Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Neunzehntes Kapitel

In einer der fruchtbarsten Niederungen Ostjütlands lag ein Herrenhof, der mit seinen braunroten Mauern und breit aufsteigenden Treppengiebeln an ein Kloster erinnerte. Das war Kærsholm. Es lag am Rande eines flachen Wiesentals, das sich wie ein mächtiger grüner Strom durch das Land zog, auf beiden Seiten von Feldern und waldbedeckten Hügeln begrenzt.

Mitten in der Wiese floß ein träger Bach – der kümmerliche Rest des stolzen Wasserspiegels, der einst den fast meilenbreiten Talgrund bedeckt hatte. Durchschritt man die Wiese in Längsrichtung und man befand sich nicht gerade am Ufer, dann konnte man den Fluß gar nicht sehen. Man erblickte nichts als eine unendliche Fläche glänzenden Grüns und stieß nur hier und da auf einen Graben oder einen kleinen Teich mit faulendem Wasser. Seltsam war es da, an klare Wassermassen zu denken, die in entschwundenen Tagen zwischen diesen friedlichen Höhenzügen wogten. Wo sich jetzt kleine braune und graue Singvögel aus dem Röhricht schwangen, hatten einst große Seemöwen mit silbern schimmernden Schwingen ihre Kreise gezogen. Wo jetzt Landarbeiter und Tagelöhner saßen und bedächtig ihre Schmalzbrote zum Frühstück kauten, hatten sich einst kampftrunkene Seeräuber von ihren blutbefleckten Schiffen geschwungen und die eroberten Schätze bei wilden Festen auf ihre Stammsitze getragen.

Droben die Höhen, wo sich jetzt lichte freundliche Haine über den Kornfeldern erhoben, waren damals mit düsterem Urwalddickicht bedeckt, aus dem in mondhellen Frostnächten Wolfsgeheul schallte. Noch lange nachdem sich das Land gehoben hatte und der frühere Meeresgrund unter den Händen fleißiger Bauern fruchtbar geworden war, blieb der Wald die Zufluchtsstätte für alle Wagemutigen und kühnen Empörer. Hier gellte das Jagdhorn der hohen Herren, wenn sie, den Tod auf dem Sattelbogen, dahinsprengten und ihre blutigen Spuren durch das Gehölz zogen. Hier fand auch der Sturm seine Sprache wieder – ein tausendstimmiges Brausen, aus dem man jenen gespenstischen Nachklang der tiefen Orgeltöne des Meers heraushörte, die einst das Gemüt der Menschen mit feierlichem Grausen erfüllt hatten.

Allmählich aber drängte der nährende Acker den Wald zurück. Waffenlose Fremdlinge siedelten sich hier und da an, legten Gärten an und lebten in der Einsamkeit von den Früchten des Bodens. Auf einem Weg, den Kreuze und Heiligenbilder bezeichneten, kamen sie weit aus dem Süden in langen Kutten daher, Sandalen an den nackten Füßen. – Und bald läutete die erste Betglocke ihr »Friede auf Erden« im alten Land der Wikinger. Die Jahre vergingen. Von allen Seiten hieb die unblutige Axt der Bauern in das Urwalddunkel, wo Krähen nun aus dem verlassenen Horst der Adler krächzten.

Jahrhunderte schwanden dahin. Aus blühenden Feldern und Wiesen strömte der Reichtum der Mutter Erde hin zu den Schwellen der auserwählten Menschenkinder, häufte sich in Scheunen und Ställen, füllte die Keller der Klöster und Vorratskammern der Herrenhöfe mit kräftigen Fleischspeisen und honigsüßem Bier und setzte sich schließlich hinter den Mönchskutten und den blanken Ritterharnischen in Speck und dickes Blut um. Und siehe: Als der fromme Klosterbruder Speck auf den Rippen hatte, packte ihn die Versuchung des Fleisches. Er hatte das Bedürfnis zu heiraten und empfand es zuletzt sogar als Christenpflicht, Familienvater zu werden und ohne alle Schwärmerei die Güter des Lebens mit den anderen Adamssöhnen zu teilen. Die Kirche vermischte ihr Blut mit der bürgerlichen Gemeinde. Aus der groben Büßertracht mit Sandalen und hanfenem Strick schlüpfte wie aus einer Puppe der erste Pastor Sidenius, mit steifer Halskrause und großer Kinderschar. Um dieselbe Zeit fügte sich auch der Ritter mehr und mehr der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Mit seinem ererbten Wohlstand, den freundliche Gesetze beschützten, fühlte er sich immer weniger zu Abenteuern und unbequemem Kriegerleben hingezogen. Der Sproß der Wikinger war Viehhändler oder stolzer Landjunker mit Samthosen und wallendem Federbusch am Hut geworden. Schwer und fleischlich, strotzend vor unverbrauchter Kraft, ritt er daher auf seinem furzenden Roß, ein Bild der Segnungen heimatlichen Ackerbodens.

Da waren Männer wie Herr Lave Eskesen Brok, der mit halb Jütland in Fehde und Prozeß lag, oder wie jener Ritter Oluf Pedersen Gyllenstjerne, den seine eigenen Schwestern, Frau Elsebe und Jungfer Lene, zuletzt beim Landsting zu Viborg verklagten, weil er ihnen »viel Nachteils und Unrechts machte, in der Weis, daß er sie schlug und jagete, desgleichen ihr Dienstvolk, mit Waff und gezogenem Schwerte, ihre Häuser umwarf und mit Gewalt ihre Güter von ihnen nahm«. – Das waren Männer, in denen sich der Tatendurst und Wagemut des Seeräuberbluts in sturen Hochmut und in Verfolgungssucht umgesetzt hatten. Oder es gab Individuen wie Jørgen Arnfeld, bei dem sich die Wildheit seiner Vorväter in religiösem Fanatismus äußerte, ein Wollüstling des Glaubens, der geheime Schallrohre aus den Kerkern seines Schlosses bis in seine Gemächer führen ließ, um sich an dem Jammern und Schreien der Hexen und des anderen Teufelspacks zu ergötzen, das er im Namen Jesu Christi in grabesdunklen morastigen Gewölben zu Tode foltern ließ.

In wüstenähnlicher Einförmigkeit und Stille erstreckte sich jetzt die sattgrüne Wiesenfläche zwischen den Hügeln, ohne Weg und Steg, ohne Haus und Baum. Wenn nicht gerade Heuernte war, konnte man stundenlang dem schlangenartig gewundenen Bach folgen, ohne einem Menschen zu begegnen oder einen anderen Laut zu hören als das Murmeln des Flüßchens und bisweilen das dumpfe Dröhnen eines Eisenbahnzugs, der in weiter Ferne über eine Brücke fuhr.

Auch die alte Lastkahnschiffahrt, der allerletzte Rest des einstigen regen Seeverkehrs, die noch vor ungefähr zehn Jahren ein wenig Leben in diese Stille gebracht hatte, war so gut wie ausgestorben. Oft vergingen Wochen, ohne daß man eines dieser langen breitbugigen Fahrzeuge sah, die vollbeladen so tief im Wasser lagen, daß die Mannschaft, die sie mit mächtigen Stangen gegen den Strom anschob, auf den seitlichen Laufplanken gerade noch trockenen Fußes entlanggehen konnte.

Häufiger stieß man auf Leute, die in guter dänischer Ruhe philosophisch mit langen Angelruten am Ufer des Baches saßen und rauchten. Manchmal sah man auch Aalfischer, Männer oder Frauen, die bis unter die Achseln im Wasser standen und den Aal aus dem schlammigen Grund aufjagten.

Zuweilen kam es auch vor, daß man einem einsamen Jäger begegnete, den die Bewohner der Gegend am liebsten mieden – einem großen dürren, mürrisch dreinblickenden Mann mit hochgezogenen Schultern und langen Beinen in mächtigen Stiefeln. Im Grunde machte er selbst einen scheuen Eindruck und beantwortete in der Regel den Gruß der Leute nicht. Er hatte eine fahle Gesichtsfarbe und eine platte Nase. Ein grober dunkler Bart bedeckte seinen Mund.

Das war der Besitzer von Kærsholm, Hofjägermeister Prangen.

Während seine zwei gefleckten Hündinnen auf der Wiese herumtollten und von Zeit zu Zeit mit einem Platschen im Röhricht verschwanden, ging er selbst langsamen Schritts geradeaus. Seine Büchse hing ihm meistens auf dem Rücken, und die Hände waren in den schrägen Taschen seiner flauschigen Jagdjoppe begraben. Man sah auf den ersten Blick, daß er nicht so sehr des Schießens wegen durch die Gegend streifte, sondern um mit sich und seinen düsteren Gedanken allein zu sein.

Die Leute redeten oft darüber, was der Hofjägermeister wohl immer nur zu grübeln hatte. Nie war man klug aus ihm geworden. Es war, als wohne mehr als ein Mensch in ihm. Der schweigsame Mann mit dem unsicheren Blick konnte bisweilen ein ganz redseliger Gesellschafter sein, ein Münchhausen, strotzend vor närrischem Selbstgefühl. Eine Zeitlang meinte man, es seien die Verhältnisse seiner Frau, die ihn so nachdenklich stimmten. Jetzt neigte man mehr dazu, die Erklärung dafür in den zahlreichen Prozessen zu suchen, in die er sich ununterbrochen verwickelte und die fast ausnahmslos ein für ihn höchst betrübliches Ende nahmen. Man sprach auch von einem Magenleiden. Es war bekannt, daß ein Bote nicht selten von Kærsholm eilends zur Landstadt reiten mußte, um Tropfen aus der Apotheke zu holen.

