Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einundzwanzigstes Kapitel

Jetzt war die Zeit, da sich das Kopenhagener Sommerleben zwischen den Villen am Øresund Tag für Tag in immer helleren, festlicheren Farben entfaltete. Der starke Pulsschlag der Großstadt pflanzte sich auf Eisenbahnschienen meilenweit fort, hinein in die leblose Natur. Große Dampfer schaukelten an den Landungsbrücken, an einer Seite herabgedrückt von ihrer lebenden Fracht. Züge, die einen viertel Kilometer lang waren, spien an den Bahnhöfen ein wogendes Menschengewimmel aus, das zu Rad und zu Fuß die mächtige Unruhe der Großstadt hineintrug bis tief in die Wälder des nördlichen Seelands.

Über dem Leben auf »Skovbakken« lag bei alldem eine gedrückte Stimmung. Philip Salomon und seine Frau Lea führten in jüngster Zeit lange mißmutige Gespräche über ihre Kinder.

Nicht allein Jakobes Zukunft erfüllte sie mit Sorge – jetzt hatte auch Nannys Verhalten ihnen Anlaß zu sehr ernsten Erwägungen gegeben. Für die Niederlage, die die eitle junge Frau bei Per erlitt, hatte sie Genugtuung bei ihrem alten Verehrer Hansen-Iversen gesucht. Und weil sie diesmal wirklich alles vergessen wollte, gab sie sich ihrem dreisten Flirt mit ziemlicher Leidenschaft hin. Aber jetzt zeigte sich, daß der ehemalige Kavallerieleutnant mit dem schneidigen Schnurrbart keineswegs ein so gestählter Charakter war, wie man vermutet hatte. Eines Tages ging er nach Hause und schoß sich eine Kugel durch den Kopf. Zugleich hinterließ er einen Brief, in dem er der Welt seine Beweggründe erklärte und über Nanny seinen feierlichen Fluch aussprach.

Dank der Stellung ihres Mannes wurde die Sache in der Presse vertuscht. Und um den Ruf seiner Frau noch nachdrücklicher zu decken, zeigte sich Dyhring in den folgenden Tagen oft Arm in Arm mit ihr. Scherzend äußerte er zu seinen Bekannten, es sei im Grunde eine gefährliche Sache, eine Frau zu haben, deren Augen nicht nur einer Pistolenmündung glichen, sondern mitunter auch so wirken könnten. Unter vier Augen hatte er unterdessen Nanny einem eingehenden Verhör unterworfen, das mit einer schallenden Ohrfeige endete, die sie auch ruhig hinnahm. Sie fand sogar, sie sei noch ziemlich billig bei der Geschichte weggekommen, die sie im ersten Augenblick furchtbar aufgeregt hatte – ja, was noch mehr war: Sie verliebte sich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal richtig wollüstig in ihren Mann und war danach eine Zeitlang seine unterwürfige Sklavin, die willig und mit vermehrter Erfahrung seinen geschlechtlichen Ausschweifungen diente.

Trotzdem war nicht zu verhindern, daß dies und das über die Ursache für den Selbstmord des Leutnants durchsickerte. Der Kopenhagener Klatsch, der auch auf das Land hinausgezogen war, hatte von dem hinterlassenen Brief Wind bekommen. Und wenn Philip Salomon und seine Frau ihre übliche abendliche Spazierfahrt mit ihrem königlichen Gespann über den Strandvej machten, grüßend und wieder gegrüßt von Freunden und Neidern, dann ging ringsum in den Villengärten eifriges Flüstern und Tuscheln los. Gewisse Leute hatten Nanny nie richtig ihre Schönheit verzeihen können, und schon allein aus diesem Grund gehörte ihre Tugend stets zu den am meisten angezweifelten in der kleinen abgeschlossenen Gemeinde der Bredegade, wo man wie in den Provinzstädtchen einander kannte bis auf die Unterhosen.

Die Eltern beurteilten das Verhalten ihrer Tochter sehr streng. Philip Salomon fand sich sogar veranlaßt, sich bei Dyhring förmlich im Namen des Hauses und der Familie zu entschuldigen. Die einzige von Nannys Angehörigen, die sie ein wenig in Schutz nahm, war seltsamerweise Jakobe. Obwohl sie sonst immer so schonungslos die Schwester verurteilt hatte, überging sie jetzt die Sache mit einem Achselzucken. Sie fand keinen Grund, sie so ernst zu nehmen. Das Leben fordere nun einmal Blut, wenn man es richtig leben wolle, meinte sie. Wolle man mitmachen, dann müsse man darauf gefaßt sein, zu denen zu gehören, welchen man es abzapfte.

Jakobe hatte sich überhaupt in jüngster Zeit völlig verändert. Nicht allein ihr Aussehen war beunruhigend schlechter geworden, auch ihr ganzes Wesen zeigte wieder jene müde, unnatürliche Gleichgültigkeit, die ihr schon früher eigen gewesen war. Fragte man sie nach ihrem Befinden, so antwortete sie regelmäßig, es ginge ihr gut. Von ihrem Verlobten sprach sie immer seltener. Aber sie machte auch keine Einwände, wenn die Eltern mit ihr über die bevorstehende Hochzeit redeten. Zugleich jedoch sprach sie davon, sie wolle wieder einmal ihrer Freundin in Breslau einen Besuch abstatten – keiner konnte aus ihr und ihren Absichten klug werden.

Es gab nur einen Menschen, der sie ein klein wenig verstand: Rosalie. Da ihr Zimmer neben dem Jakobes lag, hörte sie eines Nachts da drinnen lautes Schluchzen, und in der Meinung, daß Jakobe krank geworden sei, stand sie schnell auf. Doch sie fand die Tür verschlossen, und Jakobe wollte sie nicht hereinlassen. Am nächsten Morgen erklärte Jakobe, sie habe Zahnschmerzen gehabt. Rosalie war jedoch kein Kind mehr. Sie jagte selbst schon in den Wildgehegen der Liebe und begann in Nannys Fußspuren zu treten. Es war ihr sogar schon geglückt, eine Beute zu erlegen. Kandidat Balling hatte ihr vor einiger Zeit seine Liebe gestanden, und nun machte es ihr Spaß, die Verständnislose zu spielen und zuzusehen, wie der lange Literaturmensch von Angst und Ungewißheit gequält wurde.

Was Jakobe bis zur Verzweiflung bedrückte, so daß sie mitunter daran dachte, sich das Leben zu nehmen, war vor allem ihre Unsicherheit. Sie konnte sich nicht zu einem endgültigen Bruch mit Per entschließen. Obwohl sie längst begriffen hatte, wohin das Ganze führte, und obwohl sie ahnte, daß hier eine Frau im Spiel war, verschob sie die Entscheidung von einem Tag auf den anderen. So entwürdigend war ihre Liebe! So schamlos war das Gefühl, das sie für das heiligste des Lebens gehalten hatte.

Es bereitete ihr bei alldem Trost, ja sogar Genugtuung, daß sie Per nichts von ihrem Zustand gesagt hatte. Ihr teuerstes Geheimnis hatte sie ihm nicht preisgegeben. In ihrer Mütterlichkeit wollte sie unberührt bleiben. Verschont wollte sie bleiben von der äußersten Demütigung, ein Opfer seines Mitleids zu werden.

Sie hatte seine Briefe wieder eine Zeitlang unbeantwortet gelassen. Ja sie hatte sie überhaupt nur mit viel Überwindung gelesen. Daß ihn ein Pfarrer da drüben so beschäftigte, erfüllte sie mit Mitleid. In einem seiner letzten Briefe hatte er ihr nachgerade empfohlen, sich die Schriften dieses Mannes zu beschaffen – was sie längst getan hatte. Doch als er jetzt wiederum diese Predigtsammlung erwähnte, offenbar in der Hoffnung, sie könne dadurch für die christliche Lebensanschauung gewonnen werden, reizte sie dies dermaßen, daß sie sich entschloß, ihm zu antworten. Hier gab es eine Gelegenheit, ihrem Herzen einmal Luft zu machen, ohne sich dabei zu demütigen. Und obwohl sie wie im vorigen Brief mit keiner Zeile ihr persönliches Verhältnis berührte, spürte sie beim Schreiben, daß sie diesmal mit ihren Worten den endgültigen Bruch vorbereitete.

»Ich hatte bisher nicht das Bedürfnis, der Aufforderung zu folgen, die Du in Deinen letzten Briefen an mich gerichtet hast, und auf einen Punkt einzugehen, der Dich, wie es scheint, wieder sehr bewegt: Ich meine Dein Verhältnis zum Christentum. Aber mein Schweigen ist nicht Mangel an Teilnahme – das hast Du hoffentlich verstanden. Trotzdem bin ich immer mehr zu der Überzeugung gekommen, daß es Fragen gibt, über die zu diskutieren fruchtlos ist. Das gilt vor allem für Glaubensdinge, bei denen wir uns nicht durch Vernunftschlüsse beeinflussen lassen. Wir kriegen den Glauben, den die Umstände für uns schaffen. Unser Organ für das Religiöse entwickelt sich genauso natürlich wie Herz und Nieren. Und jeder künstliche Eingriff, um beispielsweise einer Erbanlage entgegenzuwirken, hat wohl nur zur Folge, daß der ganze Organismus geschwächt wird.

In Deinem letzten Brief lese ich allerdings zwischen den Zeilen eine direkt an mich gerichtete Frage, und die verlangt eine Antwort – wenn nicht aus einem anderen Grunde, so doch, damit Du mein Schweigen nicht als stillschweigendes Zugeständnis auslegst.

