Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Viertes Kapitel

Eine Woche später stieg an einem dunklen, nebligen Abend ein schmächtiger graugekleideter Herr aus der Straßenbahn am Grønningen, ging an der Husarenkaserne vorbei und weiter über den langgestreckten dreieckigen Markt vor Nyboder. Die eine Hand hielt er auf dem Rücken, mit der anderen umfaßte er den Griff eines Regenschirms, den er bei jedem Schritt kräftig auf das Pflaster stieß. So ging er schnell und taktfest am Viertel von Nyboder entlang und untersuchte beim schwachen Schein der Laternen die Namenschilder an allen Straßenecken.

Als er an der langen Reihe der Straßen vorbei war, ohne die gesuchte gefunden zu haben, und in der verlassenen Gegend keinen Menschen sah, den er hätte fragen können, bog er aufs Geratewohl um eine Ecke und verirrte sich nun völlig in den vielen ganz und gar gleichartigen Gäßchen, aus denen Nyboder bestand. Alle Fenster der tiefliegenden Erdgeschosse waren mit Läden verschlossen, aus deren kleinen runden oder herzförmigen Gucklöchern nur ein schwacher Lichtschimmer fiel; und Laternen gab es hier noch weniger als auf dem Marktplatz. Hinter den Fensterläden ging es allerdings recht lebhaft zu. Überall hörte man Stimmengewirr, Kindergeschrei und hier und da Harmonikaklänge. Draußen auf der Straße konnte man sehr deutlich jedes Wort verstehen. Hier ging eine Tür auf, und eine Frau in Nachtjacke leerte einen Topf in den Rinnstein, oder ein kleiner Hund wurde einen Augenblick hinausgelassen. Dort streunten ein paar Katzen umher und führten Liebesduette auf.

Als der graugekleidete Herr endlich ein paar Leuten begegnet war, sie gefragt und die Hjertensfrydgade gefunden hatte, setzte er hier seine Untersuchungen fort. Er ließ Streichhölzer aufflammen und las bei ihrem Schein die Nummern über den Türen ab, bis er endlich an das Haus geriet, wo Per wohnte. Er tastete zuerst nach dem Glockenzug; doch als er keinen fand, machte er sich an der altmodischen Türklinke zu schaffen. Endlich fand er heraus, wie die Tür geöffnet wurde, und betrat den kleinen Hausflur, in dem es jedoch so dunkel war, daß er die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Um irgendeinen der Bewohner herbeizurufen, räusperte er sich mehrmals kräftig.

Da ging die Tür der Wohnung im Erdgeschoß auf, in der eine jüngere Schiffszimmermannsfamilie lebte. Über den glattgekämmten Scheitel einer Frau, die mit einem Kind an der Brust heraussah, strömte das Lampenlicht dem Fremden entgegen und hob aus dem Dunkel ein junges, längliches und blasses Gesicht mit rotumränderten Augen und einem kleinen Backenbart hervor.

»Wohnt hier nicht Herr Sidenius?« fragte der Graue ohne jeden Gruß.

»Ja, drüben im Hinterzimmer. Aber er ist nicht zu Hause.«

»So! Sind Sie vielleicht seine Wirtin?«

»Nein, er wohnt bei Olufsens. Ich rufe gleich mal die Madam.«

Im selben Augenblick knarrte die steile Treppe unter gewichtigen Schritten, und Madam Olufsen, die hinter ihrer Tür gestanden und gelauscht hatte, erschien in der Treppenöffnung, eine kleine Blechlampe in der Hand.

»Möchte der Herr mit Herrn Sidenius sprechen?« erkundigte sie sich.

»Ja, aber er ist wohl nicht zu Hause«, antwortete der Fremde in einem Ton, als wolle er sie dafür verantwortlich machen, daß er vergeblich gekommen war. »Meinen Sie, es könnte nützen, wenn ich auf ihn warte?«

»Nein, das glaube ich nicht. Es ist noch nicht lange her, seit er weggegangen ist.«

»Um welche Tageszeit kann ich ihn Ihrer Meinung nach am besten antreffen?«

»Ja, wissen Sie, zur Zeit ist er nicht viel zu Hause. Sonst könnten Sie ihn, mein ich, am sichersten in der Dämmerstunde treffen.«

»Danke. Auf Wiedersehen!«

»Von wem soll ich grüßen?« wollte Madam Olufsen wissen.

Aber der Fremde war schon zur Tür hinaus. Man hörte, wie sich seine festen Schritte und das Aufstoßen des Regenschirms die Straße hinab verloren.

»Bestimmt war das ein Pastor!« sagte die kleine Frau des Schiffszimmermanns betroffen. »Was der wohl von dem Herrn Ingenieur wollte?«

Doch Madam Olufsen war in diesem Augenblick nicht sehr geneigt, sich über ihren Mieter zu äußern. Sie sagte kurz gute Nacht und verschwand in ihre Stube.

Hier saß der Oberbootsmann, hatte seine große silberne Brille auf der Nase und las in dem Buch »Der entlaufene Negersklave oder Der Schiffbruch an der Malabarküste«. Das war ein Roman in vierzehn Bänden, den er jeden Winter von Madam Jordan mitbrachte und immer wieder mit derselben Bewunderung und Spannung studierte.

»Da war wohl einer, der mit Sidenius sprechen wollte?« fragte er, ohne die Augen vom Buch zu heben.

»Ja«, entgegnete die Madam. Fröstelnd zog sie ihr kleines Tuch fester um die Schultern, warf eine Schaufel voll Torf auf das Feuer im Ofen und setzte sich mit ihrem Strickzeug in den Lehnstuhl. Weder sie noch ihr Mann waren in diesen Tagen sehr gesprächig. Beide kamen nicht darüber hinweg, daß sich ihr Mieter in letzter Zeit zu seinem Nachteil verändert hatte. Auch früher hatte er manchmal reichlich gebummelt, doch die Zechtouren, über die er sich damals selber lustig gemacht hatte, waren nie von langer Dauer gewesen. Jetzt hingegen war er seit beinahe drei Wochen nur noch selten zu Hause, und wenn sie ihn sahen, war er schweigsam, verschlossen und unzufrieden mit allem. Ja, er hatte sogar von einem Umzug gesprochen. Er verkehrte auch wohl kaum in der besten Gesellschaft, falls es wahr war, was er eines Tages angedeutet hatte, daß er den Königlichen Ministerialrat gekannt habe, der sich kürzlich vergiftet hatte und über den so viel in den Zeitungen zu lesen stand.

Zudem hatten die beiden Alten diesmal noch einen anderen Grund, sich zu beklagen. In letzter Zeit hatten sie ihre Miete nicht bekommen. Außerdem rannten ihnen täglich zudringliche Personen die Tür ein mit Rechnungen von Schustern und Schneidern, denen ihr Mieter Geld schuldete.

»Wer war denn das, der vorhin mit Sidenius sprechen wollte?« fragte der Oberbootsmann endlich.

»Hab ihn nicht gekannt. Aber mir ist beinahe, als hätte ich ihn hier schon einmal gesehen, vor langer Zeit. Ich glaube, Sidenius sagte damals, es wäre einer aus der anderen Welt. Aber so amerikanisch sah er eigentlich gar nicht aus.«

In diesem Augenblick wartete Per auf Frau Engelhardt in derselben dunklen Ecke am Frue Plads, wo er schon einmal ihretwegen ausgeharrt hatte. Seine Hoffnung, daß sie kommen würde, war diesmal begründeter. Zwar hatte er sie seit dem Ballabend nicht gesehen – sie hatte ihm streng verboten, ihr auf der Straße aufzulauern oder zu versuchen, mit ihr auf andere Weise in Verbindung zu treten –, aber heute reiste ihr Mann nach London. Per hatte am Vortag eine Karte mit den Worten »morgen abend« erhalten. Die Unterschrift fehlte. Nun nahm er an, daß Ort und Stunde dieselben sein müßten wie neulich.

