeschlechts, das – wie er selbst es geschrieben hatte – endlich als rechtmäßiger Herr von der Erde Besitz ergreifen und sie nach seinem Bedarf verändern würde. Er war ein Vorbote, aufgewachsen in stickiger Stubenluft, unter dem Druck spießbürgerlicher Kleinlichkeit, unter dem Zwang von Aberglauben und Unterwürfigkeit, und deswegen unbändig, eigenwillig und ohne Ehrfurcht, ohne Glauben an andere glückbringende Mächte als jene, die ein Stahlrad in Gang setzen können. Und war das eigentlich verwunderlich? Der Traum des neunzehnten Jahrhunderts von einem Goldenen Zeitalter, dessen schöner Glaube, ein Reich des Glücks und der Gerechtigkeit allein durch die Macht des Geistes und die Überzeugungskraft des Wortes aufbauen zu können – wie sehr war er verblaßt!

Schon vor Pers Abreise hatte Jakobe es unternommen, sich einen Einblick in die Geheimnisse der Mathematik und Mechanik zu verschaffen. Doch das war seinerzeit nur die Laune einer verliebten Frau gewesen, ein Ausdruck ihres unruhigen Verlangens, Per auf all seinen Wegen zu begleiten. Die Schwierigkeiten der Aneignung hatten sie bald wieder den Versuch aufgeben lassen. Jetzt stürzte sie sich aufs neue mit ihrer ganzen semitischen Energie auf naturwissenschaftliche Studien. Ihr wurde klar, daß man ohne gründliche Kenntnis dieser Probleme nicht die nötigen Voraussetzungen besaß für das Verständnis der modernen Gesellschaft und ihrer Entwicklungsgesetze. Auf ihrem Tisch, der bislang von belletristischen Werken überschwemmt war und wo Enevoldsens »Schöpfung« sehr oft aufgeschlagen gelegen hatte – das Bild des Dichters zwischen den Blättern versteckt –, häuften sich jetzt Lehrbücher der Physik, Geometrie und Dynamik. In ihren Briefen an Per legte sie genau Rechenschaft ab über ihre Fortschritte und suchte bei ihm Rat und Anleitung.

So hatte sich also das Verhältnis zwischen ihnen schlagartig gewendet. Bisher hatte sich Jakobe als die geistig Überlegene betrachtet, deren etwas peinliche Pflicht es war, ihrem unbewanderten Verlobten beizustehen, die Lücken in seiner vernachlässigten Allgemeinbildung zu schließen. Plötzlich war sie die Schülerin geworden, die seiner Unterstützung und seiner Nachsicht bedurfte. Wie in den ersten Tagen ihrer Liebe hielt sie zehnmal am Tag den Federhalter in der Hand, um ihm zu schreiben, mitunter nur eine einzige Zeile, einen Freudenausruf über das plötzlich erwachte Verständnis für eine schwierige Geometrieaufgabe oder einen kummervollen Seufzer, weil sie ihn nicht da hatte, wenn sie seine Hilfe brauchte.

Noch hatte die Liebe einen größeren Anteil an ihrem Eifer, als ihr selbst bewußt war. Was ihr im Laufe des Tages begegnete, selbst die flüchtigsten Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, mußte sie ihm mitteilen, wenngleich Pers Briefe an sie nach wie vor ihre Vertraulichkeit und Zärtlichkeit unerwidert ließen. Doch auch in diesem Punkt hatte sie sich nach und nach zufriedengegeben. Sie sah jetzt ein, daß sie von ihm etwas verlangt hatte, was die Natur ihm versagt hatte; und sie war sogar dankbar, daß er nicht versuchte zu heucheln, sondern sich ihr gegenüber ehrlich zeigte, wie er nun einmal war.

Auch über Politik, ihr altes Lieblingsthema, schrieb sie ihm in ihren Briefen, besonders über die verschiedenen Arbeiterbewegungen, die mit der modernen Entwicklung der Technik in engem Zusammenhang standen. Sie hatte bisher ihr eigenes Interesse für die ständigen Lohnkämpfe und Machtfragen, die ihrem aristokratischen Empfinden in so vielem zuwider waren, selbst nie ganz verstehen können. Sie hatte sich unsicher gefühlt gegenüber diesen murrenden Arbeitermillionen, deren Forderungen ihr oft eine Gefahr zu enthalten schienen für all das, was sie im Leben am höchsten schätzte. Doch durch ihr langsam erworbenes Verständnis für Per war sie nun auch zur Klarheit gekommen über das dunkle, ihr widerstrebende Zusammengehörigkeitsgefühl mit dem rußigen, unterdrückten, für Licht, Luft und Menschlichkeit kämpfenden Arbeiterheer – den Männern des zwanzigsten Jahrhunderts!