Mein Verhältnis zum Christentum wird natürlich nicht weniger als Deines durch meine Geburt und Erziehung bestimmt. Von klein auf haben die Verfolgungen, die die christliche Kirche bis in die jüngste Zeit hinein gegen mein Volk betreibt, in mir Rachegedanken erweckt. Trotzdem will ich fast glauben, ich wäre imstande, unter all das einen Strich zu ziehen, wenn ich die Wohltaten der Kirche der übrigen Menschheit gegenüber entdecken könnte. Doch wo immer ich in ihrer zweitausendjährigen Geschichte lese, überall finde ich unter der Maske der Frömmigkeit dieselbe hinterhältige, tyrannische Verfolgungswut, dieselbe kaltblütige Gleichgültigkeit in der Anwendung der Mittel, wenn nur die Gier nach Macht befriedigt wird. Niemals hat eine geistige Bewegung in dem Maße die schlechtesten menschlichen Eigenschaften in ihren Dienst gestellt. Und deswegen – ausschließlich deswegen – hat die christliche Kirche so große Verbreitung gefunden.

Mir ist völlig unverständlich, ja absolut unbegreiflich, daß rechtschaffene Menschen, die imstande sind zu lesen und zu denken, nicht von Ekel erfüllt werden über diese Glaubensgemeinschaft, unter deren Fittichen gemeinste Unterdrückung, finsterste Unwissenheit und brutalste Abscheulichkeiten Schutz oder doch zumindest Nachsicht gefunden haben, während alles, was die Zeit an gesunden, edlen und mutigen Bestrebungen hervorbrachte, um die Menschheit zum Licht, zu größerer Gerechtigkeit und zu mehr Glück zu führen, in der Kirche seinen mißgünstigen, unversöhnlichen Feind gehabt hat. Selbst wenn die Reformation hierin vielleicht einige Verbesserungen brachte, so ist das insgesamt doch nicht von Bedeutung. Und die verschiedenen modernen Richtungen, die sich um ein verhältnismäßig wohlwollendes Verständnis Andersdenkenden gegenüber zu bemühen scheinen, beruhigen mich ebenfalls nicht. Im Gegenteil. Der Protestantismus hat auch seine Jesuiten, die in schwierigen Zeiten für die Kirche durch scheinbaren Freisinn wirken, der als Deckmantel für notgedrungene Zugeständnisse dient. Diese Erscheinung ist so alt wie das Christentum selbst. Von Anfang an wußte es schlau ringsum in den Ländern Fuß zu fassen, indem es heidnische Sitten und Vorstellungen, die es nicht überwinden konnte, in sich aufnahm. Auch jetzt versteht es, sich geschickt den Forderungen der Wissenschaft und der Humanität anzupassen, sobald ihm eine Niederlage droht. Daß es trotzdem noch immer den Anspruch aufrechterhält, die einzige, unveränderliche, von Gott eingeblasene Wahrheit zu verkünden, ist eine Heuchelei, wie sie die Welt noch nie gesehen hat.

Und doch – ich bin trotz allem nicht unversöhnlich. Ich will sogar an die Möglichkeit glauben, daß man zu einem Einverständnis mit dem Christentum kommen kann, das ja tatsächlich eigenständige Wahrheitselemente besitzt, die für das Wohl und Wehe der Menschen von Bedeutung sind. Aber nur unter einer Bedingung könnte ich der Kirche die Hand reichen: Sie müßte in sich gehen und ehrlich werden. Und noch etwas: Sie müßte sich zum Beweis für die Aufrichtigkeit ihrer Bekehrung selbst den Bußgang auferlegen, den sie von ihren einzelnen Mitgliedern verlangt. Soll die alte Sünderin ihr Antlitz verhüllen, wie es geschrieben steht, und vor aller Augen ihre Schuld bekennen. Das mag der Anfang sein! Auf den Knien vor der Menschheit, deren Einfältigkeit sie mißbraucht hat, muß die Kirche ihre Sünden büßen! Auf den Knien vor der Wahrheit, die sie unterdrückte, vor der Gerechtigkeit, die sie blendete, muß sie Verzeihen suchen für ihre Vergangenheit! Erst dann – aber keinen Augenblick eher – kann sie erwarten, Vertrauen zu finden bei denen, die wirklich die Wächter des Lebens und des Lichts sind.«

 

Auf Kærsholm vergingen die Tage in ländlicher Einförmigkeit, die die Zeit so flüchtig und das Leben so kurz macht. Wieder war Sonntag, und die Gutsbesitzerfamilie fuhr wie gewöhnlich nach Bøstrup, um Pastor Blomberg predigen zu hören.

Nach Pers Äußerungen im Anschluß an die Versammlung neulich hatte die Hofjägermeisterin eigentlich erwartet, er würde auch diesmal mitkommen. Es fehlte ihm auch nicht an Lust, weil er gewiß bei dieser Gelegenheit Inger wiedersehen würde. Aber er konnte sich doch nicht entschließen, an einem förmlichen Gottesdienst mit Gesang, Vaterunser und Segen teilzunehmen. Er hatte am Abend vorher Jakobes Brief erhalten, dessen leidenschaftlicher Ton ihn beeindruckt hatte, so daß er wieder unsicher geworden war.

Als der Wagen abgefahren war, fühlte er sich sehr einsam auf Kærsholm. Er ging in den Garten hinaus und stieg auf einen künstlich angelegten Aussichtshügel, der ganz am Rand lag. Hier setzte er sich auf eine Bank und blickte hinaus in die Gegend.

Ringsum – fern und nah – riefen die Kirchenglocken zur Andacht. In der stillen Luft hallten die Töne meilenweit über die Wiesen. Auch die Kirche in Bøstrup konnte er deutlich hören. Und sie rief nicht vergebens. Auf der Landstraße, die um den Gutshof einen Bogen machte, sah man einen Wagen nach dem anderen mit sonntäglich gekleideten Bauern, die alle in Richtung Bøstrup fuhren. Per folgte ihnen mit den Augen, bis sie oben hinter den Boruper Höhen verschwanden. Als der letzte verschwunden war, hatte er ein Gefühl, als liege die Gegend ausgestorben vor ihm, als sei die Bevölkerung in ein fremdes Land gezogen und habe ihn allein zurückgelassen.

Diese sonntägliche Unruhe, deren er sich aus der Vergangenheit so deutlich erinnerte, hatte er nicht mehr gekannt seit dem Tag, da sich ihm das Haus seiner Schwiegereltern öffnete und er in eine Welt eingeführt wurde, über der keine Kirchenglocken läuteten. Und doch hatte er kein Verlangen nach »Skovbakken«. Ohne Wehmut dachte er an das Kommen und Gehen froher, fein gekleideter Herrschaften, die dort den festlichen Inhalt des Tages ausmachten.

Eine Glocke nach der anderen schwieg. Immer stärker ergriff ihn das unheimliche Gefühl des Verlassenseins. Das Rasseln eines Wagens in weiter Ferne auf unbekannten Wegen weckte in ihm eine ganz phantastische Empfindung des Jenseits. Er kam sich vor wie ein Verstorbener, der im Schattenreich über seinem Grab menschliches Leben vernimmt.

Wieder dachte er an Jakobes Brief. – Jetzt wußte er, was er ihr antworten wollte. Dieser feierlich stille Vormittag, diese festlich gekleideten Bauern in ihren fein geputzten Wagen, diese Tausende und aber Tausende von Häusern in der ganzen Welt, aus denen zu dieser Stunde Menschen voll Zuversicht in die Kirchen strömten, um dort neuen Mut und neue Kraft für den Kampf ums Dasein zu schöpfen – das war doch der überzeugende Protest des Lebens selbst gegen ihre Worte. Es mag sein, wollte er ihr schreiben, daß die Kirche furchtbare Sünden auf ihrem Gewissen hat – und dieser Meinung war er selber auch –, aber sie wurden doch sicherlich aufgewogen durch all das Gute, das sie den Menschen gebracht hat. Jedenfalls hatten – wie Pastor Blomberg kürzlich in seiner Rede im Wald sagte – die Nordeuropäer, überhaupt die Germanen, einen ganz besonderen Grund, dem Christentum wenigstens Ehrfurcht zu erweisen, weil es sie doch aus der Barbarei befreit hatte. Von Kindesbeinen an hatte es sozusagen die Geisteswelt der germanischen Stämme geformt. Es war ihre geistige Muttermilch, die sich nie ganz aus ihrem Blut ausscheiden ließ.

Doch wozu bedurfte es überhaupt historischer Beweise? Das war ihm ja gerade in jener Nacht auf dem Dampfer im Kattegat klargeworden: Mit dem Christentum hatte sich offenbar dem Menschen eine neue Kraftquelle erschlossen, da es seiner alten gichtbrüchigen Mutter einen so mächtigen Opferwillen hatte einflößen können. Spürte er nicht auch selbst immer deutlicher, wie unmöglich es war, auf die Dauer den Lebensmut und die Lebenskräfte ohne den Beistand aus dem Jenseits aufrechtzuerhalten? Und brachte nicht fast jeder Tag von den vielen Einsamen dieser Zeit neue Beweise für dasselbe Bedürfnis nach einem Gott, nach einem himmlischen Tröster?

Unter den Büchern und Wochenschriften, mit denen ihn die Hofjägermeisterin ständig versorgt hatte, war auch Poul Bergers »Ein Jakobskampf«, von dem er in Kopenhagen viel gehört, den er aber erst jetzt gelesen hatte. Die große Bekenntnisdichtung, die in einem kunstvoll nachgeahmten alttestamentarischen Stil geschrieben war, hatte ihn stark ergriffen. In einem Kapitel wandte sich der Autor direkt gegen die geistige Bewegung, die vor allem durch Nathan aus dem Ausland hier eingeführt worden war. Er verglich sie mit einem Frühlingsregen, der auch das unfruchtbare Korn sprießen läßt und dem Sandboden ein trügerisches Aussehen von Üppigkeit verleiht.