Übrigens hatte er an diesem Morgen ein anderes Schreiben bekommen, das ihn fast noch mehr beschäftigte als dieses so ungeduldig erwartete Rendezvous. Neergaards Rechtsanwalt hatte ihm zu seiner größten Bestürzung mitgeteilt, sein Klient habe ihm in einem hinterlassenen Brief, der seinen Letzten Willen enthielt, »die Summe vermacht, die durch eine im Testament nicht näher bestimmte öffentliche Auktion des Besitzes des Verstorbenen erzielt werde«. Das Testament sei, hieß es in dem Brief, im Grunde ungültig, weil es nicht nach den gesetzlichen Bestimmungen aufgesetzt war. Da aber die beiden Schwestern und einzigen rechtmäßigen Erben des Verstorbenen wohlhabend verheiratet seien, liege kein Grund vor, anzunehmen, daß diese, die sich gegenwärtig beide im Ausland aufhielten, die Anordnung des Dahingegangenen nicht anerkennen würden. Der Rechtsanwalt ersuchte Per daher in seiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker um eine Unterredung, falls er einmal an seinem Büro vorbeikommen sollte.

Per war sich noch nicht darüber im klaren, was er in der ganzen Angelegenheit tun sollte. Im ersten Augenblick hatte er sich äußerst unangenehm berührt gefühlt. Bei all seinem fatalistischen Glauben an seinen Bund mit dem Glück und obwohl ihm das Geld wahrhaftig gerade jetzt in den Schoß fiel, da er es bitter nötig hatte, konnte er sich doch nicht dazu entschließen, dieses Ergebnis einer Selbstmörderlaune als eine vom Himmel gesandte Hilfe zu betrachten. Andererseits schien es ihm unverantwortlich, auf eine so bedeutende Summe zu verzichten, die ihn auf lange Sicht aller Schwierigkeiten entheben würde. Von dem Geld, das er sich geliehen hatte, war schon jetzt nicht mehr viel übrig; und der größte Teil seiner Garderobe war noch gar nicht bezahlt.

Doch jetzt rollte eine geschlossene Droschke aus einer Seitenstraße heran. Eine Hand im hellen Handschuh erschien in der Fensteröffnung. Im selben Augenblick sprang Per hinzu, hielt den Wagen an, riß die Tür auf, rief dem Kutscher den Namen eines erstklassigen Restaurants am Kongens Nytorv zu und stieg ein.

Während der Fahrt erlebte er gleich eine ziemlich herbe Enttäuschung. Er hatte erwartet, Frau Engelhardt nervös und unruhig zu finden, sie erröten zu sehen, trotz ihres Pelzmantels zitternd und bebend vor Angst und Scham. Sogar auf einige beruhigende Worte hatte er sich vorbereitet, die ihre Scheu überwinden sollten. Doch er sollte gar keine Verwendung für seine Verführungskünste haben. Kaum hatte er Platz genommen und ihr für ihr Kommen gedankt, als sie sich auch schon wie eine Dirne auf seinen Schoß warf und sich mit einer Heftigkeit an ihn preßte, daß ihm fast der Atem verging.

Als sie die hell erleuchtete Treppe zum Restaurant hinaufgingen, verhüllte sie allerdings ihr Gesicht; nachdem sie jedoch von dem Kellner und einem Pagen in einen der kleinen intimen Gästeräume geführt worden waren, warf sie schnell Hut und Mantel ab, ohne sich vor diesen Fremden zu genieren. Während sich Per ein wenig unbeholfen in der neuen Situation benahm, schien sie sich hier wie zu Hause zu fühlen. Sie ordnete ihr Haar vor dem Spiegel, zog die Handschuhe aus und setzte sich in ihrer ganzen Breite auf das Sofa hinter dem gedeckten Tisch.

Per nahm schweigend ihr gegenüber Platz. Es war ihm klar, daß sie sich nicht zum ersten Mal an einem solchen Ort befand. Er glaubte sogar ziemlich sicher ein beherrschtes Lächeln des Wiedererkennens auf dem backenbärtigen Gesicht des Kellners bemerkt zu haben, als sie eintraten.

»Warum sehen Sie mich so an?« fragte sie, als sie allein waren. Sie neigte kokett den Kopf zur Seite und lächelte ein wenig zu jugendlich. »Du lieber Gott, Sie mustern mich ja förmlich! Ist meine Toilette etwa nicht in Ordnung?«

Frau Engelhardt sah auf ihren Busen herab, der aus dem viereckigen Ausschnitt hervorquoll. Sie trug ein schwarzes Kleid, war stark geschnürt, breit über der Brust, aber schlank in der Taille wie ein junges Mädchen.

»Nun, so reden Sie doch, Mensch! Sie sind ein schrecklicher Bär. Was ist Ihnen denn nur in die Quere gekommen. Gleich bekommen Sie eins auf die Nase!«

Um sich ein Wurfgeschoß zu verschaffen, begann sie einige der roten Blüten aus dem Tafelaufsatz herauszupflücken. Per richtete seine Augen auf ihre Hände. Bleich vor Erregung, betrachtete er deren rundliche Formen, die weißen weichen biegsamen Finger, die perlmuttartigen Nägel und die kleine Reihe von Grübchen, die sich bei jeder Bewegung über den rosaroten Knöcheln öffneten und schlossen wie winzige kußlustige Münder. Im Flug ergriff er die Blüte, die sie ihm zugeworfen hatte, und gleichzeitig faßte er ihre Hand und wollte sie über den Tisch an seinen Mund führen – als im gleichen Augenblick die Tür aufgerissen wurde und der Kellner mit seinem Gehilfen erschien, um die Speisen aufzutragen.

Nun wurde Champagner eingeschenkt, und die Schüsseln wurden aufgedeckt. Als sie wieder allein waren, erhob Per lächelnd sein Glas und trank ihr zu. Ein paar weitere Gläser folgten und verscheuchten bald seine Verstimmung. Zum Teufel auch – sagte er sich –, was ging ihn denn ihre Vergangenheit an? Die Hauptsache war doch, daß sie jetzt ihm gehörte, sein Eigentum, seine Eroberung war.

Beim Dessert begann er von Neergaards Selbstmord zu reden. Er vermutete, der Mann müsse geisteskrank gewesen sein. Schließlich gestand er offen ihre nächtliche Zusammenkunft in Neergaards Wohnung. Er sprach von dem krankhaft nervösen Zustand, in dem Neergaard bei dieser Gelegenheit sein Testament machte, ohne daß er damals begriff, was vorging. Er plauderte auch aus, daß das Gerücht zu berichten wußte, eine Frau sei mit im Spiel gewesen. Einer seiner Bekannten, der sein Wissen von Neergaards Wirtsleuten haben wollte, hatte von einer schwarzhaarigen Dame erzählt, die ihn jahrelang besuchte und sich am Abend vor dem Begräbnis Zutritt zur Leichenhalle verschaffte und eine Flut von Rosen über Neergaards Sarg streute.

