Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Siebentes Kapitel

Unter den Männern, die jeden Tag gegen zwei Uhr unter den breitkronigen Bäumen die Auffahrt zur Börse hinaufschritten, waren nicht viele, die von dem betreßten Türschließer mit größerer Ehrfurcht begrüßt wurden als ein hochgewachsener, kräftiger Mann mit roten Wangen und schwarzgelocktem Kopf, einem glattrasierten Doppelkinn und ungewöhnlich dicken, blutvollen Lippen inmitten des üblichen Großhändlerbackenbarts. Auch in der braunen Säulenhalle zogen viele den Hut, wenn er vorüberkam. Sein Eintritt erregte besondere Aufmerksamkeit bei den Getreidehändlern in den Fensternischen nach dem Kanal hinaus und bei den frachtsuchenden Schiffern, die in schweigender Reihe auf einer langen Bank links neben der Eingangstür saßen. Der stattliche Mann war Großhändler Philip Salomon, der Chef des bekannten Handelshauses Isac Salomon & Söhne, einer der reichsten Männer der Stadt, dessen Vermögen gerüchteweise auf sieben bis acht Millionen geschätzt wurde.

Er hielt sich selten lange an der Börse auf. Wenn der Diener mit seiner lärmenden Glocke durch den Saal ging und den Beginn der Kursnotierungen ankündigte, war er in der Regel schon fertig mit seinen Geschäften und kehrte in sein Büro zurück. Er gehörte nicht zu denen, die die Börse als eine Art geselligen Klub betrachteten, wo man sich nach dem Frühstück traf, um Stadtneuigkeiten zu erfahren und sich über die letzte Theatervorstellung zu unterhalten. Er ließ sich in den Theatern nicht oft blicken und nahm nur notgedrungen am gesellschaftlichen Leben teil. Seine Zeit teilte er gleichmäßig zwischen Geschäft und Familie; ersterem widmete er seinen klaren und nüchternen Verstand, letzterer sein warmes, leicht überwindbares Herz. Und – wie man mit einer Anspielung darauf, daß sein Büro und sein Haus in derselben Straße lagen, zu sagen pflegte – es geschah nie, daß er sich »in der Hausnummer irrte«.

Philip Salomon war das einzige Kind des zu seiner Zeit sehr bekannten Isac Salomon, nach dem die Firma ihren Namen trug. Isac war ein in vieler Hinsicht außergewöhnlicher Mann gewesen, ein Handelsgenie, der sich vom umherziehenden Hausierer zu einer hervorragenden Stellung auf dem dänischen Geldmarkt aufgeschwungen hatte – »Salomon Goldkalb«, wie ihn der Volksmund getauft hatte. Er hatte einige Dutzend Vollschiffe auf See gehabt, Fabriken und westindische Pflanzungen besessen und durch seine Findigkeit dem dänischen Handel neue Märkte an mehreren überseeischen Plätzen erschlossen. Bei den Judenverfolgungen im Jahre 1819 war er denn auch unter denen gewesen, die am meisten unter den Belästigungen des Kopenhagener Pöbels zu leiden hatten.

Er hatte damals das »Palais« gekauft und es mit verschwenderischer Pracht einrichten lassen. Ebenso unangefochten vom Ärger der Tugendhaften wie von den neidischen Versuchen der Spötter, ihn der Lächerlichkeit preiszugeben, war er nicht davor zurückgeschreckt, in seiner Lebensweise mit den Spitzen der Aristokratie zu wetteifern. Mit einem Vollblutviererzug ließ er sich durch die Stadt fahren, und bei bestimmten festlichen Gelegenheiten standen zwei Lakaien hinten auf seiner Kutsche. Er machte sich zum Beschützer der Wissenschaft, stiftete Legate, öffnete Künstlern sein Haus – und das alles, obwohl er ein kleiner buckliger Mann war, der sich allmählich durch energische Selbsterziehung eine Menge Kenntnisse, aber keine Bildung angeeignet und seine Frau nachweislich einer armen jüdischen Witwe in Jütland, bei der er einst während seines unsteten Lebens genächtigt, für einhundert Reichstaler abgekauft hatte.

Aus Isac Salomons Zeit stammten auch die orientalische Waffensammlung in der Vorhalle und die vielen anderen kostbaren Schnurrpfeifereien, die ihm seine Schiffe aus allen Erdteilen mitgebracht hatten und mit denen das Salomonsche Haus angefüllt war wie ein prunkvolles exotisches Museum. Mehr aus Pietät als weil es seinem Geschmack entsprach, hatte der Sohn es fast unverändert bestehen lassen.

Philip Salomon hatte nur das Geschäftstalent und die Arbeitsfreude von seinem Vater geerbt. Vielleicht gab es auch noch einen inneren Zusammenhang zwischen den Wanderjahren des Alten und der Freude an der Natur, die dem Sohn eigen war. Über Sommer wohnte Philip länger auf dem Lande als die meisten anderen Börsenleute; und zu den anderen Jahreszeiten fuhr er sonntags schon am frühen Morgen mit der ganzen Familie aus, wenn das Wetter nur einigermaßen gut war. Er kutschierte dann immer selbst. Seine Frau saß neben ihm, während es hinter ihnen auf den Rücksitzen von eigenen und anderer Leute Kindern nur so wimmelte. Erst ein paar Meilen landeinwärts machte er an einem Gasthof oder mitten im Wald halt. Frau Salomon und die Kleinsten blieben bei den Vorratskörben, während er und die größeren Kinder die Umgegend durchstreiften. Den großen Hut mit der breiten Krempe in den Nacken geschoben, den Mantel über dem Arm, schritt der gefürchtete Börsenkönig lustig an der Spitze eines Schwarms krummnasiger Rangen dahin, die mit der Wildheit, die Stadtkinder – und besonders jüdische – im Freien befällt, um ihn her sprangen, sich prügelten und jauchzten. Kamen sie in die Nähe eines Hügels, erstürmten sie ihn; begegneten sie einem Bauern, begann Salomon ein Gespräch mit ihm; sie verließen keinen Hirtenjungen, ohne ihn mit einer Mark bereichert zu haben. Aber vor allem war Salomon ein eifriger Blumenpflücker, und nie war er glücklicher, als wenn er bei der Rückkunft seiner Frau einen riesigen Blumenstrauß überreichen konnte, für den sie sich bedankte, indem sie ihm lächelnd ihre linke Hand zum Kuß reichte.

Frau Salomon war die Anfang der fünfziger Jahre berühmte Lea Delft – oder Frau Lea Moritz, wie sie kurze Zeit hieß –, deren orientalische Schönheit einen kleinen Manufakturwarenladen in der Silkegade unter den damaligen Modegecken sehr bekannt und viele von ihnen mehr oder weniger wahnsinnig vor Liebe gemacht hatte. Onkel Heinrich, ihr Bruder, erzählte oft mit dem Anspruch auf Glaubwürdigkeit, sie sei der eigentliche Anlaß für die Errichtung der Irrenanstalt, des Sankt-Hans-Hospitals, gewesen. Der Laden gehörte ihren Eltern, die aus Deutschland eingewandert waren, wo sie selbst ihre ersten Kinderjahre verlebt hatte. Schon mit achtzehn Jahren heiratete sie aus leidenschaftlicher Liebe ihren Vetter Marcus Moritz, einen armen, brustkranken deutschen Gelehrten, der der Vater ihrer beiden ältesten Kinder, Ivan und Jakobe, wurde. Das Mädchen war noch nicht geboren, da starb er. Danach zog Lea zu ihren Eltern zurück. Trotz ihrer Mittellosigkeit gehörten diese zu einer der vornehmsten deutschen Judenfamilien, worauf sie beide sehr stolz waren. Als sich Lea nach einigen Witwenjahren mit Philip Salomon verlobte, fehlte nicht viel, und die Eltern hätten es als eine Selbsterniedrigung betrachtet; die Millionen des Bräutigams sühnten in ihren Augen nur mangelhaft dafür, daß sein Vater als Hausierer durchs Land gezogen war. Für die junge Witwe dagegen waren Salomons Vermögen und die Rücksicht auf die ungesicherte Zukunft ihrer Kinder ausschlaggebend gewesen. Sie hatte sich gesagt, einst habe sie ihr Herz sprechen lassen; diesmal war die Reihe an die Vernunft gekommen. Und doch betrog sie niemanden. Ihr Herz war reich genug, dem Verstand zu geben, was ihm zukam, ohne darum zugrunde zu gehen. Es opferte nur von seinem Überfluß. Später hatte sie Philip Salomon vollen Ersatz für das zuteil werden lassen, was er am Hochzeitstag noch an der Liebe seiner Gattin hatte entbehren müssen.

