Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Zehntes Kapitel

Noch waren nicht viele Tage vergangen, da wurde es Per schon klar, daß er trotz des Jaworts, das er Jakobe abgerungen hatte, nicht viel weiter gekommen war. Erstens verlangten sowohl Jakobe wie auch ihre Eltern – diese sogar »auf das bestimmteste« –, daß man die Verlobung vorläufig geheimhielt; auf jeden Fall sollten nur die allernächsten Angehörigen davon erfahren. Und zweitens war Jakobes Benehmen ihm gegenüber von einer Launenhaftigkeit, die seine Geduld sehr oft auf eine harte Probe stellte. Mehr als einmal geschah es, daß sie sich bei seinem Besuch auf »Skovbakken« überhaupt nicht sehen ließ, sondern unter dem Vorwand in ihrem Zimmer blieb, ihr sei nicht wohl. Zu anderen Zeiten wieder, wenn sie beispielsweise in der Dämmerstunde allein waren, gab sie sich seinen Liebkosungen recht leidenschaftlich hin. So viel Frauenkenner war er, daß er den Zusammenhang zwischen solchen unbeherrschten Zärtlichkeitsausbrüchen und den regelmäßig darauf folgenden Anfällen von beleidigender Kälte sehr gut verstand; er sah ein, daß jede weitere Nachgiebigkeit gefährlich für ihn werden konnte.

Nach einer Woche änderte er daher nach und nach sein Benehmen ihr gegenüber, zeigte sich ein bißchen gleichgültiger, fand sich weniger regelmäßig ein und blieb schließlich ein paar Tage ganz fort.

Mit Hunger zähmt man Widerspenstige! dachte er. Jetzt mußte sich zeigen, ob er die Macht besaß, über Menschen zu herrschen und sich ihren Willen untertan zu machen.

Am ersten Tag empfand Jakobe sein Ausbleiben wie eine Erlösung. Am zweiten Tag war sie verwundert, am dritten etwas beunruhigt. Sie entschloß sich schließlich, ihm zu schreiben, um zu erfahren, ob er krank geworden sei. Doch gerade als sie den Federhalter zur Hand nahm, hörte sie unten im Garten seine Stimme. Nun schlug ihr Gefühl um. Zwar klopfte ihr Herz heftiger, aber sie wünschte ihn wieder weit weg. Nicht einmal sehen wollte sie ihn. Die Mutter ließ ihr sogleich durch eine der jüngeren Schwestern sein Kommen melden, aber Jakobe blieb auf ihrem Zimmer. Auf dem Bogen Papier, den sie für ihn bestimmt hatte, begann sie einen gleichgültigen Brief an eine Freundin im Ausland.

Erst nach einer halben Stunde erschien sie unten in den Wohnräumen. Per empfing sie mit seinem unbefangensten Lächeln und verlor kein Wort über sein langes Fernbleiben. Den größten Teil des Abends verbrachte er mit Ivan und Onkel Heinrich im Billardzimmer und schien sich vortrefflich zu unterhalten. Gleich nach dem Tee brach er auf, ohne daß sie eigentlich miteinander gesprochen hätten.

Die folgende Nacht wurde entscheidend für ihr Verhältnis zu ihm. Stundenlang ging sie in ihrem Schlafzimmer auf und ab und kämpfte mit sich. Sie sagte sich, sie wolle und müsse jetzt diese unwürdige Verbindung lösen, die nicht allein ihr Verhältnis zu den Eltern und den alten Freunden zerstört hatte, sondern bereits anfing, ihr den letzten Rest von Selbstachtung zu rauben. Gegen Morgen setzte sie sich an den Schreibtisch, um ihm ihren Entschluß mitzuteilen. Doch als sie die Worte niederschreiben wollte, war es, als widerstrebte ihre Hand. Die Begierde nach Liebe flammte in ihrem Blut auf – sie warf plötzlich die Feder hin und blieb unbeweglich sitzen, die Hände vor dem Gesicht.

Von dem Augenblick an war er ihr Herr. Seit dieser Nacht verlor sie sich in ihrem Unglück, so wie man ins Unabwendbare versinkt. Per kam und ging weiterhin nach Belieben. Wenn er ausblieb, schickte er mitunter einen Brief mit ein paar entschuldigenden Zeilen, einmal waren Blumen dabei; im allgemeinen sagte er jedoch nichts über die Ursache seines Fernbleibens, und Jakobe fragte niemals.

Eines Tages befand sie sich mit der Mutter in dem kleinen Wohnzimmer. Die Mutter saß auf ihrem Sofaplatz und nähte; Jakobe hatte sich mit einer Zeitung am Fenster niedergelassen. Den ganzen Vormittag war sie auf ihrem Zimmer gewesen, auch zum Lunch war sie nicht heruntergekommen. Sie war einsilbig und sah nicht auf von der Zeitung, die sie gleichgültig überflog.

»Heute morgen hast du einen Brief von Sidenius bekommen«, begann die Mutter nach längerem Schweigen und kramte in ihrem Nähkasten.

»Ja.«

»Kommt er heute?«

»Ich weiß nicht.«

Wieder entstand eine Pause. Doch dann legte Frau Salomon entschlossen die Hände in den Schoß, schaute die Tochter an und sagte: »Jakobe . . . setz dich her zu mir, mein Kind, und laß uns miteinander reden.«

Beunruhigt hob Jakobe den Kopf, zögernd stand sie auf und ging zur Mutter hinüber. »Was möchtest du?« fragte sie und lehnte sich, die Hand unter dem Kinn, in die Sofaecke zurück, so weit wie möglich von der Mutter entfernt.

Frau Salomon ergriff ihre andere Hand und bat: »Möchtest du mir eine Gewissensfrage beantworten, Jakobe?«

»Was meinst du damit?«

»Nein, sei nicht gleich beleidigt! In dich dringen will ich nicht. Möchtest du deiner Mutter bloß – offen und ehrlich auf eine einzige Frage Antwort geben: Bist du glücklich?«

»Das ist wirklich eine merkwürdige Frage!« erwiderte Jakobe und tat völlig verständnislos, ja sie versuchte sogar zu lachen. Aber sie war sehr blaß geworden.

