Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Achtes Kapitel

Um seinen Namen in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und damit auch seine Pläne im Haus Salomon zu fördern, hatte Per sich seit geraumer Zeit mit dem Gedanken getragen, seine Ideen in einer kleinen Schrift zu veröffentlichen. Das sollte seine Antwort an Oberst Bjerregrav sein. Die Schrift dachte er sich als eine Herausforderung an die gesamte einheimische »Ingenieurklerisei«, die ihn hatte knebeln und hinab ins Dunkel stoßen wollen. Die Herren sollten spüren, daß noch Leben in dem Rebellen war.

Unter anderem wollte er die Notwendigkeit einer völligen Umgestaltung des Verkehrswesens des Landes darlegen. Mit Zahlen, die kaum zu widerlegen waren, wollte er beweisen, wie töricht es für ein an Brennstoffen armes und vom Meer umgebenes Land sei, ein kostspieliges Eisenbahnnetz zu entwickeln, statt das Hauptgewicht auf ein weitverzweigtes Kanalsystem zu legen, das gewissermaßen jede kleine Stadt mit den Weltmeeren verbinden konnte. Hiermit wollte er vor allem die Aufmerksamkeit auf sein Projekt lenken, von dem im Buch eine vollständige Beschreibung mit Zeichnungen und Überschlägen gegeben werden sollte.

Im übrigen beabsichtigte er, auch noch umfassendere Betrachtungen mitzuteilen. Angeregt durch Jakobes Worte an jenem Abend über die natürliche Führungsposition der Ingenieurwissenschaft im Kulturkampf der Gegenwart, beschloß er, das Buch mit ein paar treffenden Einleitungssätzen auszustatten, in denen er sich im allgemeinen über die zukünftigen Aufgaben des Landes äußern würde.

Diese Kampfschrift begann er jetzt auszuarbeiten. Obgleich es für ihn ungewohnt war, sich mit der Feder auszudrücken, und Orthographie und Interpunktion nicht seine starke Seite waren, ging er unverdrossen ans Werk. In einem Stil und Ton, die gefärbt waren durch Dr. Nathans Bücher, behandelte er zunächst den tiefen Verfall, in den das »akademische Spießbürgertum« die Nation im Laufe des letzten Jahrhunderts gestürzt hatte, und gab eine düstere Schilderung von der bittersten Armut, in die das Land unabänderlich versinken würde, falls man trotz aller gesunden Vernunft und Erfahrungen anderer Länder sich nicht von den überlieferten Vorstellungen, in der Butter und im Schweinefleisch liege der Segen Dänemarks, befreite und der Bevölkerung resolut neue Einnahmequellen verschaffte. Als Gegenstück entwarf er ein lebensprühendes Bild von dem Wunderreich, in das eine gut entwickelte Industrie verhältnismäßig schnell das Land verwandeln könne. Während die Feder über das Papier tanzte, sah er im Geiste große Schiffe über die blanken Wasserwege seines Kanals dampfen, schwer beladen mit den Rohstoffen ferner Länder. Er sah stolze Fabriken an allen regulierten Flußläufen emporschießen, hörte das Sausen der Schwungräder und das Brausen der Turbinen. Auf der unfruchtbaren jütischen Heide, wo jetzt nur magere Schafe kümmerliche Nahrung fanden, sah er Städte voller Menschengewimmel, neue Siedlungen, in denen nicht Kirchenglocken zu mitternächtlicher Stunde Gespensterfurcht in die Gemüter läuteten, sondern die mit elektrischen Bannstrahlen die Finsternis und ihre Geister in die Flucht jagten.

Eines Tages, als er wieder an seiner Schrift arbeitete und vor Inspirationen glühte, bekam er überraschenden Besuch. Jemand schlug mit dem Knauf seines Stocks ein paarmal schnell gegen die Tür, und herein trat »Direktor« Delft in einem hellen Pariser Anzug, pomadisiert und parfümiert, ein bläuliches Glas vor dem einen stark schielenden Auge.

»Sie haben sich, weiß Gott, gut verkrochen«, begann er ohne jede Einleitung und sah sich prüfend in dem kleinen dunklen Hinterzimmer um, wo überall Papiere und Zeichenrollen herumlagen. »Also hier hocken Sie und stellen sich Ihre falschen Wechsel auf die Zukunft aus! Dies ist wirklich die ideale Falschmünzerhöhle. – Um Gottes willen! Ich störe Sie hoffentlich nicht beim Drucken von ein paar Hunderttausendern? Hahaha!«

Per kannte Herrn Delfts Ausdrucksweise zu gut, um sich dadurch beleidigt zu fühlen. Trotzdem lächelte er ein wenig gezwungen. Er konnte diesen häßlichen Mann nicht ausstehen und war durch den Besuch unangenehm berührt. Was will der alte Schwätzer von mir? dachte er bei sich.

»Es verblüfft Sie doch wohl nicht, mich zu sehen?« erkundigte sich Herr Delft mit erkünstelter Besorgnis, nachdem er sich in den Schaukelstuhl mit der einen Armlehne gesetzt hatte, den Per ihm als Platz angeboten hatte. »Seit langem hatte ich die Absicht, Sie zu besuchen, Herr Sidenius; allein meine Geschäfte ließen mir bisher keine Zeit dazu. Die unruhigen Verhältnisse in China und die Verwicklungen in Indien bereiten unserer Gesellschaft unglaubliche Schwierigkeiten. Den ganzen Tag über muß ich telegrafieren. – Na, jetzt sitze ich also hier, um mit Ihnen – wie man so sagt – ein wenig ins Blaue hinein zu plaudern.«

Hier machte er eine kleine Pause, in der deutlichen Absicht, Pers Neugierde zu erhöhen. Aber Per verhielt sich abwartend und fragte nicht.

Es entstand deswegen ein längeres Stillschweigen, während dessen der Besucher erneut die armselige Stube durch sein Glas genau untersuchte.

»Haben Sie sich je in China aufgehalten, Herr Sidenius? . . . In Indien vielleicht? . . . Aber in Amerika sind Sie gewiß gewesen? . . . Ach, da sollten alle jungen Leute mal hinfahren und einen Kursus besuchen in der Kunst, wie man in der Welt vorwärtskommt.« Erneute Pause. Worauf Herr Delft einen anderen Ton anschlug und vorsichtiger wurde.

»Herr Sidenius, erinnern Sie sich zufällig an ein Gespräch, das wir miteinander führten, als ich das erste Mal die Ehre hatte, Sie im Hause meines Schwagers zu begrüßen? Sie waren so liebenswürdig, sich anerkennend über meine Nichte zu äußern, wofür ich Ihnen sehr dankte. Bei dieser Gelegenheit erlaubte ich mir, Ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, welch ein Vergnügen Ihnen das Studium der vielen lächerlichen Figuren verschaffen könne, die von den jungen Mädchen ins Haus gezogen werden. Habe ich nicht recht gehabt? Ist es nicht oft ein komischer Anblick? Da kommen die jungen Burschen anstolziert und machen ihnen den Hof ohne einen lübischen Schilling in der Tasche und mit Gesichtern, so unschuldig wie ein frischgewaschener Kleinkinderpopo!«

Per dachte bei sich, wenn es nicht wegen Jakobe gewesen wäre, hätte er den alten Kavalier jetzt sehr schnell kopfüber zur Tür hinausgeworfen.

»Und das ist so dänisch, nicht wahr? . . . So echt dänisch«, fuhr Herr Delft unverdrossen fort, wobei er einen neuerlichen mitleidsvollen Blick durch das ärmliche Zimmer warf. »In anderen Ländern wäre so was eine glatte Unmöglichkeit . . . ließe sich überhaupt nicht denken! In Amerika zum Beispiel . . .«

Nun erzählte Herr Delft, was er einst in New York mit einem jungen Mann erlebt hatte, der eine »Riesenkarriere« gemacht und eine Milliardärstochter geborenen Grafen und Baronen vor der Nase weggeschnappt habe, obwohl er nur ein armer Teufel gewesen sei, der in einem Saloon zu Mittag aß.

»Der junge Mensch hieß Stadlmann, ein Österreicher. Er war ein Genie oder ein Scharlatan, wie man es nennen will; Vollmilch und Butter wollte er aus Präriegras ohne den Umweg über die Kühe herstellen. Großartige Idee! In irgendeinem Laboratorium, in dem er herumexperimentierte, wurde er bekannt mit einem Sohn von Samuel Smith – den Namen haben Sie gewiß schon gehört –, einem der Börsengewaltigen in der Fifth Avenue, ein Mann mit sieben- bis achthundert Millionen Dollar, verstehn Sie! Samuel hatte eine einzige Tochter von zwanzig Jahren. Und – weiß Gott – die verliebt sich in diesen armen Schlucker und will sich durchaus mit ihm verheiraten. Was sagen Sie dazu! Der Freier flog natürlich kopfüber die Treppe runter! Wenn ein Mann wie Samuel ganz einfach seine Tochter verschenkt hätte, wäre er ja zum Gespött der ganzen Union geworden. Aber ein paar von uns hatten alles beobachtet; eines Tages sitzen wir in unserem Club zusammen und werden uns einig, daß man aus der Sache Gewinn schlagen könnte. Und auf der Stelle bilden wir eine Aktiengesellschaft.«

»Eine Aktiengesellschaft? . . . Aber worauf?« fragte Per, der anfing zuzuhören.