Unterdessen vergingen Per die Tage in Berlin wie im Fluge. Er teilte Zeit und Kräfte einigermaßen gleichmäßig auf zwischen seinen Studien und den Zerstreuungen der Großstadt. Täglich machte er neue Bekanntschaften, überall wurde er freundlich aufgenommen. Es war hier genauso wie daheim: seine offene und unbefangene Art gewann ihm alle Herzen. Diese Fähigkeit, die Menschen durch seine Persönlichkeit für sich einzunehmen, wurde ihm eigentlich erst in Berlin bewußt, und ohne darüber nachzusinnen, worin sie bestand, nutzte er sie mit kluger Berechnung. Zugleich eignete er sich durch beharrliche Aufmerksamkeit ein immer täuschenderes weltmännisches Auftreten an. Es erging ihm übrigens wie vielen Leuten im Ausland. Seine schlechten Angewohnheiten faßten die Fremden als nationale Eigentümlichkeiten auf, für die er also nicht verantwortlich gemacht werden konnte, ja die seine unmittelbare Anziehungskraft nur noch erhöhten, da sie eine Art ethnographisches Interesse weckten.

Auf der großen musikalischen Abendunterhaltung beim Geheimen Kommerzienrat verlor sich allerdings seine Gestalt in der Menge glitzernder Uniformen und ordengeschmückter Rockaufschläge. Doch es gab einen Augenblick, da wurde er Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit. In einer Konzertpause ließ die Gebieterin des Hauses Per heranrufen und unterhielt sich mit ihm, bis die Musik wieder begann. Die alternde Dame, die tief dekolletiert und stark geschminkt war, hatte eine Schwäche für junge Männer mit gut entwickelten Körperformen und gab sich keine Mühe, dies zu verbergen. Per hingegen hatte nur Augen für ihre Tochter, einen neunzehnjährigen Rotschopf. Sie war das völlige Gegenteil der Mutter, ein stilles, zartes, liebreizendes Mädchen, das fast mit Scheu jeden Mann beobachtete, der sich ihr näherte. Ebenso wie die Mutter war sie prächtig gekleidet und schamlos entblößt, wie es die Hofmode verlangte. Sie schien aber selbst bedrückt durch ihre halbe Nacktheit und bedeckte ständig den Busen so weit wie möglich mit ihrem Fächer.

Per hatte bei der Begrüßung lediglich Gelegenheit gehabt, sich vor ihr zu verbeugen. Er war nicht einmal sicher, ob sie ihn wiedererkannt hatte. Seither wurde sie ununterbrochen von uniformierten und vornehmen Kavalieren belagert. So gab er es schließlich auf, sich ihr zu nähern. Beim Konzert ertappte er sie jedoch zweimal dabei, wie sie ihn verstohlen betrachtete. Daß ihr Blick nicht zufällig auf ihm ruhte, verriet sie durch die hastige Art, wie sie beim zweitenmal die Augen niederschlug. Ja, Per meinte bestimmt gesehen zu haben, daß sie leicht errötete.

Als er spät in der Nacht in einem leichten Champagnerrausch die Gesellschaft verließ, gingen ihm sehr kühne Gedanken durch den Kopf. Sollte er hier etwa eine Chance haben? . . . Er dachte an Onkel Heinrichs Geschichte von dem armen Österreicher in New York, der die Tochter des amerikanischen Petroleumkönigs errang und jetzt zu den regierenden Geldfürsten der Neuen Welt gehörte. Dieses junge Mädchen erbte mindestens fünfzig Millionen. Fünfzig Millionen und dazu eine hinreißende Braut! Das verlockte schon zu einem Versuch! . . . Unsinn! Wahnwitz! . . . Und doch! Bisher hatte er stets Glück gehabt bei allem, was er sich ernstlich vorgenommen hatte. Noch hatte er die prophetischen Worte Ivans nicht zuschanden gemacht: Ich komme, ich sehe, ich siege!

Immerhin, er mußte Rücksicht auf Jakobe nehmen. Das hatte er keinesfalls vergessen, und das war natürlich ein ernstes Hindernis. Aber war man gezwungen, sich durch seine Vergangenheit binden zu lassen, wenn einem ungeahnte glänzende Aussichten erschlossen wurden? Ja hatte er überhaupt das Recht, auf solch eine Zukunft zu verzichten? Konnte er das mit Rücksicht auf die Sache verantworten, der er seine ganze Kraft geweiht hatte? Weiß Gott, er hielt viel von Jakobe. Ihre ausgezeichneten Eigenschaften wußte er wohl zu schätzen, und es ginge ihm sicher sehr zu Herzen, sie zu verlassen. Trotzdem, alle persönlichen Gefühle mußten sich dem Gedanken an das Gemeinwohl unterordnen. Das würde Jakobe bestimmt selbst verstehen und billigen. Fünfzig Millionen! Diese Summe würde ihrem Eigentümer in einem kleinen Land wie Dänemark wahrhaft königliche Macht verleihen. Was konnte er daheim nicht alles mit dem Geld ausrichten! Welche Hilfe in dem großen Befreiungskampf, dem niemand mehr Glück und Erfolg wünschte als gerade Jakobe!