Zwanzig Jahre hatten sie nun miteinander in glücklicher Ehe gelebt. Frau Lea – von der einer ihrer Verehrer einst gesagt hatte, sie habe das hübscheste Gesicht in Kopenhagen, die prächtigste Figur in Dänemark und die schönsten Hände auf der ganzen Welt – war im Laufe der Jahre wohl etwas stark geworden, behielt aber in ihrer äußeren Erscheinung wie in ihrem Wesen ein Gepräge von »Rasse«, das Kennern sofort auffiel. In der Form ihres Kopfes mit der gekrümmten Nase und dem dreifachen Kinn – und nicht zuletzt in der Art, wie sie diesen Kopf trug – drückte sich eine hoheitsvolle Würde aus, die an antike Kaiserinnenbüsten erinnerte. In ihrem vollen schwarzen Haar, das vom Scheitel in zwei Flechten bogenförmig über die Ohren frisiert war, sah man nur ganz vereinzelt Silberfäden; die sahnenweiße Haut ihres Gesichts war glatt und fein, ihre Zähne waren gut erhalten, und die Augen waren schwarzbraun mit einem goldenen Schimmer. Philip Salomon war denn auch noch immer so verliebt in seine Frau, daß er sich mitunter sogar im Wohnzimmer vergaß und seine wulstigen Lippen leidenschaftlich auf ihre Hand oder ihre Wange preßte, daß sie ihn mit einem Blick an die Anwesenheit der Kinder erinnern mußte.

Nur in einer Beziehung empfand Frau Salomon einen Mangel, der mit den Jahren fast noch größer wurde. In ihrer Jugend hatte sie bei ihren häufigen Besuchen der Verwandten und in ihrer ersten Ehe zu reiche und tiefe Eindrücke vom Leben in den weltoffenen Verhältnissen des Auslandes erhalten, als daß sie sich in Kopenhagen wirklich heimisch fühlen konnte. Obwohl sie sich hütete und es keinem anderen als ihrem Mann anvertraute, hatte sie doch ständig Heimweh nach dem Land, das sie in ihrem Herzen als ihr eigentliches Vaterland ansah. Jedes Jahr unternahm sie eine monatelange Reise durch Deutschland, um ihre Verwandten zu besuchen; und noch jetzt konnte es geschehen, daß sie, wenn sie sich treffend ausdrücken wollte, die Worte aus ihrer Muttersprache entlehnte.

Sie hatte es auch durchgesetzt, daß seinerzeit die beiden ältesten Kinder, Ivan und Jakobe, zum wesentlichen Teil im Ausland erzogen wurden. Sie wollte nicht – wie sie es in ihrem damals noch unsicheren Dänisch ausdrückte –, daß ihre Kinder in der Provinzstadt, die Kopenhagen in ihren Augen war, »verkleinert« würden. Für Jakobe kam noch ein anderer Grund hinzu. Sie war immer ein schwieriges Kind gewesen, empfänglich für alle Eindrücke, empfindlich ganz besonders für Kränkungen, die auf ihre jüdische Herkunft anspielten, dazu körperlich so zart und anfällig, daß ihre Kindheit eine einzige lange Leidensgeschichte gewesen war. Oft kam sie leichenblaß aus der Schule, nur weil ein Junge ihr auf der Straße »Mauschel« nachgerufen hatte. Sie wurde vor Kummer und Aufregung krank, wenn eine ihrer kleinen blauäugigen Schulgefährtinnen – wie das mehrmals geschah – sie demütigte und die freundschaftlichen Vertraulichkeiten zurückwies, die Jakobe in ihrem leidenschaftlichen Verlangen nach Verständnis und Gegenliebe trotz aller bitteren Erfahrungen beständig erneuerte. Das Kind hatte das reiche Gefühlsleben der Mutter geerbt, nicht aber ihre glückliche Natur, nicht ihr gesundes Gleichgewicht, nicht das stolze und nachsichtige Lächeln, mit dem die Mutter den Vorurteilen der Gebildeten und den Grobheiten des Pöbels begegnete.

Jakobe hatte auch nicht Frau Salomons regelmäßige Schönheit geerbt. Als sie heranwuchs, war sie fast häßlich, mager und blutlos gewesen, hatte grobe, unschöne Züge und besaß nichts von der windhundartigen Anmut, die viele mit der Aufgeschossenheit des Backfischalters versöhnt. In den Augen der meisten machte es sie nicht anziehender, daß sie eifrig bemüht war, sich Genugtuung für die Demütigungen der Klassenkameradinnen zu verschaffen, und sie auf solchen Gebieten zu übertreffen suchte, die sie beherrschte. Da sich bei ihr Klugheit mit eisernem Fleiß paarte, konnte sie im Unterricht mit Kenntnissen glänzen, die für ihr Alter ungewöhnlich waren. In ihrem Kummer nahm sie mitunter dazu Zuflucht, daß sie den Neid der anderen mit Hilfe ihres reichlichen Taschengelds weckte. Sie erschien beispielsweise mit einer Tüte feinen Konfekts und erkaufte sich damit ein kurzes Umworbensein.

Jakobes Verhältnis zu den Schulkameradinnen und Lehrerinnen wurde schließlich so gespannt, daß die Institutsleiterin selbst den Eltern riet, sie aus der Schule zu nehmen. Ihre Ausbildung wurde in einem Pensionat in der Schweiz abgeschlossen.

Dieser Auslandsaufenthalt der Tochter und Ivans Besuch einer deutschen Handelsakademie, der in die gleiche Zeit fiel, erregten viel Unwillen bei den Leuten, deren Nationalgefühl in jenen Jahren – kurz nach dem unglücklichen Krieg – noch sehr verletzt war. Salomons wiederholten deswegen auch nicht den Versuch mit ihren anderen Kindern.

Nun war Nanny, das nächste der Geschwister, auch eine viel umgänglichere Natur. Schon in der Wiege eine Augenweide an Gesundheit und Rundlichkeit, war sie unter allgemeiner Vergötterung herangewachsen, war gestreichelt und geliebkost worden wie ein niedliches Kätzchen, ohne offensichtlich einen anderen Schaden genommen zu haben als ein reichlich gefallsüchtiges Wesen und einen Hang zur Zärtlichkeit. »Normalmädchen« nannte ihr Vater sie, weil sie sich stets im Gleichgewicht befand, nie eine Krankheit gekannt, ja nicht einmal Zahnschmerzen gehabt hatte. Dennoch war gerade sie es, die Unruhe in das Salomonsche Haus brachte, immer unterwegs, den halben Tag in Ausgehkleidung. Ihre Stimme schallte durch die Zimmer, und wohl zehnmal am Tag meldete sie ihre Rückkehr. Hörte man abends Lachen und Kreischen von oben aus den Schlafzimmern der Mädchen und hinterher leichte, schnelle Schritte, so wußte man, daß Nanny im Bad gewesen war und nun mit aufgelösten Haaren in weißem Nachthemd ihren Schwestern Tarantella vortanzte.

 

Doch noch ein unruhiger Kopf war dort im Hause oder tauchte jedenfalls täglich auf; das war Onkel Heinrich, Frau Salomons Bruder. Dieser kleine Mann, dessen Äußeres sich auffallend von dem der Schwester unterschied, lieferte einen Beweis für die Unregelmäßigkeit, mit der sich Eigenschaften in jüdischen Familien vererben. Herr Delft war Junggeselle und nannte sich Direktor. In seiner Jugend hatte er eine »Unachtsamkeit« mit ihm anvertrauten Geldern begangen, worauf er eine Reihe von Jahren in Amerika und nach eigener Aussage auch in Indien und China als Vertreter oder Reisender für englische Firmen gelebt hatte. Er war mit einem bescheidenen Kapital zurückgekehrt und genoß noch in vorgerücktem Alter die materiellen Güter des Lebens, ohne jemals durch ihre Einförmigkeit zu ermüden. Über seine Reisen und Erlebnisse sowie über sein Vermögen sprach er stets mit einer Zurückhaltung, die Außerordentliches ahnen lassen sollte. Selbst den nächsten Angehörigen gegenüber gab er sich den Anschein, als besitze er märchenhafte Reichtümer, wie er auch behauptete, noch immer Mitdirektor einer englisch-chinesischen Dampfschiffahrtsgesellschaft zu sein. Im übrigen lebte er in einer bescheidenen Dreizimmerwohnung und rechnete sehr genau mit jeder Ausgabe, die nicht zu seinem körperlichen Wohlbefinden beitrug. Ziemlich viel gab er für seine äußere Erscheinung aus. Er kleidete sich nach der neuesten Mode wie die jüngsten Gecken der Stadt, ließ sich täglich die Reste seines schwarzen Haares bei einem Friseur brennen und parfümieren und trug bei festlichen Anlässen ein Prachtstück von einer Krawattennadel, von der er oft sagte, er könne damit »eine Königin bewegen, ihn zu lieben«. Wollten seine Nichten ihn ärgern, so brauchten sie nur zu behaupten, sie sei unecht; einmal hatte er wutentbrannt das Haus verlassen und sich eine ganze Woche lang nicht wieder sehen lassen, weil sogar die Schwester und der Schwager die Reinheit des Steins anzuzweifeln gewagt hatten.