»Kommet aber die Sonnendürre und nahet die Zeit der Ernte – wo seid ihr dann, ihr wurzellosen wilden Triebe? Prangtet ihr nicht an allen Wegen, hattet ihr euch nicht ausgebreitet über die Erde in tausend Farben wie eine Verheißung von des Paradieses Herrlichkeiten? Oh, es klagen euch eure leeren Ähren an. Die Sonne hat geschenket den gesunden Keimen die Fülle des Wachstums. Doch euch dörret sie aus, und ehe daß der Herbst kommt, wird der Sturm euch verwehen, denn der Sünde Lohn ist der Tod. – Wohl dem, welcher im Frühjahr zur Zeit des Wachsens demütig seine Wurzeln versenket im Urgrund, wo des ewigen Lebens Quellen fließen!«

Vor allem diese Worte hatten solchen Eindruck auf Per gemacht, daß er sie auswendig kannte. Als er sie zum ersten Mal las, meinte er, seine eigene Grabschrift gelesen zu haben. Dieses seelische Dahinwelken hatte er ja gerade in den letzten Jahren immer wieder verspürt – ein allmähliches, unerbittliches Schwinden seiner Kräfte und Fähigkeiten. Er hatte es sich nur nie so recht eingestehen wollen.

»Fahr wohl, unfruchtbare Zeit! Meine Wüstenwanderung hat ein Ende. Meiner Väter paradiesisch Haus hat sich mir aufgetan, und geblendet von dem Lichte, knie ich nieder auf des Tores Schwelle in Reue und Gebet.«

Per hatte den Kopf in seine Hände gelegt und saß eine Zeitlang unbeweglich da. Er fragte sich, ob ihn noch etwas anderes zurückhielt als sein falscher Stolz, sich mit dem Gott seiner Väter zu versöhnen. War es allein dies, daß er sich nicht entschließen konnte, seinen steifen Nacken zu beugen und eine Macht anzuerkennen, die er einst verleugnete? Demut! Da war wieder eines dieser schweren Bibelworte, deren lebensentscheidende Bedeutung er langsam begriff. Demütig sein – das also war die letzte Schwierigkeit. Das war der Preis des Himmels, damit die Seele Frieden fand.

Er hob den Kopf. Noch immer tönten die Glocken von der Boruper Kirche herüber. Bis dorthin waren es kaum zwei Kilometer – dorthin würde er also noch immer früh genug kommen, dachte er.

Er blieb noch ein paar Minuten sitzen. Dann stand er kurz entschlossen auf. Mit schnellen Schritten ging er um den Garten und den Park herum.

Es gelang ihm auch, die Kirche zu erreichen, ehe der Pastor auf die Kanzel gestiegen war. Durch die Tür der Vorhalle tönte ihm Gesang entgegen, und er blieb stehen und lauschte.

Er war in einer sonderbaren Erregung, die im Grunde nicht viel mit Andacht zu tun hatte, geschweige denn mit Demut. Noch als er die Hand auf die Türklinke gelegt hatte, um zu öffnen, war er sich im Zweifel. Im letzten Augenblick noch war ein Willensakt nötig. Seine Bekehrung mußte er gleichsam ertrotzen, um der Sache ein Ende zu machen.

Er setzte sich auf die hinterste Bank dicht an der Tür. Und als er erst seinen Platz gefunden und die verstreut sitzenden Kirchgänger ihre Neugier gestillt hatten, wobei sie sich mehrmals umwandten und ihn ansahen, beruhigte er sich bald.

Es war nun auch gerade keine Gemeinde, die sich dazu eignete, die feierliche Stimmung bei ihm wachzuhalten. Der Pastor stand vor dem Altar und putzte sich mit großer Umständlichkeit die Nase. Er kehrte der Gemeinde den Rücken zu, die aus etwa einem Dutzend Menschen bestand – meistens ältere Leute von wenig aufgewecktem Aussehen. Besonders das männliche Geschlecht war schwach vertreten. Auch der Gesang rief nicht gerade viel Andacht hervor. Außer der Stimme des Küsters vernahm man lediglich ein paar klagende Altweiberstimmen. Das Innere dieser Kirche war ein niedriger kellerartiger Raum mit großen feuchten Flecken und grünlichem Schimmel an den Wänden, die sauer nach Tünche rochen. Auf dem Pult vor ihm lag eine dicke Schicht Kalkstaub.

Doch nun erschien der Pfarrer auf der Kanzel, und erst jetzt wurde es Per klar, daß es ja der berüchtigte Pastor Fjaltring war, den er hier hören sollte. Da stand er unter dem blaugemalten Baldachin – ein schöner bleicher Mann mit regelmäßigen Zügen und silbergrauem, glattgekämmtem, aus der Stirn gestrichenem Haar. Per fand auch nicht das geringste Diabolische an ihm, wie er ursprünglich geglaubt hatte. Sein Gesicht war glattrasiert, der Mund breit, aber fein geschwungen, die Augen waren groß und dunkel. Seine Bewegungen waren gemessen, seine ganze Haltung war vornehm; nur hin und wieder liefen seltsame – und wie es schien schmerzhafte – Zuckungen über die Schultern bis in sein Gesicht.

Nach kurzem einführendem Gebet nahm Fjaltring die Bibel, um den Tagestext zu verlesen. Als er im selben Augenblick Per gewahrte, hielt er inne und betrachtete ihn eine Zeitlang mit sichtbarer Verwunderung, bis er sich bei seiner Geistesabwesenheit ertappte und die Verlesung begann.

Dann kam die Predigt, die fast eine ganze Stunde dauerte. Er hielt sie in dem üblichen Predigerton und sagte nichts, was über die vorgeschriebenen Redensarten von Sünde, Gnade, Erlösung und wieder von Sünde und ewiger Höllenqual hinausging. Per wurde immer ungeduldiger. Seine Stimmung war unwiederbringlich verdorben. Jetzt sah er ein, daß er besser hätte zu Hause bleiben können, da er doch nicht mit nach Bøstrup fahren wollte.

Er war froh, als der Gottesdienst endlich vorbei war, so daß er aus der Kirche verschwinden konnte. Schamvoll und verärgert eilte er nach Hause. Nach diesem Ergebnis seines ersten Kirchgangs fühlte er sich beschämt, und er nahm sich vor, ihn keinem Menschen gegenüber zu erwähnen.

Um sich die Zeit zu verkürzen, bis die Gutsbesitzerfamilie zurückkehrte, ging er zum Verwalter hinüber, um bei einer Pfeife Tabak ein wenig zu plaudern. Zu den ländlichen Gewohnheiten, die er sich hier auf Kærsholm zugelegt hatte, gehörte auch der Geschmack an langen Pfeifen mit großen Köpfen, die man eine ganze Stunde lang rauchen konnte, ohne daß sie frisch gestopft zu werden brauchten. Er hatte einen solchen Dampfapparat im Zimmer des Verwalters hängen, wo er regelmäßig eine Stunde nach Tisch zubrachte.

»Sagen Sie mir, was haben Sie eigentlich an Pastor Blomberg auszusetzen?« fragte Per, nachdem sie eine Weile von anderen Dingen geredet hatten.

»Ich?«

»Ja, mir ist, als hätten Sie einmal eine boshafte Äußerung über ihn gemacht.«

Der Verwalter lachte in seinen gelockten Bart. »Gott bewahre meinen Mund! Warum sollte ich denn etwas über seine Unfehlbarkeit sagen? Ich bin doch nicht ganz von Sinnen.«

»Ja – aber gesagt haben Sie doch etwas!«

»Na, ich habe mich vielleicht darüber gewundert, daß er es mit ansehen kann, wie sein alter Vater so vor die Hunde geht . . .«

»Lebt denn Pastor Blombergs Vater noch?«

»Freilich lebt er! Irgendwo drüben auf Seeland. Und ihm soll es beinahe so dreckig gehen wie einem Armenhäusler. Er ist verlaust und hat Krätze. – Ich finde, Blomberg könnte ihn recht gut zu sich nehmen und ein bißchen was tun für den alten Mann.«

»Da stimmt doch irgend etwas nicht mit diesem Vater. Vielleicht ist er versoffen. Oder Pastor Blomberg ist nicht in der Lage, etwas für ihn zu tun.«

»Blomberg sieht ja sonst nicht so auf den Groschen. Er weiß doch genau, wo er was herkriegen kann, wenn er etwas braucht. Die Leute hier hängen doch an ihm wie die Kletten.«

»Wie denn . . . herkriegen?«

»Na ja – beispielsweise voriges Jahr, als er ein Paar neue Kutschpferde haben wollte. Da ließ er einfach ein Wort fallen, er könne es seinen Kindern gegenüber nicht mehr verantworten hierzubleiben. Er müsse sich eine fettere Pfründe suchen. Da wurde den Leuten hier angst und bange, und sie sammelten schnell für einen Landauer und ein Paar Gäule. Und er hat kaum danke schön gesagt. Er fand es ganz in Ordnung. Das sei eben die verdammte Schuldigkeit der Leute. – Haben Sie mal gehört, wie Pastor Fjaltring ihn nennt?«

»Nein.«

»Großhändler!«

»Was soll das denn heißen?«

»Ja, so genau verstehe ich das auch nicht. Aber – so lächerlich es klingt – mir scheint, es paßt für ihn!«

Per schwieg eine Weile und beobachtete den Rauch aus seiner Pfeife. »Wie finden Sie seine Tochter?« fragte er dann.

Der Verwalter lachte wieder. »Ich finde sie richtig nett.«

»Mehr nicht?«

»Na, dann sagen wir reizend.«

»Prämienwürdig, wie? Ist das nicht der Ausdruck, den Sie immer verwenden?«

»Na ja – meiner Ansicht nach steckt Fräulein Blomberg ihren Allerwertesten ein bißchen zu sehr heraus.«

Per runzelte die Stirn. Der Ton des Verwalters verletzte ihn heute. Vielleicht war der Mann doch boshafter, als er geglaubt hatte. Was er da über Pastor Blomberg erzählt hatte, mußte ja pure Verleumdung sein.