»Oh, so merkwürdig ist die Frage nicht. Du weißt, es ist sonst nicht meine Art, das Vertrauen meiner Kinder in Liebesangelegenheiten zu verlangen. In diesem Fall glaube ich allerdings ein Recht zu dieser Frage zu haben . . . und ein Recht auf eine ehrliche Antwort.«

»Wie wunderlich du bist, Mutter! Ich habe mich aus eigenem, freiem Willen verlobt! Also muß ich glücklich sein!«

»Tja, wenn du es so nimmst, mein Kind, dann möchte ich frisch von der Leber weg reden. Vor einer Stunde war ich oben auf deinem Zimmer. Ich nahm an, du fühltest dich nicht wohl, weil du nicht zum Frühstück heruntergekommen bist. Du warst gerade einen Augenblick hinausgegangen. Da sah ich zufällig den Brief von Sidenius auf dem Schreibpult liegen. Daran ist vielleicht nichts Besonderes, obzwar man eigentlich solche Briefe nicht liegenläßt. Was mich aber sehr verwundert hat, war die Tatsache, daß der Brief noch gar nicht geöffnet war.«

»Nun ja – was weiter?« entgegnete Jakobe nach kurzem Schweigen. Ihre Hand, die die Mutter noch immer festhielt, war kalt geworden wie Eis.

»Was weiter? Hör mal, Jakobe – ich bin zwar nicht mehr ganz jung. Allein so alt doch noch nicht, daß ich mich nicht mehr erinnern könnte, wie es ist, wenn man sich verliebt hat. Läßt man aber die Briefe seines Verlobten von acht bis zwei Uhr ungelesen, dann ist nicht alles so, wie es sein soll!«

»Das verstehst du nicht, Mutter! Es hat diesmal seinen ganz besonderen Grund, den ich dir nicht erklären kann.«

Einen Augenblick lang sah die Mutter sie unschlüssig an. »Mein liebes Kind. In dich dringen möchte ich – wie gesagt – nicht. Wenn du mir bloß aufrichtig gestehen wolltest, ob du glücklich bist.«

»Ja, natürlich!« Sie brachte es unwillig hervor, entzog ihr die Hand und stand auf.

Die Mutter folgte ihr mit den Blicken. Im gleichen Augenblick kam Nanny herein, noch in Straßenkleidung und voller Stadtneuigkeiten. Nun war es mit jeder weiteren Unterhaltung vorbei. Frau Salomon nahm wieder ihre Handarbeit vor, und Jakobe ging bald darauf auf ihr Zimmer.

Die Frage der Mutter und besonders ihr ein wenig mitleidiger Ton hatten Jakobe gekränkt und mit erneuter Unruhe erfüllt. Sie wollte nicht bedauert werden – weder von anderen, noch wollte sie sich selbst bedauern. Aus eigenem, freiem Entschluß hatte sie ihr Schicksal an diesen fremden Mann geknüpft. Sie hatte also keinen Grund, sich zu beklagen.

Hastig schnitt sie nun Pers Brief auf und las ihn. Wenn sie sich bisher nicht dazu hatte entschließen können, so aus Gründen, die sie ihrer Mutter wahrhaftig nicht gut erzählen konnte. Nichts demütigte sie mehr als diese gleichgültigen, jugendlich hingeschmierten, nicht einmal in der Rechtschreibung ganz fehlerfreien Briefe, die Per ihr schickte. Sie selbst deutete ihre Scheu vor ihnen als Angst davor, sie könnten Anspielungen auf die Augenblicke enthalten, in denen sie sich während des Zusammenseins mit ihm hemmungslos ihren Sinnen hingab, jene Augenblicke, an die sie hinterher nur mit Scham und Ekel dachte. Doch dies war ein halb unbewußter Selbstbetrug. Hatte sie seine Briefe gelesen, ohne die leiseste Andeutung von dem zu finden, was sie befürchtete, auch nicht ein Zeichen der Dankbarkeit, nicht eine Sehnsuchtsäußerung, dann zerknüllte sie oft das Papier voll Zorn und Verachtung und warf es in den Ofen.

Auch diesmal enthielt der Brief nichts weiter als die kurze Mitteilung, daß er sich heute außerstande sehe, nach »Skovbakken« hinauszukommen. Zugleich mit dieser Nachricht, die auf die Rückseite einer Visitenkarte geschrieben war, schickte er ihr einige Papiere, die sich als ein Korrekturbogen der Kampfschrift erwiesen, die Ivan als welterschütterndes Ereignis gepriesen hatte. Unwillig nahm sie die Blätter. Was sollte sie damit? Noch immer hatte sie kein Zutrauen zu seinem Können, am allerwenigsten zu seiner Fähigkeit, sich schriftstellerisch zu betätigen. Er konnte ja nicht einmal seine Muttersprache korrekt schreiben!

Sie hatte indessen noch nicht viele Seiten gelesen, da begannen ihre Wangen zu glühen. Zwar stand sie dem meisten, über das er schrieb, fremd gegenüber, und es war auch nicht schwierig, das Vorbild zu finden, nach dem er seinen Stil geformt hatte. Aber es wurde ihr trotzdem bald klar, daß etwas Neuartiges, Ursprüngliches, in gewisser Weise Gewaltiges in seiner Auffassung der Natur lag und wie ihre Kräfte in den Dienst der Menschheit gestellt werden sollten. Vieles erkannte sie übrigens wieder aus seinen mündlichen Äußerungen, denen sie – vor allem wegen der weitschweifigen, vortragsmäßigen Form, in der er sie vorgebracht – nie etwas hatte abgewinnen können. Anderes ließ sich auf Gedanken und Einfälle zurückführen, die sie selbst gelegentlich über diese Dinge geäußert hatte; doch das verringerte keinesfalls den Eindruck. Im Gegenteil, gerade an solchen Stellen gingen ihr die Augen ganz besonders für die Ursprünglichkeit und Kraft seiner Begabung auf. Wendungen, die in ihrem Munde eigentlich nur zufällige Redensarten waren, erhielten in seiner Darstellung eine für sie völlig überraschende Bedeutung. Gelegentliche Äußerungen, mit denen sie kaum einen ernsthaften Gedanken verbunden hatte, wurden bei ihm zu anschaulichen Bildern, gestalteten sich zu fertigen Zukunftsvisionen, die durch die Kühnheit und Überzeugungskraft bestachen, mit der sie hier dargestellt wurden.

Nachdem sie die Schrift gelesen hatte, blieb Jakobe noch lange sitzen, die Hand unter dem Kinn, und blickte nachdenklich vor sich hin. Was für ein Mensch war dieser Fremde eigentlich, der ihr Schicksal geworden war? Im Grunde kannte sie ihn überhaupt nicht, wußte nichts weiter von ihm als das höchst Unglaubhafte, was Ivan und er selbst berichtet hatten. Was barg seine Vergangenheit? Was verdeckte beispielsweise sein finsterer, kalter Haß auf sein Elternhaus und seine Familie, den er ihr damals gestanden hatte?