Sanft und angenehm im Umgang war er wahrhaftig nicht, obwohl sich auch in seiner Verbitterung halb bewußt eine humoristische Übertreibung zeigte. Seine freiwillig übernommene Rolle als Kettenhund im Hause der Schwester und seine Lust, den Leuten bissig zu kommen, wenn sie ihm aus irgendeinem Grunde mißfielen – besonders jedem, der den Verdacht erregen konnte, auf die Mitgift der Nichten zu spekulieren –, das alles verband sich bei ihm mit der fixen Idee, daß er zum Beschützer und Ratgeber der jungen Mädchen berufen sei. Er nahm sich dieser Aufgabe mit so viel Ernst an, wie überhaupt nur in ihm war. Insgeheim hoffte er, auf diese Weise die vielumworbenen jungen Mädchen zu behüten. Denn hinter all seinen Prahlereien verbarg sich die Erkenntnis, daß er Schande über seinen angesehenen Familiennamen gebracht hatte. Um das wiedergutzumachen, wollte er nun bei seinen Nichten Schicksal spielen und alles tun, was in seiner Macht stand, damit sie nicht blindlings wählten, sondern eine gute und vor allem vornehme Partie machten.

Die Familie Salomon hatte viele Jahre hindurch wenig Umgang gepflegt. Die orthodoxen Juden der Stadt hielten sich ihnen ein wenig fern wegen ihrer Ungläubigkeit, zu der sich vor allem Frau Lea mit großer Offenheit bekannte. Salomons hatten sich von dem gesellschaftlichen Leben in Kopenhagen nie recht angezogen gefühlt und sich deswegen darauf beschränkt, zweimal im Monat der Geselligkeit das Haus zu öffnen und im übrigen ihre Freunde wissen zu lassen, daß sie stets erwartet und jederzeit willkommen seien.

Hierin trat eine Veränderung ein, als Ivan aus Deutschland zurückgekehrt und Nanny erwachsen war. Wenn es Ivan auch nicht ganz gelang, seinen Traum zu verwirklichen und sein Elternhaus nach dem Vorbild der Fürstenhöfe der Renaissance umzugestalten, so hatten doch allmählich mehrere führende Köpfe der jüngeren Generation, darunter auch Schriftsteller und Künstler, Zutritt zur Familie erhalten.

Jakobe hielt sich zu dieser Zeit meistens im Ausland auf. In einem Schweizer Pensionat hatte sie ein zweites Zuhause gefunden; zwischen den hohen Bergen suchte sie Gesundheit für ihren kränklichen Körper, der mit den Jahren immer anfälliger wurde. In den Sommermonaten, wenn die Eltern auf dem Lande weilten, war sie daheim. Doch wenn die erste Kälte und mit ihr die Anzeichen der Ballsaison kamen, sehnte sie sich fort. Eines Tages indessen, sie wurde damals bald neunzehn, erhielten die Eltern kaum einen Monat nach ihrer Abreise einen ziemlich verworrenen Brief von ihr, in dem sie zwischen allerlei Mitteilungen plötzlich den Gedanken äußerte, ihr Leben im Pensionat aufzugeben und nach Hause zurückzukehren. Ein paar Tage später kam wieder ein Brief, der ihre baldige Heimkehr ankündigte. Fast gleichzeitig traf ein Telegramm mit der Nachricht ein, daß sie sich schon auf dem Heimweg befinde und am folgenden Tag eintreffe.

So charakteristisch es auch für sie war, einen einmal gefaßten Entschluß mit viel Ungeduld zu verwirklichen, überfiel die Eltern dennoch Unruhe. Sie ahnten, daß ihr etwas Ernsthaftes begegnet war. Frau Lea vertraute ihrem Mann an, daß hier wahrscheinlich eine Liebesgeschichte mit im Spiel sei. Jakobe hatte im Sommer mit großer Wärme von einem jungen süddeutschen Rechtsanwalt und bekannten Politiker gesprochen; er war der Neffe der Pensionsvorsteherin, bei der er einige Male zu Besuch geweilt hatte. Frau Lea kannte die leicht entflammbare Natur ihrer Tochter, die schon mehrmals bittere Enttäuschungen dadurch hatte erleben müssen. Als Jakobe nach Hause kam, war denn auch unschwer zu entdecken, daß ihr das Herz blutete. Da sie selbst jedoch keine andere Erklärung für ihre Rückkehr gab, als daß sie sich diesmal verlassen gefühlt habe zwischen all den neuen Pensionsbewohnern, so drang niemand in sie, um ihr ein Geständnis zu entlocken – am wenigsten von allen die Mutter, die für ihre Person stets verlangt hatte, daß man Liebesgeheimnisse respektieren müsse. Sie hatte beispielsweise ihrem Gatten nie erklären wollen, warum er ihre rechte Hand nicht küssen durfte. Sie hatte ihn nur wissen lassen, dies sei ein Versprechen, das sie ihrem Jugendgeliebten in einer Stunde gegeben hatte, die ihnen beiden heilig geworden war.

Jakobe war nun schon vier Jahre zu Hause. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt und noch immer unverlobt. In der dazwischenliegenden Zeit hatte es ihr allerdings nicht an Anträgen gefehlt, es waren sogar sehr schmeichelhafte darunter gewesen. Mit den Jahren war sie trotz ihrer Kränklichkeit fast hübsch geworden. Besonders die etwas älteren Herren waren von ihrer eigenwilligen und blassen Erscheinung angetan. Einige zogen sie sogar Nannys strahlender, aber ein wenig gewöhnlicher Schönheit vor. In ihrem Gesicht mit der kräftig gebogenen Nase und der unentwickelten Kinnpartie – in diesem Antlitz, das ihre Verehrer ein Adlerprofil, die Spötter jedoch eine Papageienfratze nannten – blickten dunkle Augen, deren Weiß einen stark bläulichen Schimmer hatte, der mitunter beinahe schwarz werden konnte. Ihre Nase war eindeutig zu groß, der Mund zu schmal und zu breit; aber diese Augen hatten einen unvergeßlichen Blick, stolz und scheu zugleich, der Einsamkeit und Gedankentiefe ahnen ließ. Sie war größer als ihre Geschwister, hatte lange schlanke Beine und einen merkwürdig lautlosen Gang und einen leichten, schnellen Schritt. Die wenigen, die sie hatten lächeln sehen, lobten ihre schönen Zähne. Über ihrer hageren und nervösen Gestalt lag der eigentümliche geistige Liebreiz, den Leidenschaft und Sehnsucht einer zarten Frau verleihen können.

Wenn man von ihr sprach, so dachte man vor allem an ihre inneren Eigenschaften. Überall rühmte man ihre Klugheit, ihre Willenskraft und ihr mannigfaltiges Wissen. In ihrer Einsamkeit hatte sie ihre ganze Liebe den Büchern gewidmet. Sie studierte alte und neue Sprachen, Geschichte und Literatur und suchte ungeduldig nach immer neuen Gebieten, um ihren Wissensdurst zu stillen.

Frau Salomon sagte oft von ihr, sie sei das Ebenbild ihres Vaters.

Von den jungen und jüngeren Männern, die zu der Zeit, als Per seinen Antrittsbesuch im Salomonschen Hause machte, am häufigsten dort verkehrten, kamen die meisten wegen Nanny. Nicht nur, weil die Mehrheit sie für die Schönere hielt – man nahm auch an, daß sie als Philip Salomons leibliches Kind die bevorzugtere Erbin sein würde, wenn auch Jakobe und Ivan bereits im frühen Alter von ihm adoptiert worden waren. Jakobes Wesen forderte freilich auch nicht zum Liebeswerben heraus. Man sah sie selten, und da sie sehr scheu war, trug sie Fremden gegenüber oft eine verletzende Kälte zur Schau.

Auf dem kleinen Herrenabend, bei dem Per zum ersten Mal Gast der Familie war, traf er neben einigen älteren Herren aus der Geschäftswelt den Dichter Poul Berger und einen Husarenleutnant namens Hansen-Iversen, den Kandidaten Balling und den Journalisten Dyhring. Nur den ersten von ihnen hatte er schon früher gesehen; aber fast hätte er ihn nicht wiedererkannt. Der fanatische Himmelsstürmer und Nathanverehrer hatte, seit er Per zuletzt begegnet war, nicht nur seinen Mephistobart verändert und ihn über das ganze Gesicht wachsen lassen, auch sein Mienenspiel war anders geworden. Er glich jetzt den üblichen Bildern vom leidenden Christus, was er auch wirklich beabsichtigte. Wie einer der anderen Herren später Per unter dem Siegel der Verschwiegenheit zuflüsterte, hatte Berger in den letzten Tagen zur Überraschung seiner Freunde einige fromme Verse veröffentlicht, mit denen er gleichzeitig um Nannys Barmherzigkeit und um Unsterblichkeit auf dem dänischen Parnaß warb.

Kandidat Balling, der Per dies mitteilte, war ebenfalls ein Mann der Literatur, jedoch ein sogenannter Literarhistoriker. Er war drei Ellen lang und darmdünn; er hatte eine Löwenmähne und ein Gesicht, so flach und ausdruckslos wie eine Oblate. Der zur Frömmigkeit bekehrte Dichter vertraute Per in einer Ecke an, Balling sei ein Idiot, der ein Genie und Bahnbrecher sein möchte, sich aber vorläufig nur einen chronischen Magenkatarrh anstudiert habe. Balling war unerhört belesen und so mit Zitaten vollgepfropft, daß man ihn nicht ansprechen konnte, ohne daß ein gestohlenes geistreiches Wort seinem Munde entschlüpfte. Er war einer jener Bücherwürmer, die sich an der Literatur festsaugen wie Egel, ihr rotes, warmes Blut trinken und doch nach wie vor gleich kalt bleiben. Vor einem Jahr hatte er ein Buch über die klassische Tragödie herausgegeben, und da es in der Presse gelobt worden war, hatte sich Ivan sofort seiner Person versichert und ihn in sein Elternhaus eingeführt.