»Worauf? Auf den jungen Mann natürlich . . . auf seine Chancen sozusagen. Wir brachten ein Aktienkapital zusammen . . . erst fünf-, dann zehntausend Dollar, damit er sich wie ein junger Lebemann in New York einrichten konnte, damit er sich eine komfortable Wohnung am Broadway mieten, Diener und Reitpferd halten, den Journalisten Soupers geben und in den Zeitungen erwähnt werden konnte . . . Kurz und gut, nach zwei Monaten war sein Name in der ganzen Street bekannt. Und dann fuhr er eines Tages hin und bat Samuel um die Hand seiner Tochter.«

»Und bekam er sie?«

»Nein, nicht mal einen abgeschnittenen Nagel von ihr. Samuel verfolgte seine eigenen Pläne mit dem Mädchen. Er selbst war der Sohn eines Müllkutschers, und nun wollte er seine Tochter um jeden Preis mit einem Edelmann verheiraten.«

»Aber was wurde aus der Aktiengesellschaft?«

»Die entwickelte sich ausgezeichnet. Es war ein Geschäft von gut und gern zweihundert Prozent.«

»Das verstehe ich nicht. Wenn der Vater die Tochter doch bloß einem Adligen geben wollte . . .«

»Ja, wir verschafften dem Burschen natürlich den Adel. Das kostete uns viertausend Dollar. Aber dafür war es auch einer der ältesten und vornehmsten Namen in Europa. Es ging ganz leicht. Der junge Kerl lieferte uns die Adresse einer alten verwitweten Gräfin von Raben-Rabenstein, einer armen alten Person, die in seiner Heimat ein Pensionat für junge Mädchen hatte. Wir schickten ihr einen langen Brief mit einer Fahrkarte nach New York und zurück und ersuchten sie um ihre ehrenwerte Anwesenheit anläßlich der feierlichen Einweihung eines Kinderheims, das wir in philanthropischer Absicht errichtet hätten. Es waren sage und schreibe drei Kinder, die wir auf der Straße aufgelesen hatten, und ein betagtes, versoffenes Negerweib, das wir für drei Monate engagiert hatten. Aber das erzählten wir der Gräfin natürlich nicht. Das Asyl sollte den Namen der Kaiserin tragen und hauptsächlich zur Aufnahme von Kindern österreichischer Eltern dienen . . . Dem konnte sie nun nicht widerstehen! Es war eine göttliche Komödie. Bei ihrer Ankunft mit dem Dampfschiff wurde sie von der gesamten Interessengemeinschaft mit Blumensträußen begrüßt und in einer Kutsche mit vier Pferden zu einem Galaessen ins Hotel Netherland gefahren, wo sie den Journalisten als Herrn Stadlmanns leibliche Tante vorgestellt wurde. Das war auch alles am Tage darauf in den Zeitungen zu lesen. Dann zeigten wir ihr eine nach Recht und Gesetz aufgesetzte Adoptionsurkunde und fächelten ihr mit einem Tausenddollarscheck so lange vor der Nase herum, bis sie schwach wurde. Sechs Monate später feierte man mit fürstlicher Pracht die Vermählung des neugebackenen Grafen von Raben-Rabenstein in Anwesenheit der gesamten Aristokratie des Landes. Ich kann mitreden, denn ich war selbst unter den Eingeladenen und hatte die Ehre, die junge Herzogin von Catania, geborene Simpson, zu Tisch zu führen.«

Per saß nach vorn gebeugt da und zwirbelte nervös seinen Schnurrbart. Herr Delft hatte mit dieser Geschichte seinen wunden Punkt getroffen: die Geldverlegenheit. Seine Mittel reichten schon jetzt knapp für seine persönlichen Bedürfnisse, woher sollte er das Geld zum Druck eines Buches bekommen? Diese Frage hatte ihm schon viel Kopfzerbrechen bereitet.

Mit erzwungenem Lächeln hatte Per die weitläufige Geschichte angehört, die aufs Haar den Räubergeschichten glich, die Herr Delft gewöhnlich nach Tisch im Hause des Schwagers zum besten gab. Vielleicht war es das klügste, wenn er sich mit diesem durchtriebenen Halunken gut stellte, und er überlegte, ob er sich nicht mit seiner Hilfe unter nicht allzu unverschämten Bedingungen ein Darlehen verschaffen könnte.

»Es ist im Grunde gar kein schlechter Gedanke, auf die Aussichten eines jungen Mannes hin eine Aktiengesellschaft zu bilden. Wissen Sie was, Herr Direktor, dieses Geschäft sollten Sie auch hierzulande einführen. Ich habe bloß einen Einwand: Warum gerade auf Ehechancen spekulieren? Die sind doch im allgemeinen zu unberechenbar. Warum nicht besser auf eine andere der vielseitigen Möglichkeiten setzen, die sich einem tüchtigen und energischen jungen Mann eröffnen können? Was halten Sie beispielsweise von einem Ingenieur mit irgendeiner guten Idee . . . einem originellen Wasserbauprojekt zum Beispiel . . .?«

»Ich gebe zu«, antwortete Herr Delft mit unbarmherzigem Lächeln, »auf den Namen kommt es weniger an, wenn er nur wohlklingend ist. Die Gesellschaft, von der ich sprach, nannte sich beispielsweise ›Company zur künstlichen Herstellung von Frischmilch und Sahne‹. Ein vortrefflicher Name. Daraufhin konnten wir einige gutgläubige Butterhändler dazu bringen, sich als garantierende Gesellschafter einzuzeichnen.«

»Bien! Sie meinen also, es wäre möglich, hier ein ähnliches Konsortium zu bilden, wenn beispielsweise jemand Berechnungen und genaue Überschläge vorlegte, die hinreichend verdeutlichten, daß sein Plan – mit Energie durchgeführt – einmal Millionen einbringen könnte?«

»Ja, warum nicht?«

Die überraschende Offenheit der Antwort machte Per mißtrauisch. Er will mich in eine Falle locken, dachte er. Delft kennt meine Pläne, und jetzt will er mich zu einem offenen Bekenntnis verleiten, damit er mich hinterher vor Jakobe und ihrer Familie bloßstellen kann.

Er zog sich wieder in sich selbst zurück und schwieg. Aber als Herr Delft nun seinen Hut nahm, als wollte er gehen, wurde er trotzdem unruhig. Er sagte sich, er sei ja doch gezwungen, nach irgendeinem verzweifelten Ausweg zu suchen, um sich Geld zu verschaffen; und er beschloß, sich auf alle Fälle noch ein Stückchen weiter vorzupirschen. Aber plötzlich überfiel ihn ein großer Lebensüberdruß. Er fühlte sich entwürdigt durch diese endlosen Geldsorgen. Es peinigte ihn, daß er unablässig Schleichwege gehen, heucheln und lügen mußte, um sich das Nötige zu beschaffen.

In einer Art Verzweiflung überwand er alle Bedenken und erklärte: »Herr Direktor, lassen wir das Versteckspiel! Ich kann es Ihnen anmerken, daß Sie meine Neigung für Ihre Nichte kennen, und ich gestehe Ihnen gern, daß es in meiner augenblicklichen Lage recht unbesonnen von mir ist, Hoffnungen auf eine Dame mit so vielen bemerkenswerten – inneren wie äußeren – Vorzügen zu hegen.«

»Sehr hübsch gesagt, sehr hübsch!«

»Nun gut, Sie selbst haben die Sache zur Sprache gebracht, und damit haben Sie mir eine gewisse Berechtigung gegeben, Ihnen folgende freimütige Frage zu stellen: Wollen Sie, Herr Direktor, sich zu meinen Gunsten verwenden, um hier eine solche Aktiengesellschaft, von der wir vorhin sprachen, zu gründen?«

»Ich?« rief der kleine Mann aus und erhob sich in erheuchelter Bestürzung halb von seinem Stuhl.

»Ja, Sie!« erwiderte Per. »Ich gestehe, ich bin zur Zeit in großer Verlegenheit. Ich brauche Geld . . . Ich muß Geld haben, und wenn ich es stehlen sollte!«

Herr Delft, der im übrigen annahm, Pers Absichten galten immer noch Nanny, war nun dahin gekommen, wohin er wollte. Pers letzte Worte gefielen ihm. Sie bestärkten ihn in hohem Grad in dem Glauben, daß Per die Bedingungen erfüllen konnte, die nötig waren, um Karriere zu machen und eine Position in der Gesellschaft zu erreichen, die sich für die Tochter seiner Schwester geziemte.

Er lachte plötzlich ganz vergnügt. »Sie sind wirklich nicht auf den Kopf gefallen! Ich glaube fast, Sie schlagen mir ein Geschäft* mit meiner eigenen Nichte vor. Na ja – den Gedanken respektiere ich. Aber ich tätige keine Privatgeschäfte mehr. Auch nicht mit jungen Mädchen. Doch nun will ich Ihnen verraten, weswegen ich gekommen bin. Ich habe zu Ihnen Vertrauen, junger Mann! Ich glaube an Ihre Zukunft und will Ihnen helfen. Sie brauchen Geld; Sie sollen es haben. Aber ich sage Ihnen gleich: hier ist nicht die Rede von Zinsen oder dergleichen! Es ist also kein Geschäft, verstehen Sie, Sie können es nennen, wie Sie wollen. Kennen Sie David Griesmann, unsern Obergerichtsrat? Er wohnt in der Klosterstræde. Bei ihm können Sie abheben, was Sie fürs erste benötigen, gegen eine Sicherheit auf nun ja, auf die zu erwartenden Einnahmen natürlich, die sich aus Ihren eminenten Entdeckungen ergeben werden. Aber – und das merken Sie sich – mein Name darf nicht erwähnt werden. Wenn mich einer fragt, ob ich Ihnen das vorstrecke, leugne ich es glattweg. Damit Sie Bescheid wissen!«

Per erwiderte nichts. Herrn Delfts Ton und überlegene Beschützermiene hinderten ihn daran, die Verhandlung fortzusetzen; außerdem hatte er nicht das geringste Zutrauen zu diesem allzu uneigennützigen Angebot.

