Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Vierzehntes Kapitel

Schon seit längerer Zeit hatte sich in der dänischen Hauptstadt kräftiges neues Leben geregt. Leute aus der Provinz oder aus dem Ausland, die ein paar Jahre nicht dagewesen waren, konnten die Stadt kaum wiedererkennen, so war sie gewachsen, und so hatte sie sich in jeder Beziehung geändert. Die europäische Kulturwelle, die über das Land geleitet worden war, vor allem von Dr. Nathan, hatte nicht nur eine seit langem unbekannte geistige Regsamkeit erweckt und eine Reihe revolutionierender Dichter, Gelehrter und Politiker hervorgebracht, sondern auch auf rein praktischem Gebiet der jungen kühnen Tatkraft zum Durchbruch verholfen, die nun ein geeignetes Betätigungsfeld suchte. Per Sidenius war nur einer von vielen ehrgeizigen, lebenslustigen jungen Leuten, denen der Unternehmungsgeist der neuen Zeit und die fast märchenhafte Entwicklung der großen Industrieländer Ansporn waren und »goldene Grillen in den Kopf« gesetzt hatten – wie manche es mißmutig nannten. Zur selben Zeit, da Per in der kleinen dunklen Hinterstube von Nyboder pfeifend über sein Zeichenbrett gebeugt stand, hatten überall auf den Drehstühlen der Handelshäuser, an den tuchüberzogenen Pulten der Banken und in den hintersten Reihen des juristischen Auditoriums der Universität andere verwegene Träumer gesessen, die sich in aller Stille darauf vorbereiteten, einst die Führung im Lande zu übernehmen. Tatsächlich war es einigen von den Klügsten und Gewandtesten bereits gelungen, sich einen wichtigen Platz im öffentlichen Leben zu erkämpfen, das bislang völlig von der reaktionären Regierungspartei und einem recht rückständigen Hof beherrscht worden war.

Kopenhagen war auf dem besten Wege, sich von der neuen Zeit und ihrem Geist erobern zu lassen. Nicht nur die Ausdehnung der Stadt und die sich schnell verdoppelnde Bevölkerungsmenge hatten die dänische Metropole unter die Großstädte der Welt eingereiht – auch das Leben auf den Straßen, die Art der Vergnügungen, der Ton der Presse und des gesellschaftlichen Lebens wurden von Tag zu Tag europäischer.

In den Provinzen dagegen, und vor allem in den Kleinstädten, verlief das Leben fast unverändert in den ausgefahrenen Gleisen. Hier herrschte noch immer das Beamtentum kraft seiner akademischen Bildung, hier war der lyrisch orientierte Student auch weiter der Held den Tages, wenn er in den Ferien nach Hause kam und sich die seidene Mütze wie ein Ballon auf seinem Lockenkopf blähte. Daß ein Mann des Handels oder der Industrie, wie mächtig er auch war, mit Hilfe eines Legationsratstitels mit den betreßten Dienern des Staates auf die gleiche Stufe gestellt werden konnte – das war damals in der Provinz undenkbar.

Auch auf dem Lande war es noch zu keinem entscheidenden Bruch mit der Vergangenheit gekommen. Zwar erhoben sich immer mehr Schornsteine über den Molkereien, und Dreschkästen und Mähmaschinen lösten allmählich Flegel und Sense ab, aber trotz aller Verbesserungen in der Technik und trotz steigender Aufklärung verarmte die Landbevölkerung immer mehr. Die Hypothekenschulden auf den Grundstücken wuchsen, und die Verschuldung an das Ausland stieg jedes Jahr um viele Millionen.

Nichtsdestoweniger saß der breitrückige dänische Bauer auf seinem Hof mit dem unangefochtenen Gefühl, Mark, Kernkraft und Zukunftshoffnung der Nation zu sein. Es war eine Vorstellung, die, im Verlauf des Jahrhunderts zu einem nationalen Dogma geworden, schließlich die grundt-vigianische Volkshochschule heiliggesprochen hatte. Von Skagen bis nach Gedser vereinigten sich Stadt und Land zu einem ehrfurchtsvollen Kult der Butter und des Schweinefleischs in Dänemark.