Per, der auf die Begegnung mit seinen Nebenbuhlern ein wenig gespannt gewesen war, beruhigte sich beim Anblick dieser Leute. Selbst dem Husarenleutnant gegenüber sank sein Mut nicht, obwohl dieser ein schneidiger Bursche mit kecken blauen Augen und einem blonden Schnurrbart in einem von der Frühlingssonne gebräunten Gesicht war.

Was Dyhring, den Journalisten, anging, so wurde Per nicht daraus klug, ob er überhaupt ein Rivale war. Die nachlässige Art, wie er sich zwischen den Damen des Hauses bewegte, deutete nicht darauf hin. Ivan war, ohne daß Per begriff, warum, sehr daran gelegen gewesen, ihn mit diesem Mann zusammenzubringen. Sofort nachdem Dyhring gekommen war, hatte er sie einander vorgestellt; nach Tisch versuchte Ivan erneut, sie zusammenzuführen und Per zu veranlassen, sich über seine Pläne zu äußern.

Doch Per verspürte nicht die geringste Lust, vernünftig zu reden. Dazu war er viel zu sehr von Nanny beeindruckt, die verlockend schön aussah in ihrem ausgeschnittenen naturseidenen Kleid und mit roten Rosen im schwarzen Haar. Per hatte die Ehre gehabt, sie zu Tisch zu führen. Diese Auszeichnung sowie die Freuden der Tafel und die ihm ungewohnte Pracht der Anrichtung waren ihm zu Kopf gestiegen und hatten ihn übermütig gemacht. Im Rauchsalon, wo der Kaffee und die Liköre für die Herren serviert wurden und Onkel Heinrich in diabolischer Schadenfreude heimtückisch sein Glas stets von neuem füllte, war Per kurz davor, einen Skandal heraufzubeschwören. Vertraulich klopfte er Philip Salomon auf die Schulter, lobte seinen Wein und drückte in einer langen Rede seine Bewunderung aus für die Damen des Hauses. Einige ältere Herren scharten sich nach und nach um ihn und hatten ihren Spaß an dem jungen Mann, der offensichtlich zum ersten Mal in einer Gesellschaft war.

Im Wohnzimmer bei Frau Salomon und Jakobe saß ein blonder Herr in mittleren Jahren, der nicht rauchte. Es war ein gewisser Herr Eybert, einer der größeren Fabrikbesitzer der Stadt, der auch als Politiker bekannt war, ein vorurteilsfreier und kenntnisreicher Mann von großem Ansehen. Die näheren Bekannten des Hauses bezeichneten ihn vertraulich als den künftigen Gatten Jakobes. Er war ein wenig über das beste Alter hinaus, nämlich um die Vierzig, und im übrigen Witwer mit zwei Kindern. Seine Liebe zu Jakobe war ein offenes Geheimnis. Weder vor den Eltern noch vor ihr selbst machte er einen Hehl daraus, und die Eltern zeigten sich beide nicht abgeneigt. Herr Eybert war ein erprobter Freund des Hauses und außerdem ein sehr vermögender Mann, der über den Verdacht erhaben war, er spekuliere auf eine reiche Heirat. Die Eltern sahen es zudem aus verschiedenen Gründen recht gern, daß Jakobe heiratete; in dieser Hinsicht standen sie unter dem ständigen Einfluß des Hausarztes, eines jüdischen Professors, der mit großer Offenheit erklärte, »das Mädchen sei nicht dazu geschaffen, als Nonne zu leben«.

Mit dem Mißtrauen, das sich bei dem alternden Bewerber stets regte, wenn ein neues, junges Männergesicht in diesem Kreis auftauchte, hatte Herr Eybert sogleich die Unterhaltung auf Per gelenkt. Er fragte, wer der Herr gewesen sei, der gegen Ende des Essens so laut geworden war.

»Das ist ein Herr Sidenius . . . einer von Ivans Freunden«, sagte Frau Salomon in einem Ton, der gleichsam eine kleine Entschuldigung im Namen des Hauses war.

»Soso, ein Sidenius! Ist er nicht ein bißchen . . .?« Herr Eybert machte mit dem Finger eine Kreisbewegung vor der Stirn.

»Ach, das glaube ich nun doch nicht«, antwortete Frau Salomon. »Aber ein unruhiger Kopf ist er schon.«

»Das liegt wohl in der Familie.«

Jakobe hob die Augen von einem Buch, in dem sie – scheinbar teilnahmslos – geblättert hatte. »Aber er ist doch ein Pfarrerssohn«, warf sie ein.

»Ja, es gibt auffallend viele Geistliche in der Familie«, bemerkte der Fabrikant. »Sicherlich ist das der Grund, weshalb die Familie ab und zu einen ziemlich wilden Schoß treibt. Ich entsinne mich, daß ein Onkel von mir, ein Gutsbesitzer in Jütland, einst von einem sicherlich längst verstorbenen Pastor in Vendsyssel erzählt hat, der als der ›verrückte Sidenius‹ bekannt war und diesen Spitznamen wahrhaftig nicht unverdient bekommen hatte. Wenn ich meinem alten jütischen Onkel glauben darf, so muß er eine Art Strauchdieb gewesen sein, der in allen Kneipen der Umgebung Schlägereien anstiftete. Mir fällt da auch die Geschichte mit dem Küster ein, dem er einmal in seiner Trunkenheit angesichts der Gemeinde – mit Verlaub zu sagen – die Hosen abknöpfte und ihm im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes drei Schläge mit der flachen Hand versetzte, daß es in der Kirche widerhallte. Das war fürwahr eine besondere Art der Erbauung! Doch der Vorfall hat den guten Pastor letzten Endes um Amt und Würden gebracht. Er wurde eingesperrt.«

Während Frau Salomon über die Geschichte lächelte, hörte Jakobe sie mit finsterem Gesicht an; und gerade die Abscheu, die sie zeigte, hatte den Fabrikanten zu einer ihm ungewohnten kühnen Beredsamkeit angefeuert und ihn verleitet, seine Erzählung ein bißchen auszuschmücken, um sie noch abschreckender zu machen.

Aus dem Rauchsalon hörte man wieder Pers laute Stimme. Jakobe fuhr zusammen. Der Klang dieser Stimme ließ sie frösteln. Sie begann wieder in ihrem Buch zu blättern, während eine bittere Erinnerung in ihr wach wurde.

Es war vor vier Jahren auf einem der großen Bahnhöfe in Berlin gewesen. Jakobe befand sich auf dem Weg zu ihrer Schweizer Pension. Dies war ihre letzte Reise dorthin; kurze Zeit später hatte sie alle mit ihrer plötzlichen Rückkehr überrascht. Hier in Berlin erwartete sie eine aus Breslau kommende Freundin, mit der sie weiter nach Süden fahren wollte. Sie war unruhig und nervös. Sie wußte, bald würde sie wieder mit dem jungen Rechtsanwalt zusammentreffen, den sie liebte und von dem sie sich wiedergeliebt glaubte. Daher hatte sie zu Hause keine Ruhe finden können und war noch früher abgereist, als sie es sonst zu tun pflegte. – Als sie die riesige, glasüberdeckte Bahnhofshalle betrat, sah sie in einiger Entfernung auf dem Bahnsteig eine Gruppe zerlumpter Gestalten, um sie herum ein Kreis gaffender Neugieriger, von einigen Polizisten in gehörigem Abstand gehalten. Wegen der bunten Kleidung und des südländischen Aussehens dieser Leute glaubte Jakobe zuerst, es sei eine heruntergekommene Zigeunertruppe, die von den Behörden in ihr Heimatland zurückgeschickt werde. In ihrer nervösen Angst vor starken Eindrücken ging sie auf das entgegengesetzte Ende des Bahnsteigs zu, um einen Wartesaal aufzusuchen. Auf dem Wege dorthin traf sie zwei Männer, die eine Krankenbahre trugen; darauf lag, nur mit einem Mantel zugedeckt, ein alter ausgemergelter Mann, der wirr mit großen blutunterlaufenen und fiebrigen Augen um sich blickte. Erschüttert wandte sich Jakobe an einen Beamten und fragte, wo die Wartesäle seien. Der Beamte sah sie mit unverschämtem Lächeln an und meinte, das müsse sie doch riechen; sie solle nur der Nase nach gehen. Da drehte sie ihm den Rücken zu und eilte weiter. Vor mehreren geöffneten Flügeltüren, die ebenfalls durch Polizei abgesperrt waren, standen wiederum Neugierige, die die Hälse reckten und sich auf Zehenspitzen stellten, um etwas zu sehen. Nur mit Mühe konnte sich Jakobe einen Weg durch die Menge bahnen, und nun bot sich ihr ein Anblick, der sie erstarren ließ.