Seltsamerweise war der Hofjägermeister selbst oft nicht imstande, die Ursache seines Mißmuts zu erklären. Wenn er gemütlich in seiner Stube saß und sich damit unterhielt, zu beobachten, wie die Rauchwolken aus seiner Pfeife im Sonnenschein umherschwebten, konnte mitunter die Schwermut wie eine Wolke in ihm aufsteigen und ihm das Dasein verfinstern. Dann fing er an, darüber nachzudenken, und bei seinem vergeblichen Suchen nach dem Anlaß versank er immer tiefer in Trostlosigkeit.

Ringsum in Ställen und Scheunen auf Kærsholm verbreitete sich dann schnell das Gerücht, daß der Hofjägermeister wieder »seinen Moralischen« habe. Und wo seine langbeinige Gestalt auftauchte, machte sich alles lautlos aus dem Staube. Er bot dann auch wahrhaftig keinen erfreulichen Anblick mit seinen blauschwarzen Augenhöhlen und dem gebeugten Nacken, ja er sah fast aus wie ein Ochse mit einem Brett vor dem Kopf.

Seine Frau, die zu klug, aber auch zu stolz war, um sich seinen Launen zu unterwerfen, tat stets, als bemerke sie nichts. Sie wußte, daß jeder Versuch, auf seine Stimmung einzuwirken, das Übel nur noch verschlimmerte. Es brauchte eben seine Zeit und verschwand so plötzlich, wie es gekommen war. Während ihrer einsamen Mahlzeiten, bei denen der Hofjägermeister seinen Mund nur öffnete, um zu essen, bestritt sie allein die Unterhaltung. Im übrigen zähmte sie ihn, indem sie dafür sorgte, daß er seine Leibgerichte bekam. Der Hofjägermeister war nämlich ein starker Esser, und selbst die tiefste Schwermut schmälerte seinen Appetit nicht. Gewaltige Portionen Reisbrei mit süßem Bier, gebratener Speck mit Apfelmus, Bratwurst mit Kohl und ähnliche Speisen verschwanden in ihm wie in einem Bettelsack.

Nach dem Essen zog er sich in sein Zimmer zurück, das durch einen kleinen Wintergarten vom Wohnraum getrennt war. Doch mit großem Geschick wußte es die Hofjägermeisterin immer so einzurichten, daß die Tür zwischen ihnen nicht geschlossen wurde, wie sie überhaupt mit Rücksicht auf die Dienstboten zu verhindern suchte, daß sich ihr Gatte allzu offensichtlich absonderte. Sie wußte, es waren allerlei Gerüchte über ihre Vergangenheit und ihre Ehe in Umlauf. Und auch noch aus einem anderen Grund war ihr daran gelegen, den Weg zu Vertraulichkeiten zwischen ihnen offenzuhalten.

Die Hofjägermeisterin war über dreißig gewesen, als sie sich mit dem damaligen Gutsbesitzer Prangen verheiratete. Die Verbindung hatte allenthalben Lächeln und Verwunderung bei ihren Standesgenossen hervorgerufen, unter denen Herr Prangen, wenn sie ihn überhaupt kannten, lediglich wegen seiner Unbegabtheit und seiner unglaublichen Lügengeschichten einen gewissen Ruf genoß. Schon damals munkelte man in der Umgegend mancherlei über ihre Vergangenheit. Man erzählte, ihre Schönheit habe schon früh das Wohlgefallen eines sehr hochstehenden Herrn erregt. Ob dies indessen zu einer vertraulicheren Bekanntschaft geführt hatte, konnte man zum größten Ärger nie genau in Erfahrung bringen. Nichtsdestoweniger weckte es regelmäßig heimliche Heiterkeit, wenn sich der Gutsbesitzer in aufgeräumter Stimmung mit den Verbindungen seiner Gattin bei Hofe brüstete.

Auch später hatte ihr Lebenswandel Anlaß zu Klatsch und Tratsch gegeben. Wegen ihrer häufigen Reisen nach Kopenhagen und ihres oft ausgedehnten Aufenthalts in ausländischen Badeorten hatte man ihren Namen bald mit diesem, bald mit jenem galanten Mann aus der dänischen Aristokratie in Verbindung gebracht. Aber auch diesmal gab es keinen, der wirklich Bescheid wußte. Mit Umsicht und Schläue hatte sie es verstanden, alle Spuren zu verwischen. Und ihr Gatte, der zudem so von seinen Prozessen und Verdauungsbeschwerden in Anspruch genommen war, hatte daher auch nie oder jedenfalls nur vorübergehend Verdacht geschöpft.

Sie selbst nahm in ihren jüngeren Jahren diese Seitensprünge sehr leicht. Wenn sie Prangen geheiratet hatte, so vor allem deswegen, weil er sich gut dazu eignete, ihren Leidenschaften als Deckmantel zu dienen. Und im übrigen rechtfertigte sie sich damals damit, daß sie ihm reichlichen Ersatz gegeben hatte, da sie ihm einen Titel verschaffte, der entschieden höher war, als er ihn nach Geburt, Bildung und Vermögensverhältnissen hätte erwarten können.

Indessen, als sie älter geworden und ihr Blut weniger heiß war, hatte sich ihr Gewissen gemeldet mit Forderungen an ein Guthaben, das sie einst durch Zins und Zinseszins vermehrte. In den letzten Jahren war die Hofjägermeisterin sehr religiös geworden. Ein gewisser Pastor Blomberg aus dem benachbarten Kirchspiel hatte großen Einfluß auf sie gewonnen. Er gehörte nicht zu den schwärmerischen Bußpredigern, die in anderen Gegenden des Landes das Mittelalter aus dem Grab heraufbeschworen. Im Gegenteil, er war ein sehr schlichter und besonders menschlicher Pastor, der jegliche Übertreibung, jeden Schwulst verabscheute – ein fröhlicher, tröstender Verkünder eines friedlichen lebensfrohen Alltagsevangeliums, das keine unerfüllbaren Opfer hinsichtlich der Behaglichkeiten des Lebens verlangte und deswegen viele Anhänger gefunden hatte.

Die Hofjägermeisterin war unendlich dankbar dafür, daß sie so verhältnismäßig leicht und schmerzlos von ihren Sünden befreit worden war. Sie verliebte sich ganz und gar in dieses Christentum, das rührend anspruchslos war. Wenn es ihr auch mitunter ein wenig schwerfiel, ihre Andachtsstunden einzuhalten, und wenn es ihr auch bisweilen nicht recht gelingen wollte, den rechten kindlich vertrauensvollen Ton in ihrem persönlichen Umgang mit dem Höchsten zu finden, so verfolgte sie dafür mit Leib und Seele alle bedeutenden Ereignisse innerhalb der Kirche. Ihre Zimmer waren überschwemmt mit religiösen Büchern und Zeitschriften; und im privaten Kreis ergriff sie hin und wieder selbst das Wort in einer Debatte, bei der sie immer unverhohlener als Verfechterin des Blombergschen Glaubens auftrat.

In diesem Haus, bei diesen Menschen suchte Per Zuflucht nach seiner heimlichen Nachtfahrt durch das Kattegat. Körperlich und geistig erschöpft, erreichte er Kærsholm um die Mittagszeit desselben Tages, an dem er frühmorgens den Dampfer in der Fjordmündung verlassen hatte.

Er wurde überaus herzlich empfangen, nicht nur von der Hofjägermeisterin und ihrer Schwester, der Baronin, die sich noch immer zu Besuch hier aufhielt, sondern auch vom Hofjägermeister, der soeben die Nachricht erhalten hatte, daß er ausnahmsweise einen Prozeß gewonnen hatte.

Um Per sogleich in die weitläufige Vorgeschichte des Prozesses einzuführen, nahm er ihn mit in sein Zimmer. Hier nutzte er die Gelegenheit und erzählte ihm auch von den anderen beiden Prozessen, die er in seinem Leben gewonnen hatte. Bei dem einen handelte es sich nach seiner Darstellung um einen so einzig dastehenden merkwürdigen und komplizierten Rechtsfall, daß das Höchste Gericht in dieser Sache volle drei Tage beraten hatte.

Per war froh, still dasitzen und seinen eigenen Gedanken nachhängen zu dürfen, die noch immer dem Sarg der Mutter folgten.

Der Hofjägermeister, nicht gewohnt, einen so geduldigen Zuhörer zu haben, vertraute hinterher seiner Gattin an, er finde ihren jungen Freund sehr anziehend. Als Per bei Tisch den Abreisetermin erwähnte, war der Hofjägermeister daher beinahe am eifrigsten bemüht, ihn zu überreden, sich auf Kærsholm auszuruhen, jetzt, wo der Sommer nun endlich gekommen war.