Unterdessen verlandeten die Flüsse und Fjordmündungen mehr und mehr. Diese alten Handelsstraßen, auf denen es noch im vergangenen Jahrhundert eine so lebhafte Schiffahrt gegeben hatte, daß einzelne Bürger bis zu zwanzig Ozeansegler ausrüsten konnten, dienten jetzt allenfalls zu ein wenig armseliger Fischerei. Die ungeheuren Energiemengen, die rastlose Winde über das Land trugen, wurden ausschließlich von Windmühlen eingefangen. Und entlang der Küste stiegen und sanken die Wellen und erschöpften brüllend ihre Kraft im leeren Raum. Während andere Nationen überall auf der Erde Ströme von Blut und Geld opferten, um wenigstens einen Streifen Meeresufer oder auch nur einen Kohlehafen zu erwerben, lag die vierzig Meilen lange Küste von Skagen bis Esbjerg – das Ufer eines Weltkanals – wie eine verwehte Sandwüste ohne Hafen, ja ohne eine wirkliche Stadt da.

An verschiedenen Stellen im Lande hatte man sogar künstlich das Vernichtungswerk der Zeit unterstützt, Buchten eingedämmt und Sunde und Binnenseen trockengelegt, und all das, um mehr Viehfutter zu gewinnen. Wo einstmals vollbeladene Segelschiffe, umgeben vom Hauch ferner Länder, einliefen, breiteten sich jetzt grüne Wiesen aus, auf denen euterschweres Milchvieh einen trügerischen Eindruck von Wohlstand vermittelte. Selbst dort, wo man ausnahmsweise, wie auf der jütischen Heide, einen Anlauf zu wirklicher Urbarmachung genommen hatte, war das wiederum nur geschehen, um noch mehr Ackerland, noch mehr Häuslerstellen, noch mehr von der Armeleuteseligkeit zu schaffen, die Per kräftig in seiner Streitschrift verspottet hatte.

So war es dazu gekommen, daß Kopenhagen dem übrigen Land, das in immer stärkerem Maße zu einer Art Gemeindeanger für die Hauptstadt wurde, in jeder Weise überlegen war. Nach der Hauptstadt drängten tatendurstige Arbeitskräfte, wie auch ständig mehr Kapital aus der Provinz hierher strömte, angelockt von den hohen Prozenten der Spekulation.

Nur dasjenige, was Kopenhagen und seine Entwicklung anging, hatte in jüngster Zeit darauf rechnen können, allgemeines Interesse zu wecken; und das war auch einer der Gründe, weswegen Pers Schrift – obwohl sie absichtlich so angelegt war, Aufsehen und Unruhe hervorzurufen – keinerlei Aufmerksamkeit erregt hatte, weder in Kopenhagen noch auf dem Lande. Umsonst hatte sein opferbereiter Freund und Schwager Ivan Salomon die Redaktionen mit der Forderung bestürmt, die Alarmtrommel rühren zu lassen. Überall begegnete man ihm mit gleichgültigem Achselzucken. Ein Kanalprojekt für Jütland! Wind- und Wellenmotoren am Blaavandshuk! Das war kein Stoff für Sensationen. Selbst Dyhring, der doch gewisse Gründe für ein Entgegenkommen hatte, entschuldigte sich damit, er habe sich schon genug Schwierigkeiten durch den kleinen Artikel bereitet, den er seinerzeit auf Ivans Bitte über die Angelegenheit geschrieben hatte.

Nicht einen Deut mehr Glück hatte Ivan mit seinen Versuchen gehabt, Geldleute und Spekulanten für das große Zukunftswerk seines Freundes zu interessieren; und er hatte wahrlich weder seine Beine noch seine Rednergabe geschont, um persönlich auf die führenden Männer der Geschäftswelt einzuwirken, vor allem auf seinen eigenen Vater, der es allerdings auf das bestimmteste ablehnte, sich mit der Sache zu befassen.