Als der »Direktor« nun erneut nach seinem Hut griff, hielt er ihn darum auch nicht länger zurück. Er bemerkte lediglich mit einem Lächeln – um eine Art Erklärung zu geben: »Natürlich fasse ich Ihr Angebot als einen witzigen Einfall auf. Sie werden sicherlich ebenfalls meine Worte lediglich als Scherz verstanden haben. Sie hatten mich mit Ihrer amerikanischen Geschichte dazu verleitet.«

Herr Delft sah ihn zuerst ein wenig überrascht an. Dann lächelte er sein allerunbarmherzigstes Lächeln. »Gottbewahre, Herr Ingenieur! Sie haben zuwenig Zutrauen zu meinem Auffassungsvermögen. Doch daran ist nichts auszusetzen. Wie gesagt, sollten Sie bei Gelegenheit Lust verspüren, den Scherz fortzusetzen, so wissen Sie, wo Herr Griesmann wohnt. Zwischen zehn und vier ist er im Büro anzutreffen. Und ich kann Ihnen versichern, er hat viel, ja sogar sehr viel Sinn fürs Komische! Empfehle mich!« Er hatte die Hand bereits auf die Türklinke gelegt, als er sich noch einmal zu Per umdrehte, der am Tisch stehengeblieben war. »Noch ein Wort, Herr Sidenius! Sie haben meinem Neffen von der verwitweten Baronin von Bernt-Adlersborg erzählt, nicht wahr? Entschuldigen Sie meine aufdringliche Frage . . . kennen Sie die Dame näher?«

»Nein. Ich kannte ihren verstorbenen Bruder flüchtig. Aber wieso wollen Sie . . .?«

»Entschuldigung! Es ist eine ältere Dame, nicht wahr? Und offensichtlich ein wenig . . . ein wenig morsch* im Kopf?«

»Kann sein. Aber darf ich wissen . . .?«

»Und Sie haben kürzlich einen Brief von ihr erhalten, einen freundlichen Brief aus dem Ausland. Ivan hat es mir mitgeteilt. Sie hatte Sie gebeten, sie diesen Sommer auf ihrem Gut zu besuchen, und nun bedauert sie, daß sie sich einer Kur unterziehen muß und erst im Winter zurückkommt? Ist es so richtig?«

»Zum Teufel noch mal!« rief Per jetzt ungeduldig und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wieso stellen Sie mir alle diese Fragen?«

Doch ohne sich einschüchtern zu lassen, trat das häßliche Männlein dicht an ihn heran, hob sich auf die Zehenspitzen und sprach: »Nun – ich will es Ihnen sagen –, es könnte möglicherweise auch hierzulande Leute geben, die ihre Töchter nur an Männer mit adligen Namen verheiraten wollen. Empfehle mich!«

 

Salomons waren schon Ende Mai in ihren Sommersitz »Skovbakken« hinausgezogen, eine Villa an der Küste, ungefähr eine Stunde von Kopenhagen entfernt. Per machte sich sonntags, wenn dort offenes Haus war, gern dorthin auf den Weg. Er stellte sich dort auch zu anderen Zeiten unter dem Vorwand ein, sich mit Ivan über den Druck von Büchern und ähnlichen Dingen beraten zu wollen, die seine Kampfschrift betrafen. Daß nicht alle in der Familie von seinem Kommen entzückt waren und daß besonders Nanny ihm häufiger den Rücken als das Gesicht zuwandte, nachdem ihr nämlich klargeworden war, daß er sie verschmähte, kümmerte ihn nicht weiter. Von dem Augenblick an, da er zu der Überzeugung gekommen war, daß er ihre Schwester liebte und es seinen Zukunftsplänen wohl kaum schaden dürfte, falls er seiner Neigung folgte, suchte er bei seinen Besuchen ausschließlich Jakobes Gesellschaft.

Nun war es jedoch unglücklicherweise in Jakobes Empfindungen für ihn zu keiner entsprechenden Steigerung gekommen. Im Gegenteil. Etwas von dem Unbehagen, das er ihr bereits bei ihrer allerersten Begegnung eingeflößt hatte, war wieder in ihr lebendig geworden nach jenem abendlichen Gespräch in Kopenhagen, als er ihr sein Verhältnis zu Eltern und Geschwistern anvertraut hatte. So aufrichtig ihr Haß auf das Christentum auch war, stießen die scheinbare Ruhe und Gefühllosigkeit sie ab, mit der er damals darüber gesprochen hatte. In ihrer mosaischen Ehrfurcht vor dem Elternhaus und der Familie erschreckte sie eine derartige Unversöhnlichkeit den Angehörigen gegenüber.

Außerdem war nun etwas in seinem Auftreten, das unangenehm auf sie wirkte. In dem Maße, wie er allmählich seine gesellschaftliche Unsicherheit überwand, die bisher seinem Selbstgefühl einen Dämpfer auferlegt hatte, äußerte sich bei ihm unter anderem eine unangenehme Geschwätzigkeit. Nachdem er ein Dutzend Bücher von Dr. Nathan und gleichgesinnten Schriftstellern gelesen hatte, meinte er über ein hinreichend fundiertes Wissen zu verfügen und stürzte sich mit provinzieller Unbefangenheit in jedes Gespräch über den großen Befreiungskampf der Zeit. Besonders nach dem Essen, bei dem er gern viel trank, verkündigte er, ja predigte er unverzagt die kommende hohe Zeit der Menschheit und die Evangelien der Naturwissenschaft, was häufig Lächeln und Verlegenheit bei den Zuhörern hervorrief.

Er wollte sich auf jede Weise hervortun. Auf Spaziergängen im Wald sprang er über alle Markierungspfähle und forderte die anderen Herren auf, es ihm gleichzutun. Wenn sie Boot fuhren, faßte er sofort beide Ruder, um sich mit seiner Armkraft zu brüsten. – Auch mit seiner Kleidung erregte er Anstoß. Einer wenig feinen Mode entsprechend, saß sein Anzug sehr stramm und hob in fast anstößiger Weise seine kräftigen Körperformen hervor. Dazu hatte er sich nun für den Sommer besondere, sehr tief ausgeschnittene Hemden angeschafft, die nicht nur seinen muskulösen Hals frei ließen, sondern auch die obere Hälfte der Brust den Blicken preisgaben, was ihm eine unangenehme Ähnlichkeit mit jenen jungen Burschen verlieh, die sich von der Liebe der Freudenmädchen ernähren.

Nanny machte sich jedesmal über ihn lustig, wenn er zu Besuch dagewesen war. Sie sagte dann gewöhnlich: »Wenn er eines schönen Tages noch vor Angeberei platzt, dann wird es, fürchte ich, hinten passieren.«

Trotz allem hatte Jakobe beinahe Mitleid mit Per. Doch als ihr endlich klar wurde, daß seine Bemühungen nicht ihrer Schwester, sondern ihr selbst galten und daß er ihretwegen mit seiner Kraftnatur protzte, da wußte sie nicht länger, was sie noch mit ihm anstellen sollte. Sie sorgte dafür, daß sie mit ihm nie mehr allein blieb, und sie bat ihren Bruder, er solle ihn endlich dazu bringen, seine geplante Reise ins Ausland anzutreten. Es gehe nicht an, erklärte sie, daß er immer wieder ins Haus komme, ehe er nicht selbst seinen Mangel an Kultur eingesehen habe; und hierzu würde ihm ein Aufenthalt in der Fremde bestimmt am schnellsten verhelfen.

Zuletzt wurde ihr der Gedanke an seine Absichten unerträglich. Eines Tages wäre es fast zu einem peinlichen Auftritt gekommen. Es war Anfang Juli. Die Familie saß auf der breiten, mit Kies bedeckten Terrasse vor der Villa und genoß die kühle Abendluft nach einem drückend heißen Tag. Soeben war man vom Tisch aufgestanden und saß nun beim Kaffee. Auf der monumentalen, zweigeteilten Marmortreppe, die zwischen Rosenbüschen zum Wasser hinunterführte, tollten die kleineren und kleinsten Kinder in ihren weißen Kleidern und mit großen Sonnenhüten. Es war mitten in der Blütezeit. Die Büsche glühten vor Farben. Bei jedem Windstoß glitt eine Woge von Wohlgerüchen über den Kaffeetisch und vermischte sich mit dem Duft von Philip Salomons Havannazigarre.

Es waren keine anderen Gäste anwesend als der Hausfreund Herr Eybert, der tags zuvor von seiner jährlichen Badereise mit einer neuen, kaum zu bemerkenden kleinen Scheitelperücke von Gossec aus Paris zurückgekehrt war. Der vierzigjährige Mann nahm sich recht jugendlich aus, wie er so dasaß, gebräunt von der Sonne Südfrankreichs, und von seinen Alpentouren und von gemeinsamen Bekannten erzählte, die er unterwegs getroffen hatte. Philip Salomon, der ein Stück vom Tisch abgerückt war, um die Abendzeitungen zu überfliegen, warf hin und wieder eine Frage dazwischen oder teilte Ivan eine Börsennachricht mit. Mühelos verfolgte dieser Mann zwei, drei verschiedene Unterhaltungen, wobei er gleichzeitig fünfstellige Zahlen im Kopf multiplizierte und sich das Ergebnis irgendwo in seinem bewundernswert scharfen Gedächtnis vermerkte. Und trotzdem genoß keiner von ihnen allen bewußter als er den Frieden des Abends, den Rosenduft und die Geborgenheit und das Glück dieses häuslichen Lebens.

Nanny war nicht zu Hause. Unmittelbar nach Tisch war sie mit einer Freundin fortgegangen, um ein Sommerkonzert in Klampenborg zu besuchen, zu dem Dyhring, der Journalist, sie eingeladen hatte.