Es war nicht schwer, Per zu überreden. Er hatte nicht die geringste Sehnsucht nach Kopenhagen. Und, so überlegte er, wo konnte er wohl einen besseren Ort finden, die geistige Krise durchzukämpfen, die er auf sich zukommen fühlte. In einem Seitenflügel des Hauptgebäudes hatte er ein ruhiges schönes Zimmer bekommen, das nach dem Park hinaus lag. Eine Reihe dichtbelaubter Kastanien dämpfte drinnen mild das Licht. Mitten im Zimmer standen auf dem weißgescheuerten Fußboden ein viereckiger Eichentisch mit schweren Kugelbeinen und vier hochlehnige Stühle. Das Bett wurde von einem Wandschirm verdeckt und gleichsam von einem hohen altmodischen eisernen Ofen wie von einem gerüsteten Ritter bewacht. An der Wand zwischen den Fenstern hing ein Bord voller Bücher.

Per fühlte sich sofort heimisch in diesem Zimmer, das sich wohltuend unterschied von den numerierten, uniformierten Hotelräumen, in denen er nun so lange hatte leben müssen. Seine grünliche Dämmerung entsprach in gewisser Weise seiner eigenen erwartungsvollen Stimmung. Gerade solch stille Kammer, solch klösterliche Abgeschiedenheit brauchte er jetzt für einige Zeit. Besonders freute er sich über die Bücher, auf deren Rücken er schon die Titel einiger Erbauungsschriften und theologischer Werke gelesen hatte, von denen die Hofjägermeisterin seinerzeit oft mit großer Wärme gesprochen hatte.

Er telegrafierte an das Hotel in Kopenhagen, man solle ihm einen Teil seines Gepäcks schicken. An Jakobe schrieb er einen erklärenden Brief, berichtete von der plötzlichen Eingebung, seiner Mutter das letzte Geleit zu geben, und erwähnte, daß er nun die Gelegenheit benutze, ein Versprechen einzulösen. Er besuche seine alten Reisegefährten aus Italien. Als Grund für seinen Aufenthalt auf Kærsholm gab er vorläufig nur an, daß er Ruhe brauche und Kräfte sammeln wolle für die bevorstehende Reise. Er sagte sich, ihr fehlten ja doch die nötigen Voraussetzungen, um zu verstehen, was er ihr in einem Brief darüber erklären konnte. Damit mußte er warten. Das war nun einmal ein unabänderlicher Mangel in ihrem Verhältnis, daß sie nicht in demselben geistigen Boden wurzelten. Wieviel guter Wille auch auf beiden Seiten vorhanden war – die Unterschiedlichkeit ihrer Naturen schloß in Wirklichkeit jede tiefere Vertraulichkeit aus.

Am Abend, nachdem er den Brief abgeschickt hatte, war er sehr viel ruhiger geworden. Bei Sonnenuntergang saß er bei den Damen im Wohnzimmer und fühlte sich fast heimisch in dieser fremden Umgebung. Die Gründe hierfür wollte er gar nicht näher untersuchen. Doch es lag in der Stimmung der großen, ein wenig niedrigen dunklen Räume, in der Art, wie die letzten Sonnenstrahlen über die breiten Fensterbretter hereinschienen, ja selbst in der etwas stickigen Luft, in der man einen schwachen Torfgeruch aus der Küche spürte. In allem lag etwas, was ihn verzauberte und wie ein mütterlicher Schoß umfing.

Der Hofjägermeister, der sich zu ihnen gesetzt hatte, stand plötzlich geräuschvoll auf und ging, eine Melodie summend, durch den Wintergarten in sein Zimmer zurück. Beide Türen ließ er offen. Nach einer Weile vernahm man allerlei Geräusche. Er machte sich mit etwas Klirrendem zu schaffen und riß dann drinnen das Fenster auf. Und auf einmal gellten Töne eines Waldhorns nach den Hügeln und dem Wald hinüber.

Zu den vielen törichten Einbildungen, mit denen der Hofjägermeister sein Selbstbewußtsein aufrechterhielt, gehörte auch die, daß er ein Virtuose auf Messinginstrumenten sei. Zuerst spielte er ein paar muntere Jagdsignale . . . und das Echo aus dem Wald antwortete mit einem Klang, der gleichsam aus jenen längst entschwundenen Zeiten zu stammen schien, als seine Vorfahren ihre blutigen Wege durch das Dickicht bahnten. Dann folgten patriotische Lieder, worauf er mehr und mehr in jene schwüle Gefühlsduselei geriet, die die Poesie einfältiger Herzen ist. Es klang furchtbar. Zuletzt spielte er die Melodie »Es ist so lieblich, füreinander einzustehn«. Und um eine schmachtende Innigkeit in den Vortrag des alten Liedes zum Preis des Ehelebens zu legen, ließ er seine falschen Töne in einer so kunstfertigen Weise beben und ersterben, daß Per schließlich nicht mehr wagte, den Blick vom Boden zu heben, aus Furcht, in lautes Lachen auszubrechen. Die Hofjägermeisterin hingegen stützte das Kinn in die Hand und sah mit zärtlichem, sanftem und unschuldigem Frauenlächeln zum Fenster hinaus. Jetzt vergingen Per die Tage in gemütlichem Zusammenleben mit den Bewohnern des Herrenhauses. Der Hofjägermeister war bei bester Laune und zeigte ihm sein Besitztum. In Gesellschaft der Damen unternahm Per nachmittags Fahrten in die schöne Umgegend und machte außerdem kleine Ausflüge auf eigene Faust oder zusammen mit dem Verwalter, einem jungen Mann in seinem Alter.

Es dauerte auch nicht lange, bis er rein körperlich wiederhergestellt war und seine Wangen erneut die braune Farbe zeigten, die er aus Italien mitgebracht hatte und die ihm so gut stand. Über seine Beziehung zum Hause Salomon sprach er sowenig wie möglich, was die Hofjägermeisterin sehr bald bemerkte. Deshalb berührte sie dieses Thema auch nicht mehr. Per hingegen hütete sich, über seine Mutter und den eigentlichen Anlaß für seinen Ausflug nach Jütland zu reden, solange er die Damen noch in der verzweifelten Einbildung hinsichtlich seiner geheimnisvollen Herkunft befangen glaubte. Bald wurde ihm jedoch klar, daß sich zumindest die Hofjägermeisterin über seine Familienverhältnisse Auskunft verschafft haben mußte. Er kam zu der Überzeugung, daß ihr diese Aufklärung Pastor Blomberg vermittelt habe, von dem sie mit soviel Hochachtung gesprochen hatte.

Den Gedanken, sich wegen einer Anleihe an die Baronin zu wenden, der ihn zu diesem Besuch auf Kærsholm bewegt hatte, hatte er schnell aufgeben müssen. Er hatte förmlich Angst davor, mit ihr allein zu bleiben, da ihr Ton dann gleich unheimlich vertraulich wurde. Den welken kleinen spitzenverzierten Kopf auf zwei Finger gestützt, fing sie sogleich an, in ihrer schwülstigen Sprache von ihrem verstorbenen Bruder zu reden. Es endete regelmäßig damit, daß sie Verse ihrer Lieblingsdichter Hertz und Paludan-Müller deklamierte.

Deshalb setzte Per seine ganze Hoffnung auf den Hofjägermeister und dessen Frau, noch immer fest entschlossen, sich nicht wieder wegen eines Darlehens an seinen Schwiegervater zu wenden. Man sollte ihm nicht dauernd nachsagen können, er lebe von der Gnade Philip Salomons.

Bisher hatte er jedoch noch keinen passenden Augenblick finden können, um die Angelegenheit zur Sprache zu bringen. Es gab soviel anderes, was ihn beschäftigte. Nicht nur seine eigene innere Welt nahm ihn gefangen, sondern auch das Geschehen um ihn her. Vor allem in der Natur. Erst nach drei Tagen hatte er der Hofjägermeisterin erzählt, daß er in allernächster Zeit eine Studienreise nach Amerika zu unternehmen gedenke.

Das Wetter blieb sommerlich, und die Jahreszeit war genau die, in der diese Gegend am schönsten aussah. Feld und Wald prangten in frischem Grün, und die Wiese war ein einziger Blütenteppich. Mit dem Verwalter war Per schon gut Freund geworden. Gern verbrachte er die Mittagsruhe auf dessen Zimmer, das ganz für sich in einem Flügel des Wirtschaftsgebäudes lag. Von hier aus hatte man nach der einen Seite eine Aussicht auf die Meierei, wo hochgeschürzte Melkerinnen mit klirrenden Blecheimern aus und ein gingen. Auf der anderen Seite gab ein Fenster den Blick nach dem Hof hinter dem Dunghaufen frei, wo der mächtige preisgekrönte Kærsholmer Stier seine Schäferstunden mit den Kühen abhielt. Auf dem Sofa ausgestreckt, eine Zigarre im Mund, unterhielt sich Per hier über ländliche Themen oder spielte mit einem schwarzen Pudel, der dem Verwalter gehörte und gerade Junge hatte. Der Verwalter selbst war ein stiller Jüte, der sich in aller Gutmütigkeit doch recht respektlos dem gegenüber verhalten konnte, wovon andere soviel Wesens machten. Über alles und alle wußte er lustige Geschichten zu erzählen. Doch er tat das nicht etwa aus Bosheit, sondern nur aus Freude am Spaß. Per fand Vergnügen an seiner Gesellschaft. Und diese Plauderstunden inmitten des geschäftigen Treibens auf dem Wirtschaftshof hatten ihr Teil dazu beigetragen, jenes Unbehagen zu vertreiben, mit dem er hierhergekommen war.