Auf dem Boden eines geräumigen halbdunklen Wartesaals lagen und saßen einige hundert dieser zerlumpten Gestalten, wie sie sie auf dem Bahnhof gesehen hatte: Männer, Frauen, Kinder, graubärtige Greise und Säuglinge, die an der Brust der Mutter lagen. Einige fast nackt, viele trugen blutige Binden um die Stirn oder an den Händen; alle waren blaß, abgezehrt und schmutzig, als seien sie tagelang in Sonnenglut und Staub marschiert. Es fiel sofort auf, daß die bunte Menge, in der nur die weißen Kopftücher der Frauen eine gewisse Gleichheit darstellten, nach Sippen geordnet war. Sie hatten sich um Familienoberhäupter versammelt, von denen die meisten kleine schwarzäugige Männer in langen, gegürteten Kaftanen waren. Alle trugen sie Wanderstäbe, und an ihren Leibriemen hingen Trinkbecher. Viele von ihnen schienen überhaupt nichts weiter zu besitzen. Manche führten etwas Küchengeschirr mit sich. Hier und da sah man Kinder pflichtbewußt ein paar zusammengeschnürte Bündel bewachen, offenbar das ganze Hab und Gut der Familie.

Jakobe stand diesem Bild im ersten Augenblick verständnislos gegenüber. Dann griff sie sich plötzlich nach dem Herzen. Im Halbdunkeln hatte sie da drinnen einige jüdisch aussehende Herren mit weißen Abzeichen am Arm gesehen, die mit einigen Damen Kleider und Essen austeilten. Im selben Augenblick begriff sie alles. Ein Schwindel erfaßte sie, und ihr wurde klar: Was sie hier erblickte, war einer der vielen Züge vertriebener russischer Juden, die im letzten halben Jahr durch Deutschland geführt worden waren, um nach Amerika eingeschifft zu werden. Den ganzen Sommer über hatte sie von den Flüchtlingsgruppen in den Zeitungen gelesen; noch immer waren diese Menschen verwirrt vor Schrecken über die Schandtaten, die der Pöbel an ihnen verübt hatte, während die Behörden gleichgültig zusahen oder es sogar offen billigten. Da hatte gestanden, man habe den Juden nachts die Häuser über dem Kopf angezündet, sie bis auf den nackten Körper ausgeplündert, ihre Frauen geschändet, alte Leute gesteinigt und Kinder getötet, so daß die Rinnsteine rot von Blut waren . . . Jeden Tag hatte sie davon gelesen, doch sie hatte versucht, sich damit zu trösten, daß die Schilderungen übertrieben seien, daß eine solche Unmenschlichkeit, obendrein an einem friedlichen und fleißigen Volk begangen, in diesem Jahrhundert der Freiheit und der Humanität eine Unmöglichkeit sei.

»Achtung!«* ertönte es hinter ihr.

Die beiden Männer mit der Bahre kamen nun zurück und bahnten sich mit Mühe einen Weg durch den Saal, um einen anderen der vielen Kranken wegzutragen, die sich dort drinnen befanden. Hinter ihnen erschienen zwei uniformierte Polizeibeamte, die sich mit der gleichgültigsten Dienstmiene vor der Tür aufstellten und einen Augenblick lang die traurige Szene betrachteten, wonach sie säbelrasselnd weiterschritten.

Jakobe wagte nicht mehr hinzusehen. Vor ihren Augen begann es rot zu flimmern. Sie wankte in einen Wartesaal erster Klasse und rang nach Luft. Die Fenster gaben den Blick auf einen Platz frei, wo Leute spazierengingen, sich unterhielten und lachten. Straßenbahnen klingelten, und Hunde liefen umher und spielten im Sonnenschein. Jakobe mußte sich am Fensterrahmen festhalten, um nicht zu fallen. – Und all das war kein Traum! Es war Wirklichkeit! Diese zum Himmel schreienden Schandtaten konnten vor den Augen ganz Europas geschehen, ohne daß sich eine machtvolle Stimme dagegen erhob! Die Kirchenglocken läuteten Gottesfrieden über diese Stadt; die Geistlichen standen auf den Kanzeln und predigten von den Segnungen der Kirche und vom Sieg der Nächstenliebe in einem Land, wo man mit kaltblütiger Neugierde – ja mit Schadenfreude – die Züge armer Heimatloser anstarrte, die wie Pestkranke durch die Länder getrieben und der Not und dem Untergang im Namen ebendieses Christentums überlassen wurden.

Jakobe zuckte zusammen. Draußen auf dem Platz sah sie die beiden Polizeioffiziere. Es waren zwei echte preußische Leutnantsgestalten mit Nackenscheiteln und Schleppsäbeln und blitzenden Silberepauletten auf den breiten Schultern. Jakobes Hände ballten sich zu Fäusten. In ihrer dienstlichen Gleichgültigkeit und mit ihren hochnäsigen Mienen erschienen ihr diese beiden Gesetzeshüter als Sinnbilder der brutalen Selbstgefälligkeit der ganzen pharisäerhaften christlichen Gesellschaft. Sie pries sich glücklich, daß sie vorhin, als sie nur wenige Schritte von ihnen entfernt stand, keine Mordwaffe bei sich trug. Nun, hinterher, spürte sie, daß sie imstande gewesen wäre, sie mit eigener Hand umzubringen.

Wenn später Jakobes enttäuschte Liebe sie so mitgenommen hatte, dann lag das auch daran, daß diese seelische Erschütterung unmittelbar voraufgegangen war. Die eine Demütigung wirkte in der Erinnerung auf die andere zurück, ja die Eindrücke beider Erlebnisse vermengten sich nach und nach und gewannen eine verhängnisvolle Macht über sie.

In jenen Tagen hatte sie unter anderem beschlossen, sich nie an einen Mann zu ketten. Einen Juden wollte sie nicht heiraten. Sie wollte nicht, daß ihre Kinder dasselbe durchmachen sollten, was sie selbst auf Grund ihrer unseligen Geburt erlitten hatte. Sie konnte sich jedoch auch nicht vorstellen, mit einem Christen eine Familie zu gründen. Dazu haßte sie diese Religionsgemeinschaft zu unversöhnlich, die seit Jahrhunderten der kaltblütige Henker ihres Stammes gewesen war. Die Rasse ängstigte sie außerdem, sie wirkte auf sie wie eine grobe Drohung. Der Anblick eines vierschrötigen, blauäugigen und fleischigen Nordländers, wie Per es war, beschwor in ihr sogleich das Bild jener beiden breitschultrigen, machtbewußten Polizeioffiziere herauf, an die sie noch nach Jahren nicht denken konnte, ohne daß Mordlust in ihr aufstieg.

Hinzu kam, daß sie sich alt zu fühlen begann. Seit ihrem elften, zwölften Lebensjahr war sie erwachsen gewesen. Schon mit dreizehn hatte sie ihre erste unglückliche Liebe erlebt, die sie tief bewegt hatte, und daher meinte sie, ihr Herz habe nun Ruhe verdient.

Daß ihr alter Freund Eybert sie verehrte und gern zur Frau haben wollte, wußte sie seit langem. Ihrerseits legte sie großen Wert darauf, sich mit ihm zu unterhalten. So verschieden sie auch waren, sie besaßen viele gemeinsame Interessen, politische wie literarische. Sie hatten ungefähr dieselbe pessimistische Auffassung von dem, was sich um sie her in der Welt ereignete. Im Grunde hatte Jakobe Eybert sehr gern. Dieser kleine, ruhige Mann mit dem glattgekämmten blonden Haar und dem dünnen Vollbart hatte auf sie einen wohltuenden und besänftigenden Einfluß. Er weckte in ihr nicht die Spur einer Erinnerung an jene breitschultrige Brutalität, die durch viele andere Männer abschreckend heraufbeschworen wurde. Allerdings war auch nichts an ihm, das sie als Frau ansprach. Nur wenn sie ihn bisweilen mit anderen von seinen beiden mutterlosen Kindern sprechen hörte, regte sich in der Tiefe ihres Herzens etwas, das ihr das Blut flüchtig in die Wangen trieb; ja, es konnte Augenblicke geben, wo sie in dem Drang, hier im Leben einen Platz auszufüllen und eine Aufgabe zu übernehmen, sich mit dem Gedanken trug, die Mutter der Kinder dieses einsamen Mannes zu werden.

 

Eines Tages zur Dämmerstunde saß Onkel Heinrich versunken in einem tiefen Sessel in der Bibliothek und rauchte nach dem Essen eine seiner starken, süßlich duftenden Manilazigarren. Er hatte so bereits eine Zeitlang allein verbracht, als Ivan hereinkam und sich ihm gegenüber in einen Sessel warf.