Gegen acht Uhr tauchte Per plötzlich auf. Er war schlechter Laune. Notgedrungen, aber ohne sich davon etwas zu versprechen, hatte er am Vormittag Obergerichtsrat Griesmann aufgesucht, an den ihn Herr Delft mit mystischen Worten verwiesen hatte. Zu seiner Verblüffung wurde ihm sofort eine größere Summe ausgezahlt, nachdem er lediglich seinen Namen genannt und eine Quittung ausgeschrieben hatte. Doch obgleich er hiermit für lange Zeit von der einzigen, wirklichen Sorge befreit worden war, die er noch kannte und anerkannte, war er unzufrieden und unruhig nach Hause gegangen. Mit einem Gefühl, als habe er sich verkauft, hatte er das Bündel Scheine in seiner Schublade verschlossen, ohne es auch nur nachzuzählen.

Der Anblick des heimgekehrten Nebenbuhlers, der verjüngt an der Seite Jakobes saß, verbesserte seine Stimmung nicht. In dem Wust sehr gemischter Gefühle, aus denen Pers Liebe zu der jungen Dame bestand, war die Eitelkeit eines der herausragendsten; und selbst ein weniger mißtrauisches Auge als das seine hätte sofort sehen können, daß Jakobe nicht wenig angetan war von der Rückkunft des Herrn Eybert.

Mit berechneter Nachlässigkeit begrüßte er seinen Rivalen. Aber er übertrieb leider so sehr, daß es seine Wirkung verfehlte und der andere ein Lächeln nicht unterdrücken konnte.

»Ich glaube, ich habe das Unglück gehabt, mir den jungen Mann zum Feind zu machen«, sagte er auf französisch halblaut zu Jakobe, die es unterließ zu antworten.

Indessen waren die Worte auch von Per verstanden worden, und sein Gesicht wurde fahl. Trotz wiederholter Aufforderung, doch Platz zu nehmen, blieb er stehen. Selbst als Ivan einen Stuhl ganz dicht an ihn heranschob, setzte er sich nicht. Nur die Hand legte er auf die Lehne, und in dieser Stellung starrte er Eybert mit unverschämtem Blick an. Die anderen begannen unruhig zu werden. Aber in diesem Augenblick kamen glücklicherweise neue Gäste, und ein Skandal wurde vermieden.

Jakobe verwand jedoch den ganzen Abend lang nicht die angstvolle Spannung dieser Minuten. Sie gelobte sich, künftig die Anmaßungen dieses törichten Knaben zurückzuweisen. Offenbar war sie bereits allzu nachsichtig mit ihm gewesen. Falls er sich noch ein einziges Mal ein derartiges Benehmen erlaubte, wollte sie den Vater bitten, ihm das Haus zu verbieten. Dieser dumme, eingebildete Bursche! Was mußte Eybert nur denken?

Als die Gäste gegangen waren und die Mutter und Jakobe schweigend ein paar Augenblicke allein auf der Terrasse gesessen hatten, fing die erste an, von Eybert zu sprechen. »Ich glaube, er sorgt sich um seine kleine Astrid. Sie ist wieder einmal nicht ganz gesund.«

»Soo«, sagte Jakobe und errötete langsam. »Ich habe nicht gehört, daß er davon sprach. Es ist hoffentlich nichts Schlimmes?«

»Das glaube ich nicht; aber es war sicher der Grund, weswegen er so früh nach Hause kam. Er hat nicht viel Zutrauen zu seiner Haushälterin. Wahrhaftig, er ist übel dran, der Ärmste.«

Die letzten Worte schien Jakobe zu überhören. Sie lehnte sich in den Korbstuhl zurück, faltete die Hände im Schoß und sah über den Sund hinaus, der blank und milchweiß unter einem hohen, leeren, sternenlosen Abendhimmel lag. Drüben an der schwedischen Küste glühten noch die Fensterscheiben im Schein der untergehenden Sonne.

Es war kein Geheimnis für sie, daß ihre Eltern es sehr gern sähen, wenn sie sich mit Eybert verheiratete. Besonders in letzter Zeit war die Mutter eifrig bemüht gewesen, sie in dieser Richtung zu beeinflussen, was Jakobe allerdings etwas aufgebracht hatte, weil es völlig überflüssig war. Während des vergangenen Monats waren ihre Gedanken öfter zu ihm geschweift als je zuvor in der langen Zeit ihrer Bekanntschaft. Während seiner Abwesenheit hatte sie zum ersten Mal allen Ernstes seine Gesellschaft vermißt. Fast täglich hatte sie sich nach ihm gesehnt . . . nicht nur nach dem vertrauten Meinungsaustausch über all das Trostlose, das sich in der Welt ereignete, sondern auch nach seiner Gegenwart, nach seinem heiteren Lächeln, seinen klugen Augen und nach der abgeklärten Ruhe, die sein Wesen prägte und die so wohltuend auf sie wirkte. Als sie vorhin errötete, hatte dies seine Ursache in dem tiefen Eindruck gehabt, den die Mitteilung von der Erkrankung seiner kleinen Tochter bei ihr hervorrief. In diesem Augenblick hatte sie in verschämter Verwirrung gefühlt, daß sie sich schon fast als die Mutter seiner Kinder betrachtete.

Sie wußte gut, daß sie ihn nicht so liebte, wie sie früher andere geliebt hatte; aber deshalb quälten sie keine Skrupel. Jetzt, in ihrem reiferen Alter, zog sie die vertrauensvolle Sicherheit, die sie an seiner Seite empfand, dem verheerenden Fieber heißer Leidenschaft vor. Sie sagte sich: Wenn er auch nicht der stolze und herrliche Wahrheitssucher war, von dem sie im Überschwang ihrer Jugend geträumt und dem sie Ruhe und Freude hatte schenken wollen, so war er doch ein Mann mit einer ernsten Überzeugung. Und war er auch nicht mehr jung an Jahren, so verunstaltete ihn nicht jene Unfertigkeit und falsche Männlichkeit, die bei jungen Männern oft abgeschmackt wirkt.

Außerdem umgab ihn stets ein reiner, angenehmer Geruch, was unendlich viel für sie bedeutete, denn sie konnte mit keinem zusammen sein, ohne einen bestimmten Geruchseindruck von dem Betreffenden zu empfangen. Noch lange Zeit nachher wurde sie zu ihrer großen Qual davon verfolgt, mitunter bis zu einer unerträglichen Halluzination. Per spürte sie schon über drei Meter entfernt an dem Gestank nach Armut, Muffigkeit, schlechter Körperpflege und altem Tabakrauch, der in seinen Kleidern hing.

Schließlich hatte Eybert einen Vorzug, der sie beschäftigt hatte, bevor er ihr noch irgendwie sympathisch geworden war. Er stammte aus einer angesehenen Familie, und dank seiner guten Vermögensverhältnisse und akademischen Bildung – er war Kandidat der Staatswissenschaften – war er schnell einer der führenden Männer des aufblühenden Kopenhagener Liberalismus geworden, mit einem Sitz im Ting und einem nicht unbedeutenden Einfluß auf die Politik seiner Partei. Diejenigen, denen es Vergnügen bereitete, Ministerlisten zusammenzustellen, für den Fall, daß freisinnige Anschauungen einmal in der Regierung vertreten sein würden, nannten gern in erster Linie seinen Namen. Eine solche Aussicht auf Größe und Macht hatte für sie stets etwas Verlockendes gehabt. Die Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichem Rang und äußeren Auszeichnungen, die sie zur Schau trug, war nicht ganz echt; sie war ein Notbehelf, den Klugheit und Stolz ihr geboten. In flüchtigen Augenblicken ließen noch die Träume ihre Wangen erglühen, sich am Hof selbst Genugtuung für alle Demütigungen zu verschaffen und am Arm von Kaisern und Königen über die Verächter ihrer Rasse zu triumphieren. Wenn nicht ihr nüchterner Verstand sie schnell von der Phantasterei solcher Gedanken überzeugt hätte, ließe sie den armen Eybert sicherlich nicht so lange vergebens warten.

 

Per beschloß nach seinem Zusammenstoß mit Eybert, möglichst bald um Jakobes Hand anzuhalten. Nun, da er zu Geld gekommen war, wollte er nämlich Ernst machen und für ein Jahr verreisen, um im Ausland praktische Studien zu treiben – in Europa und in Amerika. Doch vorher wollte er Jakobe an sich binden. Er wagte es nicht, sich der Gefahr auszusetzen, daß Herr Eybert oder ein anderer lauernder alter Fuchs sie ihm in seiner Abwesenheit wegschnappte.

Daß Jakobe ihn nicht ermunterte, sondern deutlich seine Gesellschaft mied, ließ seinen Mut nicht sinken. Von Anfang an war er sich darüber klar gewesen, daß er vorsichtig zu Werke gehen, sie sozusagen Stück für Stück erobern mußte. Im übrigen meinte er ihrem Herzen bereits sehr nahegerückt zu sein. Die gesteigerte Scheu, mit der sie ihn in letzter Zeit behandelte, faßte er als ein gutes Omen auf. Nun wollte er sich ein wenig fernhalten und ihr Ruhe und Zeit zum Überlegen lassen, bevor er sein Vorhaben verwirklichte.