Da hörten sie den Wagen der Herrschaften durch den Torweg rollen. Per stand auf und ging ohne Abschied davon.

Die Hofjägermeisterin empfing ihn im Wohnzimmer mit überschwenglichen Ausbrüchen. »Sie ahnen ja gar nicht, was Sie versäumt haben, Herr Sidenius! Pastor Blomberg hat heute ganz wunderbar gepredigt.«

Doch Per hörte gar nicht hin. Neben ihr stand nämlich Inger, und vor Überraschung und Freude über ihren Anblick wurde er ganz verlegen.

»Und jetzt zu Tisch!« sagte die Hofjägermeisterin. Sie legte ihren Arm um Ingers Taille und sah Per mit einem Blick an, als wolle sie ihn eifersüchtig machen. »Mein Mann sitzt schon da!«

 

Es war diesmal ungewöhnlich schwierig gewesen, Inger zu überreden, mit nach Kærsholm zu kommen. Um ihre Mutter zu beruhigen, die neulich nach dem Volksfest im Wald mit ihr über Per in einer Weise gesprochen hatte, die offensichtlich als Warnung dienen sollte, hatte Inger zur Bedingung gemacht, daß sie rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause sein müsse. Und da war denn verabredet worden, daß die Eltern sie selbst am späten Nachmittag wieder abholen wollten.

Wenn sie sich überhaupt entschlossen hatte, Kærsholm zu besuchen, solange Per noch da war, so hing dies lediglich mit den vergessenen Handschuhen zusammen, die sie nicht gern von einem Boten holen lassen, aber doch sehr gern wiederhaben wollte. Es war ihr wirklich eine Qual gewesen, ein Geheimnis mit diesem fremden Mann zu teilen und zu wissen, daß etwas, was ihr gehörte, in seinem Besitz war, auf seinem Tisch lag oder vielleicht als Pfand der Vertraulichkeit in seiner Tasche steckte.

Sie war denn auch kaum einen Augenblick mit ihm allein geblieben, als sie mit ihrer Forderung herausplatzte.

Per schaute sie eine Weile an. Er hatte eigentlich beabsichtigt, sich die Erlaubnis auszubitten, das ihm anvertraute Gut als Erinnerung behalten zu dürfen, doch er bekam es nicht über die Lippen. Sie sah so ernsthaft aus, und in ihrem ganzen Wesen lag etwas, das jegliche Galanterie im Keim erstickte.

So verneigte er sich denn schweigend und ging in sein Zimmer, um die Handschuhe zu holen.

Als er zurückkam und sie allein fand – die Hofjägermeisterin hatte sich gleich nach dem Frühstück unsichtbar gemacht –, schlug er ihr kühn einen Spaziergang durch den Garten vor. Inger überlegte einen Augenblick, kam aber zu dem Ergebnis, daß sie nicht gut nein sagen konnte, ohne unhöflich zu sein. Sie sorgte jedoch dafür, daß sie sich nicht zu weit von der Veranda entfernten und die Hofjägermeisterin sie sehen konnte, wenn sie zurückkam.

Eine eigentliche Unterhaltung führte man nicht, dazu waren beide zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Im selben Augenblick, da Per Inger gesehen hatte, war ihm heute klargeworden, daß er in sie verliebt war, und dies machte ihn verschlossen, fast etwas unhöflich. Inger ihrerseits dachte an die Worte der Hofjägermeisterin, die sie während der Fahrt gesprochen hatte: Herr Sidonius sei in den letzten Tagen schlechter Laune gewesen und diese Stimmung stehe ohne Zweifel mit seiner unglücklichen Verlobung in Zusammenhang. Auch sie hatte ihn beim Frühstück einige Male angesehen und fand ja auch, daß er schlecht aussah. – Er tat ihr im Grunde leid. Sie konnte sich nichts Entsetzlicheres denken, als an jemand gebunden zu sein, den man nicht liebte und vielleicht nicht einmal achtete.

»Ob die Luft draußen auf den Feldern nicht bißchen frischer ist?« fragte Per und blieb an einer Tür im Gartenzaun stehen, die ins Freie führte. »Unter den Bäumen ist es heute so drückend, und die Fliegen hier drinnen sind Ihnen auch lästig, sehe ich.«

Das letztere war tatsächlich der Fall, und Inger erhob auch keine Einwände. Sie hatte die Hofjägermeisterin aufgegeben, ja sie dachte im Grunde nicht mehr an sie. Außerdem: In der weltmännisch-kühlen Höflichkeit, mit der Per die Gartentür öffnete und zur Seite trat, lag etwas, dem sie nicht widerstehen konnte.

Sie kamen auf einen kleinen Grasplatz hinaus, der zu den Wiesen hin schräg abfiel. Es war Wind aufgekommen. Auf der Landstraße tanzten Staubwirbel hin und her, die Wolken hatten sich zerteilt, aber die Luft war noch schwer von Wärme.

»Sind Sie nicht müde geworden?« fragte Per. »Wollen Sie sich nicht setzen? Das Gras ist ganz trocken, und hier weht doch wenigstens ein frischer Wind.«

Inger entdeckte, daß sie wirklich ein wenig müde war, sie bedachte sich, setzte sich aber schließlich doch an den Abhang, wobei sie ihre Füße sorgfältig mit dem Kleid zudeckte.

Diese kleine keusche Bewegung wirkte auf Pers Verliebtheit wie ein Windstoß, der aus einem schwelenden Feuer helle Flammen schlagen läßt. Erst in diesem Augenblick begriff er richtig, wie stark und tief seine Gefühle für sie schon waren, wie unumschränkt dieses blonde Mädchen seine Phantasie bereits beherrschte.

Inger saß mit einem Grashalm im Mund da und blickte über die Wiesen. Ihren großen weichen Strohhut hatte sie sich um die Ohren gebunden, so daß er den Kopf fest wie eine Kappe umschloß. Das hatte sie wegen des Windes getan, im übrigen aber wußte sie sehr genau, daß es sie gut kleidete. Ihr Vater hatte einmal scherzhaft gesagt, mit einem solchen Hut brauche sie nur noch einen blumengeschmückten Hirtenstab und ein weißes Lämmchen am Bande, um einer verkleideten Prinzessin in einer Schäferszene zu gleichen – und für dergleichen Bemerkungen hatte sie immer ein gutes Gedächtnis.

Per hatte sich ein Stückchen von ihr entfernt niedergelassen. Er zwang sich plötzlich, nach der anderen Seite zu schauen.

Ich muß abreisen – und zwar am besten gleich, sagte er sich. Ich will mich nicht lächerlich machen, ich will nicht das Opfer einer hoffnungslosen Verliebtheit werden.

Als sie saßen, geriet die Unterhaltung ins Stocken. Das geschah nicht deshalb, weil Inger Angst hatte, mit ihm allein zu sein. Sie kannte keine Gewissensskrupel mehr – ja wenn sie an die Warnungen der Mutter dachte, fühlte sie sich fast gekränkt; er benahm sich ja mustergültig. Aber die ganze Situation kam ihr doch so ungewohnt kühn vor, daß sie meinte, sie schwebe in der Luft.

Per fing an, sie mit seinen Reiseerlebnissen zu unterhalten, auf die er zurückgriff, wenn ihm nichts mehr einfiel. Doch Inger hörte gar nicht zu. Sie war wieder ganz in Gedanken und grübelte über etwas nach, was die Hofjägermeisterin einmal über ihn gesagt hatte, nämlich daß er ein ziemlicher Schürzenjäger sei und daß ihn diese Leidenschaft auf Abwege geführt habe. Sie faßte diese Worte so auf, daß seine Verlobte nicht nur sehr reich, sondern auch sehr schön war – und so hatte sie sie sich auch stets vorgestellt. Sie wußte nicht, warum, aber sie konnte sich nicht denken, daß er sie nur wegen des Geldes genommen hatte.

Per blickte verstohlen zu ihr hinüber. Noch immer hielt sie den Grashalm im Mund und starrte hinaus auf die blumenübersäte Wiese. Sie hatte sich ein wenig nach vorn gebeugt und das eine Knie hochgezogen, so daß sie den Arm darauf stützen konnte. Die Augen hatte sie halb geschlossen und blinzelte in die Sonne.

»Langweile ich Sie?« sagte er nach längerem Schweigen.

Sie zuckte leicht zusammen, als sie seine Stimme wieder vernahm. Sie errötete sogar ein bißchen.

Plötzlich hörten sie einen Wagen auf den Gutshof fahren.

»Das sind doch wohl nicht schon Ihre Eltern?« rief er erschrocken.

»Das sind sie ganz gewiß«, sagte sie und stand auf. »Ich muß hineingehen.«

Sie zeigte jedoch keine besondere Eile auf dem Rückweg durch den Garten. Als sie hinter der Tür ein paar schöne Margeriten erblickte, blieb sie sogar stehen, um sie zu pflücken.

Hierin lag ein klein wenig Trotz der Mutter gegenüber. Doch vor allem war es eine Äußerung ihres guten Gewissens. Sie war sich keines Unrechts bewußt; aber es sollte auf alle Fälle ihren Eltern nicht verborgen bleiben, mit wem sie spazierengegangen war.

Per ging nicht mit hinein. Er hatte in diesem Augenblick nicht die geringste Lust, irgendeine belanglose Unterhaltung zu führen. An der Verandatreppe verließ er sie daher und ging auf sein Zimmer, das von der Giebelseite her einen eigenen Eingang hatte.

Hier ging er immerzu auf und ab, um sich ein wenig zu beruhigen. Jetzt wollte er Ernst machen mit seinem Aufbruch. Wohin aber sollte er nun reisen? Konnte er nach dem, was geschehen war, zu Jakobe zurückkehren? War es nicht seine Pflicht, ihr ganz offen zu gestehen, daß er eine andere liebte? Und was dann?