Während Per sprach, saß Frau Engelhardt sinnend da, hatte den Ellenbogen auf den Tisch gestützt und ließ die Spitze ihres kleinen Fingers über den Rand des Weinglases gleiten. Ihr Gesicht verriet, daß sie halb abwesend war. Es sah aus, als lauschte sie höflich, aber ohne sonderliches Interesse einer etwas langweiligen Erzählung. Erst als Per darauf verfiel, sich in Neergaards Vergangenheit zu vertiefen und wiederzugeben, was er von dessen unterbrochener diplomatischer Laufbahn gehört hatte, zeigte sie Zeichen der Ungeduld. Sie nahm eine Traube von der Obstschale, tauchte sie in ihren Wein und begann daran zu saugen. Dann unterbrach sie ihn, sich entschuldigend, mit einer Frage nach etwas ganz anderem, das ihr »plötzlich eingefallen sei«, und bat ihn, nach dem Kellner zu läuten und den Kaffee bringen zu lassen. Als Per noch immer nicht geneigt schien, das Thema fallenzulassen, erhob sie sich resolut, sagte »Gesegnete Mahlzeit« und trat an das geöffnete Klavier.

»Was soll ich spielen?« erkundigte sie sich, nachdem sie das Instrument mit ein paar schnellen Läufen über die Tasten probiert hatte. »Kennen Sie das?« fragte sie, und ein Schwall falscher Töne wurde aus der Tiefe des Klaviers hervorgehämmert. – »Waldtraum«, erklärte sie mitten im Spiel.

Per wurde von neuem schweigsam und verschlossen. Ihm fiel auf, daß sie nicht mehr Interesse für einen unglücklichen Menschen zeigte, der doch zu ihrem Umgang gehört hatte und ihr demütiger Bewunderer gewesen war, ja sogar ihr Ballkavalier in jener Nacht, ehe er sich das Leben nahm. Wie etwas unbestimmtes Schwarzes und Unheimliches regte sich in seinem Bewußtsein der Verdacht: War Neergaard ihr etwa mehr gewesen? War ihre Gleichgültigkeit nur Verstellung? Doch er hatte keine Zeit, den flüchtigen Gedanken aufzugreifen und zu verfolgen. Beunruhigt durch sein Schweigen, hatte Frau Engelhardt plötzlich ihr Spiel unterbrochen und war aufgestanden. Von hinten schlang sie jetzt ihre Arme um seinen Hals und bog seinen Kopf hintenüber, so daß sich ihre Augen trafen. Nein, das ist unmöglich! dachte Per, als er das Lächeln in ihrem Blick gewahrte. Nun bedeckten zärtliche, betörende Küsse seine Stirn, sein Haar und seine Augen – bis ihre Lippen in plötzlicher Wildheit seinen Mund suchten und sich dort festsogen. Dann flüsterte sie ihm etwas ins Ohr, und er erhob sich. Ohne auf den Kaffee zu warten, zog sie sich selbst den Mantel an, während Per die Rechnung beglich, worauf sie hinabeilten und in die herbeigerufene Droschke stiegen. Eng umschlungen und Mund an Mund fuhren sie zu einem Hotel, wo sie sich als Herr und Frau Svendsen aus Aarhus eintragen ließen.

Doch wieder und wieder peinigte ihn im Laufe der Nacht, als er in dem halberleuchteten Hotelzimmer wach lag, der schwarze Verdacht von neuem und legte sich auf ihn wie ein Alptraum. In Gedanken durchlebte er noch einmal jene nächtlichen Stunden in Neergaards Wohnung, erinnerte er sich der Worte, die gesprochen wurden und denen er damals keine Bedeutung beigemessen hatte. Und allmählich durchschaute er alles mit unheimlicher Klarheit: die Frau, die dort an seiner Seite schlief, gehörte auch zu dem Nachlaß, den Neergaard ihm vererbt hatte – ja, sie war das »Schicksal« dieses Mannes gewesen und hatte ihn durch ihre Undankbarkeit in den Tod getrieben.

Und er – er selbst – war mitschuldig!

In seiner Erregung wollte es ihm scheinen, als bewege sich der Schatten des Toten durch das Zimmer. Überall tauchte aus dem Halbdunkel sein kahler Kopf auf und sah ihn mit spöttischer Wehmut an. Und da, an seiner Seite, lag sie – die Mörderin, die heimlich Neergaards Sarg mit Rosen geschmückt hatte. Wer konnte das verstehen? . . . Ruhig wie ein Kind in der Wiege schlief sie mit langen, regelmäßigen Atemzügen. Während ihr Mann dem Meer preisgegeben war und noch bevor die Leiche ihres Liebhabers im Sarg zu zerfallen begann, lag sie schon in den Armen eines anderen. Und er – er selbst – war ihr Mitschuldiger!

Ekel und Entsetzen erfaßten ihn. Er konnte nicht liegenbleiben. Er mußte hier heraus, mußte fort.

Im selben Augenblick drehte sich Frau Engelhardt schwerfällig im Bett herum, reckte die Arme über den Kopf und sagte halb im Schlaf: »Bist du auf?«

Er antwortete nicht. Der bloße Klang ihrer Stimme ließ ihn schaudern. Sie mühte sich vergeblich, die Augen zu öffnen. Nach einem matten Versuch zu lächeln schlief sie wieder ein.

In aller Eile kleidete sich Per an. Lautlos wollte er verschwinden, ohne Abschied. Unten beim Portier wollte er einen Zettel schreiben, nur mit einem einzigen erklärenden Wort: Neergaard.

Als er den Mantel angezogen hatte und am Fußende des Bettes stand, um davonzuschleichen, blieb sein Blick noch einmal an der halbentblößten Gestalt hängen, die da in unschöner Stellung unbeweglich auf dem Rücken lag, beide Hände unter dem Nacken, ein Knie angezogen. Die schmalen Träger, die das Hemd halten sollten, waren herabgeglitten, so daß die gelblichweißen Fleischmassen ihrer Brust unbedeckt waren. Über das Kopfkissen floß das dunkle Haar in wilder Unordnung; der Kopf war gesenkt und das Gesicht bleich vor Ermattung.

Pers Herz klopfte heftig. Seine Knie zitterten. Er konnte sich von diesem Anblick nicht losreißen. Trotz allen Ekels und Grauens wurde er von neuem mächtig angezogen von diesen großen weißen Fangarmen, diesem schwellenden Busen, von diesen halbgeöffneten Lippen, die noch von den Küssen der Umarmung glühten. Ihn schauderte fast vor sich selbst. Er, für den es Widersprüche und innere Kämpfe bisher nicht gegeben hatte, für den die Frau ein ganz ungefährliches Spielzeug gewesen, er zitterte auf einmal vor den dunklen Mächten, die ihr Spiel mit Geschicken und Willen trieben wie der Sturm mit dem Staub der Landstraße. Zum ersten Mal fühlte er sich im Kampf mit Dämonen, an die er nie hatte glauben wollen, über die er überlegen gelächelt hatte. In seinen Ohren tönten mit der gebieterischen Stimme des Vaters die halbvergessenen Worte von der »Macht der Finsternis« und von den »Schlingen des Satans« und ließen ihn erblassen.

Doch nun schlug Frau Engelhardt ihre großen braunen Augen auf, geweckt durch sein beständiges Starren. Noch halb im Schlaf, strich sie sich die Haarsträhnen aus der Stirn und richtete sich auf.

»Was? . . . Du bist angezogen?«

Er antwortete nicht.

»Ist es schon Morgen?«

Er schwieg noch immer.