Eines Tages erhielt er einen Eilbrief von Ivan, worin dieser ihm voll Freude mitteilte, der Artikel, den Dyhring über seine Ideen zu schreiben versprochen hatte, gehe in Druck und werde wahrscheinlich bereits am folgenden Tag im »Falken« erscheinen. »Tun Sie mir den Gefallen«, schrieb er, »und statten Sie Dyhring einen Besuch ab. Ich weiß, er legt Wert darauf. Bedenken Sie, daß es für Sie von Bedeutung sein könnte, wenn Sie den Unwillen überwinden, den Sie vielleicht bei einem solchen Schritt empfinden. Dyhring könnte Ihnen auf manche Weise von Nutzen sein, jetzt und in Zukunft. Wie ich mir bereits früher erlaubte, Ihnen zu sagen, lieber Sidenius: Der Beistand der Presse ist heute eine unumgängliche Notwendigkeit!«

Per schlief wenig in der folgenden Nacht. Ivan hatte ihn vor einer Woche wieder mit dem angesehenen jungen Journalisten zusammengeführt, und bei dieser Gelegenheit hatte Per endlich den Bitten des Freundes nachgegeben und seine Geheimnisse ein wenig gelüftet. Übrigens hielt er es selbst für recht klug, auf diese Weise seiner Schrift den Weg zu bereiten. Nun war er darauf gespannt, zum ersten Mal seinen Namen und seine Gedanken der staunenden Welt verkündet zu sehen.

Doch es bereitete ihm nur Ärger und Enttäuschung. Statt des Leitartikels, den er erwartet hatte, fand er auf der dritten Seite der Zeitung eine halbe Spalte, gedruckt in Petit und unterzeichnet mit S'il vous plait, einem von Dyhrings vielen Pseudonymen. Daß der Artikel in spöttischem Ton gehalten war, merkte er nicht einmal. Sogar die Überschrift »Millionäre gesucht« nahm er für vollen Ernst. Dagegen war er sehr unzufrieden, daß er an keiner einzigen Stelle seinen Namen fand, sondern in dem ganzen Artikel lediglich unbestimmt als »der junge talentierte Urheber des Planes« oder ähnlich bezeichnet wurde. Er war auch tief entrüstet über die oberflächliche Behandlung der Kostenfrage, und vor allem machte ihn ein falsch gesetztes Komma in einem Dezimalbruch rasend, wodurch nach seiner Ansicht Charakter und Bedeutung des Werkes wesentlich herabgemindert wurden.

Es war keinesfalls seine Absicht gewesen, Ivans Wunsch zu entsprechen und dem Journalisten einen Dankesbesuch abzustatten; er fand, daß viel eher dieser ihm zu Dank verpflichtet sei für den Stoff zu einem aufsehenerregenden Artikel. Indessen betrachtete er es nun geradezu als seine Pflicht, sich zu diesem Besuch zu bequemen, um den kompromittierenden Dezimalbruch so schnell wie möglich berichtigen zu lassen. Noch am selben Vormittag suchte er deshalb Dyhring in seiner Privatwohnung auf, einem eleganten Junggesellenheim in einem der vornehmsten Stadtviertel.

Obwohl es beinahe zwölf Uhr war, war Dyhring noch nicht angekleidet. Daher verleugnete ihn seine Haushälterin. Aber im selben Augenblick wurde die Schlafzimmertür ein wenig geöffnet, und heraus guckte der goldblonde Kopf des Journalisten, beide Schnurrbartspitzen auf Papilloten aus Seidenpapier gewickelt.

»Ah, das sind Sie!« Der Ton klang etwas enttäuscht. »Na, gehen Sie schon rein. Mein Friseur ist gerade da. Ich stehe gleich zu Diensten.«

Per hatte genug Zeit, sich in Dyhrings Räumen umzuschauen, von deren ausschweifendem Luxus die übertriebensten Gerüchte in Umlauf waren. Elegant war es hier, das ließ sich nicht leugnen. Seidenbezogene Möbel im Arbeitszimmer . . . eine Gobelintapete . . . Gemälde . . . Stapel von Büchern und Zeitschriften auf allen Stühlen. Ein Harem von Damenbildern auf dem Schreibtisch – im anstoßenden Eßzimmer, zu dem die Tür offenstand, erblickte man einen festlich gedeckten Frühstückstisch mit blendendweißem Tuch, Weinkaraffe, Blumen und Früchten. Per mußte im stillen Vergleiche zwischen dieser Wohnung und seinen beiden dunklen Kammern anstellen – und es packte ihn eine ungewohnte Ungeduld. Nicht daß er einen Mann wie Dyhring irgendwie beneidete, der in seinen Augen eine halb verachtenswerte Person war, eine Art Zuhälter der großen Dirne Stadtklatsch oder der öffentlichen Meinung. Doch es brachte ihn auf, daß dieser erbärmliche Schreiberling bereits eine Unabhängigkeit und Machtstellung erreicht hatte, von der er noch nicht einmal träumen konnte.

Endlich kam Dyhring, klein und elastisch – ein Leisetreter. Er trug schokoladenfarbene Hosen, Saffianschuhe und eine kurze knallrote Hausjacke mit schwarzen Seidenaufschlägen. »Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Sidenius?« fragte er wie einer, der es gewohnt war, Bittsteller zu empfangen. »Möchten Sie nicht Platz nehmen?«

Diese beiden etwa gleichaltrigen Männer, die sich da einander gegenübersetzten, sich zurücklehnten in ihre Sessel mit himmelblauem Seidenbezug und die Beine übereinanderschlugen, hatten trotz aller äußeren Verschiedenheit nicht wenig miteinander gemein. Otto Dyhring war wie Per ohne Elternliebe aufgewachsen. Er war der Sohn eines verschuldeten und ausschweifenden Offiziers, der nach kurzer Ehe seine Frau ins Grab gebracht und danach Selbstmord begangen hatte. Verwandte auf dem Lande hatten Otto Dyhring aus Barmherzigkeit aufgezogen. Mit achtzehn war er als Student nach Kopenhagen gekommen, arm und verlassen, doch – genau wie Per – erfüllt von kühnsten Erwartungen und fest entschlossen, um jeden Preis sein Glück zu machen und Genugtuung zu suchen für die Entbehrungen und Demütigungen seiner Kindheit. Mit soldatischer Kaltblütigkeit, die Anfechtungen nicht kannte, und mit einem sicheren Gefühl dafür, wo in der Gegenwart die Aladdin-Lampe verborgen lag, hatte er sich der Journalistik zugewandt, die gerade in jenen Jahren nach ausländischem Muster die Übermacht der Politik gebrochen und das Schwergewicht auf vielfältige, literarisch bearbeitete Nachrichten und Neuigkeiten gelegt hatte. Ohne sonderliche Begabung zum Publizisten, doch mit der geschmeidigen Gewandtheit der Uninteressierten hatte er – unterstützt durch sein Äußeres, das den Frauen gefiel – bald eine einflußreiche Stellung an einer der tonangebenden Zeitungen der Hauptstadt erlangt und nützte sie rücksichtslos aus, ohne sich darum zu kümmern, daß die Bürgerschaft ihn verdammte. Bereits mit einundzwanzig Jahren hatte er ein Jahreseinkommen gehabt, das an ein Ministergehalt heranreichte. Die Theaterdirektoren wetteiferten, seine Bearbeitungen leichter Stücke zu spielen; die Verleger erkauften sich seine Gunst, indem sie seine von irgendeinem armen Sprachlehrer angefertigten Übersetzungen herausgaben; Schauspieler und Varietésängerinnen, junge Dichter und grauhaarige Jubilare, Schnapsfabrikanten und Zirkusdirektoren – alle warben sie um seine Gunst, erwiesen ihm jede erdenkliche Aufmerksamkeit, und was die Frauen betraf, sehr oft durch Leistungen in natura. Wie ein junger Gott thronte er hoch oben in unangefochtener Sorglosigkeit angebetet und verabscheut, beneidet und verachtet. Er lebte königlich von der Dummheit der Menschen, ihrer Eitelkeit, Feigheit und Heuchelei.

Den Artikel über Pers Projekt hatte er lediglich geschrieben, um Ivan Salomon einen Gefallen zu tun, da dieser ihm bisweilen behilflich war, einen Wechsel unterzubringen. Per selbst interessierte ihn nicht im geringsten. Um ihn schnell loszuwerden, versprach er, die verlangte Berichtigung sogleich in der nächsten Nummer des »Falken« zu bringen. Doch wenn Per erst einmal begonnen hatte, über sein Werk zu sprechen, dann war er nicht wieder so leicht zum Schweigen zu bringen. Dyhring war verzweifelt. Schließlich gähnte er ganz ungeniert hinter seiner fraulich weißen Hand. Zudem erwartete er Damenbesuch. Außer dem Artikel über Per hatte er in der gestrigen Nummer der Zeitung einen lyrischen Lobeserguß über eine Ballettänzerin veröffentlicht, die gerade im Zirkus auftrat, und er erwartete nun den ihm zukommenden Tribut.

Endlich brach Per auf, und Dyhring ging in sein Eßzimmer, dessen Tür während des Besuches von unsichtbarer Hand geschlossen worden war. Als er auf der Schwelle stand, trat er vor Verblüffung ein paar Schritte zurück . . . An dem gedeckten Tisch saß Nanny Salomon, einen breitkrempigen weißen Spitzenhut auf dem Kopf und ein halbverzehrtes Radieschen in der Hand. Ihre ständige Begleiterin, die kleine schiefe Olga Davidsen, stand am Fenster, vor verlegener Lustigkeit dunkelrot.

»Darf ich fragen . . . wie um alles in der Welt sind Sie, meine verehrten Damen, hereingekommen? Ich habe es nicht läuten hören.«

»Weswegen sollten wir wohl läuten? Ich habe doch Ihren Wohnungsschlüssel«, erwiderte Nanny mit einer Dreistigkeit, die die Freundin förmlich nach Luft schnappen ließ. »Im übrigen stand die Tür offen . . . Ihre Haushälterin fegte draußen. Sie hat uns erzählt, Sie hätten Besuch, und da haben wir sie gebeten, uns hier reinzulassen . . . Ihre Radieschen sind übrigens sehr gut.« Sorgfältig suchte sie sich ein frisches aus der Schale, tauchte es in den Salznapf und biß mit schimmernd weißen Zähnen hinein.