Durfte er es zu einem Bruch mit Jakobe und ihrer Familie kommen lassen? Er mußte sich ja Geld beschaffen! Er brauchte Geld! Dieses dumme, verfluchte, schmutzige Geld! Den Plan, eine Summe vom Hofjägermeister zu leihen, hatte er aufgeben müssen. Zwar hatte er ihn nicht um ein Darlehen gebeten, aber doch mit solcher Deutlichkeit auf seine Geldverlegenheit angespielt, daß der Hofjägermeister die Absicht hätte verstehen müssen, wenn er es gewollt hätte. Per war an einem der Fenster stehengeblieben und blickte hinaus, die Hände schwerfällig auf dem Rücken, hinaus auf das schimmernde Licht in den dunklen Laubmassen der Kastanien. Auf jeden Fall mußte er nach Kopenhagen zurück. Und dort – das wurde ihm nun erst richtig klar – bedrohte eine Gefahr von ganz anderer Seite sein Verhältnis zu Jakobe. Er würde Nanny wiedersehen. Und was dann? Nanny hatte ihn hier auf Kærsholm zwar nicht oft beschäftigt, aber er hatte sie deswegen doch nicht vergessen. Mehr als einmal war er nachts aufgewacht, den Kopf schwer von sinnlichen Träumen. Zu seiner Beschämung hatte er sich eingestehen müssen, daß er geträumt hatte, in Nannys Armen zu liegen.

Der Kuß, den sie an jenem Tag wie eine Dirne auf seinen Mund gepreßt hatte, spukte ihm noch im Blut. Daher hatte er keine Veranlassung, allzusehr auf seine Widerstandskraft zu bauen. Wenn er an sie dachte, wie sie ihm oft entgegenkam mit ihrem schamlosen wiegenden Gang, ihrem lüsternen weibchenartigen Schwänzeln – wie sie verheißungsvoll lächelte und zur Seite schaute, mit einem Blick, der wie eine freche Liebkosung wirkte –, dann meinte er zu hören, wie ihre seidenen Unterröcke ihm schon mit dreister Vertraulichkeit zuflüsterten, daß bei ihr Vergessen zu finden sei für die Liebe, die er nicht zu nennen wagte.

Müde legte er die Hand über die Augen. – Wie eine Reihe dunkler Wogen sah er die kommenden Tage auf sich zurollen und schließlich schäumend über seinem Kopf zusammenschlagen.

Er wandte sich vom Fenster ab und begann wieder, mit schwankenden Schritten im Zimmer hin und her zu gehen. Die Hände hatten wieder Ruhe auf dem Rücken gefunden, sein Kopf fiel nach vorn. Etwas Müdes, Schlaffes, Mutloses lag über seiner ganzen Gestalt.

Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch. Es waren Poul Bergers Bekenntnisse – jene Schrift, zu der er sich stets von neuem hingezogen fühlte, weil sie ihm so wunderbar den eigenen Seelenzustand in diesen Tagen zu erläutern schien.

Er nahm das Buch, warf sich in einen der großen Sessel, schlug eine Stelle auf, an der ein Zeichen lag, und las: »Ich bin wie der Hungrige, der sich nicht sättigen will, wie der Kranke, der den Arzt nicht suchen will. – Siehe, es ist Abend, und die Winde stehen still, mein Herz aber ist unruhig. Ich sitze auf dem Hügel, und ich sehe die Sonne an, die langsam im Meer versinkt. Einer Goldglocke gleich hängt sie da über dem blauen Spiegel von Licht und erfüllt die Luft mit Klange. Hört, wie es tönt vom Himmel! Das ist der Engel Gesang! – Warum beuge ich nicht mein Haupt? Warum falte ich nicht meine Hände? Warum knie ich nicht nieder und bete: Vater? – Aber noch vermag ich es nicht. Und dennoch glaube ich – ja ich weiß es: Meine Seele hat mir gesagt, Trost ist allein bei Gott. Ja, spürst du hinwelken dein Leben so freudlos und unfruchtbar, dann wird er die Fülle der Fruchtbarkeit dir schenken. Ja, seufzt du voll Angst unter der Last der Tage, dann wird er das schwere Joch der Welt in Schwingen für deine Schultern verwandeln.«

 

Es war die Absicht der Pfarrersfamilie gewesen, nur einen kurzen Besuch abzustatten. Doch die Hofjägermeisterin überredete sie ohne große Mühe, zum Essen zu bleiben. Nun machten sie alle einen Spaziergang durch die Felder, um nach der Saat zu sehen. Inger ging auch mit und sie blieb gegen ihre Gewohnheit dicht bei der Mutter, ja ging die ganze Zeit Arm in Arm mit ihr.

Per ließ sich noch immer nicht blicken, und weder Pastor Blomberg noch seine Frau hatten bislang von ihm gesprochen.

Sie hatten ihn jedoch keineswegs vergessen. Pers verlängerter Aufenthalt auf Kærsholm erregte sogar mehr und mehr Aufmerksamkeit in der Gegend. Man redete eine Menge darüber, daß der junge Herr großen Einfluß auf die Gutsbesitzerfamilie gewonnen habe, nicht nur auf die Damen, sondern auf den Hofeigentümer selbst.

Ein Körnchen Wahrheit lag in dieser letzten Behauptung, und hiermit verhielt es sich folgendermaßen: Seit mehreren Jahren trug sich der Hofjägermeister mit dem Plan, einen größeren Sumpf zwischen den Hügeln auf seiner Gemarkung zu entwässern. Bei einem kleinen Kaffeeklatsch nach dem Essen hatte er dies Per gegenüber erwähnt und gesagt, er wolle die Sache jetzt ernsthaft betreiben und den Landinspektor herauskommen lassen, damit er das Terrain vermesse und nivelliere. Um sich zu beschäftigen und sich zugleich für die genossene Gastfreundschaft zu bedanken, hatte sich Per erboten, die Arbeit auszuführen; und der Hofjägermeister, der Bauer genug war, um gern zu sparen – vor allem am Groschen –, hatte mit Vergnügen das Angebot angenommen.

Die nötigen Vermessungsgeräte waren vorhanden, und nach ein paar Vormittagen war die recht umfangreiche Arbeit schon beendet.

Dabei war aber Per auf den Gedanken gekommen, eine völlige Umregulierung der Wasserabflüsse nicht nur auf der Kærsholmer Gemarkung, sondern auch auf dem ganzen angrenzenden, mehrere tausend Tonnen Land umfassenden Wiesengelände vorzunehmen. Halb im Scherz, doch auch mit dem Hintergedanken, seine Bemühungen um eine Anleihe dadurch zu unterstützen, zeichnete er eines Abends einen ganzen Plan für den Hofjägermeister, der trotz seiner keinesfalls schnellen Auffassungsgabe nicht lange gebraucht hatte, um sich von dem daraus erwachsenden Vorteil zu überzeugen. Mit dem üppigen Erfindungsreichtum, in dem Pers Talent gipfelte und der ihn in glücklichen Augenblicken genial machte, hatte er es verstanden, durch ein paar klug ersonnene Veränderungen des Flußbetts Voraussetzungen zu schaffen, durch die der Grundwasserspiegel der Gegend um mehrere Zoll sank. Infolgedessen würden große Flächen morastigen Bodens mit verhältnismäßig geringen Kosten in fruchtbares Ackerland verwandelt werden können.

Mit der Gerissenheit eines alten Schacherers hatte sich der Hofjägermeister dem Gedanken gegenüber zu Anfang abweisend verhalten, obwohl er ihn derart in Anspruch nahm, daß er abends kaum einschlafen konnte. Je mehr er sich in die Sache vertiefte, um so klarer wurde ihm, welche Bedeutung die Sache nicht nur für Kærsholm, sondern auch für die ganze Gegend haben könnte. Und was ihm besonders zusagte, es war ihm, als habe er selbst schon eine ganz ähnliche Idee gehabt, weswegen er sich also mit vollem Recht die Ehre zuschreiben konnte.

Genau um sechs Uhr rief ein Gong zu Tisch. Im übrigen trug das Essen dasselbe formlose Gepräge, das dem ganzen Leben auf Kærsholm eigen war. Trotz der Anwesenheit der Pfarrersfamilie und trotz des Sonntags hockte der Hofjägermeister in seiner üblichen Joppe am Tisch und trug dazu seine am Hals schließende Weste. Seine Frau trug zwar ein Seidenkleid, das sogar mit vielen Rüschen und Schleifen besetzt war, aber man sah ganz deutlich, daß es ein altes Gesellschaftskleid war, das aufgetragen werden sollte. Auch die Tafel war nicht besonders festlich, kaum richtig sauber. Nicht einmal eine Blume stand darauf, und Glas und Porzellan waren von billigster Sorte.

Der Hofjägermeister redete anfangs nicht viel, aß aber um so mehr und trank auch viel Wein. Außerdem machte er sich ein Vergnügen daraus, hinterlistig Pastor Blombergs Glas zu füllen, sobald der Geistliche sich abwandte und nichts merkte. Dies hatte zur Folge, daß die beiden Herren nach und nach ganz rote Köpfe bekamen. Und als nun auch die Baronin, die gern als Feindin des Alkohols auftrat, deren Gesicht aber bereits vor Tisch trotz der Schminke verdächtig geglüht hatte, sich »überreden« ließ, ein paar Gläschen Sherry zu trinken, da wurde die Unterhaltung bei Tisch recht lebhaft.

Wegen dieser Lautstärke war es Per vergönnt, ziemlich unbeachtet und in Gedanken versunken dazusitzen. Nur Inger bemerkte seine sonderbare Zerstreutheit. Man hatte ihr den Platz an seiner Seite angewiesen. Und weil ihr Vater auf der anderen Seite saß, war sie sozusagen auf Pers Unterhaltung angewiesen.