Oft hatte sie in diesen Tagen das Bedürfnis verspürt, mit jemandem aus seiner Familie zu sprechen, um Licht in all das Unaufgeklärte zu bringen, das sie mitunter mehr beunruhigte und demütigte als alles andere und das seine eigenen Berichte stets nur noch verschwommener machte. Sie wußte, daß einer seiner Brüder als Jurist bei einer staatlichen Behörde Kopenhagens angestellt war. Per hatte erzählt, er habe ihn kürzlich auf der Straße getroffen und ihm im Laufe des Gesprächs im Vertrauen seine Verlobung mitgeteilt. Zwar flößte ihr der Gedanke, bei einem wildfremden Mann Antwort zu suchen auf die Fragen, die sie bedrückten, nicht viel Mut ein. Aber sie beschloß dennoch, diesen Bruder aufzusuchen. Bereits am folgenden Vormittag fuhr sie in die Stadt.

Das Büro für Gefängniswesen, in dem Eberhard Sidenius tätig war, lag in einem großen, dunklen, schmutziggrauen Gebäude am Kanal. Jakobe verirrte sich in einem Labyrinth öder Gänge und fand endlich einen Botenraum, in dem zwei schläfrige Männer gegen die Wand gelehnt saßen und ihre Stiefelspitzen beschauten. Auf ihre Frage, wo sie Herrn Expeditionssekretär Sidenius finden könne, erhielt sie die lakonische Antwort: »Erster Stock, dritte Tür rechts.«

Kaum hatte sie den beiden Männern den Rücken gekehrt, als diese laut die folgenden Bemerkungen austauschten: »Was für'n Zinken!«

»Ja, war 'ne Judendirn.«

Im ersten Stock fand Jakobe die angegebene Tür und gelangte in ein zweifenstriges halbdunkles Zimmer, das nach dem Hof lag, auf dem einige grüne Bäume wuchsen. An einem Fenster stand Eberhard und schrieb an einem Pult aus Fichtenholz. Dieses Pult bildete mit ein paar hölzernen Stühlen und einem Regal voller Akten die ganze Ausstattung des Zimmers. Eberhard hatte seinen langschößigen, engärmeligen und spiegelblank gescheuerten schwarzen Rock fest zugeknöpft. Da es am Morgen etwas geregnet hatte, waren seine Hosenbeine sorgfältig hochgekrempelt, so daß ein Stück der groben dunkelgrauen Wollsocken über den doppelsohligen Halbschuhen zu sehen war.

Obwohl er Jakobes Klopfen mit einem »Herein!« beantwortet hatte, sah er nicht auf, sondern setzte seine Arbeit unbeirrt einige Augenblicke fort.

Teils aus diesem Grunde, teils wegen seiner Kleidung hielt ihn Jakobe für einen Schreiber und fragte ihn, ob sie mit dem Herrn Expeditionssekretär reden könne. Erst als er daraufhin mit großer Würde den Federhalter aus der Hand legte und sie dem Blick seiner wäßrigen kalten Augen begegnete, entdeckte sie schaudernd die Familienähnlichkeit mit Per.

Sie nannte ihm ihren Namen und fügte hinzu: »Ich weiß, daß Ihr Bruder – daß Per mit Ihnen von mir gesprochen hat.«

Schweigend und mit beamtenmäßiger Geste wies Eberhard auf einen der Stühle.

»Die Ursache, weswegen ich Sie aufgesucht habe, werden Sie möglicherweise selbst verstehen«, fuhr Jakobe fort, nachdem sie Platz genommen hatte. Ihre Stimme war unsicher, das Herz hämmerte ihr in der Brust. Sie mußte zu diesen Redensarten greifen, um überhaupt eine Unterhaltung in Gang zu bringen. »Mir ist bekannt, daß Ihr Bruder – daß mein Verlobter seit längerer Zeit nicht nur Ihnen, sondern seiner ganzen übrigen Familie entfremdet ist. Ich kann natürlich nicht beurteilen, was der Grund für diese Verstimmung war. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu versichern, daß ich darüber aufrichtig betrübt bin.«

Eberhard war am Pult stehen geblieben, wo er eine etwas gekünstelte Stellung eingenommen hatte. Den Kopf stützte er in die gespreizte Hand, so daß dadurch seine Augen beschattet waren. Er ließ Jakobe ruhig ausreden. Kein Zug in seinem Gesicht verriet seine Gefühle, und doch war er vor Erstaunen wie aus allen Wolken gefallen. Längst hatte er gewußt, daß der Bruder im Haus des reichen Großhändlers verkehrte. Trotzdem hatte er nicht einen Moment lang an Pers Erzählung geglaubt, er habe sich mit der Tochter dieses Mannes verlobt – um so weniger, als er ihn ausdrücklich gebeten hatte, den Schritt vor allen Fremden geheimzuhalten. Eberhard hatte die Mitteilung als freches Prahlen aufgefaßt, das irgendeine Niederlage verdecken sollte. Ihm war ja bekannt, daß Philip Salomon ein Mann mit einem Millionenvermögen war.

Sein erster bewußter Gedanke war jetzt, daß man diese Verbindung um jeden Preis verhindern müsse. Und es war nicht Schadenfreude, die ihm diesen Gedanken eingab, noch heimlicher Neid. Er erkannte vielmehr, daß der Bruder bei den Zukunftsaussichten, die sich ihm hier erschlossen, nur noch tiefer ins Verderben geführt würde, daß die Hoffnung auf seine Bekehrung damit auf lange Zeit zunichte gemacht war. Viel eingehender, als Per es ahnte, hatte Eberhard in den vergangenen Jahren aus der Entfernung sein Tun und Treiben verfolgt. Gerade jetzt hatte er den Zeitpunkt für gekommen gehalten, da der Bruder – durch Not und Schande gezwungen – endlich umkehren und seine Schuld gegenüber den Eltern und der Familie erkennen mußte.

»Darf ich mir die Frage erlauben«, begann er, als Jakobe nun schwieg, »haben nur Sie diese Unterredung über meinen Bruder gewünscht?«

»Ja!«

»Mein Bruder ahnt vielleicht gar nicht, daß Sie mich aus diesem Anlaß aufsuchen?«

»Nein.«

»Sie fragen also ausschließlich in Ihrem eigenen Namen?«

Unangenehm berührt von seinem Wesen, hatte sich Jakobe schnell gefaßt. Der verhörähnliche Ton empörte sie, und sie erwiderte abweisend: »Wie bereits gesagt – ich wünschte diese Unterredung, nicht Per.«

»Ich konnte es mir denken. Es ist – leider – nur allzu wahr, daß sich mein Bruder seit einer Reihe von Jahren, ja eigentlich seit seiner Kindheit von seinem Vaterhaus getrennt hat. Man kann wohl behaupten, er hat sich systematisch in diesem Punkt verhärtet und seinen traurigen Spaß darin gesucht, jeder Rücksichtnahme selbst denen gegenüber zu trotzen, die vor allem seine Dankbarkeit und Ehrerbietung verdienten. Diese Trennungsversuche erstreckten sich sogar bis auf den Taufnamen. Ich hörte, Sie nennen ihn Per. Vielleicht sind Sie nicht einmal davon unterrichtet, daß er sich diesen Namen selbst zugelegt hat?«

»Ich glaube darüber im Bilde zu sein.«

»Ich will Ihnen meine wahre Meinung nicht verbergen, denn Sie baten ausdrücklich um eine offene Aussprache. Auch die Verlobung mit Ihnen ist eine wohlüberlegte Auflehnung gegen das Vaterhaus, eine bewußte Verneinung des dort waltenden Geistes . . .«

Mit zusammengezogenen Brauen sah Jakobe auf. »Ich verstehe Sie nicht ganz,« warf sie ein.