»Sie sind wirklich mutig, Fräulein Nanny! Wissen Sie, wer mich diesen Augenblick verlassen hat?«

»Ja, Herr Sidenius. Die Stimme kann man wirklich nicht verwechseln.«

»Und das sagen Sie so seelenruhig? Stellen Sie sich vor, Sie wären bloß zwei Minuten später gekommen. Da wären Sie ihm direkt in die Arme gelaufen.«

»Das wäre vielleicht recht angenehm gewesen!«

Dyhring drohte ihr lächelnd mit dem Finger. »Schlimmes, leichtfertiges, entzückendes Fräulein Nanny! Was soll man bloß von Ihnen denken?«

»Oh«, erwiderte sie und fing an, alle Speisen auf dem Tisch eingehend zu betrachten. »Sie sollen denken, daß ich schrecklich hungrig bin und die größte Lust hätte, bei Ihnen zu frühstücken . . . Hier sind so viele leckere Sachen. Hm . . . Gänseleberpastete! Mein Leibgericht . . . Aber lassen Sie uns zum Geschäft kommen«, unterbrach sie sich, wischte sich den Mund mit seiner Serviette und stand auf. »Wissen Sie, daß heute zum letzten Mal in diesem Sommer ›Bakken‹ geöffnet ist? Schämen Sie sich nicht ein bißchen, daß Sie uns beiden jungen unschuldigen Dingern noch nicht ein einziges Mal Ihre Begleitung dahin angeboten haben? Sie wissen doch, wegen unserer Mamas dürfen wir nicht allein dorthin!«

»Herr Gott, was wollen Sie denn auf ›Bakken‹?«

»Was wir da wollen? . . . Olga, hast du gehört! Herr Dyhring ist aber naiv; fragt uns, was wir da wollen! Uns amüsieren, natürlich! Wir wollen die Leierkästen hören, Karussell fahren, warme Waffeln essen und den Feuerschlucker sehen und die fette Dame . . .«

»Aha, und nicht noch ein bißchen mehr?«

»O ja, und dann möchten wir die Bänkelsängerinnen hören und auf der Freitanzdiele tanzen . . . Aber zuallererst wünsche ich mir einen Schreiballon, einen roten abscheulichen Schreiballon, der bä-äh machen kann! Daß Sie's nur gleich wissen!«

Dyhring hatte mit zusammengekniffenen Augen die schwellenden Brüste und weißen Arme des jungen Mädchens betrachtet, die sich unter dem durchsichtigen Sommerstoff des Kleides abzeichneten. Er war ganz nahe an sie herangetreten und sagte mit leiser Stimme, damit es die Freundin nicht hörte: »Sehr bedachtsam von Ihnen, Fräulein Salomon, daß Sie jedesmal eine Anstandsdame mitbringen. In diesem Kleid sind Sie so verführerisch, daß . . .« Er konnte nicht zu Ende sprechen.

»Olga«, wandte sich Nanny an die Freundin, »wir gehen jetzt. Herr Dyhring vergreift sich im Ton . . . Adieu!« Mit zwei Fingern faßte sie den Rock ihres Kleides und knickste. Dann stolzierte sie aus dem Zimmer, den Arm um die Taille ihrer Begleiterin. In der Tür blieb sie stehen, schaute über die Schulter zurück und sagte: »Es ist also beschlossen, wir treffen uns um sieben am Bahnhof Klampenborg? . . . Doch das will ich Ihnen verraten: Wenn Sie aus der Schule plaudern und Mama erzählen, daß wir bei Ihnen waren, dann erkläre ich, daß Sie lügen, und Sie kriegen nie mehr die Erlaubnis, mich zu küssen – ausgenommen auf den Mund.«

»Aber Nanny, du bist heute doch ganz toll«, flüsterte die Freundin und zog sie eilig mit sich fort.

Während Dyhring seine einsame Mahlzeit genoß, leerte er nachdenklich ein paarmal sein Sherryglas und versank in ernste Betrachtungen. In letzter Zeit hatte der junge Lebemann begonnen, sich mit Heiratsplänen zu beschäftigen. Eines Tages hatte er seine laufenden Wechsel zusammengezählt und war zu dem Ergebnis gekommen, daß er sich langsam für eine gute Partie entscheiden mußte. Von den heiratsfähigen Töchtern reicher Leute, denen er ein wenig oberflächlich den Hof gemacht hatte, war Nanny Salomon allerdings nicht die vermögendste und darum auch nicht diejenige, um die er sich bisher am meisten bemüht hatte. Dagegen war sie unzweifelhaft die schönste, lebhafteste und dreisteste. Kurz – sie glich am meisten den Frauen, mit denen er sich gern umgab.

Nun läutete es wieder an seiner Tür. Und obzwar er seine Haushälterin angewiesen hatte, niemand anders als eine gewisse Zirkusdame mit feuerrotem Lockenkopf einzulassen, hörte er auf dem Flur eine Männerstimme laut reden und wie ein Stock in den Schirmhalter gestellt wurde. Die Tür wurde aufgerissen, und auf der Schwelle stand ein älterer, streng aussehender Herr mit hochrotem Gesicht – Oberst Bjerregrav.

»Ich dachte mir doch, daß du noch zu Hause bist. Bleib nur sitzen . . . Ich sehe, ich störe dich bei deiner Arbeit.«

»Meine Hochachtung, Onkel! . . . Würdest du mir die Ehre erweisen und an meinem Tisch Platz nehmen?«

»Danke bestens, ich liebe es nicht, auf öffentliche Kosten zu leben. Außerdem habe ich vor mehr als zwei Stunden gefrühstückt.«

»Vielleicht ein Glas Wein?«

»Mach dir nur keine Umstände. Ich bin nicht zu meinem Vergnügen hergekommen!«

»Das konnte ich mir fast denken. Du hast wahrscheinlich etwas Ernstes auf dem Herzen, weil du dich überwinden konntest, bei mir hereinzusehen.«

»Da bist du nicht ganz im Irrtum, mein Freund! Das Verlangen nach einem Wiedersehen mit dir hat mich in der Tat nicht hergetrieben. Um also gleich zur Sache zu kommen: Heute morgen sah ich bei meinem Friseur zufällig in das Schmutzblatt, für das du schreibst, und fand darin einen Artikel über ein sogenanntes Wasserwirtschaftsprojekt  . . . Der Artikel wird dir wahrscheinlich nicht ganz unbekannt sein. Jedenfalls glaubte ich deinen flegelhaften Stil zu erkennen. Darf ich fragen, was dieser Artikel bezweckt? Ich wüßte zwar nicht, daß du dich irgendwann einmal in deinem Leben mit ernsthaften Dingen beschäftigt hättest, also auch nicht mit der Wasserwirtschaft. Ich zweifle auch nicht daran, daß du im allgemeinen über Verhältnisse schreibst, von denen du nicht das geringste verstehst. Aber ich sehe mich veranlaßt, dich in diesem besonderen Fall vor der Fortsetzung deiner dummen Schmierereien zu warnen.«

»Ja, ich habe es schon gehört – Es sollen ein paar Mißverständnisse unterlaufen sein«, sagte Dyhring lächelnd.

»Mißverständnisse? Das Ganze ist eine kolossale Dummheit, mein Freund, von der du dich um deiner selbst willen fernhalten solltest! Du bist sehr auf dem Holzweg, wenn du meinst, dem jungen Mann damit einen Gefallen zu erweisen. Du erreichst höchstens, daß du ihn noch größenwahnsinniger machst, als er es schon ist.«

»Du kennst ihn?«

»Kennen – und kennen! Der Kerl hat mir die Tür eingerannt mit seinem albernen Projekt! Er ist ja ganz von Sinnen!«

»So, du meinst also, er taugt zu nichts?«

»Nun, das will ich nicht gerade behaupten. Aber er ist völlig unreif, hatte keine Ausdauer, was zu lernen, und bildet sich nichtsdestoweniger ein, andere kritisieren zu können . . . Ja, er glaubt, zum Reformator berufen zu sein. Nicht mehr und nicht weniger! Und nun will er sogar eine Schrift herausgeben, schreibst du.«

»Tat ich das?«

»Natürlich! Hier soll Unruhe verbreitet und Aufruhr geschürt werden! Dieser Judendoktor hat der Jugend Flöhe ins Ohr gesetzt. Es soll ausgelüftet werden, wie es großartig heißt. Auf allen Gebieten soll reformiert und revolutioniert werden . . .«

»Aber, Onkel, brauchen wir das denn etwa nicht? Ich glaube mich zu erinnern, daß du dich oft bitter über die nationale Schlafmützigkeit und den Mangel an Initiative bei unsern einheimischen Ingenieuren beklagt hast. – Wie war das eigentlich? Du hast doch selbst mal eine Abhandlung herausgegeben, die ziemlich scharf im Ton gewesen sein soll.«

»Das ist was ganz anderes . . . Ich möchte es mir sehr verbitten, daß du solche Vergleiche ziehst«, entgegnete der Onkel, und seine Glatze rötete sich. »Die Beschwerden, die ich mir nach gewissenhafter Prüfung seinerzeit gegen die Verwaltung zu richten erlaubte, waren alle berechtigt und wohlbegründet. Damals, siehst du, war Opposition nicht Ausdruck jugendlicher Quertreiberei, sondern sie entsprang der Sorge eines ernsthaften, vaterlandsliebenden Dänen um die Zukunft des Landes. Darin besteht der Unterschied, mein Bester!«