»Aber was soll das heißen? Bist du krank?«

»Nein . . . noch nicht!«

»Noch nicht? Was meinst du damit? Du schaust mich so seltsam an. Was fehlt dir?«

»Ich meine . . . ich möchte mich dagegen sichern, krank zu werden . . . todkrank . . . so wie Neergaard.«

Ihr Gesicht war plötzlich wie vom Blitz verheert. Doch im nächsten Augenblick lächelte sie. Obwohl sie ganz blaß geworden war, sagte sie völlig beherrscht: »Was ist das für ein Unsinn! Was haben Sie mit . . . der Krankheit Ihres Freundes zu tun? Benehmen Sie sich doch vernünftig!«

»Es freut mich, daß Sie sich scheuen, seinen Namen hier an diesem Ort auszusprechen. Aber das entlarvt Sie auch, und ich will jetzt deutlicher werden. Als Sie schliefen, ist mir klargeworden, daß Sie Neergaards Geliebte gewesen sind und daß Sie ihn durch Ihre Falschheit und Treulosigkeit in den Tod getrieben haben. Verstehen Sie mich jetzt?«

Sie hielt den Kopf gesenkt und biß sich in ihre zitternde Lippe. »Gehen Sie!« sagte sie leise, aber befehlend und zog einen Zipfel des Lakens über ihre Brust. »Gehen Sie, sage ich . . . Sie Bauernlümmel!«

Per beugte sich vor, um ihr das Wort »Dirne« ins Gesicht zu schleudern, doch er besann sich. Das Gefühl, mitschuldig zu sein, hielt ihn zurück, und er wandte sich schweigend ab und ging.

Unten am Empfang weckte er den Nachtportier und beglich seine Rechnung. Während er das Geld vorzählte, dachte er daran, daß nun keine Rede mehr davon sein könne, Neergaards Geschenk anzunehmen. Dann ging er schnell heimwärts durch die dunkle öde Stadt.

Es war jene kurze Zeit der Nacht, da die Straßen leer sind und die Schritte der Menschen an den Häusern widerhallen. Die letzten Zechbrüder waren nach Hause geschwankt, und die Polizisten hatten sich in ihre Plauderecken zurückgezogen. Nur die Diebe und die Nachzügler aus den berüchtigten Kneipen waren noch unterwegs.

Ein Herr mit hochgeschlagenem Rockkragen, den Hut tief über die Ohren gezogen, hastete gerade aus einem dieser Schlupfwinkel heraus und eilte unter einer Laterne an Per vorüber. Und er, der sich sonst über den zugleich herausfordernden wie schuldbewußten Gesichtsausdruck dieser nach Hause schleichenden Sünder belustigt hatte, wandte sich diesmal ab, um dem Anblick zu entgehen. Wie mochte er selbst wohl aussehen? Er hatte nicht den Mut, dem Spiegelbild seiner eigenen Erniedrigung zu begegnen.

Als er zu Hause in der Hjertensfrydgade anlangte, empfand er ein seltsames Wohlbehagen, ein unbekanntes Gefühl der Sicherheit, wieder in den beiden kleinen Kammern zu stehen, an denen er in letzter Zeit so viel bemängelt hatte. Schnell zog er sich aus, und als er sich ins Bett legte, geschah das mit demselben Gefühl, mit dem er als Kind die Decke über die Ohren zog, wenn er im Dunkeln gesessen und den Gespenstergeschichten des alten einäugigen Dienstmädchens daheim im Pfarrhaus gelauscht hatte.

 

Nach einigen Stunden Schlaf mit unruhigen Träumen weckte ihn das Pfeifen eines Stars draußen im Garten. An dem Ton konnte er erkennen, daß sonniges Wetter war. Trotzdem blieb er liegen, er mochte nicht aufstehen. Er war müde. Und wozu sollte er wohl aufstehen? Er versäumte ja nichts, wenn er im Bett blieb.

Seine halbwachen Gedanken beschäftigten sich für einen Augenblick mit dem Inhalt der oberen Schublade seiner Kommode. Aber dann drehte er sich wieder zur Wand, um weiterzuschlafen.

Das gelang ihm jedoch nicht. Sobald er an jene unglückseligen Zeichnungen dachte, war er sofort hellwach. Etwa eine Stunde lag er regungslos, die Hände unter dem Nacken verschränkt, und starrte zu der niedrigen morschen hölzernen Decke empor, deren Ölanstrich viele Blasen geworfen hatte. Und als er in dieser nüchternen Morgenstimmung die Erlebnisse der Nacht durchging, begann er sich seines Verhaltens doch ein wenig zu schämen. Er hatte sich ziemlich unreif betragen. Auf jeden Fall verlangte selbst eine Dame wie Frau Engelhardt gewisse Rücksicht . . .

Als Per aufgestanden war und seinen Kaffee getrunken hatte, war ihm klar, daß er eine Dummheit begangen hatte. Er hatte die Angelegenheit viel zu ernst genommen, war überhaupt recht überspannt gewesen. Hatte er etwa ein wenig zu reichlich getrunken?

Nichtsdestoweniger empfand er noch immer jenes eigenartige Behagen, zu Hause zu sein, das er so lange nicht mehr gekannt hatte. Er zündete sich eine Pfeife an und wiegte sich leise in seiner Ruine von Schaukelstuhl. Dabei betrachtete er eines der kleinen Häuser in der benachbarten Straße, dessen Fenster zu ebener Erde er über den Bretterzaun hinweg sehen konnte. In einem der Fenster erblickte er ein paar rotwangige Kinder und eine Frau, die Strümpfe stopfte. Draußen an der sonnenbeschienenen Mauer hing ein grüngestrichenes Bauer mit einem Zeisig. Es war Per nicht bewußt, was ihn da drüben eigentlich anzog. Es war dasselbe kleine Bild sicheren und ruhigen Alltagsglücks, das er hier seit vielen Jahren vor Augen hatte. Doch an diesem Morgen lag über allem gleichsam etwas Neuartiges; ihm war, als sehe er alles zum ersten Mal.

Als es an die Tür klopfte, fuhr er nervös zusammen.

Madam Olufsen trat ein, um von dem Herrn zu berichten, der am vorhergehenden Abend dagewesen war und nach ihm gefragt hatte.

»Was für ein Herr war es denn?«

»Ja, ich weiß nicht, aber er sah nicht gerade angenehm aus. Übrigens, ich glaube fast, er war schon einmal da.«

Wahrscheinlich ein Gläubiger, dachte Per, und die Frage, wie er es mit der Neergaardschen Erbschaft halten sollte, meldete sich wieder und beunruhigte ihn. Würde er es jetzt überhaupt verantworten können, auf das Geld zu verzichten, das er doch so bitter nötig hatte?

Madam Olufsen war in der offenen Tür stehengeblieben, die sie mit ihrer großen, beleibten Gestalt fast ganz ausfüllte. Sie hatte noch mehr auf dem Herzen.

»Und dann wollte ich auch gern wissen, wie das wird, Herr Sidenius. Sie haben ja davon gesprochen, daß Sie ausziehen wollen.«

Per lächelte ein wenig verlegen. »Na, so ernst war das nicht gemeint. Nein, ich bleibe hier, Madam Olufsen! Das heißt, wenn Sie mich noch haben wollen!«

»Aber ja . . . natürlich . . . das heißt . . .«

»Nun, Sie scheinen Ihre Bedenken zu haben . . . Ja, das kann ich mir gut erklären. Ich bin in letzter Zeit ein wenig leichtsinnig gewesen. Reden wir nicht mehr davon. Aber mein Gott – was ist denn los, Madam Olufsen? Sie sind ja schon am frühen Morgen in vollem Staat. Wollen Sie zum Abendmahl gehen?«

»Nein, aber – wissen Sie das denn nicht? Schiffer Mortensen ist doch vorgestern angekommen. Und nun wollen wir ihn heut nachmittag mal besuchen.«

»Ich komme mit. Wir treffen uns auf dem Schiff. Ich habe wirklich Sehnsucht danach, den Alten wiederzusehen!«

»Irren Sie sich da auch nicht, Herr Sidenius? Solche Belustigungen sind doch bestimmt nichts mehr für Sie!«

»Papperlapapp, Madam Olufsen! Nun werden Sie bloß nicht gleich spitz. Wie gesagt, wir treffen uns auf dem Schiff! Abgemacht?«

Madam Olufsen mußte lächeln, so schwer ihr auch ums Herz war. Nie konnte sie ihm widerstehen, wenn er gute Laune hatte.