»Ich werde versuchen, mich deutlicher zu erklären. Es ist Ihnen bestimmt nicht ganz unbekannt, daß Peter Andreas einer christlichen Familie entstammt. Er selbst weiß, daß für seine Eltern das Christentum die allein bestimmende Lebensmacht ist und daß sie kein Glück anerkennen – so verlockend es sich auch ausnehmen mag –, wenn es seinen Grund nicht in christlicher Gottesfurcht hat.«

»Oh, ich begreife.«

Jakobe biß sich auf die Lippen, daß es schmerzte. Durch Eberhards ruhige und wohlgesetzte Rede hörte sie die ganze Zeit über dasselbe pöbelhafte Schimpfwort klingen, das vorhin im Botenzimmer gefallen war und das sie ihr Leben lang verfolgt hatte.

Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte ihm ihre Verachtung gezeigt. Allein ihr Verlangen, mehr von Per zu erfahren, war zu stark; sie beherrschte sich und blieb. »Daß Per nicht die Anschauung seiner Familie über Religion teilt, ist mir bekannt«, entgegnete sie. »Aber ich gestehe . . . das richtet ihn in meinen Augen nicht.«

»Das kann ich mir denken.«

»Ich meine, wenn Per sich nicht auf andere Weise gegen seine Familie vergangen hat, so scheint mir das entschuldbar zu sein. Daß er über das Christentum andere Ansichten gewonnen hat, läßt sich gewiß erklären, ohne daß man bei ihm böse Absicht vorauszusetzen braucht; und daß er es offen eingestanden hat, statt zu heucheln – was vielleicht in mancher Hinsicht für ihn vorteilhaft hätte sein können –, das ehrt ihn doch nur.«

»Ich glaube nicht, Fräulein Salomon, daß es Zweck hat, einen Meinungsaustausch zu diesem Thema zu beginnen. Deswegen möchte ich mich darauf beschränken, zu sagen, daß es für meine Eltern – in deren Namen ich hier spreche – sicher keine Entschuldigung für irgendeinen Menschen gibt, der sich der Stimme der Wahrheit verschließt, am allerwenigsten für jemanden, der wie Peter Andreas aus einem Elternhaus stammt, wo ihm diese Stimme von frühester Kindheit an erklungen ist.«

Hierauf antwortete Jakobe nicht. Sie hielt den Kopf gesenkt. Wie immer, wenn sie sich in heftiger Erregung befand, wechselten ihre Wangen mit jedem Pulsschlag die Farbe.

Eberhard mißverstand ihre Haltung wie auch ihr Schweigen. Er meinte erreicht zu haben, was er in Sideniusschem Selbstgerechtigkeitsdrang mit seinen Worten vorläufig bezweckt hatte: die stolze Millionärstochter zu demütigen, in deren Blick er von Anfang an einen Schimmer von Geringschätzung zu sehen glaubte und deren seidenes Kleid, helle Handschuhe und leichter Parfümduft seinen evangelischen Eifer herausgefordert hatten.

Daher änderte er jetzt seinen Ton ein wenig. Mit einem Anflug von Teilnahme fuhr er fort: »Nur ungern verletze ich Ihre Gefühle, aber ich halte es für meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen, daß das Leben meines Bruders auch in anderer Beziehung ein trauriges Zeugnis dafür ablegt, in wie hohem Maße er allmählich jeglichen moralischen Halt verloren hat. Es ist übrigens ein großer Irrtum, zu glauben, das religiöse Leben äußere sich lediglich in dem Verhältnis zum Himmlischen und drücke nicht auch unserer ganzen Persönlichkeit sein tiefes Gepräge auf. In bezug auf Peter Andreas will ich nicht näher auf diesen Punkt eingehen. Es sind dies ohnehin Dinge, über die man mit einer jungen Dame nicht gut reden kann, weswegen . . .«

»Ich kann mir denken, worauf Sie hinauswollen. Aber gerade Pers unglückliches Verhältnis zu seinem Elternhaus und die Beschaffenheit der Gesellschaft, auf die er – vielleicht teilweise aus diesem Grunde – jahrelang angewiesen war, können – so glaube ich – viel erklären und auch entschuldigen. Doch abgesehen davon finde ich, selbst das, was Sie eben angedeutet haben, berechtigt nicht zu einer so harten Verurteilung.«

»Sie irren, Fräulein Salomon. Wir verurteilen nicht meinen Bruder, sondern lediglich seine Taten, sein Leben.«

»Allein auch in seinem Leben und in seinen Taten ist vielerlei, was zu seinen Gunsten spricht. Er hat sowohl Fähigkeit und ernsthaften Willen bewiesen, in seinem Fach etwas zu leisten. Unter schwierigen Bedingungen hat er sich bereits in jungen Jahren die Aufmerksamkeit seiner Kollegen erkämpft und ist auf dem besten Wege, sich einen Namen zu schaffen.«