»Glaubst du, daß die Machthaber von damals dieselbe Auffassung von euch hatten?«

»Ja, das glaube ich . . . Im übrigen ist es nicht meine Absicht, mich mit dir in eine Diskussion über diese Dinge einzulassen. Ich wollte dich lediglich um deinetwillen davor warnen, einen Windbeutel zu unterstützen, der dich und deine Zeitung in den Augen aller sachverständigen Leute bloß herabsetzen kann. Du weißt, ich bewundere keinesfalls deine Tätigkeit; aber eines muß ich dir lassen: bisher hast du es vermieden, dich zum Narren zu machen. Und weil sich gerade die Gelegenheit bietet, will ich noch etwas hinzufügen. Seit langem wollte ich schon mit dir darüber reden. Es hat mich verwundert, Otto, daß du mit deinem Verstand und deinen – ich will es gestehen – ungewöhnlichen journalistischen Fähigkeiten nicht begriffen hast, wie sehr du dir selber im Wege stehst, wenn du weiterhin Mitarbeiter an dieser übel beleumdeten Zeitung bleibst.«

»Hast du mir vielleicht etwas Besseres zu bieten, Onkel?«

»Das nicht. Aber es könnte vielleicht sein. Du weißt sicher, daß ich mit Redakteur Hammer von ›Dannevang‹ gut bekannt bin. Wir haben des öfteren über dich gesprochen. Er erkennt wie ich dein stilistisches Talent an, bedauert jedoch, daß du damit einer so schlechten Sache dienst. Ich hielte es nicht für unwahrscheinlich . . . ja, ich bin befugt, dir mitzuteilen, daß man dir eine vorteilhafte Anstellung bei dieser Zeitung in Aussicht stellte, wenn du dich ein bißchen anständiger aufführtest.«

»›Dannevang‹! Ja, aber das Blatt ist doch reaktionär, Onkel. Dazu noch hurrapatriotisch, militärbegeistert und ekelhaft fromm! – Du kannst kaum wollen, daß ich meine Überzeugung über Bord werfe!«

»Deine Überzeugung! Hör mal, mein Junge, vor mir kannst du dir jegliche Maskerade sparen. Ich kenne dich! Und jetzt will ich dir noch etwas sagen. Ich will dir ein weiteres Zugeständnis machen. Damals hast du deinen Lebensweg mit einem Scharfblick gewählt, dem ich Anerkennung zolle. Die Journalistik scheint tatsächlich das Sprungbrett zu werden für alle, die in der Gesellschaft vorankommen wollen. Du hast natürlich gelesen, daß Redakteur Lille zum Gesandten in Washington ernannt worden ist. Kürzlich ist ein Journalist sogar Landrat geworden. Ob gut oder schlecht, jedenfalls ist es eine Tatsache, daß die Regierung der anständigen Presse ihre Anerkennung zollt, auch bei der Besetzung der Ämter – und zwar sehr vorurteilsfrei! Das scheint mir der Überlegung wert, Otto! Denke daran, überall, wo deine Kollegen Chancen haben, hast du sie erst recht. Du trägst einen Namen, der im Heer einen guten Klang hat und infolgedessen auch bei Hofe geschätzt ist. Daß ich dein Onkel bin und dich in jedem redlichen Bemühen unterstütze, dürfte vielleicht auch ein bißchen von Bedeutung für dich sein. Schließlich fehlt es dir selbst nicht an Eigenschaften, die dir nützen können, zum Beispiel in der Diplomatenlaufbahn. Wer weiß? Vielleicht hängt es bloß von dir ab, mein Junge, und du löst Herrn Lille als Gesandten in Washington ab.«

Dyhring hatte während dieser Rede gelächelt. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und er sprach in die Luft hinein: »Washington? . . . Warum nicht? . . . Die amerikanischen Damen sollen ja entzückend sein. Und die Küche ist sicherlich in den besseren Kreisen ebenso französisch wie englisch. – Ich werde es mir überlegen, Onkel!«

Doch jetzt hatte der Oberst genug. Mit hochrotem Gesicht sprang er auf. »Und das wagst du mir zu antworten?«

»Du mußt mir schon verzeihen, Onkel. Ich kann das Leben nun einmal nicht feierlich auffassen.«

»Nein, das ist wahr!« bemerkte der alte Offizier nach einer Pause, und seine Stimme schnappte über vor Erregung. »Du kannst das Leben nicht feierlich auffassen. Für dich und deine materialistischen, vaterlandslosen und gottvergessenen Kumpane ist das Leben nichts anderes als ein guter oder schlechter Witz. Die Bedrängnis des Vaterlandes, die Not der Bevölkerung, politisches Unglück, Krieg, Pest und Brand – alles ist für euch nur Unterhaltungsstoff, Spaltenfutter, eine Beute eurer gekauften Federn. Nein, ihr könnt das Leben nicht feierlich nehmen, und deshalb wird euch das Leben auch nicht brauchen. Das ist gewiß! Das Leben wird euch verwerfen . . . euch aus dem Wege räumen wie nutzloses Gerümpel, das der Vernichtung geweiht ist! Verlaß dich darauf!«

Dyhring hatte die Beine von sich gestreckt und die Daumen in die Taschen gehakt. Noch immer sah er in die Luft mit zusammengekniffenen Augen.

»Die Zeit wird es lehren, Onkel!«

 

Auf »Skovbakken« war Jakobe an diesem Nachmittag allein zu Hause. Frau Salomon war nach dem Essen mit den jüngsten Kindern in den Wald gegangen, und Nanny befand sich noch immer in der Stadt. Jakobe hielt sich zu dieser Zeit meist in ihrem Zimmer auf. Sie hatte wieder eine ihrer schlimmen Depressionen, litt an heftigen Kopfschmerzen und verbrachte Nacht für Nacht schlaflos, teils wach gehalten von körperlichen Qualen, teils von unruhigen, leidvollen Gedanken, die durch entwürdigende sinnliche Begierden hervorgerufen wurden. Ermattet von einer solchen durchwachten Nacht, hatte sie sich auf ihre Chaiselongue gelegt. Dort ruhte sie zusammengekauert mit halb geöffneten Augen, die Hände unter der Wange. Das Zimmer befand sich im ersten Stock, und durch die offene Balkontür erblickte sie einige Baumkronen und ein großes Stück blauen Himmel mit vielen kleinen Federwölkchen. Die tiefe Stille ringsum, durchweht vom Blätterrauschen draußen im Garten, wiegte sie immer wieder in einen nervösen Halbschlaf, bei dem der Körper schläft, während das Bewußtsein weiterarbeitet. Beim geringsten Geräusch öffnete sie die Augen und war hellwach.

»Jakobe! Bist du oben? . . . Zum Teufel, ist denn keiner daheim in diesem Irrenhaus?«

Es war Onkel Heinrichs Stimme, die vom Garten herauftönte. Langsam richtete sie sich auf, saß einige Augenblicke da, die Hände vor das Gesicht gepreßt, und ging dann hinunter. Sie fand den Onkel im Gartensaal.

Zuerst zeterte er in seiner gewohnten Unbeherrschtheit darüber, daß man ihn hatte warten lassen. Dann zog er ein Bündel Papiere aus der Brusttasche und warf sie auf den Tisch. »Da!« sagte er.

In Jakobes müdem Gesicht leuchtete es plötzlich auf. »Du hast gekauft?«

»Ich habe deinen Befehl ausgeführt . . . Aber ich wiederhole nochmals, ich übernehme dafür keine Verantwortung! Ich habe dich genügend gewarnt vor diesem Wisch. Auf die Dauer ist es Blödsinn.«

»Ich kann es dir anhören, daß sie heute wieder gestiegen sind. Was habe ich gesagt?«

»Was habe ich gesagt . . . was habe ich gesagt«, äffte er ihr nach. »Ihr Frauenzimmer seid verrückt! Wenn ihr mal Glück gehabt habt, bildet ihr euch gleich ein, ihr versteht was vom Geschäft. Da ist deine Schwester ein bißchen vernünftiger. Sie läßt sich wenigstens raten . . . geht nicht gleich auf jeden Leim!«

Jakobe zuckte keck die Achseln, nahm die Papiere – ein paar unsichere Zuckeraktien – und steckte sie ein. Sie und Nanny spielten mit ihrem Taschengeld heimlich ein wenig an der Börse, und der Onkel war dabei der vertraute Mittelsmann. Beide spekulierten mit Leidenschaft. Nanny wurde dabei allein von der Aussicht auf Verdienst getrieben und zog stets einen bescheidenen Gewinn durch vorsichtige Geschäfte mit sicheren Aktien vor. Jakobe dagegen reizte vor allem die Spannung des Spiels, und sie triumphierte, wenn sie entgegen den Warnungen des Onkels oder der Presse weiter auf eine Hausse gesetzt hatte und mit heiler Haut davongekommen war.

Herr Delft hatte inzwischen den »Falken« genommen, der mit den anderen Tageszeitungen auf dem Tisch lag. Eine Zeitlang guckte er stehend hinein, dann bemerkte er: »Du hast sicher Dyhrings Artikel über diesen . . . diesen Sidenius gelesen? Weiß der Teufel, ich glaube, der Bursche ist im Kommen!«

»Ach, Dyhring hat im Grunde nur seinen Spaß an ihm.«

»Spaß – hm. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß aus diesem Spaß mal Ernst wird. Das Glück ist in den Kerl vernarrt! Weiß Gott, sie sprechen schon an der Börse von ihm.«

Das letzte war allerdings reine Erfindung; Herr Delft hatte in jüngster Zeit jede Gelegenheit benutzt, um Per zu loben. Als es ihm klargeworden war, daß es Jakobe war, um die sich Per bemühte, hatte er eine sehr hohe Meinung von seinem Mut gewonnen und versuchte nach Kräften, ihn in seinem kühnen Unterfangen zu unterstützen. Dazu kam, daß er einen ganz besonderen Haß gegen Eybert hegte, den er trotz fleißiger Verleumdungen bisher nicht aus der Familiengunst hatte verdrängen können. Bei dem bloßen Gedanken, diesen Mann endlich einmal gedemütigt zu sehen, glänzten ihm vor Schadenfreude die Augen.