Schräg gegenüber saß die Mutter, deren Augen sie verstohlen bewachten, bis die Aufgeräumtheit des Pastors ihrer Aufmerksamkeit eine andere Richtung gab.

Pers Geistesabwesenheit erregte unwillkürlich Ingers Heiterkeit. Sie ahnte nichts von den Ursachen seines ganz veränderten Wesens und amüsierte sich ganz kindlich über die offensichtlichen Anstrengungen, die es ihn kostete, seine Gedanken auf so gleichgültige Dinge wie die Überreichung eines Salznapfes oder den Empfang einer Kompottschüssel zu konzentrieren. Während des ganzen ersten Teils der Mahlzeit war sie sehr lebhaft, und ihre Zungenspitze huschte unablässig über ihre Oberlippe mit der kleinen, schnellen Bewegung, die üblicherweise ihr Lächeln begleitete.

Dann fiel ihr ein, daß er unterdessen vielleicht eine unangenehme Nachricht mit der Post erhalten habe . . . bestimmt von seiner Verlobten, dachte sie weiter. Und die Zungenspitze zeigte sich plötzlich nicht mehr.

Gegen Ende der Mahlzeit schlug Per zur allgemeinen Verwunderung an sein Glas und bat für einen Augenblick um Gehör. Er wolle, sagte er, gern die Gelegenheit benutzen und für die großherzige und nachsichtige Gastfreundschaft danken, die er so lange – viel zu lange – auf Kærsholm genossen habe.

»Sie wollen doch nicht etwa reisen?« unterbrach ihn die Hofjägermeisterin ganz erschrocken mit einem Blick auf Inger.

»Leider ja. Ich darf jetzt die Stimme der Pflicht, die mich von jenseits des Atlantik ruft, nicht länger überhören. Außerdem habe ich ohne Zweifel die Geduld der Gastgeber schon zu lange in Anspruch genommen . . .«

»Oh, Unsinn! Wie können Sie nur so etwas sagen! Hierbleiben sollen Sie!« ereiferte sich die Hofjägermeisterin, unterstützt von einem lallenden Echo aus dem Mund ihres Mannes, der schon ziemlich benebelt war.

Per dankte mit einem Neigen des Kopfes, fuhr aber fort: »So schwer es mir fällt, dieses Haus zu verlassen, das mir so lieb und heimatlich geworden ist, so ergibt sich doch die Notwendigkeit, daß ich jetzt Ernst mache und aufbreche. Doch ich kann nicht von hier scheiden, ohne ausgesprochen zu haben, daß mir die Erinnerungen an meinen Aufenthalt auf Kærsholm stets lieb und teuer sein werden. Und in diesem Zusammenhang darf ich wohl auch dem Bøstruper Pfarrhaus Dank sagen. Besonders erlaube ich mir, Herrn Pastor Blomberg ehrerbietig für die bereichernden Gespräche zu danken, auf deren Bedeutung ich hier nicht näher eingehen will, die ich jedoch sicherlich nie vergessen werde.«

Trotz dieser letzten Versicherung war die Hofjägermeisterin ernstlich enttäuscht. So hatte sie sich den Abschluß nicht gedacht. Aber es mußte auch verhindert werden, daß er abreiste. Später wollte sie mit ihm darüber reden. Sie wollte nicht auf den Triumph für den Blombergschen Glauben verzichten, auf den sie so lange hingearbeitet hatte. Nur durch eine wirklich vollzogene Bekehrung hier auf Kærsholm würde sie sich befriedigt fühlen.

Und den Lohn hielt sie ja in Bereitschaft, dachte sie mit neuerlich liebevollem Blick auf Inger.

Auf die Pfarrersfamilie hatte Pers Rede einen günstigen Eindruck gemacht. Sogar Frau Blomberg war nun milder gestimmt. Unwillkürlich beurteilte sie ihn jetzt weniger streng, weil sie sich durch die Aussicht beruhigt fühlte, ihn bald fern zu wissen.

Inger war ganz erschrocken, als Per aufstand. Was nun, dachte sie. Sein düsteres Grübeln hatte sie nach und nach ein wenig nervös gemacht. Es hatte sie jenes Unbehagen ergriffen, das man neben einer geladenen Kanone empfindet. Als ihr klar wurde, daß er eine Rede halten wollte, beruhigte sie sich, denn sie glaubte nun die Ursache für seine Zerstreutheit gefunden zu haben. Zugleich aber geriet sie in neuerliche Aufregung. Beim ersten Teil seiner Rede schlug ihr das Herz bis zum Hals, aus Angst, sie würde nicht zustande kommen. Eine warme Welle der Erleichterung durchwogte sie, als sie merkte, daß er seine Ausdrücke mit Takt und Geschmack wählte.

Pers Mitteilung an sich überraschte sie nicht. Schon seit langem dachte sie daran, daß er bald abreisen müsse. Und doch war sie davon überzeugt, daß ihn der Brief seiner Verlobten zu diesem plötzlichen Aufbruch veranlaßt hatte. Vielleicht hatte er sogar einen direkten Befehl erhalten, nach Kopenhagen zurückzukehren. Diese Jüdin hatte ihn natürlich völlig in ihrer Gewalt. Sicherlich war sie nicht nur sehr schön und reich, sondern auch sehr kokett, wie es diese Art Damen zu sein pflegten. Sie erinnerte sich, wie die Hofjägermeisterin einmal darauf angespielt hatte, daß er sicherlich ganz unverschuldet in das unglückliche Verhältnis hineingeraten sei.

Die Hofjägermeisterin wünschte gesegnete Mahlzeit, und man hob die Tafel auf.

Per verneigte sich förmlich vor Inger, die seinen Gruß mit scheinbarer Gleichgültigkeit erwiderte. Dann aber drehte sie sich hastig nach ihrem Vater um, schlang ganz gegen ihre Gewohnheit ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn.

Bei der allgemeinen mittäglichen Zufriedenheit hatte keiner diese ungewohnte Zärtlichkeitsäußerung bemerkt. Der Vater streichelte ihr wohlmeinend über das Haar und sagte: »Gesegnete Mahlzeit, Ingerlein.« Nur in Per schlug sich dieser Anblick mit einer Gewalt nieder, die sein Herz für einige Sekunden stillstehen ließ.

Nicht einen Augenblick war ihm der Gedanke gekommen, Inger könnte seine Liebe erwidern. Aber diese kleine Szene weckte Ahnungen, die gleichermaßen die Tore des Himmels und der Hölle für ihn öffneten . . .

Man trank den Kaffee draußen im Garten, wo sich sehr bald etwas zutrug, was die Pfarrersfamilie zu einem schnellen Aufbruch veranlaßte. Der Hofjägermeister hatte Kognak und Likör herausbringen lassen, und obwohl sich der Pastor, der zu seiner Beschämung bemerkte, daß er mehr getrunken hatte, als er vertragen konnte, bestimmt weigerte, noch mehr zu trinken, schenkte ihm der Hofjägermeister das Glas voll und schob ihm das Tablett hinterlistig hin. Als er nach geraumer Zeit sah, daß das Glas leer war, grunzte er vor Vergnügen. In seinem Rausch wußte er nicht, daß er im Laufe des Gesprächs das andere Glas leer getrunken hatte. Sein Entzücken war so groß, daß er zuletzt sogar laut kicherte. Seine blassen Augen schweiften mühsam zu Per an der anderen Tischseite hinüber, um einen verständnisinnigen Zeugen für seinen Triumph zu haben. Doch Per sah und hörte gar nicht, was um ihn her vorging.

Die Pfarrersleute hatten anspannen lassen, und die Hofjägermeisterin, die über ihren Mann verzweifelt war und wußte, wie die Sache enden würde, bat sie nicht, zu bleiben. Der Pastor war allen Ernstes empört. Wenn er sich dennoch nichts anmerken ließ, so deshalb, weil er sich ein für allemal vorgenommen hatte, die Augen vor den moralischen Gebrechen des Hofjägermeisters zu verschließen. Dies tat er teils aus Rücksicht auf die Hofjägermeisterin, teils weil er als praktischer Mann nicht unterschätzte, welche Bedeutung es für ihn in der ganzen Gegend hatte, wenn er als eine Art Vorsehung für das Haus des Hofjägermeisters galt.

Der Diener meldete, der Wagen des Pfarrers sei vorgefahren.

Die Damen waren schon ins Haus gegangen. Inger war beim Kaffeetrinken überhaupt nicht zugegen gewesen. Sie hatte sich an einer anderen Stelle des Gartens aufgehalten, unter dem Vorwand, vierblättrigen Klee zu suchen, in Wahrheit aber, weil sie keine Lust hatte, mit den anderen zusammen zu sein. Sie zeigte sich nun auch sehr ungeduldig, nach Hause zu kommen.

Obwohl ihr Per beim Einsteigen half, schaute sie ihn nicht ein einziges Mal an. Bei der Verabschiedung hatte sie ihm auch nicht die Hand gegeben, obgleich ihre Mutter, besonders aber auch ihr Vater sehr herzlich Lebewohl zu ihm gesagt hatten.

Während der Abfahrt stand der Gutsbesitzer auf der obersten Treppenstufe und balancierte auf seinen langen Beinen. In seiner Fröhlichkeit winkte er mit dem Taschentuch und lächelte ungeheuer zufrieden, weil er beobachtet zu haben meinte, daß der Pastor nicht mehr sicher auf den Beinen war.

Per zog sich zurück. Ihm war ganz schwindlig vor Aufregung. Er mußte sich sogleich setzen, als er auf seinem Zimmer anlangte. Hier drinnen war es fast schon dunkel. Zwischen den Kastanien hindurch sah man die Sonne blutrot untergehen, die einen Widerschein auf Decke und Wände warf.