»Ich glaube es Ihnen anhören zu können, daß Sie selbst kein besonderes Zutrauen hierzu haben. Mir ist allerdings bekannt, daß eine Zeitung etwas über ein Kanalprojekt oder ähnliches geschrieben und den Versuch unternommen hat, der Sache eine gewisse Bedeutung beizumessen. Ich weiß auch, daß er sich selbst als Bahnbrecher und als Propheten einer neuen Zeit betrachtet. Gegenwärtig fühlt sich ja ein Teil der Jugend berufen zu revolutionieren, worüber bloß zu lächeln wäre, wenn dadurch nicht soviel Unheil an jungen und noch nicht gefestigten Seelen angerichtet würde. Das Bedenkliche ist an einem solchen geistigen Sturm, wie er zur Zeit gewisse Teile der dänischen Jugend erfaßt, daß stets die schwächsten und unselbständigsten Elemente am höchsten und weitesten gewirbelt werden – wie Spreu auf der Kornschaufel. Was insbesondere Peter Andreas angeht, so ist es ja eine unbestreitbare und niederschmetternde Wahrheit, daß er nach bald sieben langen Studienjahren noch kein Examen vorzuweisen oder auf andere Weise ein Zeugnis für seine Entwicklung abgelegt hat, das in einem einigermaßen vernünftigen Verhältnis zu den großen Opfern steht, die ihm vom Elternhaus gebracht wurden. Dennoch – ich wiederhole es –, wir verurteilen oder verdammen Peter Andreas keinesfalls, sondern nur seine Taten, sein Leben. Im Gegenteil, wir empfinden das tiefste Mitleid mit ihm. Wir geben trotz allem die Hoffnung nicht auf, daß das Gute in ihm dereinst siegen wird. Wo für ihn nach Auffassung seiner Familie einzig und allein der Weg zur Umkehr verläuft, brauche ich Ihnen sicher nicht näher zu erläutern. Und falls es für Sie irgendwie von Bedeutung ist, es zu wissen – ich setze stets voraus, daß Sie sich an mich gewandt haben, um eine offene, deutliche Antwort zu bekommen –, so kann ich Ihnen im voraus sagen – und darüber werden Sie sich jetzt kaum mehr wundern oder es mißverstehen –, daß von Seiten seiner Eltern ganz bestimmt keine Billigung seiner Verbindung mit Ihnen zu erwarten ist.«

Jakobe erhob sich. Halb abgewandt blieb sie einen Augenblick hinter dem Stuhl stehen und blickte auf die eine Fußspitze herab, auf die sie ihren Sonnenschirm preßte. Dann hob sie plötzlich den Kopf und sah ihn über die Schulter an. Ihr Gesicht trug noch die Spuren der heftigen Erregung. Doch ein leises Lächeln umspielte ihren Mund, ein neuerstandenes Glück glomm in ihren dunklen Augen auf.

»Ich bin hergekommen in der Hoffnung, eine Versöhnung einleiten zu können«, gestand sie. »Das war, wie ich jetzt einsehe, sehr naiv von mir. Und trotzdem bereue ich es nicht, Sie aufgesucht zu haben. Ich habe erfahren, was ich wissen wollte. Und – ich kann es nicht verschweigen – ich gehe glücklicher von hier fort, als ich gekommen bin.«

Unsicher, was sie damit meinte, wollte Eberhard von neuem das Wort ergreifen; aber Jakobe war schon auf dem Weg zur Tür und verschwand, ohne sich zu verabschieden.

Als sie auf der Straße stand, erfaßte sie eine so übermächtige Sehnsucht nach Per, daß sie nach kurzem Zögern eine Droschke nahm und nach Nyboder hinausfuhr. Ihr war, als könnte sie keine Ruhe finden, ehe sie nicht Abbitte für ihr Mißtrauen getan und ihn um Verzeihung für den Verrat gebeten hatte, denn das war der Besuch bei dem Bruder im Grunde gewesen, das sah sie nun ein. – Oh, wie gut sie ihn jetzt verstand! Wie tief empfand sie nach, was er im elterlichen Pfarrheim durchgemacht hatte! Während der Rede des selbstgerechten Bruders hatte sie einen Eindruck von diesem Elternhaus erhalten, der sie frieren ließ.

Sie erreichte die Hjertensfrydgade, keine fünf Minuten nachdem Per das Haus verlassen hatte. Graue Rauchschwaden von seiner Zigarre schwebten noch unter der niedrigen Decke in seiner kleinen Stube, als Trine sie dort hineinführte und auf ihr Verlangen allein ließ.

Jakobe blieb mitten im Zimmer stehen und blickte sich um. Sie betrachtete die kahlen Wände, den zerbrochenen Schaukelstuhl, das kleine schwarze Wachstuchsofa, und einen Moment vergaß sie fast ihre Enttäuschung vor Entsetzen über diesen düsteren Raum, der sie an eine Gefängniszelle erinnerte. Sie hatte nicht geglaubt, daß er so ärmlich wohnte, so unmenschlich trist! Und wieder sah sie sein rücksichtsloses Streben, die Sonnenseite des Lebens zu erreichen, in einem neuen Licht, das manches erklärte und sie mit vielem aussöhnte. Von dieser erdrückenden Armut umgeben, nach einer freudlosen Kindheit – wie konnte er da etwas anderes werden als ein Glücksjäger? Plötzlich fühlte sie eine nie gekannte zärtliche Genugtuung darin, sich reich genug zu wissen, um ihn glücklich machen zu können.

Sie nahm ein paar Kleinigkeiten, die auf seinem Arbeitstisch lagen, und legte sie behutsam wieder an ihren Platz, nachdem sie sie einen Augenblick mit der andächtigen Neugier der Verliebtheit angeschaut hatte. Dann schritt sie ein wenig auf und ab im Zimmer, blieb hin und wieder stehen und versank in Nachdenken. In ihrer Sehnsucht, ihm nahe zu sein, berührte sie alles, was ihm gehörte. Als sie an seinem alten Schlafrock vorüberging, der am Türpfosten hing, strich sie liebkosend mit der Hand darüber hin; ja, als sie das zweite Mal daran vorbeikam, schmiegte sie sogar die Wange dagegen und schloß die Augen, um den ihm eigenen Geruch einzuatmen, den sie, die bisher Tabakgestank verabscheut hatte, jetzt oft leidenschaftlich herbeisehnte.

Aber nun trat Trine wieder ein, und Jakobe setzte sich und schrieb auf eine Visitenkarte: »Mein Freund! Warum sehe ich Dich nicht? Schon drei Tage bist Du nicht bei mir gewesen. Heute abend erwarte ich Dich. Ich habe viel mit Dir zu besprechen.«

Das war ihr erster Brief an ihn. Sie steckte die Karte in einen Umschlag, den sie auf dem Tisch fand, und schrieb seinen Namen darauf.

Gleich nachdem sie abgefahren war, stieß Madam Olufsen mit ihrem Stock auf den Fußboden, um Trine zur Berichterstattung heraufzurufen. Die alte Frau lag jetzt die meiste Zeit im Bett. Nach dem Tod ihres Mannes war ihr kräftiger Körper verfallen, und sie konnte sich nur noch mit Mühe bewegen. Aber sie hatte ihre Neugier nicht zügeln können, als sie eine fremde Stimme unten auf dem Flur hörte. Sie war aus dem Bett gestiegen und an die Küchentür gehumpelt, um zu lauschen. Am Spion vor dem Stubenfenster verfolgte sie nun die davonrollende Droschke, bis sie um die Ecke der Store Kongensgade verschwand.