Eine besondere, mystische Anziehungskraft hatte der Fluß auf ihn. Es waren ja dieselben Wasser, die nur fünf, sechs Meilen von hier entfernt gegen die morsche Brücke in der Stadt seiner Kindheit plätscherten und die mit ihren märchenhaften Röhrichtufern und verborgenen Morastgründen die große Liebe seiner Knabenjahre gewesen waren. Als er eines Tages einen Kahn in einem Schuppen am Ufer entdeckte, packte ihn seine alte Leidenschaft für das Angeln. Mit Hilfe des Verwalters verschaffte er sich die nötigen Geräte und saß nun täglich stundenlang auf dem Fluß mit seinen Angelschnüren.

So vergingen die Tage, und die Krise, der er mit so großer Erwartung und Spannung entgegengesehen hatte, blieb zunächst aus. Was sich in jener Nacht auf dem Dampfschiff an geistigem Sprengstoff in ihm angesammelt hatte, verpuffte bei dem sommerlich unbeschwerten Leben an der freien Luft, das er hier führte. Die Erbauungsbücher der Hofjägermeisterin waren bisher so gut wie unberührt auf ihrem Bord stehengeblieben. Den ganzen Tag über war Per draußen in der Natur. Wenn er abends endlich auf sein Zimmer kam und die Lampe anzündete, um sich mit einem Buch hinzusetzen, dann las er nie mehr als ein paar Zeilen, und schon umfing ihn angenehme Schläfrigkeit wie ein irdischer Segen. Und er war gezwungen, ins Bett zu gehen.

Er fing sogar an, sich ein wenig nach Jakobe zu sehnen. Wenn er in seinem Kahn saß und sich von der Sonne durchglühen ließ oder wenn er ausgestreckt auf seinem Lieblingsplatz im Schatten am Waldrand lag, dann wünschte er zuweilen, sie könnte diese Tage der Sommerfreude mit ihm teilen. Sicher hätte es ihr gutgetan, den Staub des Strandvejs aus ihren Lungen zu atmen. In jüngster Zeit hatte sie wieder sehr abgespannt ausgesehen. Doch dann fiel ihm ein, daß sie sich bestimmt dafür bedankt hätte. Für ein Naturleben, wie er es in diesen Tagen führte, hatte sie gar kein Verständnis. Ganz still dazuliegen, die Hände unter dem Kopf, und die Gedanken mit den Wolken ins bodenlose Blau treiben zu lassen, sein eigenes Wesen gleichsam hinschmelzen und in der Unendlichkeit aufgehen zu fühlen – das war eine Art von Genuß, den sie nicht verstand. Er erinnerte sich, daß sie einmal in einem Liebesbrief an ihn geäußert hatte, ihr Gemüt sei ruhelos wie das Meer. Das stimmte.

Zu Pers Wohlbefinden trug auch sehr die Zwanglosigkeit bei, die dem Leben auf Kærsholm das Gepräge gab und die sich auch in der Kleidung ausdrückte. Der Hofjägermeister stakste in seinen langen Stiefeln in den Zimmern umher und zog sich nicht einmal zum Essen um. Auch die Hofjägermeisterin nahm es hier zu Hause nicht besonders genau mit ihrer Toilette. Diese ländliche Ungezwungenheit hatte auch Per sogleich angesteckt, dem die strenge Wahrung der Form im Hause der Schwiegereltern, dieses ewige Umkleiden, wie es auch das moderne Reiseleben erforderte, oft sehr schwergefallen war.

Eines sonnenwarmen Nachmittags, als Per, seine Angelruten über der Schulter, vom Fluß zurückkehrte, begegnete er der Hofjägermeisterin in Gesellschaft einer jungen Dame, einer Blondine, die ein Kleid mit klaren Streifen in Weiß-Blau trug. Die beiden Damen kamen die Pappelallee herunter, die von der Wiese nach dem Park vor dem Hauptgebäude führte. Sie hatten sich untergehakt, und vor allem im Wesen des jungen Mädchens lag etwas, das Per an ein Brautpaar denken ließ.

»Ingenieur Sidenius aus Kopenhagen – Fräulein Blomberg«, stellte die Hofjägermeisterin halb im Vorübergehen vor und fügte hinzu, Pastor Blomberg sitze drinnen bei ihrem Mann und würde sich sicher freuen, ihn begrüßen zu können.

Per fluchte im stillen, während er weiter durch den Park schritt und dann in sein Zimmer ging. Er war überzeugt, nun hatte der schöne Friede für ihn ein Ende. Dieser Pastor, der hier im Haus eine besondere Rolle zu spielen schien, war ihm von vornherein zuwider. Es war ihm im übrigen inzwischen klargeworden, wer dieser Mann war. Er entsann sich, daß man ihn in den Zeitungen als begabten Wortführer einer der vielen kirchlichen Richtungen der Zeit hin und wieder erwähnt hatte. Er erinnerte sich auch dunkel, daß dessen Wirken im elterlichen Pfarrhaus Gegenstand einer Meinungsverschiedenheit gewesen war, weil sein Bruder Thomas, der Kaplan, von seiner Verkündigung mehr angetan gewesen war, als dies dem Vater zugesagt hatte.

Am liebsten wäre Per während des Pastors Besuch auf seinem Zimmer geblieben. Doch die Aufforderung der Hofjägermeisterin, ihn zu begrüßen, war trotz aller Liebenswürdigkeit so bestimmt gewesen, daß man sie nicht gut unbeachtet lassen konnte.

Er fand denn auch den fremden Mann im Zimmer des Hofjägermeisters, wo sich die Herren am Tisch gegenübersaßen, vor sich ein Kaffeeservice, in dichten Tabakrauch gehüllt. Als er sich an der Tür zeigte, stockte ihre Unterhaltung so plötzlich, daß man nicht im Zweifel sein konnte, worüber sie gesprochen hatten.

Pastor Blombergs Äußeres setzte Per sogleich ein wenig in Erstaunen. Nach allem, was er hier auf Kærsholm von diesem kirchlichen Reformator und dessen Kampf für eine sogenannte menschliche Auffassung der göttlichen Dinge vernommen hatte, war er auf eine hehre nordische Apostelgestalt, auf einen christlichen Wiking gefaßt gewesen – und nun sah er einen kleinen dicken pausbäckigen Mann vor sich, der sich in keiner Weise von dem Typ des leutseligen dänischen Geistlichen unterschied. In dem großen, von flachsgelbem Haar und Bart umwallten Kopf des Pastors leuchteten zwei klarblaue seelenvolle Augen. Sie glichen zwei prallen Wassertropfen, in denen sich ein friedliches Firmament spiegelt. In seiner Kleidung – er trug eine kurze Sommerjacke aus schwarzem Lasting – und auch in der Art, wie er sich auf dem Stuhl zurückgelehnt hatte und eine zerkaute Zigarre rauchte, lag ein gewisses Bestreben, das Gepräge seines Standes abzustreifen, die »Ehrwürdigkeit« abzuschütteln, mit der er zum Ärger seiner Amtsbrüder so viele respektlose Späße trieb. Trotzdem war man keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß man einen geistlichen Herrn vor sich hatte. Dazu trug seine ganze Person allzu unverkennbar den Stempel einer eigenen Selbstgerechtigkeit, jenes patriarchalischen Gefühls der Oberhoheit, das Männern der Kirche anzuhaften pflegt wie der modrige Geruch, der trotz aller modernen Heiz- und Ventilationseinrichtungen immer wieder aus dem alten Grund der Kirchen aufsteigt.

Pastor Blomberg erhob sich ein wenig schwerfällig und drückte Per mit ländlicher Herzlichkeit die Hand. »Jaja, sieh an, sieh an!« sagte er und betrachtete ihn recht ungeniert. »Willkommen in unserer Gegend, Herr Ingenieur!« In seinem herzlichen Tonfall lag etwas Beschützendes oder Mitleidiges, das Per veranlaßte, sich zu straffen. »Ja, der Name Sidenius ist mir natürlich nicht unbekannt«, fuhr der Pastor fort. »Ihr Herr Vater war ja ein Mann, der sich innerhalb unseres Standes eines großen Ansehens erfreute. Obwohl wir eine ganze Reihe von Jahren hier gewissermaßen als Nachbarn gewirkt haben, habe ich ihn trotzdem nie persönlich getroffen. Seine und meine Auffassungen von den Forderungen der Kirche gingen in vieler Hinsicht weit auseinander. Doch ich achte ihn noch in seinem Grab! Er war ein eifriger Diener der Kirche!«

Als Per hierauf nicht antwortete, setzte sich der Pastor, und es entstand ein kurzes Schweigen. Dann wandte sich Pfarrer Blomberg wieder an den Hofjägermeister und fing an, mit ihm über Angelegenheiten des Kirchspiels zu reden.