Philip Salomon hegte noch immer kein Vertrauen zum Verlobten seiner Tochter, und seine Gattin teilte hierin wie in den meisten Fällen ganz seine Gefühle. Obgleich es beide nicht direkt aussprachen, hatten sie die Hoffnung nicht aufgegeben, daß Jakobe zur Vernunft kommen und beizeiten eine Verbindung abbrechen würde, die ihr nach aller menschlichen Berechnung nur Enttäuschung und Kummer bringen konnte.

Eines Abends im März bat Philip Salomon nach dem Essen, bei dem er gegen seine Gewohnheit ziemlich einsilbig gewesen war, Ivan um eine Unterredung. An diesem Tag hatte Frau Salomon morgens einen Brief von Jakobe erhalten, von der alle glaubten, sie sei bei ihrer Freundin in Breslau gut aufgehoben. Nun schrieb sie aber aus einem kleinen österreichischen Grenzstädtchen und berichtete zwischen den Zeilen, sie sei mit ihrem Verlobten zusammengetroffen und gemeinsam unternähmen sie zur Zeit einen Ausflug in die Berge.

Philip Salomon erwähnte jedoch Ivan gegenüber nichts von dem, was Jakobe auf diese Weise ihren Eltern mitteilen zu müssen glaubte. Aber er lenkte sofort geschäftsmäßig das Gespräch auf Per. Er fragte Ivan, wie es mit seinen Bemühungen gehe, eine Aktiengesellschaft zur Nutzung von Pers angeblichen Erfindungen zu bilden. Er habe, bemerkte er, seit geraumer Zeit nichts mehr davon gehört.

Ivan schnitt eine Grimasse und machte eine abwehrende Handbewegung. »Reden wir von etwas anderem, Vater! . . . Wie es geht? Wie, meinst du wohl, kann es schon gehen, wenn alle diejenigen, die die Sache eigentlich in die Hand nehmen müßten, sich gleichgültig verhalten. Ich habe dir ja gesagt: das erste, wonach sich die Leute erkundigen, wenn ich mich an sie wende, ist deine Haltung zu dem Projekt. Die ganze Börse weiß inzwischen, daß Jakobe mit Sidenius verlobt ist.«

»Ich habe selber daran gedacht«, fuhr Philip Salomon unverändert sanft fort, trotz des erregten, ja respektlosen Tons, den der Sohn ihm gegenüber anschlug. »Um was für Summen dreht es sich denn eigentlich?«

»Wieso fragst du? Du hast doch sein Buch gelesen.«

»Gewiß, gewiß, doch ich habe dir wohl seinerzeit schon erklärt, daß ich nicht viel daraus entnehmen konnte. Vielleicht hatte ich es zu oberflächlich durchgeblättert, oder möglicherweise habe ich es auch gar nicht verstanden. Er hat so seine eigene Art, über derlei Sachen zu schreiben. Ich wollte dich deshalb bitten, mir – kurz und bündig den Hauptinhalt des Buches wiederzugeben . . . mir eine gedrängte, aber einigermaßen geordnete Darstellung davon zu vermitteln, worauf die Ideen und Pläne deines Freundes eigentlich abzielen.«

Nichts konnte Ivan lieber sein. In aller Hast brachte er die Karten und Papiere herbei, und länger als eine Stunde hielt er den Vater mit seinem Redestrom auf seinem Stuhl fest.

Pers Projekt, wie er es in seinem Buch skizziert hatte, lief im wesentlichen auf folgendes hinaus: Direkt vor Graadyb, an der Stelle, wo dies Gewässer in die Hjerting-Bucht mündet, liegt die öde, fast unbewohnte Insel Langli. Sie zeigt sich, wenn man nach Skallingen kommt, als lange graugrüne Dünenreihe, über die hier und da eine strohgedeckte Fischerhütte hervorschaut. An ihrer Ostseite entlang verläuft eine alte Fahrrinne bis Hjerting, dem ehemaligen Anlegeplatz des südwestlichen Jütlands, das nun ein kleines armseliges Fischerdorf ist, in dem lediglich ein paar große leere Kaufmannshöfe und eine Zollstation an die einstige Herrlichkeit erinnern.

Per behauptete unter anderem, es sei eine »Bürokratendummheit« gewesen, daß man gegen Ende der sechziger Jahre Esbjerg als Hafen ausgewählt hatte. Er griff diese Entscheidung heftig an, einmal wegen der ungünstigen Lage des Hafens selbst, zum andern aber, und dies vor allem, weil er nur durch Eisenbahnlinien mit dem übrigen Land verbunden werden konnte.