Als Per einige Stunden später nach Hause kam und Jakobes Brief las, lächelte er selbstgefällig. Die Kur scheint zu wirken, dachte er. Doch es war noch zu früh, Nachgiebigkeit zu zeigen. Eine Zeitlang mußten die Zügel noch straff gehalten werden!

Am Nachmittag spazierte Jakobe zweimal zu der Zeit den Bahnhofsweg entlang, wenn ein Zug aus Kopenhagen erwartet wurde. Als sie zum zweiten Mal enttäuscht zurückkehrte, fand sie in ihrem Zimmer ein Telegramm vor, in dem Per wie üblich mit wenigen Worten bedauerte, auch heute abend nicht nach »Skovbakken« hinauskommen zu können.

Mit dem Telegramm in der Hand blieb sie stehen und überlegte. »Es steckt etwas dahinter«, sagte sie plötzlich laut zu sich. Unmöglich konnte es die Arbeit sein, die ihn allabendlich an die Stadt fesselte.

Sie war sehr blaß geworden. Vielleicht war alles vorbei? dachte sie. Hatte sie ihn verloren? . . . Nein, nein! Das durfte nicht sein. Sie wollte ihm schreiben und alles gestehen und erklären, ihn um Verzeihung bitten für ihr Mißtrauen und ihre Kälte.

Sie setzte sich und preßte den Kopf zwischen ihre Hände, um sich zu konzentrieren. Ja, sie konnte ihn nicht lassen! Zurückgewinnen mußte sie ihn, und wenn sie ihn auf den Knien anflehen sollte.

Da öffnete sich die Tür ein wenig, und ihre Schwester Rosalie steckte den Kopf herein. »Ich soll dich bitten, einmal herunterzuschauen. Es ist nämlich ein Herr gekommen.«

Eybert! durchfuhr es sie voll Angst.

Ihr alter Freier hatte wieder angefangen, sich im Haus blicken zu lassen. War das ein ungünstiges Vorzeichen? Daß er gerade jetzt kommen mußte!

Eigentlich wollte sie zuerst nicht hinuntergehen. Doch dann fiel ihr ein, daß ihre Mutter Verdacht schöpfen könne, wenn sie auf ihrem Zimmer blieb. Sicherlich wußte sie, daß sie ein Telegramm erhalten hatte, und ahnte auch, daß Per wieder einmal seinen Besuch absagte.

Unten im dämmrigen Gartensaal traf sie die Eltern in Gesellschaft eines Herrn, den sie im Halbdunkel nicht gleich erkannte. Er saß mit dem Rücken zur Tür, durch die sie eingetreten war.

Nun stand er auf, und im selben Augenblick, da sie sah, daß es Per war, preßte sie überwältigt die Hand vor die Augen, wie von einer Erscheinung geblendet. Er hatte seine Hartherzigkeit bereut und Lust bekommen, sie zu überraschen. – Mit einem lauten Aufschrei fiel sie ihm um den Hals.

»Du bist es!«

Eine halbe Minute lag sie regungslos an seiner Brust. Dann nahm sie sich zusammen; sie schämte sich, daß sie sich im Beisein der Eltern so unbeherrscht gezeigt hatte. Doch noch immer hielt sie krampfhaft seine Hand fest, als fürchte sie, ihn wieder zu verlieren. Unter Lachen und Weinen nahm sie ihn schließlich am Arm und zog ihn mit sich hinaus in den Garten.

Philip Salomon und seine Gattin schauten den beiden nach, dann blickten sie einander an.

»Hier müssen wir dem Geschick wohl seinen Lauf lassen, Lea«, sagte er.

Frau Lea nickte schweigend.

 

Trotz der Verabredung, die Verlobung geheimzuhalten, dauerte es gar nicht lange, bis überall offen darüber gesprochen wurde.

Es fiel Jakobe schwer, ihren Gefühlen Gewalt anzutun, nun, da sie sich ihrer nicht mehr schämte. Es war ihr zumute wie einer jungen Frau, die insgeheim geboren hat, aber plötzlich der ganzen Welt ihr Glück zeigen darf.

Per spürte jetzt, daß man in gewissen Kreisen begonnen hatte, sich mit ihm zu beschäftigen. Betrat er eines der Cafés am Kongens Nytorv, wo er jetzt ausschließlich verkehrte, dann kam es bisweilen vor, daß einige Gäste die Köpfe zusammensteckten und über ihn flüsterten. In der Gesellschaft hatte die sonderbare Verbindung größtes Aufsehen erregt. Man berichtete bereits abenteuerlichste Dinge von dem jungen Glücksritter, der zuerst einen reichen Neergaard beerbt und nun eine von Philip Salomons Millionen »an sich gerissen« hatte.

Auch zu Pers ehemaligen Studienkollegen von der polytechnischen Lehranstalt war das Gerücht von der Verlobung gedrungen. Hier hatte bereits der Artikel im »Falken« und vor allem die Ankündigung seiner Kampfschrift beträchtliche Erwartungen geweckt. Per war unter seinen Kommilitonen weder so einsam noch so unverstanden gewesen, wie er geglaubt hatte. Nicht nur die unruhigen Köpfe, die wie er selbst die Luft in Professor Sandrups Vorlesungen zu drückend fanden, sondern auch alle Nichtsnutze, die jede Kritik am Polytechnikum als Entschuldigung für ihre eigene Faulheit aufgriffen, hatten längst erwartet, daß er auf die eine oder andere aufsehenerregende Weise von sich hören ließe. Aber sein beginnender Ruhm schuf ihm auch eine Reihe unversöhnlicher Feinde unter den braven Strebern, die ihn bisher mit mitleidiger Geringschätzung angesehen hatten. Dies galt besonders für einen gewissen Marius Jørgensen, der Professor Sandrups Günstling war und dem Per deswegen den Spitznamen »Gottes wohlgefällige Tabellensammlung« gegeben hatte. Diese angehende Stütze der Gesellschaft ging jetzt daran, schreckliche Rache an ihm zu nehmen. Er wollte »Industribladet« heimlich eine Kritik in die Hände spielen, die Pers Schrift, sobald sie erschien, der Lächerlichkeit preisgab.