Per nahm auf einem Stuhl am Fenster Platz und zündete sich eine Zigarette an. Halb abgewandt saß er hier und blickte hinaus auf die weite Rasenfläche, die sich vor dem Hauptgebäude ausbreitete und in deren Mitte eine vergoldete Sonnenuhr prangte.

Da entdeckte er die Hofjägermeisterin und das junge Mädchen, die aus der Allee traten und sich auf eine Bank im Schatten einer hohen Buche auf der anderen Seite des Rasens niederließen. Die Hofjägermeisterin klappte ihren Sonnenschirm zu, und ihre Begleiterin legte den breitkrempigen Hut auf die Bank und strich sich eine Locke aus der Stirn.

Per sah sich diese Pastorstochter etwas genauer an. Sie schien achtzehn, neunzehn Jahre alt zu sein und hatte kaum Ähnlichkeit mit dem Vater, höchstens das blonde Haar. Sie war groß, ein wenig hoch aufgeschossen, mit schlanken feinen Körperformen. Ihre Züge konnte er wegen der Entfernung nicht deutlich erkennen. Aber im ganzen fand er sie sehr anziehend. Wie sie so dasaß, im dunklen Schatten des Baumes, etwas nach vorn gebeugt, die Beine übereinandergeschlagen, und mit einer Blume spielte, an der sie von Zeit zu Zeit roch, wirkte sie auf ihn wie ein Traumbild. Neben der massigen Gestalt der Hofjägermeisterin in ihrem glänzenden grauseidenen Mieder, das über den Brüsten spannte und sich wie ein Stahlharnisch ausnahm, machte sie in ihrem luftigen Kleid einen beinahe körperlosen Eindruck.

Sie erinnerte Per an irgend jemand. Schon vorhin in der Allee war ihm flüchtig derselbe Gedanke gekommen. Diese rehähnliche Schlankheit, die blonde, fast silberne Haarfülle, die hängenden Schultern – in allem lag etwas, das ihm altbekannt vorkam, ja ihn wehmütig stimmte.

Drüben am Tisch stand der Pastor auf, um zu gehen. Er wolle noch einen Kranken in der Nachbarschaft besuchen, eines seiner früheren Pfarrkinder. Der arme Kerl sei von einem wütenden Stier übel zugerichtet worden. Auf dem Rückweg würde er dann wieder vorbeikommen und seine Tochter mitnehmen.

Als er sich von Per verabschiedete, musterte er ihn wieder unverhohlen und ließ ihn wissen, er sei sehr willkommen im Pfarrhaus von Bøstrup, falls ihn sein Weg eines Tages dort vorbeiführen sollte.

»Ich weiß wohl«, meinte er aufgeräumt, »daß die jungen Leute aus Kopenhagen die Kirche für einen Tempel der Unwissenheit und das Pfarrhaus für seinen Vorhof halten. Aber vielleicht sind wir nicht ganz so schlimm, wie Ihre Kopenhagener Presse und Literatur uns hinstellen möchten. Jetzt können Sie sich ja selbst davon überzeugen!«

Trotz des herablassenden Tons erwiderte Per diesmal seinen Händedruck und dankte mit einem höflichen Murmeln. Der Eindruck, den die Tochter auf ihn gemacht hatte, stimmte ihn unwillkürlich freundlicher gegen diesen selbstgefälligen kleinen Mann.

Der Hofjägermeister begleitete den Pfarrer hinaus. Per aber nahm seinen großen Strohhut, den er aus Italien mitgebracht hatte, und ging durch den Wintergarten ins Freie. Er stellte sich auf die Verandatreppe und ließ den Blick zum Himmel schweifen, als ahne er die Anwesenheit der Damen nicht.

Die Hofjägermeisterin rief ihn. »Können Sie raten, mit wem Fräulein Blomberg Sie verglichen hat?« fragte sie.

Das junge Mädchen, deren eine Hand die Hofjägermeisterin auf ihrem Schoß hielt, wurde dunkelrot und wollte ihr mit der anderen den Mund zuhalten.

»Meine Liebe, warum soll ich es denn nicht sagen? Ich fand, es klang so amüsant. Fräulein Blomberg meint, Sie sehen aus wie ein Nabob. Und sie hat wirklich recht. Sie haben heute so etwas Exotisches.«

»Ein Nabob!« wiederholte Per und blickte an seinem hellgelben samtartigen Anzug hinab, der ebenfalls aus Italien stammte und den er wegen der brütenden Hitze an diesem Tag zum ersten Mal trug. »Das ist natürlich recht schmeichelhaft für mich. Leider fehlen mir die dazu gehörenden Millionen.«

»Aber die kriegen Sie ja«, warf die Hofjägermeisterin ein. Die Worte waren ihr halb gegen ihren Willen entschlüpft. Sie bereute sie sogleich und begann von anderen Dingen zu reden.

Per hatte ihre kurze Bemerkung sehr wohl verstanden und sie ärgerte ihn. Also hatten die beiden von seiner Verlobung gesprochen, und natürlich war dabei auch vom Geld des Schwiegervaters die Rede gewesen. Beide Dinge waren offenbar im Bewußtsein der Leute untrennbar miteinander verwachsen. Im übrigen hatte er recht gut begriffen, daß Fräulein Blombergs Vergleich mit einem Nabob nicht gerade ein Kompliment sein sollte.

Er setzte sich und nahm die junge Dame in Augenschein. Und jetzt, ganz aus der Nähe, betrachtete er ihre Erscheinung viel nüchterner und beurteilte sie als Kenner. Er fand jedoch nicht viel an ihr auszusetzen. Trotz seiner Verärgerung mußte er sich wundern, daß er nicht schon vorhin bei der Begegnung in der Allee bemerkt hatte, wie hübsch sie war. Was für klare, unschuldige Augen! Welch schöner, sanft geschwungener Mund! Vielleicht noch ein wenig zu zart und blutarm, dafür aber frisch und unberührt wie eine wilde Rose.

Die beiden Damen hatten begonnen, von jenem Unglücksfall zu reden, den der Pastor vorhin im Herrenzimmer erwähnt hatte. In Wendungen, die verdächtig an den Vater erinnerten, erzählte das junge Mädchen, daß dem »beklagenswerten Menschen« der ganze Unterleib aufgerissen worden sei. Der Doktor glaube nicht, daß er am Leben bliebe. Per wurde plötzlich unaufmerksam. Ihm war klargeworden, an wen ihn das Fräulein die ganze Zeit über erinnerte. An Fransisca. Seine Nyboder Liebe! – Herrgott, dachte er, und ihm wurde warm ums Herz, wie lange war es doch her, seit sich seine Gedanken mit ihr beschäftigt hatten!

Während die Damen ihre Unterhaltung fortsetzten, versank er kurze Zeit in Erinnerungen. Dennoch wandte er kein Auge von der Pastorstochter, die ihn nicht ein einziges Mal ansah und anscheinend überhaupt nicht bemerkte, daß sie beobachtet wurde.

Ja, sagte er sich, Ähnlichkeit war wirklich vorhanden. Größe und Körperhaltung waren fast gleich. Doch es ließ sich nicht leugnen: Fräulein Blomberg war graziler, schlanker in den Linien – eine Fransisca in verfeinerter Ausgabe. Auch in dem Mienenspiel um ihren Mund war etwas, was an sie erinnerte. Sobald Fräulein Blomberg lächelte, glitt ihre Zungenspitze mit einer entzückenden kleinen Bewegung über die Oberlippe, als wolle sie das Lächeln ablecken.

»Es wird kühl. Willst du nicht etwas um die Schultern nehmen, Liebes?«

Die Hofjägermeisterin fragte. Die Sonne war hinter den Bäumen des Parks verschwunden, und man spürte hier unter den Laubbäumen sofort die Feuchtigkeit des grundigen Bodens.

»Ich friere nicht. Es sitzt sich hier gerade so angenehm«, erwiderte sie und war glücklich, daß die Hofjägermeisterin wieder ihre Hand genommen hatte und sie streichelte.

»Du solltest aber doch deinen Schal umnehmen. Du hast ihn im Wohnzimmer gelassen.«

Per stand auf. »Ich hole ihn«, sagte er.

Doch im selben Augenblick war das junge Mädchen von der Bank aufgesprungen. »Nein, Sie können ihn doch nicht finden«, wehrte sie hastig ab. Und als fürchte sie, er könne ihr folgen, eilte sie davon, quer über den Rasen.

»Ist sie nicht entzückend?« erkundigte sich die Hofjägermeisterin, als sie weg war und Per sich wieder gesetzt hatte.

»Ja, sie ist recht hübsch«, antwortete er ziemlich kurz.