»Jaja!« sagte sie. »Sie wissen, bei Mortensen sind Sie immer willkommen. Er wird gleich vergnügt, wenn er Sie sieht. Ich meine fast, er hat an Ihnen einen Narren gefressen!«

Schiffer Mortensen war ein alter Freund des Hauses. Er wohnte in Flensburg und kam regelmäßig zweimal im Jahr mit seinem Schiff nach Kopenhagen, um Käse, Butter und Räucherwaren an Feinkostgeschäfte der Stadt und an einzelne persönliche Bekannte zu verkaufen. Wenn der Oberbootsmann bei seinem täglichen und gründlichen Studium der Schiffs- und Hafenliste im »Telegrafen« gelesen hatte, daß die »Karen Sofie« das Zollamt passiert habe und vertäut an der Börse liege, dann konnte er keine Ruhe finden, bis Tag und Stunde für einen Besuch festgelegt und Trine in die Stadt geschickt worden war, um den jungen Didriksen zu benachrichtigen. Auch er gehörte zu den Freunden der Familie. Er war Droschkenkutscher, wohnte in der Store Brøndstræde und hatte seit Jahren bei solchen Gelegenheiten sich und sein Fuhrwerk bereitwillig den Alten zur Verfügung gestellt.

Punkt drei Uhr hielt er auch diesmal vor dem Haus mit seinem Wagen, dessen Verdeck heruntergeklappt war und den er so blank geputzt hatte, als sei er für eine Großhändlerhochzeit in der Vor Frue Kirke bestimmt. Nach einigem Warten zeigte sich das betagte Ehepaar dem Dutzend Kinder aus der Nachbarschaft, das sich um die Kutsche versammelt hatte, und den weit mehr älteren Leuten, die diesem Triumphzug von Türen und Fenstern aus zusahen. Madam Olufsen trug einen Wiener Schal und eine große hellblaue Weintraube am Hut. Der Oberbootsmann war in seinem vornehmsten Beerdigungsstaat, die Medaille für fünfundzwanzigjährige treue Dienste und das Silberne Kreuz schimmerten unter dem aufgeknöpften Überrock hervor.

Während der Fahrt durch die Stadt erregte er wegen dieser Ehrenzeichen nicht geringes Aufsehen. Wie er so dasaß, weißhaarig und feierlich beide Hände fest auf den Horngriff des Regenschirms gelegt, erinnerte er an einen alten Admiral aus dem Anfang des Jahrhunderts. Ohne Zweifel hätte er auch dementsprechend Ehrfurcht hervorgerufen, wenn sich nicht der junge Didriksen – stolz auf diese Gesellschaft – jeden Augenblick umgedreht und ihn laut und vertraulich angeredet hätte.

Zuerst machten sie eine Rundfahrt durch die Altstadt, betrachteten die großen neuen Gebäude, die überall entstanden, die Reste der Festungswälle, die gerade geschleift wurden, und die neuen überdachten Omnibusse, die aus Frederiksberg kamen und in dem Menschengewühl der Østergade Elefanten mit Reitern auf dem Rücken glichen. Vom Kongens Nytorv bogen sie dann nach dem Kanal ein, hielten einen Augenblick vor der Holmens Kirke, wo sie vor zweiundfünfzig Jahren getraut worden waren, und langten schließlich am Börsenkai an.

Per war schon da. Er begrüßte sie von der Reling der »Karen Sofie« aus, wo er – ein wenig müde – gesessen hatte und sich von der Frühlingssonne bescheinen ließ. Der Schiffer, ein älterer Mann mit Vollbart, kam von Bord, um die Gäste zu empfangen.

Unten im offenen Lastraum, sozusagen im Magen der »Karen Sofie«, zu dem eine Leiter vom Deck hinabführte, war eine Art Laden eingerichtet. Da hingen im Halbdunkeln Schinken, Würste, geräucherte Hammelkeulen und mühlsteingroße Käse und schimmerten geheimnisvoll wie Märchenschätze in Aladins Höhle. Mit Pers und Schiffer Mortensens Beistand wurde Madam Olufsen die Leiter hinunter bugsiert. Danach folgte der Oberbootsmann, der sich hier auf dem Wasser als forscher alter Seemann zeigen wollte und deswegen jede Hilfe ablehnte. Er strauchelte jedoch schon bei der ersten Sprosse und hätte sich gewiß den Hals gebrochen, wenn ihn Schiffer Mortensen nicht in seinen Armen aufgefangen hätte. Trotzdem spottete der Oberbootsmann über den jungen Didriksen, der als letzter die Leiter hinabstieg und erst vorsichtig auf jeder Sprosse mit dem Fuß vorfühlte. »So krabbelt 'ne Laus auf 'm Kamm herum«, rief er ihm zu, eine Redensart, die seit den Tagen Christians IV. in der dänischen Marine verbreitet war.

Nach halbstündigem gewissenhaftem Suchen und Schmecken, Wiegen und Feilschen wurde der Handel abgeschlossen, und die gekauften Waren wurden an Deck gebracht. Und nun ereignete sich etwas, was sich Jahr für Jahr mit derselben Regelmäßigkeit wiederholte wie ein Witz des Bolzenschlägers Fuss. Schiffer Mortensen öffnete die Tür zur Kajüte und lud seine Gäste zu einem kleinen Imbiß ein. Madam Olufsen wollte jedoch unter keinen Umständen die Einladung annehmen, die ihr völlig überraschend kam. Auch der Oberbootsmann weigerte sich auf das bestimmteste, die Zeit ihres Freundes in Anspruch zu nehmen, während der junge Didriksen, der diese Formalitäten nur allzu gut kannte, den Priem belustigt aus dem Mund holte und ihn in die Westentasche steckte.

So saß man bald in der gemütlichen kleinen Kajüte an einem gedeckten Tisch, wo man schnell die erheuchelte Bescheidenheit überwand.

Per fühlte sich stets sehr wohl in der Gesellschaft dieser einfachen Menschen. Nie aß er mit besserem Appetit als an einem Tisch wie diesem, der wohlversehen war mit kräftigen Fleischgerichten, Schnaps und Bier. Bei den schlichten Bürgersleuten und ihren munteren, natürlichen Reden gefiel es ihm noch immer am besten. Hier war er nicht wie im »Gryde« ein schweigsamer und kritischer Beobachter; er nahm lebhaft an der Unterhaltung teil und schwatzte mit über das Wetter und die Marktpreise, über die Fährmöglichkeiten und die Regierung.

Nachdem man gegessen hatte und der Tee und die Rumflasche auf dem Tisch standen, kam die Rede auf die Kriegsjahre und die darauf folgende Teuerung. Aus der Kriegszeit erinnerte sich Per nur noch an das erste Einrücken des Feindes in das Pfarrhaus, als Garten und Hof plötzlich mit Soldaten und Pferden überschwemmt waren, so daß das Gebäude geräumt werden mußte, mit Ausnahme des oberen Stockwerkes, wo sich die große Familie in ein paar Zimmern zusammendrängte. Per war damals erst sieben, acht Jahre alt gewesen. Er hatte alles äußerst unterhaltend gefunden und nicht begreifen können, was es da zu weinen gab. Schiffer Mortensen dagegen war als Südjüte den eigentlichen Kriegsereignissen viel näher gewesen und machte sich gern das Vergnügen, mit derbem Pinsel die Greueltaten auszumalen, deren Zeuge er 1864 und im Dreijährigen Krieg gewesen war. So genoß er auch mit Befriedigung, daß sich Madam Olufsen die Ohren zuhielt und den Krieg für eine Scheußlichkeit erklärte.