In der Familie Salomon begann man allmählich, sich mit dem Gedanken auszusöhnen, daß man Per als künftigen Schwiegersohn des Hauses zu betrachten hatte. Fast schien jetzt Onkel Heinrich derjenige zu sein, dem dies am wenigsten behagte. Obwohl sich Per längst darüber klargeworden war, wie es sich mit seinem »Konsortium« verhielt, trat Herr Delft ihm gegenüber immer noch als väterlicher Wohltäter auf und gab ihm in vertraulichen Gesprächen zu verstehen, daß er bis jetzt nur den ersten, weniger wichtigen Schritt vorwärts getan habe. Ständig spielte er auf die verwitwete Baronin von Adlersborg an; und Per, der jetzt auf den Geschmack gekommen war, verstand den Wink und ging insgeheim auf Delfts Gedankengänge ein. Ihm war bekannt, daß sich die Baronin noch in einem süddeutschen Kurort aufhielt, und er beabsichtigte, sie auf seiner Reise zu besuchen. Vorläufig hatte er dabei jedoch keinen anderen Zweck im Auge, als die Verbindung mit der vornehmen Dame nicht abreißen zu lassen, um die Möglichkeiten nützen zu können, die sich vielleicht von dieser Seite aus boten. Aber er hatte nichts dagegen, für immer den verhaßten Namen Sidenius abzuwerfen, dieses lächerliche Stück Küsterlatein, diesen Koboldschwanz, der überall seine Herkunft verriet. Baron von Adlersborg! Warum nicht? Das war ein Name, der sich auf einer Visitenkarte gut ausnahm!

Jakobe gegenüber erwähnte er nichts von diesen Träumen künftiger Größe; er meinte, äußere Ehrenzeichen seien ihr völlig gleichgültig, und setzte deshalb voraus, sie werde sein Vorhaben gar nicht billigen. Er ahnte nicht, daß sie im stillen noch hochfliegendere Pläne für ihn und ihrer beider Zukunft schmiedete. Eines Abends hatte er ihr auf ihr Verlangen seine Schrift im Zusammenhang vorgelesen; und jetzt, da sie ihm mit der Hellhörigkeit der Liebe zuhörte, hatte ihr jeder Satz wie eine schmetternde Fanfare geklungen.

Sie war jedoch vernünftig genug, diesen Eindruck zunächst für sich zu behalten. Trotz ihrer Verliebtheit war sie nicht blind für seine vielen Schwächen und verstand sehr gut, daß an ihm noch vieles abzuschleifen war, bis er voll gerüstet zu dem Kampf bereitstand, zu dem ihn, wie sie jetzt auch glaubte, das Schicksal ausersehen hatte. Dafür schenkte sie sich ihm immer leidenschaftlicher. Der aufgestaute Strom von Zärtlichkeit, der brennende Drang nach Hingabe, der ihr seit ihrer Kindheit so viele herbe Demütigungen eingebracht hatte, konnten sich endlich entfalten. Tag und Nacht waren ihre Gedanken bei ihm. Allmorgendlich schickte sie ihm frische Blumen, um seine triste Behausung zu beleben. Sie überschüttete ihn mit allerlei nutzlosen Geschenken und zermarterte sich täglich den Kopf, wie sie ihm Freude bereiten konnte. Es gelang ihr sogar, die Eltern zu überreden, früher als üblich in die Stadt zurückzuziehen, damit sie ihn häufiger sehen, seine Ankunft zu jeder Tageszeit erwarten konnte und ihn bei Nacht lediglich achthundertdreißig Schritte von ihrer Seite entfernt wußte – sie selbst hatte heimlich die Strecke gemessen. Doch auch dies war ihr mitunter noch nicht genug. Eine Stunde nachdem er gegangen war, schrieb oder telegrafierte sie ihm bisweilen. Stets gab es etwas, das sie ihm sofort mitteilen mußte, oder etwas, das sie ihm, wie sie befürchtete, nicht auf die rechte Weise gesagt hatte und das zu vergessen sie ihn nun bitten wollte. – Alles fast unbewußte Vorwände, um das eine zu gestehen: daß sie ihn liebe und die Minuten und den Sekundenschlag ihres Herzens zähle, bis sie ihm wieder nahe sein durfte.

»Bonjour, Monsieur!« schrieb sie ihm eines Morgens, als die Sonne durch ihr Fenster schien. »Ob Du wohl heute vormittag kommst? In dem Falle könnte ich mir diesen Brief sparen. Aber Du bist so unberechenbar. Warum hast Du gestern abend nicht hereingeschaut? Bis zehn habe ich gewartet und bin dann sehr schlecht gelaunt ins Bett gegangen. Bis elf haßte ich Dich von ganzem Herzen. Heute verzeihe ich Dir wegen des wunderschönen sonnigen Wetters. – Könntest Du nicht heute einmal Deine Korrekturen und Zeichnungen weglegen und gegen zwei Uhr vorbeikommen? Dann sind nur Mutter und ich daheim. Denk daran, bald werden wir fern voneinander sein. Wenn Du fort bist, gehe ich in ein Kloster und durchlebe eine Ewigkeit, bis Du wieder da bist.«

Per fühlte sich bei alldem glücklich und zufrieden und nahm in einem Monat zwölf Pfund an Gewicht zu. Und trotzdem – die erotische Atmosphäre, in die Jakobe ihn hüllte, wurde ihm manchmal reichlich tropisch. Hin und wieder war auch er leidenschaftlich entflammt, besonders wenn sie nach Tisch allein waren. Doch Jakobes ständiges Glühen kam ihm fremdartig vor und schien ihm auf die Dauer recht anstrengend. Mit seinem von Jugend an verkrüppelten Gefühlsleben, an dem alle Regungen beschnitten waren außer denen, die im Schatten wachsen und im rauhen Wind gedeihen, empfand er sich beinahe zurückgestoßen von ihrer sonnenreifen Liebe. Bei ihren unbeherrschten Zärtlichkeitsausbrüchen geriet er fast in Verlegenheit und war gar oft ein ziemlich unbeholfener Liebhaber.

Eines Abends, als sie beide allein in der Dämmerung saßen, schlang Jakobe ihren Arm um seinen Hals und fragte: »Hast du schon einmal darüber nachgedacht, Per, daß du mir noch niemals gesagt hast, du liebst mich?«

»Aber das weißt du doch genau!«

»Das reicht mir nicht. Ich will es dich sagen hören. Wenigstens einmal muß ich es doch hören, wie es klingt, wenn mein Schatz mir gesteht, er liebt mich. – Tu es jetzt, Per!«

»Aber meine Liebe, ich habe dir doch wirklich oft genug gesagt, daß . . .«

»Nicht mit diesen Worten, Per! Und gerade die will ich hören! Es sind die drei Worte, die wir Frauen Tag und Nacht, im Wachen und Träumen vernehmen, von dem Augenblick an, da wir von unserem ersten Ball heimkommen. Sprich sie, Per! Soll ich dir helfen? Hör zu. Jetzt wiederholst du meine Worte, dann wird es außerdem ein gegenseitiges Geständnis. Also: Ich . . .«

»Ich«, wiederholte er.

». . . liebe . . .«

»Nein, das ist doch wirklich zu albern, Jakobe«, wandte Per ein. Hochrot im Gesicht, hielt er ihr die Hand vor den Mund. Und als sie immer weiter bat, stellte er sich zornig und entwand sich ihren Armen.