»Ja, das auch. Und so ein gutes Wesen, so offen und natürlich. Leider ist ihre Gesundheit recht angegriffen.«

»Ist Fräulein Blomberg krank?«

»Mein Bester – sie hat den ganzen Winter über zu Bett gelegen. An Typhus. Wie sie selbst sagt, gehörte sie ein Vierteljahr mehr dem Tod als dem Leben. Sieht man ihr das nicht an?«

»Na ja, sie macht einen etwas überirdischen Eindruck. Aber daß sie gerade schwach . . .«

»Ja, Gott sei Dank, sie ist nun über das Schlimmste hinweg. Und der Sommer wird hoffentlich ein übriges tun. Das liebe Kind! Sie ist hier die Freude so vieler. Und sie selbst ist so dankbar für das Leben, wie es nur jemand sein kann, der in blutjungem Alter nahe daran war, es zu verlieren – ja, und der überhaupt das Leben von seinem Schöpfer als eine Gnadengabe hinzunehmen weiß, Herr Sidenius!«

Per sah zur Seite. In den letzten Tagen war er stets ein wenig verlegen geworden, sobald die Hofjägermeisterin religiöse Themen berührte.

»Fräulein Blomberg ist Ihnen wohl sehr ans Herz gewachsen«, meinte er, um das Gespräch auf andere Dinge zu bringen.

»Oh, sie kommt sehr gern hierher, das gute Kind. Sie fühle sich so wohl auf Kærsholm, hat sie mir anvertraut. Der Umgang in ihrem Elternhaus ist vielleicht ein bißchen einförmig für solch ein junges Ding. Aber sonst führt man ein recht angenehmes Leben bei Pastor Blomberg. Sie sollten ihn wirklich einmal besuchen. Er freut sich bestimmt, wenn er sich mit Ihnen unterhalten kann.«

Auf dem Gartenweg näherte sich der Gärtner und blieb in einiger Entfernung stehen.

»Was ist denn, Petersen?« fragte die Hofjägermeisterin.

Der Gärtner trat ein paar Schritte vor, die Mütze in der Hand. Er wolle die gnädige Frau bitten, für einen Augenblick in den Küchengarten zu kommen, wenn es der gnädigen Frau genehm sei.

»Ich bin gleich da«, antwortete die Hofjägermeisterin, deren christliches Brüderlichkeitsempfinden sich noch nicht auf ihre Untergebenen erstreckte.

Kurz darauf stand sie auf und ging. Unterdessen war das junge Mädchen zurückgekehrt und blickte recht unglücklich drein, weil sie nun mit Per allein gelassen war. Beide Hände umklammerten die Sitzkante der Bank, und sie wurde abwechselnd rot und blaß. Und plötzlich rief sie der Hofjägermeisterin nach, die noch nicht aus ihrem Gesichtskreis verschwunden war, ob sie sie nicht begleiten dürfe. Noch bevor die Antwort sie erreichte, war sie schon von der Bank aufgesprungen und eilte davon.

»Denk daran . . . du darfst nicht laufen!« warnte die Hofjägermeisterin.

Per blickte ihr über die Schulter nach – und im selben Augenblick glitt ein Schatten über sein Gesicht.

In dieser Scheu lag etwas, das düstere Erinnerungen in ihm wachrief. So hatten auch seine Geschwister ihn während seiner Kindheit gemieden, besonders wenn der Vater bei der Morgen- oder Mittagsandacht ihm eine seiner großen Strafpredigten gehalten hatte. Per hatte es erst neulich wieder erlebt, als er den Zwillingen begegnet war und sie verlegen dagestanden und kaum gewußt hatten, ob sie ihn anschauen durften.

Nabob! Das war natürlich verächtlich gemeint. Das Mädchen war ja vor ihm geflohen wie vor dem Leibhaftigen. Na, und wennschon! Seit wann war er so gering geworden, daß er ängstlich nach jedermanns Meinung über sich fragen mußte? Oder war es etwas anderes? Verhielt es sich etwa in Wahrheit so, daß er selbst mehr und mehr seine ungestüme Jagd nach dem Glück als Schande empfand?

Nun, es nützte nichts, wenn er sich solchen Grübeleien hingab. Er mußte diese übersteigerte Empfindlichkeit bekämpfen, die in jüngster Zeit dazu geführt hatte, daß er seinen wechselnden Stimmungen wehrlos ausgeliefert war. Es war an der Zeit, daß er seinem Müßiggang hier ein Ende machte und wieder mit der Arbeit begann. Was er auch gegen sich und andere an Verfehlungen begangen hatte – in seinem Kampf, seinem Fleiß und seinem ehrlichen Willen, etwas Nützliches und Gutes hier in der Welt zu schaffen, wollte er künftig seine Rechtfertigung suchen, selbst wenn die bedeutenden Siege ausbleiben sollten.

Drüben im Hauptgebäude wurde ein Fenster geöffnet. Es war die Baronin, die nun von ihrem langen Nachmittagsschlummer aufgestanden war. Bald darauf erschien sie auf der Veranda, schwärmerisch drapiert mit einer Spitzenmantille, die auf spanische Weise an ihrem Kopf befestigt war, dazu stark gepudert wie immer am Nachmittag, um die hektischen Flecke zu verbergen, die im Lauf des Tages auf ihrem Gesicht erblühten.

Per war sogleich verschwunden. Um mit der verrückten Alten nicht allein bleiben zu müssen, hatte er sich aus dem Park geschlichen und ging jetzt auf der Landstraße spazieren, die an den Wiesen entlang zum Wald hinaufführte.

Es war einer jener sehr hellen und sehr stillen Sommerabende, die trotz all ihres Friedens so unheimlich sein können. Lautlos und öde lag die schattenlose Erde unter einem gleichsam erloschenen Himmel, ohne Sonne und ohne Sterne. Die Sonne war untergegangen ohne alle Feierlichkeit, hatte nur einen kleinen rötlichen Nebelfleck am Horizont hinterlassen. Am ganzen Himmel war nicht eine Wolke, die die steigenden Strahlen hätte auffangen und zur Erde zurückwerfen können als Abglanz der Herrlichkeit des Tages. Hier und dort auf den Hügeln glühte eine Fensterscheibe, das war alles.

Doch unten am Fluß erwachte, sobald die Sonne verschwunden war, ein eigenes geisterhaftes Leben. Die Wiesen begannen sich in graue Nebelgewebe einzuspinnen. Bald war der ganze meilenbreite Talgrund von wallendem Dunst angefüllt. Es sah aus, als nehme der Fjord jetzt zur Nacht auf spukhafte Art sein altes Bett wieder in Besitz. Wie schäumende Brandung, wie ein gespenstisches Meer wälzte sich der bleiche Dampf zwischen den Hügeln dahin.

Plötzlich vernahm man Leben da draußen. Ein gehörnter Schädel tauchte aus dem Nebelmeer auf und brüllte. Dahinter gewahrte man den Oberkörper eines Menschen, eines Mannes, der in einem dunklen Tierleib mit erhobenem Schwanz zu enden schien. Bald erblickte man ein Gewimmel von gehörnten Köpfen, die sich mit erhobenen Mäulern um ihn drängten und Dampf aus ihren Nüstern stießen. Der Mann schwang etwas über seinem Kopf und stieß ab und zu einen Ruf aus. – Man dachte unwillkürlich an den Kampf eines Zentauren mit einer Herde Seeungeheuer.

Das waren die dreihundert Rinder von Kærsholm, die von einem Hirten mit knallender Peitsche heimwärts getrieben wurden. Von der Landstraße her gewann man den Eindruck, als schwömmen die Tiere. Man konnte nichts weiter von ihnen sehen als Köpfe und dunkle Rücken, die sich in einer eigenartig schaukelnden oder schwankenden Bewegung befanden. Nebelschwaden trieben darüber hin und verwischten alle Umrisse.

Per hatte sich auf eine Bank gesetzt, die unter einem Baum dicht hinter dem Straßengraben stand. Er legte seine Hand unter den Kopf und schaute dieser heimwärts ziehenden Herde nach, bis der Nebel sie verschlang. Kleine Scharen von Krähen zogen hin und wieder über ihm dahin, und er hörte, wie sie sich mit lautem Gekrächze auf ihre Nester im Wald hinter ihm niederließen. Irgendwo in seiner Nähe saß ein Frosch und quakte behaglich. Sonst war es meilenweit ganz still um ihn her.

Mutlosigkeit und ein Gefühl des Verlassenseins überfielen ihn plötzlich. Er dachte an das Wort der Bibel: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester . . . Er selbst kannte den Ort nicht, an den er sich durch gute, starke Erinnerungen gebunden fühlte. Er dachte an seine bevorstehende Reise und sagte sich, es sei ganz gleichgültig, wo er sich in der Welt aufhielt. Er würde nicht heimatloser sein auf dem Atlantik oder in den amerikanischen Prärien, als er es hier im Herzen seines eigenen Vaterlandes war.

Da fiel ihm ein anderes Wort der Schrift ein und jagte ihm einen kleinen Schauer über den Rücken. Es war jener biblische Fluch, den sein Vater einst gegen ihn ausgestoßen hatte: »›Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden‹, wenn du dem Herrn trotzt.« Das Wort war jetzt in Erfüllung gegangen. Kains Schicksal ruhte auf ihm . . .