Doch dies erregte den Ehrgeiz des Oberbootsmanns; wenn er ein wenig getrunken hatte, geriet er leicht in kämpferische Stimmung. 1864 war er schon pensioniert gewesen. Auch an den ersten kriegerischen Auseinandersetzungen hatte er nicht teilgenommen, da er damals gerade mit Knochenfraß im Hospital lag. Deshalb redete er gerne abfällig über diese »deutschen Kriege«, deren Unglück für das Land sich keinesfalls mit dem der Kriege gegen die Engländer messen konnte, die er sowohl 1801 und 1807 als auch 1814 erlebt hatte. »Damals mußten wir hübsch artig Norwegen herausrücken und die ganze Flotte! Ja, das war noch was, worüber sich zu reden lohnte!« Um den Schiffer zu übertrumpfen, der von den Düppeler Schanzen und von Fredericia erzählt hatte, fing er an, von der Beschießung Kopenhagens und von der Schlacht auf der Reede zu berichten, die er, fünf Jahre alt, vom Zollamt aus miterlebt hatte. Da hatte er gesehen, wie die Verwundeten in Booten an Land geschafft wurden, die »voll blutigen Fleischs waren wie Schlächtermulden«.

Aber nun wollte Madam Olufsen kein Wort mehr hören, und da es außerdem zu dämmern begann, wollte sie nach Hause. Jetzt stellte sich aber heraus, daß der junge Didriksen unter dem Eindruck der Demütigungen, die das Vaterland hatte hinnehmen müssen, eingeschlafen war. Er saß mit zurückgesunkenem Kopf und offenem Mund da. Als man ihn wachrütteln wollte, fiel sein Oberkörper vornüber, und er schlief weiter, Kopf und Arme auf dem Tisch, obwohl er im Fallen ein Bierglas umgestoßen hatte, dessen Inhalt sich über seine Knie ergoß. Nachdem man diesen Anblick eine Zeitlang mit verwundertem Schweigen betrachtet hatte, hob Per die Rumflasche hoch und stellte fest, daß sie jemand in aller Stille bis auf den Boden geleert hatte. Und da begriff man, daß der junge Didriksen total betrunken war.

Madam Olufsen war tödlich beleidigt. Draußen am Kai hielt der Wagen mit der krummbeinigen Mähre, die die ganze Zeit über geduldig stillgestanden und in den leeren Futtersack hineingeseufzt hatte. Nun wurde allen sehr bald klar, daß man hier gar nichts weiter tun konnte, als den Kutscher auf dem Schiff zurückzulassen, bis er seinen Rausch ausgeschlafen hatte. So bekam der große Festtag einen traurigen Abschluß. Die beiden Alten mußten in ihrem Sonntagsstaat zu Fuß von dannen trotten, jeder einen eingewickelten Schinken unter dem Arm. Und aus ihren Taschen guckten die Würste und Hammelkeulen hervor.

Per geleitete seine Wirtsleute bis an Holmens Bro, wo er ihnen in eine Straßenbahn half. Er selber mochte nicht nach Hause, sondern wollte nach all dem Lachen und den vielen starken Getränken noch ein wenig frische Luft schöpfen. Einen Augenblick betrachtete er sich im Spiegel eines Ladenfensters und ging dann langsam den Kanal entlang zur Højbro.

Es war um die Stunde, da der Sonnenschein hoch über den Dächern liegt und den Turm der Helligaandskirke vergoldet, während sich unten in den Straßen mit den erleuchteten Geschäften schon das abendliche Leben regt. Hier auf dem Marktplatz war es fast noch taghell. Die Spatzen hüpften hin und her und durchsuchten den Straßenschmutz. Die eben angezündeten Laternen brannten hinter den Glasscheiben mit einer bleichen, geisterhaften Flamme, denn noch gleißte auf den Laternenscheiben das Licht der untergehenden Sonne. Langsam bog Per in die Østergade ein, die voller Passanten war. Beim Anblick dieser vielen Menschen wurde er ein wenig melancholisch. Trotz der Abendkühle und mancher roter Nasen war Frühling in der Luft. Man konnte es an den Augen der jungen Leute sehen und an den Stimmen hören, die voller Erwartung waren. Vor den großen Schaufenstern der Damenmodengeschäfte drängten sich die Leute, um die neuen Frühjahrsmodelle zu betrachten. Und alle Gecken trugen einen Veilchenstrauß im Knopfloch.

Per war hinter ein Liebespaar geraten, das sich beim Gehen dicht aneinanderschmiegte und sich so rhythmisch bewegte, als seien die beiden von den Schultern bis zu den Fersen zusammengewachsen. Er sah die Augen des jungen Mädchens, die schelmisch bewundernd an denen des Geliebten hingen; und er dachte an die Freuden der vergangenen Nacht und bekam immer schlechtere Laune. Er konnte nicht anders, er ärgerte sich jetzt über das, was er nun geradeheraus seine Einfältigkeit nannte. Besonders erinnerte er sich an eine Einzelheit, die ihn mit der liebeshungrigen Frau aussöhnte: Es war die Art, wie sie ihren Busen zugedeckt hatte, als er gehen wollte. Das war fast rührend gewesen. Und die Rosen auf Neergaards Sarg. Sie mußte ihn wirklich geliebt haben. Wie hatte er sich nur darüber aufregen können? Das Leben nahm nun einmal keine kleinliche Rücksicht. Es forderte Beweglichkeit, und wo es sich in seiner ganzen Gewalt aufrichtete, sprengte es alle Regeln und Gewohnheiten. In Wirklichkeit lag etwas Erhabenes, etwas religiös Berauschendes in einem so unbezwingbaren Liebestrieb, der alle kleinlichen Regungen des Herzens, ja selbst das Grauen des Todes überwand. Diese unerschrockene, alles vergessende Hingabe an die Natur war vielleicht gerade höchster Ausdruck des Lebens. Die »Mächte der Finsternis«, vor denen er gezittert hatte, als er an ihrem Bett stand und sich trotz aller Gewissensbisse zu ihren weißen Armen hingezogen fühlte – das waren die eigentlichen Urkräfte seines Wesens, die eine Schicht nach der anderen von den jahrtausendealten Vorurteilen absprengten. Ja, so war das! Es gab keine andere Hölle als die, die sich die Menschen selbst in ihrer Gespensterfurcht vor der Lust des Lebens und der Allmacht des Fleisches schufen. Die Liebesumarmungen von Mann und Frau waren das Himmelreich, in dem aller Sorgen Vergessen, aller Sünden Verzeihung lag, wo sich die Seelen in schuldloser Nacktheit begegneten wie Adam und Eva im Garten des Paradieses.

Ein halbvergessenes Wort, eine unklare Erinnerung stand plötzlich wie mit Flammenschrift vor ihm: Neergaards spöttische Äußerung über jenen Bauernjungen im Märchen, der in die Welt hinauszog, um ein Königreich zu erobern, aber sich ständig umsah und – als sich das Wunderland wirklich vor ihm auftat mit all den Herrlichkeiten Schlaraffiens – nach Hause in die gemütliche Ofenecke und zu den Röcken seiner Mutter flüchtete.