Allein so erleichtert er auch war, wenn er abends nach dem letzten stürmischen Abschied in der Vorhalle auf die Straße trat und sich dort eine Zigarre anzündete, hatte er trotzdem nie Lust, gleich nach Hause an seine Arbeit zu eilen, geschweige denn, wie in alten Zeiten ein Café zu besuchen. Jetzt hatte er eine Vorliebe dafür, durch die Straßen zu gehen, am liebsten durch die stillen, menschenleeren, und sich seltsamen neuen Stimmungen hinzugeben, die er nicht recht verstand. So wie jenes erste Mal, da er unversehens aus dem Born der Ewigkeit getrunken hatte, überkam ihn das überwältigende, fast beängstigende Gefühl, als erschlösse sich in seinem Innern eine Märchenwelt. Aber während der paradiesische Garten der Liebe, in den er durch die biedere Fransisca eingeführt worden war, lediglich ein freundliches Gärtchen mit Reseda und Levkojen und wohlgepflegten Gemüsebeeten gewesen war, blickte er nun in einen brausenden Palmenhain, weit und feierlich wie ein Tempel. Während dieser nächtlichen Wanderungen erwachte in ihm eine Ahnung von höherem Glück, von größerer und reinerer irdischer Lust als die, nach der er gestrebt hatte. Nun begann er zu verstehen, daß das Leben nur reich wurde durch die Liebe einer Frau und daß eine tiefe Wahrheit in den leichtfertig hingeworfenen Worten vom Himmelreich der Umarmung lag, in der man alle Sorgen vergaß und Vergebung für alle Sünden erlangte.

Als er eines Nachts von einem stundenlangen Spaziergang heimkehrte, schrieb er folgende Zeilen an Jakobe: »Einst nannte mich ein Mann im Scherz ›Hans im Glück‹. Auch ich selbst habe mich nie als Stiefkind des Lebens betrachtet. Vielleicht habe ich bisweilen in mißmutigen Augenblicken über das Schicksal geklagt, das mich in einem Land zur Welt kommen ließ, wo sich vor langer, langer Zeit der Pfarrersohn Adam mit der Küstertochter Eva vermählte und sie nach und nach drei Millionen Sideniusse zur Welt brachten. Doch wenn ich nun auf die vergangenen Jahre zurückblicke, dann fühle ich, daß mich ein guter Geist mein ganzes Leben hindurch begleitete. Wenngleich ich oft auf falscher Fährte war und manch glitzerndem Tand nachjagte, so trage ich jetzt trotzdem die goldene Siegeskrone in der Hand: Ich habe Dich und Deine Liebe.

Noch einmal habe ich das Bedürfnis, ehe ich zur Ruhe gehe, Dich in meine Gedanken einzuschließen und Dir zu danken. Du warst mein guter Geist seit dem Tage, da ich zum ersten Mal das Haus Deiner Eltern betrat, das heißt seit dem Tage, der der große Wendepunkt meines Lebens ist. Was ich Dir kürzlich nicht zu sagen vermochte, als Du mich darum batest, das flüstere ich Dir nun zu durch die Stille der Nacht: Ich – liebe – Dich!«

Als er am folgenden Tag den Brief in nüchterner Stimmung noch einmal durchlas, hielt er ihn für übertrieben und verbrannte ihn. Statt dessen schrieb er einen anderen, in dem er fast ausschließlich von seinem Buch berichtete. »Der Druck nimmt wirklich eine verteufelt lange Zeit in Anspruch. Es sind wohl die Zeichnungen, die die Verzögerung bewirken; sie müssen ja in Holz geschnitten werden. Übrigens, ich habe mir gedacht, den Titel des Buches zu ändern. ›Neue Zeiten‹ – das klingt so alltäglich. Es soll heißen: ›Der Zukunftsstaat‹. Hört sich das nicht gut an?«

 

Der Oktober war gekommen, und Per hatte endlich seine Reisevorbereitungen abgeschlossen. Er beabsichtigte, zunächst eine Zeitlang in Deutschland zu bleiben und dort einige der bekanntesten technischen Institute zu besuchen. Später wollte er versuchen, Einblick in eines der großen Wasserbauprojekte zu bekommen, die von der weltbekannten englisch-amerikanischen Firma Blackbourne & Gries ausgeführt wurden. Sein Schwiegervater hatte versprochen, ihm hierfür Empfehlungen zu beschaffen. Außerdem wollte er noch nach Paris, London, New York und in andere amerikanische Großstädte. Er hatte vor, zwei Jahre fortzubleiben.

Obwohl Jakobe sich nicht vorstellen konnte, wie sie die lange Zeit überstehen sollte, machte sie keine Einwände. Ja sie selbst hatte sogar das eine Jahr hinzugefügt. Per hatte gemeint, die Hälfte der Zeit genüge auch; doch sie hatte ihn inständig gebeten, sich nicht zu übereilen. In diesem Punkt fand sie Rückhalt bei ihrem Vater. Philip Salomon hatte Per eines Tages zu sich in sein Büro rufen lassen und ihm hier einen Scheck über fünftausend Kronen ausgehändigt, wobei er hinzufügte, dieser würde nach einem Jahr erneuert werden.

Inmitten all der Geschäftigkeit, die das Packen und Vervollständigen seiner ziemlich umfangreichen Reiseausrüstung mit sich brachte, erhielt Per eines Tages einen Brief von Eberhard. Der Bruder schrieb, es sei ihm zu Ohren gekommen, er wolle ins Ausland gehen; daher dürfe er es nicht unterlassen, ihn über den Zustand des Vaters in Kenntnis zu setzen. Dieser sei jetzt so schlecht, daß stündlich die Katastrophe zu erwarten sei. Er selbst habe vor, in allernächster Zeit nach Hause zu fahren, um am Sterbebett anwesend zu sein, wo sich aller Voraussicht nach auch alle anderen Geschwister versammelten.

Nach Empfang dieses Briefes schritt Per den halben Tag lang in unentschlossenem Grübeln in seinem Zimmer hin und her. Der Ton des Briefs war ungewöhnlich rücksichtsvoll. Und sein Glück hatte ihn versöhnlich gestimmt. Keiner würde mehr glauben, daß er als der verlorene Sohn heimkehrte, meinte er.

Und doch! Sein Triumph war nicht vollständig. Noch war sein Buch nicht erschienen.

Schließlich verbrannte er den Brief mit allerlei anderen alten Schriftstücken, die er aus seinen Schubfächern räumte. Jakobe erzählte er davon nichts.

Am folgenden Tag reiste er nach Deutschland.


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