Er hatte keine Lust, seine Wohnung aufzusuchen, und daher schlenderte er Unter den Linden entlang, wo es in den Cafés und Weinstuben noch lebhaft zuging. Sonst mied er soweit wie möglich diese eleganten Restaurants, in denen man so verflixt wenig für sein Geld bekam. Trotz all seines Bestrebens, weltmännisch aufzutreten, besaß er einen angeborenen Widerwillen, Geld auszugeben. Am wohlsten fühlte er sich eigentlich immer in Fritjofs Künstlerkneipe, wo er für nur zwei Mark ein Beefsteak von einem halben Pfund mit Spiegelei, ein faustgroßes Brötchen, eine Scheibe Käse, zwei Glas Bier und obendrein ein freundliches Lächeln der Kellnerin bekam. Doch in der Champagnerstimmung dieser Nacht streifte er trotzig alle kleinbürgerlichen Bedenken ab und betrat eine der vornehmster, Weinstuben in der Nähe der Neuen Wache, in der fast nur Offiziere verkehrten.

Bei einer halben Flasche eisgekühltem Vix Bara und unter lebhaftem Kommen und Gehen seiderauschender und säbelrasselnder Paare setzte er hier seine Selbstüberredungen fort. Vor allem der Barontitel, zu dem ihm Onkel Heinrich die Anregung gegeben hatte, spukte ihm im Kopf herum. Nun würde er ihm wirklich nützen! Ohne vornehmen Namen erreichte man kaum etwas in diesen Kreisen. War er erst einmal Baron, dann brauchte er keine Nebenbuhler mehr zu fürchten. – Gewiß, er hatte bis jetzt nur wenig, worauf er bauen konnte, nur einen verstohlenen Seitenblick. Hatte er jedoch mehr, ja überhaupt soviel gehabt, als er seinerzeit um Jakobe anhielt? Er brauchte nur ohne Furcht auf seinen Bund mit dem Glück zu bauen und an seinen Wahlspruch zu glauben: Ich will!

Es war nach drei, als er nach Hause kam. Vor Erregung konnte er nicht einschlafen. Er wälzte sich im Bett hin und her, trank ein Glas Wasser nach dem anderen und vermochte seine Gedanken nicht zur Ruhe zu bringen. Doch es hielten ihn nicht nur diese abenteuerlichen Zukunftsträume wach. Hier in seiner Einsamkeit und in der Dunkelheit tauchten auch noch andere Vorstellungen auf und brachten sein Blut in Wallung.

Während seines Aufenthaltes in Berlin verfolgte ihn eine Unruhe, die sich wie jener Schatten im Märchen nur dann bemerkbar machte, wenn es still und einsam um ihn wurde. Es waren die Gedanken an seinen Vater und dessen möglichen Tod, von denen er sich nicht befreien konnte. Das heißt, tagsüber, wenn er beschäftigt war oder mit seinen Freunden in den Cafés saß, dachte er nicht daran, sobald er jedoch in dieser fremden Stadt mit sich allein war, und vor allem abends, wenn er in seine leeren, ungemütlichen Zimmer in der Karlstraße zurückkehrte, erschien der Schatten. Jede Nacht, wenn er hemdsärmlig neben dem Bett stand und seine Uhr aufzog, fragte er sich: »Ob Vater heute stirbt?«

So auch in dieser Nacht.

Gegen Morgen – gerade als er endlich einschlief – fuhr er plötzlich zusammen. Irgendwo im Zimmer hatte er ein Geräusch gehört, das in seinen Ohren wie ein dreimaliges Klopfen klang. Wieder war er hellwach. Und obgleich er nicht abergläubisch war, konnte er sich doch nicht von dem Verdacht befreien, daß der Vater in jenem Augenblick heimgegangen war.

Vormittags fragte er telegrafisch bei Eberhard an, und gegen Mittag bekam er die kurze Antwort: »Vater sterbend.« Per sah auf die Uhr. In zwei Stunden ging der Schnellzug nach Hamburg. Am nächsten Vormittag konnte er zu Hause sein, und abends würde er wieder zurückreisen können. Nur eine Abwesenheit von zwei Tagen – und sein Gewissen wäre beruhigt.

Eine Minute lang stand er mit der Uhr in der Hand da. Dann nickte er entschlossen und fing an, einen Handkoffer zu packen.

Er hatte selbst keine klare Vorstellung davon, was ihn eigentlich nach Hause trieb. Es war nicht nur die Angst, daß er es einst bereuen würde, von seinem Vater nicht Abschied genommen zu haben. Insgeheim stand sein Entschluß auch mit den anderen Gedanken in Verbindung, die ihn diese Nacht wach gehalten hatten. Wieder war hier ein Rest unüberwundener Gespensterfurcht mit im Spiel. So wie die ersten getauften Heiden vor wichtigen Entscheidungen heimlich den alten Götzen opferten, empfand er das Bedürfnis, den Gott seiner Väter durch ein Opfer zu versöhnen, nun, da er im Begriff war, sich zu rüsten zum letzten verwegenen Kampf um die goldene Königskrone des Glücks.

Zwei Stunden später saß er im Zug und fuhr nach Norden.


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