»Onkel, ich habe etwas mit dir zu besprechen.«

»Einen sehr ungünstigen Augenblick hast du dir dazu ausgesucht. Du weißt, wie unangenehm mir Gespräche sind, nachdem ich gegessen habe.«

»Aber du willst auch nicht sprechen, während du ißt, sagst du immer. Da weiß ich wahrhaftig nicht, wann ich mal mit dir reden soll.«

»Wenn ich schlafe. Nun, was ist denn?«

»Willst du mir einen Gefallen tun, Onkel?«

»Du weißt, ich tue aus Prinzip niemals einem Menschen einen Gefallen. Laß uns also von etwas anderem sprechen.«

»Dann nenne es ein Geschäft oder wie du willst«, entgegnete Ivan und nahm seine Lieblingsstellung ein, einen Fuß unter sich gezogen. »Sieh mal, da ist ein junger Mann, für den ich mich interessiere – ein Mensch, der . . .«

»Kurz und gut, eins deiner Genies. Weiter!«

»Ja, aber diesmal irre ich mich nicht, Onkel! Es ist ein wirklich eminentes Talent. Er wird noch einmal etwas Epochemachendes in seinem Fach leisten. – Aber er ist arm.«

»Arm? Ja, das ist wohl, soviel ich verstanden habe, eine der Haupteigenschaften eines Genies.«

»Natürlich will man ihm nicht erlauben, sich hier in der Heimat Geltung zu verschaffen. Das ist ja das übliche Los großer Begabungen. Aber ich bin übrigens unbesorgt. Er wird hochkommen. Ich habe schon mit Dyhring gesprochen, und er hat mir zugesagt, daß er ihn bei Gelegenheit interviewen und einen Artikel über die bedeutenden Erfindungen schreiben will, mit denen er sich beschäftigt.«

»Mit anderen Worten, Ivan, dieser Mensch, um den es sich handelt, ist der selbstbewußte Kerl mit der Himmelfahrtsnase, der hier neulich auftauchte und sich ungeziemend benahm, der mit dem unangenehmen Namen. Wie hieß er doch gleich?«

»Sidenius.«

»Herr Gott von Mannheim!* Daß ein Mensch so heißen kann!«

»Wie ich erfahren habe, will er ins Ausland und da eine Zeitlang studieren.«

»Ist er etwa zu Geld gekommen?«

»Nein, siehst du, Onkel, gerade darüber wollte ich mit dir reden. Ich möchte ihm gern das erforderliche Reisegeld anbieten, das ihm, wie ich weiß, fehlt. Aber er ist stolz. Und so empfindlich auf diesem Gebiet, daß er – ja, ich bin beinahe sicher, er würde es ablehnen, wenn man ihm ohne Umschweife Geld anböte. Das würde er als Beleidigung auffassen. So ist er.«

»Dann behalte doch deine Moneten, Ivan.«

»Unsinn, Onkel. Gerade solchen Leuten muß geholfen werden. – Und du mußt einen Ausweg finden, Onkel.«

»Ich? Bist du verrückt?«

»Ich habe mir gedacht, ich könnte dich als Strohmann verwenden. Und das machst du bestimmt, Onkel, wenn ich dich herzlich darum bitte. Siehst du, das Geld muß ihm auf eine Weise angeboten werden, die ihn nicht verletzt . . . und ganz und gar anonym, sonst nimmt er es nie. Du kannst ja sagen, ein paar Freunde und Verehrer hätten ihm vor seiner Abreise eine kleine Aufmerksamkeit erweisen wollen . . . oder du kannst es ihm als Darlehen anbieten . . . oder was dir sonst noch einfällt.«

Der Onkel zog seine buschigen Brauen in die Höhe und überlegte einen Augenblick. Im Grunde hatte er nichts dagegen, als Wohltäter aufzutreten, wenn es ihn nichts kostete. Außerdem hegte er selbst eine kleine Vorliebe für Per, der ihm unter Nannys Verehrern als der einzige erschien, der die Voraussetzungen mitbrachte, etwas in der Welt zu leisten und ihrer würdig zu werden. »Wieviel gedachtest du für ihn zu opfern?«

»Soviel, wie erforderlich ist, damit er sich durchsetzen kann. Eine Grenze habe ich mir nicht gesteckt. Er bekommt ein Konto bei Griesmann, und dann kann er durch ihn von mir Geld haben.«

»Du bist verrückt, Sohn meiner Schwester! Du bist ebenso wie deine Mutter, wie dein Vater, wie deine Geschwister und deine ganze Familie total verrückt.«

»Ist keiner da, der mir mal Feuer gibt?« ertönte es im selben Moment in der Türöffnung zum Wohnzimmer. Es war Nanny; sie stand da, beide Hände um die Taille gespannt, und streckte den Oberkörper vor. Eine Zigarette wippte zwischen ihren Lippen.

Der Onkel schnitt eine Grimasse. »Da kommt sie mit ihrem Glimmstengel! . . . Habe ich dir nicht gesagt, daß das ein abscheulicher, ekelhafter, widerlicher Gestank ist?«

»Hast du schlechte Laune, Onkel? Wie schade. Ich wollte nämlich gern mit dir etwas bereden.«

»Du auch? . . . Raus damit! Meine Mittagsruhe ist für heute doch hin.«

»Ich habe ein Hühnchen mit dir zu rupfen, Onkelchen.«

»Dann rupfe! Aber fasse dich kurz!«

»Ich finde, du könntest wenigstens so taktvoll sein, daß du deine Damen nicht dann durch den Strøg führst, wenn anständige Leute dort spazierengehen. Soviel Rücksicht solltest du jedenfalls auf deine Familie nehmen und dir eine weniger abschreckende Begleiterin aussuchen als das Scheusal, mit dem ich dich gestern und heute gesehen habe. Wir müssen uns ja schämen, daß du solch schlechten Geschmack hast, Onkel.«

Sie hatte sich hinter seinen Stuhl gestellt, auf dessen Lehne sie beide Arme stützte, wobei sie Wolken von Zigarettenrauch auf seinen dünnhaarigen Scheitel herabsandte. So empört er auch über ihre Worte war, rührte er sich doch nicht. Mit halbgeschlossenen Augen gab er sich dem bescheidenen Genuß hin, der für ihn darin lag, den warmen Atem von den frischen Mädchenlippen zu spüren.

»Habe ich dir nicht gesagt, Nanny, daß es häßlich und abscheulich ist, wenn ein junges Mädchen unanständige Reden führt? Übrigens ist die junge Dame, von der du sprichst . . .«

»Was für eine junge Dame?«

»Die du vielleicht mal in meiner Begleitung gesehen hast. Es ist die Tochter meiner Wirtin, eine sehr gebildete und angesehene . . .«

»Ich habe nicht von einer jungen Dame gesprochen. Ich sprach von einer alten Vogelscheuche mit roten Wollblumen am Hut und grell geschminkten Backen. Ich sage dir, Onkel, schämen mußt du dich ihrer!«

»Und ich sage dir, du freches Ding, daß du zuletzt darüber urteilen darfst, wessen man sich zu schämen hat! Was sind denn das für Menschen, die du mit deiner unanständigen Koketterie ins Haus lockst? Ein Herr Sidenius! Ein Bauernlümmel, der gerade so viel Erziehung genossen hat, daß er sich nicht mit den Fingern schneuzt! Und was für eine Fratze der Kerl hat! Er sieht wahrhaftig so aus, als hätte er eine Jungfrau Naseweis zur Mutter und einen Hanswurst zum Vater gehabt!«

»Ich finde ihn aber hübsch.«

»Ja . . . du findest ihn hübsch«, äffte er ihr nach. »Aber das sage ich dir, Nanny! Heiratest du einen Getauften, der nicht im mindesten standesgemäß geboren ist, dann . . .«

»Was dann, Onkel?«

Er warf ihr einen fürchterlichen Blick über die Stuhllehne zu und entgegnete langsam, mit feierlichem Nachdruck auf jedem Wort: »Dann bekommst du nach meinem Tode nicht meine große Brillantnadel.«

»Aber die hast du doch schon Jakobe versprochen, Onkel. Und Rosalie hat auch eine Zusicherung. Und Ivan ebenfalls, glaube ich.«

Wütend sprang der Onkel auf und rannte aus dem Zimmer, wobei er rief: »Ihr seid hier im Hause alle total übergeschnappt. Nie wieder setze ich einen Fuß über diese Schwelle. Das ist ja ansteckend. Ich habe genug . . .!«

Ivan und Nanny sahen sich etwas betroffen an. Wie gewöhnlich wußten sie nicht genau, ob der Onkel im Ernst oder halb im Scherz gesprochen hatte.

Aber jetzt erschien Jakobe in der Wohnzimmertür. »Was habt ihr mit Onkel angestellt? Er war ja außer sich.«

»Nichts«, erwiderte Ivan. »Du weißt ja, er kann meine Freunde nicht leiden. Jetzt hat er sich auch über Sidenius geärgert. Das ist alles. Ich habe ihm erzählt, Sidenius wolle ins Ausland gehen, und bat ihn in diesem Zusammenhang um einen Gefallen.«

»Will Herr Sidenius das Land verlassen?« erkundigte sich Nanny – und in ihrem Tonfall lag etwas, das die Schwester an der Tür veranlaßte, sie forschend anzusehen.

»Er denkt daran, ja.«

Nanny fragte nicht weiter. Gedankenverloren warf sie ihre halb zu Ende gerauchte Zigarette in eine Metallschale, die auf dem Tisch stand.

 

»Ich glaube, Nanny hat ein Auge auf Herrn Sidenius geworfen«, bemerkte Jakobe am Abend, als sie und die Mutter allein im Wohnzimmer um die brennende Lampe saßen.