Per errötete vor Scham. Wie jämmerlich war er dieses erste Mal zu kurz gekommen, als das Leben in vollem Ernst seinen Glauben und seinen Mut erprobt hatte. – Doch ließ sich das Geschehene nicht wiedergutmachen? Wenn er ihr zum Beispiel einen Brief schriebe, ihr alles erklärte und sich entschuldigte?

Er war inzwischen in der Hjertensfrydgade angekommen. Die Frau des Schiffszimmermanns im Erdgeschoß öffnete ihre Tür und erzählte ihm, in seinem Zimmer warte ein Herr auf ihn.

»Das ist derselbe Herr, der gestern schon mal hier war. Es ist gewiß ein Pastor. Über eine Stunde sitzt er schon da drin!«

Es stellte sich heraus, daß es sein Bruder Eberhard war. Er saß im Schaukelstuhl am Tisch. Die Lampe war angezündet, und der Schatten seines Kopfes zeichnete sich unförmig auf der kahlen Wand ab. Er hatte den Mantel anbehalten, und seine Hände, die in Wollhandschuhen staken, ruhten auf dem Griff eines Regenschirms, der zwischen seinen Knien stand.

»Ich hatte es beinahe schon aufgegeben, dich zu treffen«, sagte er, nachdem sie sich begrüßt hatten. »Du weißt vielleicht, daß ich gestern schon einmal hier war.«

Per sagte nichts. Sein Herz klopfte. Er begriff, daß der Bruder ihm irgend etwas Wichtiges mitteilen mußte, wenn er ihn zwei Tage hintereinander aufsuchte. Es war auch nicht schwer, Eberhard anzusehen, daß er sich der Wichtigkeit seines Besuches bewußt war. Sein ganzes Auftreten war deutlich darauf berechnet, bei Per Eindruck zu erwecken. Aber gerade deswegen nahm dieser all seine Kraft zusammen und bemühte sich, gleichgültig zu erscheinen.

»Willst du eine Zigarre?« fragte er, während er – ganz schwindlig – dachte: Sollte Mutter gestorben sein?

»Danke, ich rauche nicht«, erwiderte Eberhard.

»Vielleicht ein Glas Bier?«

»Ich enthalte mich jeglicher alkoholischer Getränke. Das bekommt mir am besten. Und außerdem nehme ich grundsätzlich niemals außerhalb der Mahlzeiten etwas zu mir.«

Per lächelte. Obwohl er selbst nicht das Bedürfnis hatte, etwas zu trinken, holte er eine Flasche Bier aus dem Eckschrank und öffnete sie.

»Siehst du, so barmherzig bin ich, daß ich meinem Durst entgegenkomme, ohne Rücksicht auf den Glockenschlag!« sagte er.

Eine Weile saß Eberhard da und drehte den Regenschirm. Seine großen wäßrigen Augen beobachteten den Bruder, der sich ihm gegenüber am Tisch niedergelassen hatte und jetzt schnell ein Glas hinuntergoß.

»In dieser Beziehung bist du anscheinend gewissenhafter als erforderlich«, bemerkte er schließlich.

»Bist du hergekommen, um mir das zu sagen?« entgegnete Per kampflustig.

Eberhard machte eine schwache abweisende Handbewegung. »Du weißt, ich mische mich nie in deine Angelegenheiten. – Ich habe dich aus ganz andern Gründen aufgesucht.«

Per wollte noch immer nicht fragen – er wagte es einfach nicht. Er war über sich selbst erstaunt und begriff nicht, daß die bloße Ahnung einer Hiobsbotschaft von daheim ihn so stark beeindruckte. Er hatte geglaubt, über derartige Gefühle längst hinweggekommen zu sein. Seine Angehörigen waren in den letzten Jahren für ihn wie tot gewesen, und die Anwesenheit des Bruders weckte nicht im entferntesten Sehnsucht nach dem Elternhaus in ihm. Im Gegenteil. Wie Eberhard so dasaß, die Hände auf dem Regenschirm, und ihn mit seinen Ziegenbockaugen von der Seite musterte, entfachte er aufs neue all die unversöhnlichen Gefühle der Vergangenheit in ihm. Die feierliche Anklage in Haltung und Mienenspiel, dieses schweigende Zurschautragen gekränkter Familienehre, die dumpfe Atmosphäre der Selbstgerechtigkeit, wie sie ihm aus Eberhards zugeknöpfter Erscheinung entgegendrang, erinnerte ihn so lebhaft an die Qualen der Kinderjahre, daß es ihm war, als sei selbst der verhaßte Geruch nach verbranntem Torf aus den Stuben des Pfarrhauses mit der Person des Bruders zu ihm gekommen!

Und doch lag in dem Blick, mit dem Eberhard ihn betrachtete, aufrichtiger Kummer, eine wirklich brüderliche Teilnahme. Das kellerartige Kämmerchen mit dem armseligen Mobiliar, der kahle Fußboden und die leeren Wände, dieser öde Raum, der trotz aller Pflege Trines wie ein Abbild der Heimatlosigkeit schien, hatte sein Mitgefühl geweckt. Er wartete nur auf einen Anlaß, um das Bruderherz sprechen zu lassen.

Per gab ihm jedoch keinen Anlaß, und so saßen sich denn beide eine Weile schweigend gegenüber.

»Übrigens, ich bin eben von einer kleinen Reise zurückgekehrt«, begann Eberhard, gleichsam tastend. »Ich war einige Tage zu Besuch daheim.«

»Aha. Es geht ihnen doch gut?« erwiderte Per wie nebenbei.

»Ach nein, das kann ich nicht gerade behaupten. Vater kränkelt in letzter Zeit sehr viel.«

»So?«

»Es geht ihm sogar ziemlich schlecht.«

»Was fehlt ihm?«

»Bevor ich abreiste, hatte ich eine längere Unterredung mit Doktor Carlsen, der mir bestätigte, was ich schon längere Zeit aus den Briefen von daheim herausgefühlt hatte. Vaters Zustand gibt zu sehr ernsten Sorgen Anlaß. Kurz, ich glaube, wir müssen darauf vorbereitet sein, daß wir ihn nicht mehr lange behalten werden.«

Per, der die Augen des Bruders prüfend auf sich ruhen fühlte, verzog keine Miene, obwohl ihm das Herz in der Brust hämmerte. Er empfand bei der Nachricht keinen Kummer, nicht einmal Wehmut und auch keine Reue. Ihn erfaßte Unruhe, eine merkwürdige Angst in der Herzgegend. Niemals war ihm der Gedanke gekommen, Vater oder Mutter könnten sterben, ehe er sich ihnen gegenüber durch sein Lebenswerk und seinen Sieg gerechtfertigt hatte. Und nun traf ihn die Botschaft gerade in dem Augenblick, da seine großen Hoffnungen beschämend zunichte gemacht worden waren.

»Es ist aller Wahrscheinlichkeit nach Krebs«, fuhr Eberhard fort. »Doktor Carlsen hat zwar das Wort nicht ausgesprochen, doch aus seinen Äußerungen ging ziemlich klar hervor, daß er sich nicht mehr im Zweifel war. Vater ist allerdings noch auf und leitet die Amtsgeschäfte, soweit seine Kräfte es gestatten. Du kennst ja sein strenges Pflichtgefühl. Aber das hält er nur noch einige Monate durch. Ich habe den Eindruck, er ist darauf vorbereitet, bald heimzugehen. Mutter ist natürlich sehr niedergeschlagen; aber sonderbar genug – es ist, als habe ihr die Sorge um Vaters Zustand neue Lebenskraft geschenkt. Sie steht sogar wieder ein wenig auf, um in dieser Zeit mehr um Vater sein zu können; aber ich glaube, diese wunderbare Gnade – so dankbar sie dafür ist – erscheint ihr gleichzeitig als Mahnung, daß Vaters Stunde nahe ist.«

Obwohl Eberhard kein Theologe war, hatte er eine Vorliebe für biblische Wendungen. Er war Jurist, und seine Fachkollegen betrachteten ihn sogar als einen ungewöhnlich klaren und scharfsinnigen juristischen Kopf. Trotz seiner Jugend genoß er bereits hohes Ansehen. Erst kürzlich hatte er durch eine Abhandlung über das Gefängniswesen und dessen pädagogische Aufgaben, die in einer Zeitschrift erschienen war, Aufmerksamkeit erregt. Er war in einem der Hauptbüros dieses Verwaltungsgebiets angestellt, und da er ein Muster an Fleiß und Pflichterfüllung war, hielten seine Vorgesetzten große Stücke auf ihn.