Per ließ sich in einen der großen Sessel sinken und barg den Kopf in die Hand. Er war in einer Gemütserregung, wie er sie nie zuvor gekannt hatte. Anfangs wollte er sich einreden, er habe sich geirrt. Er suchte sich zu überzeugen, daß alles nur eine törichte Einbildung von ihm sei. Doch er konnte sich nicht beruhigen. Allein die Vorstellung, von Inger wiedergeliebt zu werden, machte ihn ganz toll. Ihm war, als sehe er einen Schimmer des Paradieses gerade in dem Augenblick, da sich das Dunkel auf ewig um ihn schloß.

Er preßte die Hand gegen die Augen und mußte mit den Tränen kämpfen. Ja, die Stunde der Strafe war gekommen! Gottes Urteil war über ihn gefällt! Kains Friedlosigkeit, das einsame Wüstenleben – das war die Hölle, zu der er verdammt war! Aber er hatte ja nichts, worüber er sich hätte beklagen können. Mit vollem Bewußtsein hatte er seine Seele den Göttern dieser Welt verkauft. Der Pakt mit dem »Lykke«, dem Glück, von dem er gelebt hatte, war ein Bund mit dem Teufel, dem Satan. Und dieser hatte ihn verabredungsgemäß reich bezahlt. Gold und Ehren und die Freuden der Wollust – alle Herrlichkeiten dieser Welt hatte er ihm vor die Füße gestreut. Jetzt brauchte er ja nur die Hand auszustrecken und zuzugreifen!

Er sprang auf, die Hände an den Kopf gepreßt. Nein, nein! Gott konnte nicht so unbarmherzig sein. So tief hatte er sich nicht versündigt. Er gab zu, daß er Fehler gemacht hatte – und er war bereit, sich zu bessern. Mit kalter Überlegung hatte er seinen Herzensfrieden verkauft, hatte er die Liebe seiner Mutter, den Segen seines Vaters, das Heimatrecht seiner Seele verkauft, hatte er seine geistige Gemeinschaft mit Land, Volk und Familie geopfert auf den blutbespritzten Altären der Eitelkeit und der Begierde. Aber nicht genug damit! Auf seiner wilden Jagd nach dem Blendwerk hatte er auch auf das Leben anderer Schatten geworfen, war er der Kummer seiner Eltern, die Sorge seiner Geschwister, Enttäuschung und Schande seiner Freunde und Gönner gewesen. Auch Jakobe hatte er betrogen!

Er konnte den Gewissensbissen, tödlich erschrocken wie er war, nicht länger widerstehen. Er sank auf die Bettkante und verbarg schluchzend sein Gesicht in den Händen.

»Gott, o Gott! . . . Ja, ja! Das alles habe ich verdient . . . das alles . . . das alles!«

 

An diesem Abend und in dieser Nacht brach er endgültig mit seiner Vergangenheit. Die ganze Nacht über lag er schlaflos, und während er in Gedanken noch einmal sein Leben durchlebte, fühlte er sich immer schuldiger. Und das Bewußtsein seiner Schuld erzeugte die Demut, die ihm am Vormittag noch gefehlt hatte. Und daraus ging zuletzt das Gebet hervor.

Erst gegen Morgen fand er etwas Ruhe. Als der Diener mit dem Tee kam, schlief er.

Sein erster Gedanke beim Erwachen galt Jakobe und dem Brief, den er ihr jetzt schreiben mußte. Denn auch dies war ihm in dieser Nacht klargeworden: Es war jetzt seine unbedingte Pflicht, ein Verhältnis zu lösen, das doch nie etwas anderes als Kummer und Unfrieden für beide Teile bringen würde. Eine lange Erklärung war gar nicht nötig. Jakobes letzter Brief zeigte ja deutlich genug, daß sie auf den Bruch vorbereitet war, ja ihn im Grunde sogar selbst wünschte.

Sobald er sich angekleidet hatte, setzte er sich an den Tisch und holte seine Schreibsachen vor. Es zeigte sich jedoch, daß es gar nicht so leicht für ihn war, sein Geständnis auf das Papier zu bringen. Über seinen Gottesbegriff konnte er ganz einfach nicht ausführlicher schreiben, er war ihm selbst noch so neu und mußte heiliggehalten werden. Er beschränkte sich auf ein paar allgemeine Redensarten über den Mangel an Übereinstimmung hinsichtlich ihrer Lebensanschauungen, ohne die ein glückliches Zusammenleben auf die Dauer nicht möglich sei. Im übrigen bat er sie, zu glauben, daß er erst nach harten Kämpfen und schweren Herzens das Band zerreiße, das ihm so teuer gewesen sei. In der Absicht, sie vor jeder unnötigen Kränkung zu verschonen, wählte er seine Worte sehr sorgfältig und nahm die ganze Schuld für die Verirrung auf sich, die sie seinerzeit zusammengeführt hatte.

Bis zum Nachmittag, nachdem der Brief abgeschickt worden war, saß er in einem der Gartenhäuschen draußen mit der Hofjägermeisterin, die mit einer Stickerei beschäftigt war. Die Gutsbesitzerin hatte ihm ein Garnknäuel zum Halten gegeben, und nachdem man eine Weile von gleichgültigen Dingen gesprochen hatte, fühlte Per das Bedürfnis, sich ihr anzuvertrauen. Da erzählte er ihr denn ganz offen, daß seine Verlobung aufgehoben sei.

Sie wünschte ihm Glück dazu und sagte, genauso habe sie es auch erwartet. »Und was gedenken Sie jetzt zu tun?« fragte sie nach kurzer Pause. »Sie weisen ja immerhin ein bedeutendes Vermögen zurück, nicht wahr?«

Per erwiderte, dieser Umstand greife natürlich auf vielfache Weise in seine Verhältnisse ein und verlange gewisse Veränderungen. Unter anderem habe er beschlossen, seine Amerikareise aufzugeben – wenigstens vorläufig.

»Das ist sehr vernünftig von Ihnen«, sagte die Hofjägermeisterin. »Diese Reise war noch nie so richtig nach meinem Sinn. Sie sind ja im letzten Jahr genug umhergestreift. Wissen Sie, was ich Ihnen gern vorschlagen möchte? Sie haben ja mit meinem Mann über ein neues Entwässerungssystem hier in der Gegend gesprochen . . . über eine Neuregulierung des Flusses oder was das nun war. Soweit ich weiß, interessiert sich mein Mann für Ihre Ideen, und es ist nicht unmöglich, daß wir sie verwirklichen. Würde es Sie in diesem Fall nicht reizen, die Arbeiten selbst zu leiten und sich hier niederzulassen, bis sich etwas Größeres und Besseres für Sie findet? Die Gegend sagt Ihnen ja zu . . . und Sie haben Freunde hier, die froh sind, Sie hierzubehalten.«

Per sah mit hellem Blick zu ihr hinüber. Er begriff ihre Worte als unfreiwilliges Geständnis der Gefühle, die Inger für ihn hegte. Sie war ja ihre Vertraute. Und sie hätte ihm wohl kaum diesen Vorschlag gemacht, wenn sie wüßte, daß Inger ihn am liebsten nicht hier sähe.

»Wenn Sie mir also Ihr Einverständnis erklären«, fuhr die Hofjägermeisterin fort, »dann will ich mit meinem Mann über die Sache reden. Und da wäre es vielleicht am besten, wenn Sie mit der Sache gar nichts zu schaffen haben. Bis die verschiedenen interessierten Partner hier übereingekommen sind, sollen Sie jetzt die Erlaubnis haben abzureisen. Ich hoffe, wie gesagt, daß alles in Ordnung geht, damit wir Sie recht bald wiedersehen.«

Per setzte seine Abreise auf den folgenden Morgen fest.

Er wollte jedoch nicht geradenwegs nach Kopenhagen. Er hatte das Bedürfnis, seine Vaterstadt zu besuchen, um sein neues Leben mit einer Stunde der Besinnung an den Gräbern der Eltern einzuweihen und sich dadurch gleichsam selbst zu beweisen, daß er es mit seiner Bekehrung ernst und aufrichtig meinte. Zugleich faßte er in einer anderen Sache, die ihn schon seit längerer Zeit beschäftigt hatte, einen Entschluß. Es bedrückte ihn schon lange, daß er noch immer kein Examen abgelegt hatte. Er hatte jetzt selbst eingesehen, daß er ohne ein offizielles Zeugnis nur sehr schwer eine feste, gesicherte Stellung finden würde, wie er sie sich jetzt wünschte, um in Ruhe an seinen Erfindungen zu arbeiten. Besonders jetzt, da der Glanz der Salomonschen Millionen ihn nicht mehr umgab, konnte er das Ansehen nicht entbehren, das ihm ein Examen verlieh.

Um die Versäumnisse der Vergangenheit nach Möglichkeit nachzuholen, nahm er sich vor, das Landvermesserexamen abzulegen oder, richtiger gesagt, die Prüfung zu machen, mit der halbstudierte Polytechniker sich begnügen konnten, um eine Stellung als Landvermesser zu erhalten. Die Vorbereitungen zu dieser Prüfung glaubte er mit einiger Kraftanstrengung in einem halben Jahr bewältigen zu können. Die Mittel für seinen Lebensunterhalt wollte er sich durch eine Anleihe oder einen Vorschuß von Obergerichtsanwalt Hasselager oder anderen Geschäftsleuten verschaffen, die sich für seine Projekte interessierten.

Am Nachmittag machte er einen langen einsamen Spaziergang und nahm Abschied von der Gegend. Seit Tagen war es schwül, und man erwartete ein Gewitter. Der Himmel war bewölkt, und im Nordwesten versank die Sonne brandrot hinter schwarzen Wolken, wie ein blakendes Licht, das in einem Leuchter herunterbrennt.