Bei Tisch wurde der Artikel im »Falken« wieder zur Sprache gebracht. Diesmal begann Ivan davon, der aus der Stadt zurückgekehrt war, erfüllt von phantastischen Vorstellungen über das Aufsehen, das er erregt habe. Auf dem Weg zum Bahnhof war er bei Dyhring in der Redaktion gewesen. Dieser hatte ihm, ohne einen bestimmten Namen zu nennen, vom Besuch seines Onkels berichtet und ihn verstehen lassen, daß er sich sehr weit vorgewagt habe, um ihm in dieser Angelegenheit gefällig zu sein, weswegen er auch hoffe, gelegentlich auf einen Gegendienst rechnen zu können.

»Die alte Garde kriegt es mit der Angst zu tun!« jubelte Ivan. »Sie möchte Sidenius von vornherein zermalmen, indem sie die Zeitungen zum Stillschweigen zwingt. Aber das wird ihnen nicht gelingen! . . . Gott, was werden die für ein Geschrei erheben, wenn er sich erst einmal durchgesetzt hat!«

Weder Philip Salomon noch Frau Lea antworteten hierauf; besonders letztere hüllte sich seit einiger Zeit in auffälliges Schweigen, wenn Pers Name erwähnt wurde. Auch Jakobe sagte nichts. Sie schien ganz in Anspruch genommen zu sein, einem der kleinen Geschwister zu helfen, das neben ihr saß. Sie war jedoch weder so unaufmerksam noch so gleichgültig, wie sie sich gab. Die Erzählung des Bruders über die angebliche Drohung gegen die Redaktion des »Falken« trieb ihr sogar einen Augenblick das Blut in die Wangen. Sie konnte von Zwang oder Verfolgung nicht reden hören, ohne sofort dagegen aufzubegehren. Ivans übertriebenes Lob des Freundes ernüchterte sie allerdings schnell, und zuletzt hörte sie mit Widerwillen seine triumphierenden Verkündigungen.

Als man draußen auf der Terrasse am Kaffeetisch saß, kam Eybert zu Besuch. Sofort verschwand Onkel Heinrich. Er könne – wie er mit einer häßlichen Anspielung zu sagen pflegte – »nicht dieselbe Luft atmen wie dieser Quecksilberfresser«. Auch Nanny verabschiedete sich bald darauf, um nach dem Bahnhof zu fahren, während Ivan schon gleich nach Tisch dorthin geeilt war, begierig, zu erfahren, ob die Abendzeitungen etwas über den Artikel im »Falken« enthielten.

Eybert hatte sich in der Nähe eine Sommerwohnung gemietet und war zu dieser Zeit fast täglicher Gast auf »Skovbakken«. Dennoch kam er Jakobe jetzt unerwartet. Als sie die Hunde bellen hörte, war sie überzeugt, Per sei eingetroffen. Seitdem sie den Artikel gelesen hatte, rechnete sie damit, ihn noch heute zu sehen. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß er den Tag vergehen lassen würde, ohne sich hier in seinem Erfolg zu sonnen, und im voraus dachte sie mit Unbehagen an den Anblick und bedauerte ihn. Nun erwiderte sie in ihrer frohen Überraschung Eyberts Gruß mit einem ungewöhnlich warmen Händedruck.

Wenn der alternde Freier zu dieser Zeit so hoffnungsvoll aussah, hatte das seinen bestimmten Grund. Mit jedem Tag gab ihm Jakobe beredtere Beweise dafür, daß sie ihre Verlobung mit ihm als halbwegs abgemacht betrachtete. Unter anderem trug sie jetzt einen orientalischen Ring, den er ihr einmal zum Geburtstag geschenkt hatte und den sie bislang nie tragen wollte. Wenn seine beiden kleinen Töchter die Familie besuchten, schickte sie regelmäßig das Kindermädchen nach Hause und verbrachte halbe Tage allein mit ihnen im Garten.

Nun gingen Jakobe und Eybert zum Strand hinab, wo sie eine Zeitlang im Gespräch auf der Allee am Bollwerk hin und her spazierten. Wie so oft, wenn sie allein waren, sprachen sie über Politik. Diesmal über die kolonialen Erwerbungen der Großmächte und die damit verbundene Aufrüstung. Eybert äußerte die Hoffnung, man werde hierzulande nach wie vor vernünftig genug sein und sich jeglicher Abenteuerpolitik enthalten. Als Staatsmann gehörte er der nüchtern denkenden Gruppe an; es war sein Ehrgeiz, in der dänischen Politik die Besonnenheit zu vertreten. Trotz seiner sozialen Stellung und weltmännischen Bildung fühlte er sich von Natur verbunden mit der breiten freisinnigen demokratischen Bewegung auf dem Lande, die stets das besonnene Element der Nation gewesen war. In seinen Gesprächen mit Jakobe gab er seinen Worten jedoch gern einen etwas kühneren, radikaleren Schwung, um die Unterschiede in ihren Charakteren zu überbrücken. Sie hatte auf allen Gebieten eine Vorliebe für extremste Standpunkte. Daher fand sie es auch sehr unklug, wenn das Land von vornherein jeden Wettstreit mit den führenden Handels- und Industriemächten aufgab und sich nicht beizeiten Handelsgebiete und Absatzmärkte in fernen Zukunftsländern zu sichern bemühte. Oft sagte sie, ein liliputartiges Land wie das dänische sei in sich selbst eine Absurdität; ein so kleines und so armes Land sei auf die Dauer eine Unmöglichkeit. Sie wünschte, daß hierzulande eine Bewegung aufkäme, die den Leuten klarmachte, daß ein kleiner Staat seine Existenz nur durch Reichtum, ja durch Überfluß festigen und sich Respekt bei den großen schaffen könne.

Währenddessen hatte es ein wenig zu regnen angefangen. Bei Sonnenuntergang war der ganze Himmel bezogen, und sie mußten ins Haus eilen. Im Gartensaal waren einige Lampen angezündet. Auf Frau Salomons Aufforderung setzte sich Eybert ans Klavier und spielte ein paar »Lieder ohne Worte«, ihre Lieblingsmusik. Neben vielen anderen vortrefflichen Eigenschaften besaß Eybert auch die, musikalisch zu sein. Er spielte gut und vor allem korrekt, und dazu mit viel Gefühl. Besonders an diesem Abend legte er solche Zärtlichkeit in den Vortrag, daß die Absicht unmißverständlich war.

Unterdessen stand Jakobe in der offenen Tür, die in den Garten führte. Sie lehnte mit der Schulter gegen den Pfosten und sah hinaus in den nun strömenden Regen. Sie war gänzlich unmusikalisch und sehr bald geistesabwesend, wenn gespielt wurde. Wirkungslos klang die schmachtende Liebeserklärung Eyberts an ihren Ohren vorüber. Sie dachte daran, daß Per doch nicht erschienen war. In diesem Fall hatte sie ihm also unrecht getan. Und sie schämte sich ein wenig. Die vielen Lobreden auf ihn waren heute ohnehin nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Sie fragte sich, ob sie ihn nicht zu geringgeschätzt und daher möglicherweise die Eigenart seines Wesens zu streng beurteilt hatte. Vielleicht war er tatsächlich ein Naturtalent, das einst alle Schranken niederreißen und kämpfen würde. Jedenfalls schien er etwas von der Fähigkeit eines geborenen Häuptlings zu besitzen, Waffengefährten um sich zu scharen. Zu denken, daß er sogar Onkel Heinrich vor seinen Triumphwagen gespannt hatte! – Immerhin, auch ihr war die schreckliche Macht nicht unbekannt, die von seinen hellen kalten Augen ausging. An Mut fehlte es ihm auch nicht. Sie würde nicht leicht den Sonntagnachmittag vergessen, als er sie alle durch sein tollkühnes Schwimmen geängstigt hatte. Damals hatte sie zufällig auch hier an der Tür gestanden und aufs Wasser hinaus gesehen. Sie hatte das kindisch-übermütige Plätschern und Lärmen von Kandidat Balling und einigen anderen Herren unten am Badehaus, das durch den Garten verdeckt wurde, gehört. Da sah sie plötzlich seinen dunklen Kopf weit draußen in der bewegten See. Zu Anfang dachte sie überhaupt nicht daran, daß es ein Mensch sein könne, viel weniger, daß er es sei. Erst als vom Badehaus Rufe ertönten, begriff sie es . . . Und noch heute spürte sie den kalten Schauer der Angst, der ihr den Rücken hinabgejagt war, vom Nacken bis zur Ferse.

Sie hatte sich die Helden der Zukunft aus reinerem und edlerem Stoff vorgestellt. Von einer wiedergeborenen Aristokratie, von einem Adel des Geistes hatte sie geträumt, der durch Gerechtigkeit und Schönheit die Befreiung der Menschheit vollendete. Aber vielleicht waren jetzt dazu gerade breite Fäuste und starke Schultern erforderlich. Vielleicht gab es keinen anderen Ausweg als die grauenvolle Sprengung der verbrecherischen, scheinheiligen Gesellschaft, einen Tag der Rache, der die Welt reinigte durch Blut und Feuer.


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