»Ach, was fällt dir bloß wieder ein!« sagte Frau Salomon in leicht unwilligem Ton, als sei das ein Gedanke, der auch sie im stillen beschäftigt und ein wenig beunruhigt hatte. »Herr Sidenius ist doch ein Phantast! Und Nanny mangelt es nicht an Verstand. – Außerdem reist er ja nun ab, und damit hört unsere Bekanntschaft mit ihm ohnehin auf.«

»Ich glaube, daß es mit der Reise noch dauern wird«, gab Jakobe nach kurzem Schweigen zu bedenken. Sie saß zurückgelehnt in der Sofaecke neben der Mutter und blickte ernst und grüblerisch vor sich hin.

»Liebes Kind, was weißt denn du davon!«

»Ach, ich bin doch nicht blind, Mutter! Vom ersten Augenblick an, da ich den Menschen hier im Hause sah, war mir klar, warum er kam. Und er gehört sicherlich nicht zu den Leuten, die schnell aufgeben, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt haben. Das behauptet Ivan ebenfalls von ihm. Was man an ihm auch auszusetzen haben mag – und da ist ja noch genug –, Charakter scheint er zu haben.«

Frau Salomon lächelte ein wenig. »Ich glaube, du fängst an, dich mit ihm auszusöhnen, Jakobe.«

»Nein, gewiß nicht, das werde ich nie können. Dazu ist mir seine Art zu sehr zuwider. Aber er ist ja noch ein unreifer Jüngling. Keiner kann wissen, wozu er sich unter günstigen Umständen entwickelt. Vielleicht wird er wirklich mal ein ganz annehmbarer Mann für Nanny. Ich jedenfalls glaube fast, ich würde ihn als Schwager einem Menschen wie zum Beispiel Dyhring vorziehen.«

»Aber Jakobe, du bist ja förmlich eine Kupplerin geworden«, antwortete Frau Salomon. »Neulich war Olga Davidsen an der Reihe, und heute willst du deine eigene Schwester an den Mann bringen.«

Jakobe errötete. Sie fühlte sich vom Vorwurf der Mutter getroffen. »Liebes Mütterchen«, sie beugte sich lächelnd vor, um ihre Verlegenheit zu verbergen, und legte ihre Hand auf den Arm der Mutter. »Du weißt ja, das ist nun mal die Schwäche aller alten Jungfern.«

 

In diesen Frühlingsmonaten war Per ein häufiger Gast im Hause der Salomons. Wohl zog ihn hauptsächlich immer noch Nanny an, aber auch das ihm neue und fremdartige Familienleben übte eine starke Anziehungskraft auf ihn aus.

Eines Abends, als er gegangen war, konnte es Jakobe nicht lassen, die Frage aufzuwerfen: »Gott weiß, woran Herr Sidenius eigentlich denkt, wenn er so dasitzt und vor sich hin starrt, ohne etwas zu sagen!«

Per dachte an sein Elternhaus. Er sah das Wohnzimmer daheim vor sich, wie es am deutlichsten in seiner Erinnerung lebte: an den langen Winterabenden, wenn die einzige Lampe einschläfernd auf dem Tisch vor dem Roßhaarsofa brannte und der Vater halb schlummernd in seinem Armstuhl mit der hohen Lehne saß, den grünen Pappschirm vor den Augen, während Signe aus der Zeitung vorlas und die kleinen Schwestern sich über ihre Stopfarbeit beugten und jeden Augenblick verstohlen zur Uhr auf dem Sekretär hinüberblickten, um zu sehen, ob der Nachtwächter nicht bald Schlafenszeit verkündete. Per vermeinte wieder die leisen Seufzer zu hören, die von Zeit zu Zeit aus dem Schlafzimmer nebenan drangen, wo die bettlägerige Mutter ihrem stets ein wenig beklommenen Herzen Luft verschaffte. Ihm war, als vernähme er das leise Zischen der Lampe und röche den Torfqualm des Ofens, in den sich der Geruch von Fleckenwasser oder Medizin mischte.

Was ihm bei dem Vergleich am meisten auffiel, war jedoch nicht der Gegensatz zwischen dem Reichtum, den er vor Augen hatte, und der Kümmerlichkeit seines Elternhauses. Es war vielmehr der Unterschied im Ton, im Wärmegrad der Redeweise, in den Lebenstemperaturen der beiden Familien. Wenn er hier die Kinder freimütig und fast kameradschaftlich mit ihren Eltern sprechen hörte, wenn er beobachtete, wie Frau Salomon die Frühlingsmoden mit ihren Töchtern besprach, mit ihnen beriet, welche Farben und welcher Schnitt sie am besten kleidete, ja es ihnen geradezu zur Pflicht machte, gut auszusehen, wenn er die Salomons stets lebhaft von dem in Anspruch genommen fand, was in der Welt geschah, nie aber die leiseste Andeutung auf das dunkle »Jenseits« vernahm, das wie ein Grabeshauch sein Elternhaus durchdrungen hatte, wo man den Tag regelmäßig mit weltabgewandtem Gebet und Psalmengesang begann und abschloß, wo es für einen »vom Geist Wiedergeborenen« als unwürdig galt, sich zu schmücken, ja sogar gut gekleidet zu sein und seiner Person Sorgfalt zu widmen – dann empfand er voll Dankbarkeit, daß er hier gefunden hatte, was er in fernen, fremden Ländern hatte suchen wollen: Kinder der Natur, weder vom Himmel noch von der Hölle angekränkelt.

Auch der Reichtum hatte durch Salomons einen neuen Wert für ihn bekommen. Bislang hatte er auf Bauernweise das Geld nur als Waffe betrachtet, mit der man – fast wie ein Meuchelmörder – sich im Kampf ums Dasein behauptete. Nun erschloß sich ihm die Bedeutung gesicherter Lebensbedingungen für das gesunde geistige Wachstum des Menschen, für seine geordnete und ungehinderte Charakterentwicklung. Er begann die Ehrfurcht vor dem Geld zu verstehen, die man den Juden nachsagte und die alle rechtgläubigen Sideniusse tief verärgerte. Er entsann sich der verächtlichen Äußerungen seines Vaters über die »Mammonanbeter«. Sein Religionslehrer fiel ihm ein, ein blasser, spindeldürrer Theologe, der seine Schüler eindringlich mahnte – wobei er ihnen mit einer Hand, die nach der Hosentasche roch, übers Haar strich –, niemals nach Schätzen zu streben, die »Rost und Motten« vernichten können. Per dachte daran, wie in diesem kleinen, bitterarmen Land eine Generation nach der anderen dazu erzogen worden war, pharisäische Geringschätzung für jedes »irdische Gut« zu zeigen, und wie geistige Verkommenheit, Erbärmlichkeit und Oberflächlichkeit der ganzen Gesellschaft ihr Gepräge gaben. Er empfand eine trotzige Lust, über das Land hinauszuschreien: »Respekt vor dem Geld! Auf die Knie vor dem Mammon, dem Erhalter und Erlöser der Völker!«

Per wußte jedoch sehr gut, daß auch ihn die Scheu vor dem Glanz des Goldes noch beherrschte. Wenn er sich umblickte in den üppig ausgestatteten Zimmern, dann spürte er oft, wie sich die Überreste seiner angeborenen Koboldnatur in ihm regten. Ja, sooft er in diesem orientalischen Sonnenschein an sein eigenes Leben mit seinen traurigen und armseligen Freuden, der Qual und dem Grauen der Gewissenskämpfe zurückdachte, fühlte er mit Beschämung, daß er wirklich ein »Kind der Finsternis« war, wie der Vater ihn genannt hatte, ein Unterirdischer – ein Sidenius.

Das Leben in dem großen, reichen und geselligen Handelshaus, wo viele gebildete und in den Umgangsformen sichere Menschen verkehrten, wirkte auf ihn wie ein Spiegel des Geistes und brachte ihn zu neuen Selbsterkenntnissen. Zum ersten Mal in seinem Leben traf er hier Menschen, denen er sich unterlegen fühlte. Sogar in seinen Unterhaltungen mit den jungen Mädchen und deren Freundinnen mußte er allerhand Kunstgriffe anwenden, um die Mängel an Kultur und die bedeutenden Lücken in seinem Wissen zu verdecken. Insgeheim versuchte er denn auch, eilig das wieder einzuholen, was er an Allgemeinbildung versäumt hatte. Mit besonderem Eifer hatte er begonnen, Nathans Bücher zu lesen, die in diesen Kreisen oft besprochen und umstritten wurden. Auch seine sehr mangelhaften Sprachkenntnisse suchte er zu verbessern, um nicht beschämt dazustehen in einem Haus, wo selbst die jüngeren Kinder die drei europäischen Hauptsprachen mit großer Geläufigkeit beherrschten.