Als er auf einem Hügel stand, von wo aus er die Kirche von Bøstrup und den Pfarrgarten sehen konnte, überraschte ihn der Regen. Große schwere Tropfen klatschten plötzlich auf seinen Hut. Er blickte auf. Knatternd zerriß im selben Augenblick ein bläulicher Blitz die Wolkendecke, daß die Erde zu zittern schien. Kurze Zeit später strömte das Wasser wie aus einer Schleuse herab. Es konnte keine Rede davon sein, dem Unwetter zu entrinnen. Die Entfernung bis Kærsholm war zu groß. So suchte er seine Zuflucht in einer offenen Scheune, die auf der Wiese stand und während der Heuernte benutzt wurde. Der Regenschauer blieb ihm auf den Fersen, als er quer über ein Feld lief. Er erreichte das schützende Dach, als ihm ein erneuter Donnerschlag um die Ohren krachte.

Er war nicht der einzige, der dort Unterschlupf gefunden hatte. Im Halbdunkel des Schuppens entdeckte er einen großen mageren Mann in einem langschößigen grauen Überrock. Sein Kopf war mit einer altmodischen hohen Mütze mit großem Schirm bedeckt. Es war Pastor Fjaltring.

Per grüßte überrascht, und man tauschte ein paar Bemerkungen über das Wetter aus. Der Pastor fühlte sich offensichtlich nicht sehr wohl bei diesem Zusammentreffen. Die ganze Zeit über stand er halb abgewandt da und rieb sich das Kinn mit der unwillkürlichen Bewegung von Leuten, die sich genieren, weil sie nicht rasiert sind. Als sich Pers Augen nach und nach an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er denn auch, daß Wangen und Kinn des Pastors vor Bartstoppeln gleichsam schimmlig aussahen. Insgesamt machte er einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck. Mit Verwunderung betrachtete Per den Kopf des Pfarrers, um den ein schwarzseidenes Tuch gebunden war, das hinten unter dem Mützenrand hervorsah.

Drüben im Westen erhellte ein neuerlicher Blitz die blauschwarzen Wolken, und Sekunden später bebte wieder die Erde von mächtigem Donner.

»Es hat bestimmt nach Bøstrup zu eingeschlagen«, rief Per etwas ängstlich.

»Sie sind nicht ganz fremd hier in der Gegend, wie ich höre«, sagte der Pastor.

»Ich habe mich hier einige Wochen aufgehalten.«

»Wenn ich nicht irre, so habe ich Sie gestern in der Boruper Kirche gesehen.«

Nun stellte sich Per vor und erzählte, er sei Gast der Gutsbesitzerfamilie auf Kærsholm.

»Mir scheint, ich habe davon gehört. – Sie sind Ingenieur, nicht wahr?«

Per bestätigte dies.

»Ja, wir leben in einem Zeitalter, das dem Techniker gehört, dem Tausendkünstler – frei übersetzt. Es ist verblüffend, wie die Eisenbahnen und Dampfschiffe unseren Erdball unansehnlich gemacht haben – auch für uns! Die Entfernung zwischen den Ländern verringert sich von Tag zu Tag und wird wohl zuletzt noch ganz aufgehoben.«

»Wahrscheinlich.«

»Vielleicht wird es uns sogar gelingen, Mond und Sterne mit unseren Maschinen zu erreichen, physisch unmöglich ist es ja wohl nicht, und da ist uns dann der Weltraum so vertraut, wie unsere Hosentasche. Aber die Entfernung zwischen Nase und Mund können wir trotz allem nicht verändern«, fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu.

Gegen seinen Willen mußte Per lächeln. Er hatte Mitleid mit diesem Mann, der den Eindruck machte, als sei er ein bißchen geistesgestört.

Dann redeten sie wieder eine Weile über das Wetter, mit welcher Plötzlichkeit es gekommen sei, über den Barometerstand und anderes. Als dieses Thema schließlich erschöpft war und es immer noch in Strömen regnete, fing der Pastor wieder von der Oberherrschaft der Techniker an.

»Es gab hier auch Ideen, durch unser Kirchspiel eine Bahn zu bauen. Heutzutage sollen ja am besten gleich vor jedermanns Tür ein paar Schienen laufen. Und ganz überholt ist der Plan wohl noch nicht, soviel ich weiß.«

Per antwortete kurz, die zeitgemäße Entwicklung des Verkehrs sei eine Lebensnotwendigkeit.

Der Pastor grübelte eine Weile. Noch immer stand er abgewandt da und sah in den Regen hinaus. »Eine Lebensnotwendigkeit«, sagte er mit seltsam blassem Lächeln. »Ja, was ist heute nicht Lebensnotwendigkeit geworden? Ärzte, Ingenieure, Pädagogen und Offiziere – jeder kommt mit seinem Anliegen. Hoffentlich geht es uns nicht so wie gewissen Apoplektikern, die an zuviel Blut sterben.«

»Dieser Gefahr sind jedenfalls wir Dänen fürs erste nicht ausgesetzt. Wir haben vorläufig vollauf damit zu tun, all das zu ersetzen, was wir im Krieg vierundsechzig verloren haben.«

»Ersetzen«, wiederholte der Pastor langsam und starrte weiter hinaus, mit einem Blick, in dem sich gleichsam die Blitze flackernd widerspiegelten, die die Wolken im Westen noch immer erhellten. »Ich bin im Gegenteil der Meinung, daß wir immer noch von der Geisteskraft zehren und aufrechterhalten werden, die in jenen bedrängten Jahren im Volk entstand. Damals gab es wirklich einen Augenblick, da uns fast klar wurde, daß es für niemand andere Lebensbedingungen gibt als die Gnade Gottes.«

Per antwortete ein wenig verlegen mit einem alten Sprichwort: »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.«

Aber der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Gottes Hilfe – das ist gerade keine Hilfe.«

»Damals aber haben wir die Krise doch überwunden.«

»Wer hat uns gesagt, daß es mit Gottes Beistand geschah? Will man aus dem schlußfolgern, was seitdem hier im Land geschehen ist, könnte man eher geneigt sein, es der Hilfe des Teufels zuzuschreiben.«

Per fand es im Grunde unsinnig, sich auf eine Diskussion mit diesem halb verrückten Mann einzulassen. Doch in der Art, wie er die Zeit verdammte, lag etwas, was den neuen Menschen in ihm anrührte. Und wieder hatte er das Bedürfnis, Zeugnis abzulegen.

Er sagte, die Gottesfurcht, die das dänische Volk in Zeiten des Unglücks aufrechterhalten und aus den Schwachen Helden gemacht habe – und er dachte hier wieder bewegt an seine Mutter –, habe es auch in Friedenszeiten nicht verlassen, sondern sei die schöpferische Kraft beim Wiederaufbau des Landes, zumindest außerhalb der Hauptstadt.

Aber der Pastor unterbrach ihn einigermaßen schroff und sagte, ein Wort wie »Gottesfurcht« könne man auf die Christen heutzutage gar nicht anwenden, denn sie nähmen ja Gott kameradschaftlich und mit gönnerhafter Miene beim Arm oder warfen sich, wenn es hoch kam, ihm in kindischer Liebe um den Hals. Mit deutlicher Anspielung auf Pastor Blomberg spottete er über »unser gemütliches Altweiberchristentum«, das im Begriff sei, die Nationalreligion des Landes zu werden, und das mit seiner Kinderstubensprache und poetischen Weichlichkeit ja wahrhaftig wie geschaffen sei für das dänische Volk, das auch im Religiösen das Idyll suche und Leidenschaft des Glaubens durch Lyrik ersetze.

»Sie erwähnten gerade das Kriegsjahr. Ja, Sie sind wohl doch zu jung, um sich an diese Zeit zu erinnern. Sonst dächten Sie vielleicht auch einmal mit einem kleinen sehnsüchtigen Seufzer an jene großen Tage der Bedrängnis mit den vielen bleichen Gesichtern zurück. Hat man die Tage erlebt, dann war man Zeuge des Glaubensmuts, der Opferbereitschaft, der Hingabe und Märtyrerfreude, die die Angst vor dem Untergang damals sogar in schlaffen Gemütern erzeugte . . . ja, dann versteht man . . . oder ahnt doch wenigstens, wie sich unser Volk hätte entwickeln können, und man kann nur beklagen, daß damals nicht Ernst gemacht wurde mit unserer Tilgung aus der Zahl der Nationen. Nun müssen wir wohl warten, bis Gott in seiner Gnade die ganze germanische Sippe auflöst, in der wir dann allmählich ganz verschwinden. Denn mit der Seele von Nationen ist es ja wie mit der Seele von Menschen: Erst der Tod befreit sie. Einst spukte der Griechengeist unter den Menschen als Gottes auserwählter Mittler. Später war es Israels Schafhirtenweisheit, der wir als einer von Gott eingeblasenen Sprache lauschten. Einmal wird es wohl der nordisch-germanischen Rasse mit unserer lutherischen Barbarei beschieden sein, einen Zipfel vom Gewand des Ewigen zu offenbaren.«

Per blickte ihn überrascht an, und als es der Pastor bemerkte, brach er plötzlich ab – fast ein wenig ängstlich oder ärgerlich, daß er sich zu so vorbehaltlosen Äußerungen hatte hinreißen lassen. Deswegen ließ er das Thema fallen. Obwohl es noch immer ziemlich stark regnete, verabschiedete er sich hastig und rannte davon.

Noch beim Abendessen war Per ganz erfüllt von dieser Begegnung und befragte die Hofjägermeisterin eingehender über Pastor Fjaltring. Unter anderem wollte er gern wissen, was für eine merkwürdige Kopfbedeckung der Pfarrer unter seiner Mütze trage.

»Er leidet sehr an Nackenschmerzen«, erklärte die Hofjägermeisterin. »Und er bildet sich ein, er habe eine große Geschwulst im Gehirn. Er ist wahrhaftig in jeder Weise zu bedauern.«


 << zurück weiter >>