»Ich dachte, du müßtest rechtzeitig über die Verhältnisse unterrichtet werden«, fuhr er fort, als Per noch immer schwieg. »Mir schien, du dürftest nicht unvorbereitet sein, falls die Katastrophe früher als erwartet eintreten sollte. Wir – und ich rede hier im Namen aller deiner Geschwister und nach Rücksprache mit ihnen –, wir meinten auch, du würdest dich vielleicht veranlaßt fühlen, wenn du Kenntnis von Vaters Zustand erhieltest – ich meine, du könntest das Bedürfnis haben, eine Annäherung an Vater zu suchen, ehe es zu spät ist.«

»Ich verstehe nicht . . . Was soll das heißen?« fragte Per schroff, konnte sich aber nicht entschließen, den Bruder anzusehen.

»Ja, ich will mich – wie schon gesagt – keinesfalls in deine Angelegenheiten mischen. Du mußt das jetzt mit deinem Gewissen abmachen, ob du glaubst, das Verhältnis verantworten zu können, das du seit langem den Eltern gegenüber hast. Ich habe nicht einmal den Wunsch, mich näher darüber auszusprechen. Dagegen fühle ich mich verpflichtet, dich schon jetzt darauf aufmerksam zu machen, daß Vaters Heimgang auch auf die pekuniären Verhältnisse zu Hause wesentlichen Einfluß haben wird. Ich weiß, Vater hat dir bisher – ohne allerdings von deiner Seite die geringste Anerkennung dafür erfahren zu haben – regelmäßig einen Zuschuß zukommen lassen, der vielleicht nicht gerade reichlich bemessen war, der aber – das kann ich mit Bestimmtheit sagen – seine Möglichkeiten weit überschritt. Und er hat dies getan, um sich nicht vorwerfen zu müssen, daß er sich deinen Studien gegenüber – oder wie man es nennen soll – gleichgültig gezeigt hätte, wenn er auch weder deine Fähigkeiten noch deine Fortschritte beurteilen konnte.«

»Ich weiß.«

»Diese Unterstützung wird natürlich in dem Augenblick aufhören, wenn Vater aus der Welt geht. Mutters Verhältnisse werden dann sehr begrenzt sein, und es wird notwendig sein, auf allen Gebieten größte Sparsamkeit einzuführen.«

»In dieser Hinsicht sorge dich bitte nicht meinetwegen«, erwiderte Per, der jetzt im stillen beschloß, Neergaards Erbschaft anzutreten, um vom Elternhaus völlig unabhängig zu werden.

»Ich habe schon selbst daran gedacht, nach Hause zu schreiben, daß ich in Zukunft in der Lage bin, ganz und gar für mich zu sorgen. Ich brauche keine Hilfe mehr.«

Der Bruder machte große Augen. Als aber Per keine weiteren Erklärungen gab, wurde er feierlich verschlossen und schwieg eine Weile. Lange konnte er jedoch seine Neugierde nicht zügeln.

»Darf ich fragen . . . wie denkst du dir . . .«, begann er.

Aber Per unterbrach ihn. »Ehrlich gesprochen, du solltest jetzt mit deiner Absicht Ernst machen und dich nicht in meine Angelegenheiten einmischen. Ich habe dir schon gesagt, daß mir das unangenehm ist.«

Eberhard erhob sich. Er war bleich geworden, und sein Mund mit dem hervortretenden Unterkiefer war verzerrt vor Erregung.

»Ja, ich sehe, es ist zwecklos, mit dir zu reden. Es ist wohl das richtigste, wenn wir die Unterhaltung nicht länger fortsetzen.«

»Wie du willst.«

Eberhard nahm seinen Hut. Doch als er an der Tür stand, drehte er sich noch einmal zu Per um, der am Tisch sitzen geblieben war, und sagte: »Eines muß ich noch hinzufügen, Peter Andreas! Wenn du es auch – so wie du veranlagt bist – wahrscheinlich schwer verstehen wirst: Vater denkt in dieser Zeit an keinen mehr als an dich. Als ich zu Hause war, verging kein Tag, an dem er sich nicht mit mir über dich unterhalten hätte . . . und Mutter übrigens auch. Schon lange mußten sie ja den Versuch aufgeben, durch Überredung auf dich einzuwirken. Sie konnten nur hoffen, das Leben würde dereinst deinen Sinn beugen und dich lehren, was du ihnen schuldest. Nun ist Vaters Zeit wahrscheinlich bald um. Hüte dich, Peter Andreas, eine Sünde zu begehen, die du sicher – früher oder später – bitter bereuen wirst!«

Nachdem der Bruder gegangen war, blieb Per, die Hand unterm Kinn, eine Zeitlang sitzen und starrte finster vor sich hin.

»Den Sinn beugen« . . . »bittere Reue« . . . »Sünde« . . . »Gnade« . . . Wie er diese Lektion kannte. Der ganze Gespensterkatechismus war wiederholt worden. Und wie bezeichnend es war – ein echt Sideniusscher Charakterzug –, Krankheit und Tod zum Anlaß zu nehmen, um zu versuchen, ihn wieder in den Schoß des Elternhauses und der Kirche zurückzujagen . . . den Tod selbst als Werbekorporal für die schwarze Kreuzträgerschar zu benutzen. Denn was konnten sie wohl weiter von ihm wollen, als ihn zum Gehorsam gegenüber der Familienzucht zu zwingen? Nach wem hatten sie ausgesandt? Nach ihm selbst, so wie ihn die Natur in einem ihrer lichten, glücklichen Momente erschaffen hatte? Nein, worauf sie ungeduldig warteten, das war seine Unterwerfung. Jetzt, da der Vater bald sterben würde, hatten sie es eilig mit seiner Demütigung. Er kannte sie! Damit sie ihren Seelenfrieden hatten, sollte sein Lebensmut gebrochen werden. Ihre Frömmelei duldete nicht den Anblick eines geraden Rückens oder eines erhobenen Kopfes, wenn nicht die »Gnade« daran Anteil hatte.

Er sah auf, ihn fröstelte. Sonderbar kalt und düster war es nach dem Besuch des Bruders im Zimmer geworden. Warum konnten sie ihn nicht in Frieden lassen? Er hatte die alten häßlichen Gefühle der Vergangenheit begraben und einen Pfahl durch sie hindurchgetrieben. Wozu sie wieder heraufbeschwören? . . . Sein Vater? Nun ja, mochte er sterben! Er schuldete ihm keine Liebe. Er schuldete ihm eine Reihe von Jahren, an die er am liebsten nicht dachte. Dafür hatte er ihn aus seiner Erinnerung gelöscht. Sie waren quitt.

Per trank sein Glas aus. Dann erhob er sich mit einem Ruck, als wolle er einen bösen Traum abschütteln, und ging zu den Alten hinauf, um durch eine Plauderstunde wieder das innere Gleichgewicht zu finden.


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