Wieder stieg Fransiscas Bild lockend aus seiner Erinnerung auf, in einem Rahmen aus kleinen gelbgetünchten Nyboder Häusern und winzigen grünen Gärten hinter geteerten Plankenzäunen. Wie lieb er sie doch im Grunde gehabt hatte! Es war ihm nicht leicht geworden, auf ihre frühlingsfrische Liebe zu verzichten. Natürlich, und das wußte er sehr gut, hatte er bei seinem Tausch nicht verloren. Jakobe war ein ungleich vollkommenerer Mensch. Niemals würde er ihre Bedeutung für seine Entwicklung unterschätzen. Doch er mußte sich fragen, ob sie einander je mehr als mit dem Körper angehört hatten. Wenn er dagegen an seine und Fransiscas stille Wanderungen in der Dämmerung dachte, rings um die golden gefärbten Wasser des Sortedamssø, an den stets wehmütig heiteren Abschied im Schutze der Bäume auf dem Østervold – dann strahlten sie jetzt in seiner Erinnerung als paradiesische Augenblicke in seiner trüben, unruhigen Jugend.

Ob sie geheiratet hatte? Wenn es jemand verdiente, einen guten Mann zu bekommen, so war sie es. Vielleicht saß sie jetzt irgendwo in der Provinz als glückliche Bürgersfrau mit einem Kind an der Brust. Es fiel ihm ein, daß er sich in Nyboder erkundigen konnte, ob sie sich noch bei ihren Eltern in Kjerteminde aufhielt oder was sonst aus ihr geworden war. Die alte Wohnung in der Hjertensfrydgade war jetzt allerdings aufgelöst. Madam Olufsen war, das wußte er, schon im Herbst ihrem Oberbootsmann in der »schwarzen Schaluppe« gefolgt. Aber sicher gab es da andere, die ihm Bescheid geben konnten.

Wieder zog eine Schar Krähen über seinen Kopf hin und verschwand mit lautem Gekrächze im Wald. Da wurde er auf Hufgetrappel und Wagenrasseln aufmerksam, das auf der Straße von Kærsholm her näher kam. Eine Kalesche mit heruntergeklapptem Verdeck, davor ein paar Rappen, fuhr im Schrittempo den Hügel hinauf, der unterhalb der Stelle, wo Per saß, eine starke Steigung hatte.

Als ihm klar wurde, daß es Pastor Blombergs Gefährt war, stand er auf und trat auf die Straße zurück. Er schlug dieselbe Richtung ein, in der der Wagen fuhr, und hoffte, daß man ihn nicht erkennen würde.

Aber er hatte sich verrechnet. Als ihn die Kalesche erreichte, ließ der Pastor halten und grüßte ihn mit einer munteren Handbewegung.

»Sieh da, sieh da! Sie schwärmen in der Abendstille, Herr Zukunftsträumer? Ja, nicht wahr? – Es ist schön hier. Ich habe gerade meiner Tochter gegenüber geäußert, es ist kein Wunder, daß unsere alte Volkspoesie, in der ja gleichsam die Natur selbst singt und sagt, mit allerlei Märchenwesen bevölkert ist. Solch Abend wie dieser hat wirklich etwas Phantastisches, etwas Zauberhaftes. Und wir Menschen scheinen ja unsere Empfänglichkeit für die Mystik der Natur noch nicht verloren zu haben, wenn sich sogar ein moderner Ingenieur in unserem fortgeschrittenen naturalistischen Zeitalter noch davon einfangen läßt.« Er sagte das mit Schelmerei, um die Unverblümtheit seiner Worte wiedergutzumachen. Dann wandte er sich an seine Tochter, die an der Seite des Vaters Per gegenüber unbefangener erschien, ja ihn sogar mit einer gewissen Überlegenheit betrachtete; er fuhr fort: »Hör zu, mein Kind . . . der Ingenieur hat mich angesteckt. Ich habe Lust, mir die Beine zu vertreten. Du mußt ja noch zum Kaufmann und die Waren abholen. Fahr voraus und warte da, bis ich komme. Denn Sie haben wohl nichts dagegen, daß ich Sie ein Stückchen begleite?«

Per murmelte »gottbewahre«, und der Pastor kletterte mit einiger Mühe aus dem Wagen.

»Man hat zuwenig gesunde Bewegung in unserem hastigen Dampfzeitalter«, nahm er wieder das Wort und trat so fest auf, als wolle er entschlummerte Jugendkräfte wieder lebendig stampfen. »Unsere Eisenbahnen, ich preise sie sonst von Herzen, verleiten uns leider dazu, die Natur zu vernachlässigen . . . sie machen uns ungehorsam gegen ihr väterliches Gebot. Wenn ich solch ein langes schwarzes Eisenbahnungeheuer fauchend über Gottes grüne Erde dahinfahren sehe, fällt mir jedesmal die Schlange im Paradies ein. Wenn ich früher in der Stadt zu tun hatte, nahm ich so manches liebe Mal die Pferde der Apostel, um die meines Pächters zu schonen – zwei Meilen Fußmarsch hin und zwei Meilen zurück, an einem Tag! Und trotzdem wurde mir die Zeit niemals lang. Wenn ich jetzt mit dem Zug in einer knappen halben Stunde zur Stadt rolle, bin ich außer mir vor Ungeduld, wenn sich der Zug auch bloß um fünf Minuten verspätet. Dazumal ließ man die Uhr in der Tasche und las die Zeit von der Sonne ab, die keinen Sekundenzeiger hat. Und wenn man eine Meile getrabt war, dann schmeckte einem die kleine Frühstücksrast auf einem Heuhaufen oder am Straßengraben! Die jungen Leute heutzutage werden nie verstehen können, welchen wunderbaren – ich möchte sagen – geistigen Genuß man der bloßen Erde in Gesellschaft eines Käsebrots entlocken kann, wenn Lerche, Star und Kiebitz dazu die Tafelmusik machen. Jetzt bin ich alt und dick geworden. Aber noch heute ergreift mich mitunter förmliche Sehnsucht nach der Landstraße. Wenn man lange zu Hause gesessen und gegrübelt hat, wenn man zwischen Zeitungen und Büchern so manche dumme Grille gefangen hat – was für eine Seligkeit ist es da, mal wieder ordentlich auszuschreiten! Man spürt geradezu, wie sich die Seele behaglich reckt und streckt, wie einer, der aus bösen Träumen erwacht ist und nun die Sonne zum Fenster hereinscheinen sieht und die Vögel draußen in den Baumkronen singen hört. – Ja, hören Sie! Hören Sie!« rief er, indem er stehenblieb und die Hand auf Pers Arm legte. »Hören Sie die Lerche da oben! Sie singt noch zur Ehre der Sonne!« Eine Minute lang verharrte er regungslos und lauschte entzückt. »Ist das nicht schön? Es erinnert an eine Frau, die nach dem Weggang ihres Geliebten eine Melodie vor sich hin summen muß, um nicht zu weinen. – Sie haben wohl mitunter schon gespürt, Herr Ingenieur, welch tiefe Lebensweisheit solch kleiner Natursänger ausdrücken kann? Nie lauscht man seiner Trauer, seiner Freude vergebens. Ich muß ehrlich zugeben: Ich für mein Teil fand in seinen klaren Trillern mehr Erbauung als in den vielen Predigtsammlungen auf meinem Bücherregal. – Aber Sie müssen mir versprechen, das niemand zu erzählen!« fügte er plötzlich lachend hinzu, wobei er Per am Arm schüttelte. »Meine lieben Amtsbrüder würden mir solch greuliche Ketzerei nie verzeihen.« Er lachte laut über seine Worte und setzte sich wieder in Bewegung.

Per fühlte sich durch den vertraulichen Ton geschmeichelt und ließ sich auch in anderer Weise von seiner Persönlichkeit fesseln. Er mußte der Hofjägermeisterin recht geben; Pastor Blomberg glich nicht den gewöhnlichen Bibelstellenautomaten, sondern war etwas Besonderes.

Nach einigen Schritten hielt der Pfarrer erneut inne und wies mit weit ausladender Geste über die Landschaft. Der Abend hatte sich schon tief herabgesenkt. Hier und da schimmerten bereits ein paar matte Sterne am grünblauen Firmament.