Wenn Per auch noch immer vor allem Nannys wegen das Haus besuchte, so zog er es doch mitunter vor, sich zu Frau Salomon und Jakobe zu setzen und sich mit ihnen zu unterhalten, denn dieses Gespräch schien ihm am belehrendsten zu sein. Vor allem vor Jakobe hatte er hohe Achtung bekommen. Mit gleicher Leichtigkeit konnte sie über alte griechische Philosophen und über die neueste Politik Bismarcks sprechen, und sie war dabei doch kein Blaustrumpf. Trotz des wenig angenehmen Eindrucks, den sie zuerst bei ihm hinterlassen hatte, und obwohl sie sich ihm längst nicht immer von ihrer liebenswürdigsten Seite zeigte, legte er besonderen Wert darauf, sich mit ihr über das zu unterhalten, was er gelesen hatte oder zu lesen beabsichtigte; und sie wiederum ließ sich wie durch eine Art Überrumpelung von seinem Interesse für Dr. Nathan entwaffnen, einen Mann, in dem auch sie die stärkste Persönlichkeit des Landes und den Verkünder einer neuen Zeit sah. Sie hatten hier ein Feld gefunden, auf dem sie sich im Einverständnis trafen und zu dem jeder auf seine Weise sich von dem hingezogen fühlte, was beide am tiefsten bewegte – der Haß gegen die Kirche, die Schatten auf ihre Jugend geworfen hatte. Per machte aus seinem Herzen keine Mördergrube. Mit naiver Offenheit sprach er über seine Gefühle, die ihm allmählich – zwar nicht ihre Sympathie, so doch ihre Nachsicht eroberten. In Wirklichkeit bestimmte sie zu dieser Zeit seine Entwicklung mehr, als sie es selbst ahnte. Doch auch Per begriff nicht den Einfluß, den ihre überlegene Persönlichkeit allmählich auf ihn gewann. Bei allem Respekt vor ihr verstand er deswegen auch nicht recht die außerordentlichen Huldigungen, die ihr von bestimmten Seiten zuteil wurden, zum Beispiel an den großen Empfangsabenden, bei denen viele hervorragende Männer der liberalen Partei anwesend waren. Während Nanny dann ausgelassen durch die Zimmer tollte, die Literaten Balling und Poul Berger als eine Art Narrengefolge hinter sich, versammelte Jakobe trotz ihres gemessenen, manchmal sogar schroffen Wesens die Spitzen der Gesellschaft um ihren Sessel, die wirklichen Berühmtheiten, Universitätsprofessoren und zahlreichen angesehenen Ärzte, die in der damals schon recht einflußreichen Fortschrittspartei der Hauptstadt eine bedeutungsvolle Rolle spielten. Einmal hörte Per, wie einer dieser Männer mit Bedauern davon sprach, daß eine Frau mit so viel Geist und Kenntnissen nicht gewillt zu sein scheine, einen Mann glücklich zu machen. »Mit wem sollte sie sich im übrigen auch verheiraten?« hatte der Betreffende hinterher selbst eingewendet. »Sie hat in ihrem Wesen so viel von einer Königin, daß sie wenigstens einen Prinzen bekommen müßte. Der langweilige Eybert ist jedenfalls nichts für sie.« Diese Worte – wenn auch im Scherz gesagt – machten auf Per einen nachhaltigen Eindruck und beeinflußten ihn nach und nach auch bei der Beurteilung ihres Äußeren. Er mußte zugeben: Sie hatte eine stolze Haltung, und das Profil ihres Gesichts erinnerte mehr an einen Adler als an einen Papagei. Seinem Blick erschloß sich die Schönheit ihres leichten und doch sehr sicheren Gangs, ihres eigenartig raubtierhaft lautlosen Schritts. Er nahm plötzlich wahr, mit wieviel Anmut sie sich in einen Sessel sinken ließ. Ja selbst ihre hastigen Bewegungen, wenn sie sich die Nase putzte, erschienen ihm auf einmal sehr würdevoll.

Eines Abends waren sie zufällig für einige Augenblicke allein in der Bibliothek. Nanny befand sich auf einer Gesellschaft und wurde erst in einer Stunde zurückerwartet; Per war absichtlich geblieben, um ihre Rückkehr abzuwarten. Sie saßen einander an dem großen achteckigen, mit Perlmutter eingelegten Tisch gegenüber. Die Lampe stand zwischen ihnen, ihr gelbseidener Schirm spiegelte sich in der dunklen Tischplatte. Jakobe hatte die Wange in die Hand gestützt und blätterte in einem Bildband. Eine Zeitlang hatten sie nicht gesprochen, als Jakobe plötzlich die Frage an ihn richtete, wie es eigentlich gekommen sei, daß er – obwohl er einer ausgeprägt geistlichen Familie angehöre – Lust verspürt hatte, einen praktischen Beruf zu ergreifen und Ingenieur zu werden.

»Haben Sie etwas gegen diesen Stand?« fragte er ausweichend.

»Ja aber – warum denn?« entgegnete sie überrascht und erläuterte mit wachsender Wärme die Bedeutung, die das bahnbrechende Ingenieurwesen des Jahrhunderts sicher einst für die Befreiung der Menschheit haben würde. Wenn sich die Entfernungen zwischen den Ländern mit Hilfe von Eisenbahnen, Telegrafen und Dampfschiffen mehr und mehr verringerten, glichen sich auch damit die nationalen Verschiedenheiten aus, womit der entscheidende Schritt getan sei zur endgültigen Verwirklichung des alten Menschheitstraums von einem brüderlichen Verständnis zwischen allen Völkern der Erde.

Bei diesen Worten blickte Per einige Male verstohlen zu ihr hinüber und errötete ein wenig. Er selbst hatte seine Tätigkeit nie von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, war aber außerordentlich befriedigt, sein Kanalprojekt in den Dienst dieser erhabenen Idee gestellt zu sehen.

So erging es ihm übrigens stets mit Jakobe. Mit ihren Worten war es wie mit Nathans Büchern; sie konnten für Sekunden gleichsam wie Blitze ferne und fremde Gedankenfelder beleuchten, daß sie wie eine lockende Offenbarung wirkten. – Wie klug sie ist! dachte er oft, wenn er ihr gegenübersaß und ihre seltsamen sphinxartigen Züge betrachtete; dann hatte er mitunter ein märchenhaftes Gefühl, als säße eine jugendliche Sibylle vor ihm. In solchen Momenten wuchs sie ins Übernatürliche, wurde die unergründliche Wächterin der Weisheit selbst.

»Ich wünschte, ich kennte Sie schon seit langem, gnädiges Fräulein.« Obwohl er sich bemühte, seiner Stimme ein wenig mehr Heiterkeit zu geben, hörte er sehr wohl, wie kläglich das klang. Jakobe lächelte denn auch auf eine Art, die für ihn nicht sehr schmeichelhaft war. Trotzdem fuhr er fort: »Ja, das war natürlich dumm ausgedrückt. Es ist trotz allem wahr. Ich habe wirklich das Empfinden, als ob ich erst jetzt Mensch werde. Und Sie, gnädiges Fräulein, haben daran ein klein wenig Anteil . . . ob Sie es nun wahrhaben wollen oder nicht.«

»Was für eine Art Geschöpf glauben Sie denn früher gewesen zu sein?«

Es dauerte eine Weile, ehe er antwortete: »Erinnern Sie sich noch aus Ihrem dänischen Lesebuch an eine Sage von einem Bergkobold, der durch einen Maulwurfshügel an die Erdoberfläche kroch, um unter Menschen zu leben, aber jedesmal, wenn die Sonne durch die Wolken brach, schrecklich niesen mußte? – Oh, ich könnte Ihnen eine lange Geschichte davon erzählen!«

Und wie sie so beieinandersaßen, begann er ihr etwas von seinem Allerinnersten zu erschließen. Seinem Drang nach einem Vertrauten nachgebend, berichtete er ihr – wenn auch halb im Scherz – von seiner Kindheit und seinem gespannten Verhältnis zum Elternhaus.

Jakobe hatte bereits früher durch Ivan davon gehört. Sie wurde ein wenig ängstlich bei dieser plötzlichen Offenherzigkeit und forderte ihn nicht auf fortzufahren.

Nun wurden sie auch von Onkel Heinrich unterbrochen, der aus der Vorhalle hereinkam. Der alte Sünder versäumte selten eine Gelegenheit, seine Nichten in großer Toilette zu sehen. Seine erste Frage galt denn auch Nanny.

Im selben Augenblick hörte man, wie der Wagen in den Torweg rollte, und gleich darauf rauschte Nanny zur Tür herein.

Als sie Per entdeckte, blieb sie stehen und ließ mit berechnender Langsamkeit ihre weiße Pelzstola von den entblößten Schultern gleiten.

Per hatte sich erhoben und betrachtete sie ein wenig verwirrt.

Ja, wahrhaftig, sie besaß einen schönen Körper, wie sie dort vor ihm stand in einem weißen, tief ausgeschnittenen Seidenkleid, noch erhitzt von der Wärme der Gesellschaftssäle, die Augen vor Festfreude strahlend. Und doch – als er den Blick zur schwarzgekleideten Gestalt der Schwester gleiten ließ, die am Tisch saß, die Hand nachdenklich unterm Kinn, umflossen vom ruhigen Licht der Lampe, da erkannte er, wie gut Jakobe den Vergleich aushielt.

Ganz eigenartig war ihm zumute, als er sich kurze Zeit später verabschiedete und langsam heimwärts ging. Und mitten auf der Straße blieb er stehen und sagte halb erschrocken zu sich selbst, wobei er den Hut aus der Stirn schob: »Ja aber – du großer Gott! Ist es denn möglich, daß ich Jakobe liebe?«


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