»Beantworten Sie mir eine Frage ehrlich und aufrichtig, Herr Ingenieur? Wenn Sie an einem Abend wie diesem über unser schönes grünes Land schauen, können Sie da wirklich allen Ernstes wünschen, daß es verdreckt werden soll von Kohlenstaub und Ruß? Ja, Sie sehen, ich kenne Ihre Anschläge auf unser nationales Idyll. Ich gebe allerdings zu, Ihre Schrift noch nicht gelesen zu haben. Aber die Hofjägermeisterin hat mir von Ihren Ideen erzählt, die ich sehr charakteristisch finde für unsere Zeit. Ich frage Sie . . . meinen Sie tatsächlich, es wäre anziehender, hier auf dem Fluß solche rauchspeienden Dampfschiffungeheuer zu sehen und an seinen blumenreichen Ufern qualmende Fabriken? Ich denke hierbei natürlich nicht nur an die Schönheit. Ich bin kein Phantast und weiß sehr gut, daß man ästhetische Gesichtspunkte den praktischen Erfordernissen unterordnen muß. Aber stehen hier nicht auch andere, größere Lebenswerte auf dem Spiel? . . . Sehen Sie das Häuschen drüben auf dem Hügel, leichter Torfrauch steigt aus dem Schornstein. Da wohnt eine Familie, die ich persönlich kenne; es sind einfache bescheidene Leute, von denen wir hierzulande rund gerechnet eine Viertelmillion haben. Sie verdienen gerade so viel, daß es für Nahrung und Kleidung reicht. Aber wenn Sie sie kennen würden, beneideten Sie sie vielleicht um ihr bißchen Glück und ihre Freude am Dasein. Mann und Frau arbeiten zusammen auf dem Feld, während die Kinder im Freien herumtollen können. Sie haben ein altes Pferd und eine Kuh und fühlen sich im Grunde reich. Können Sie wirklich mit gutem Gewissen wünschen, daß solch ein Mann in einen dunklen stinkenden Fabrikraum gesperrt wird, um da an einer Maschine zu schuften, während Frau und Kinder sechs, sieben Stockwerke hoch in einer Arbeiterkaserne zusammengepfercht sind? – Nun mal aufrichtig!«

Per ärgerte sich ein wenig über die Zudringlichkeit in der Frage des Pastors. Daher – und weil er in letzter Zeit selbst unsicher geworden war – klang seine Antwort ziemlich herausfordernd. »Ich begreife nicht, welche Bedeutung es haben kann, was ich persönlich oder sonst jemand in dieser Hinsicht wünscht. Die Entwicklung geht ihren Gang, ohne uns um Erlaubnis zu fragen. Und ob wir es nun wollen oder nicht – wir sind gezwungen, unser Leben und unsere Gewohnheiten ihren Forderungen anzupassen. Es wäre Kraft- und Zeitvergeudung, wenn wir versuchten, uns dagegen aufzulehnen.«

»Ja, das sagen Sie nun so kategorisch. Aber selbst wenn Sie recht hätten, könnten wir den Fortschritt dieser Art immer noch früh genug genießen.«

»Das glaube ich nicht. Im Gegenteil, ich meine, es ist hohe Zeit für uns, wenn es nicht zu spät werden soll. Die Statistiken beweisen sehr deutlich, daß der Wohlstand auf dem Lande von Jahr zu Jahr abnimmt. Was immer man über das idyllische Glück denkt, von dem Herr Pastor sprachen, es ruht jedenfalls auf sehr unsicherem Grund was es ja sofort viel weniger idyllisch macht.«

»Na ja«, entgegnete der Pastor ein wenig abweisend und nahm die Wanderung wieder auf. »Es mögen im Augenblick keine günstigen Zeiten für unsere Landwirtschaft sein – ich weiß es wohl. Aber deshalb . . .«

»Die Zeiten sind so gut, wie man sie jedenfalls für europäische Landwirte nur erwarten kann. Aber dieser Beruf ist in einem Kulturland nicht mehr zeitgemäß. Ein Bauer wird in nicht allzu ferner Zukunft in Europa ein veralteter Begriff sein.«

»Wie können Sie bloß so etwas behaupten! Das klingt in meinen Ohren wie die Rede eines Wahnsinnigen! Der hohe Stand unserer Landwirtschaft findet ja gerade jetzt im Ausland allergrößtes Interesse und erregt überall Bewunderung. Das lesen wir bald jeden Tag in unseren Zeitungen.«

Per lächelte nachsichtig und antwortete: »Das ist eine Bewunderung, die sicher völlig frei von Neid ist. Es läßt sich nicht bestreiten, daß wir von unserem schönen grünen Land – wie Herr Pastor sich ausdrückten – mitsamt seinem Vieh und seinen Gebäuden in Wirklichkeit nicht mehr als die Hälfte besitzen. Das übrige ist in den letzten zwanzig, dreißig Jahren vom Kapital der Industrieländer, besonders von Deutschland, geschluckt worden. Es ist eine Tatsache, daß es im ganzen Land nicht mehr viele Höfe und bedeutendere Unternehmen gibt, von denen nicht ein ausländischer Geldgeber einen beträchtlichen Teil besitzt. Durch unsere Banken und Kreditinstitute ist das Land stückweise fremden Kapitalisten verpfändet worden, und zwar auf eine Art und Weise, die – wie ich in meinem Buch schrieb – an unsere Erniedrigung unter Christoph II. erinnert.«

»Na, na, immer sachte!« rief der Pastor und lächelte ein wenig gezwungen. »Jetzt gehen Sie in Ihrem Eifer zu weit, mein Lieber!«

»Überhaupt nicht! Man braucht nur eins der bekannteren deutschen Börsenblätter in die Hand zu nehmen und die Kurse zu verfolgen, um sich zu überzeugen, welche außerordentlichen Interessen das deutsche Kapital bei uns hat und wie argwöhnisch es drüber wacht. Ich wurde geradezu von ›großem Entsetzen‹ gepackt, als mir vor kurzem in Süddeutschland eine Zeitung in die Hände fiel mit täglichen Notierungen selbst der kleinsten jütischen Aktiengesellschaften und Sparkassenvereine. So etwas zwingt zum Nachdenken!«

»Wie – sollte es tatsächlich so weit gekommen sein?« fragte der Pastor nach einigem Schweigen, das als Zugeständnis gelten sollte, daß diese Sachlage wahrhaftig ernsteste Beachtung von Seiten der Betroffenen verdiene. »Sie meinen mit anderen Worten – das dänische Volk lebt auch materiell in überholten Dogmen und Vorstellungen, die seine Kraft lähmen. Ja, das kann schon sein! Vielleicht muß hierzulande wirklich neben dem Kampf um geistige Befreiung ein weiterer zur Förderung unserer wirtschaftlichen Entwicklung geführt werden. Das ist im Grunde ein sehr hübscher Gedanke. Und in diesem Fall nützt es ganz gewiß nicht, um Nachsicht zu betteln. – Mir ist auch keineswegs bange davor, einmal richtig auszulüften. Was dem Leben nicht mehr dient, müssen wir opfern, wie lieb es uns auch geworden sein mag. Im übrigen können wir uns damit trösten, daß keine Umwälzung, so gewaltsam sie auch erscheinen mag, imstande sein wird, die eigentlichen Werte des Lebens zu erschüttern. Ich rede gar nicht davon, daß wir auch in der Schreckensepoche der Dampfmaschine Gottes Kinder bleiben – ob wir nun seine Vaterschaft anerkennen oder nicht. Alle unsere tieferen Empfindungen werden ja ebenfalls von äußeren Umwälzungen nicht berührt. Das Leben kann, Gott sei Dank, selbst in einer dunklen Bodenkammer grünen und blühen. Das Glück der Liebe und die häuslichen Freuden begleiten die Menschen auch auf die Hinterhöfe, wie rußig es da sein mag. Was sich ereignet, ist eine Kulissenverschiebung im unendlichen Weltenschauspiel. Wir selbst bleiben, was wir sind, in Zeit und Ewigkeit.«

Der zuversichtliche Ton, in dem der Pastor dies sagte, veranlaßte Per, ein wenig mitleidsvoll zu lächeln. Er wußte nur zu gut, daß die Worte des Geistlichen nicht stimmten. Er hatte die moderne Kulturentwicklung hinreichend verfolgt, um zu verstehen, daß die veränderten äußeren Bedingungen, wie die »surrenden Stahlräder«, die für den Menschen geschaffen waren, ihn allmählich selbst umformten. Er erzählte daher dem Pastor ein wenig von den Eindrücken, die er auf seiner Reise und vor allem während seines Aufenthalts in Berlin vom Lebenskampf einer industriellen Großstadtbevölkerung bekommen hatte. Er berichtete über jene Scharen von umherstreifenden Arbeitern – Männern sowohl als Frauen –, für die Worte wie Heim, Familie, Sicherheit und häusliche Gemütlichkeit leere Begriffe waren. Er sprach von denen, die irgendwo in dem ungeheuren Menschengewimmel einen Verschlag hatten, eine Schlafstelle, gerade groß genug, um ihren Körper aufzunehmen, und die außerhalb der Arbeitszeit ihr Leben auf Straßen, in Kneipen oder an anderen öffentlichen Orten verbrachten, um schließlich als bloße Nummer in einem Krankenhaus aus der Welt zu scheiden.

Aber Pastor Blomberg hörte gar nicht mehr zu. Er hatte gemerkt, daß die Unterhaltung eine für ihn unvorteilhafte Wendung nahm, und wie es seine Gewohnheit war, wenn er auf Sachkenntnis stieß, der er nicht gewachsen war, verschloß er sein Ohr.

Jetzt blieb er stehen und sagte, er wolle ihn nicht zu weit entführen. Er stehe hier gerade an der Grenze seines Pfarrbezirks, und deshalb sei es wohl angebracht, sich von Per zu verabschieden.

Noch einmal wiederholte er seine Einladung, Per möge ihn an einem der nächsten Tage besuchen. »Dann können wir vielleicht diese Unterhaltung fortsetzen. – Aber jetzt müssen Sie sich wohl beeilen, damit Sie zum Abendessen wieder zurück sind. Sicherlich haben auch Sie schon beobachtet, daß der Hofjägermeister ein eifriger Mann ist, wenn es sich um die Mahlzeiten handelt, haha!«


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