Sein Vorschlag lief nun darauf hinaus, die südjütische Ausschiffungsstelle an ihren alten Platz zurückzuverlegen oder vielmehr etwas nördlicher davon, nämlich nach Tarp an die Mündung der Varde. Von hier aus sollte dann der Verkehr weiter ins Land geführt werden. Vertieft und reguliert, sollte dieser Wasserlauf durch einige Kammerschleusen mit dem Fluß Vejle verbunden werden und mit diesem den südlichen der beiden Kanalwege bilden, die seinem Plan entsprechend gemeinsam mit den Belten die Nordsee mit der Ostsee vereinten.

Schon wenn nur eine dieser Verbindungslinien geschaffen würde, so hatte Per geschrieben, könne mit Erfolg die Konkurrenz mit den norddeutschen Handelsstädten aufgenommen werden, besonders mit Hamburg, dessen wachsende Handelsübermacht nach seiner Ansicht die eigentliche Gefahr war, die die Selbständigkeit Dänemarks bedrohte. Im Kampf um die Handelsmärkte, der – verborgen oder offen – die moderne Weltpolitik ausmachte, würde eine Niederlage für Dänemark immer verhängnisvoller, ein Sieg jedoch auch immer goldener werden, je mehr in Europa das Schwergewicht durch Rußlands steigende Macht- und Kulturentwicklung weiter nach Osten gerückt wurde.

Daß Langli unter den gedachten Verhältnissen als Umschlagplatz außerordentliche Bedeutung gewinnen würde, war nun leicht zu begreifen. Übrigens war es Pers Absicht, noch günstigere Bedingungen für die Entwicklung der kleinen Düneninsel zu schaffen. Er empfahl, um Zollfreiheit für das Eiland zu ersuchen. In seinem Buch hatte er eine phantastische Schilderung gegeben, wie in diesem Fall Werften, Docks und mächtige Speicher auf dem unfruchtbaren Sand emporwachsen würden und wie zugleich auf dem Festland, am Flußdelta, schnell eine große Stadt, ein nordisches Venedig, entstünde. Überall sollte die erforderliche Energie durch seine verbesserten Windmotoren erzeugt oder aus der Brandung der Nordsee entnommen und mit Hilfe mechanischer Einrichtungen, die seine eigene Erfindung waren, durch Leitungen über Skallingen weitergeführt werden.

Vorläufig hatte Ivan allein für diesen industriellen Teil des riesigen Zukunftsunternehmens in der Kopenhagener Handelswelt Interesse zu wecken gesucht. Selbst er hatte einsehen können, daß die Verwirklichung des eigentlichen Kanalprojekts als eine nationale Angelegenheit betrachtet werden mußte, für die nur der Staat die nötigen Voraussetzungen besaß. Solche kleinen Fabrikunternehmen dagegen, der Erwerb der winzigen Düneninsel sowie die Sicherung des notwendigen Baugeländes an der Flußmündung konnten von einem privaten Konsortium bewältigt werden. Die Kosten für diesen Teil der Anlage hatte Per auf fünf Millionen veranschlagt.

Während Ivan seinem Vater dies alles erläuterte, nahm dessen Gesicht einen immer aufmerksameren, ja wirklich überraschten Ausdruck an. Aber der Sohn redete ihm doch zu lange; er unterbrach ihn schließlich und sagte:

»Na schön, mein Junge, ich danke dir einstweilen. Wir können an einem anderen Tag eingehender über die Angelegenheit reden. Nur noch eine Frage: Wie verhält es sich – ganz aufrichtig – mit diesen Erfindungen, die Sidenius gemacht zu haben behauptet? Hat er denn irgendwelche Patente angemeldet?«

»Wir haben hier wie im Ausland Patente beantragt. Ich warte jeden Tag auf die Antwort vom Patentamt.«

»Mir scheint, Ivan, ihr hättet das in Ordnung bringen sollen, ehe ihr euch darauf einließt, die Sache vor die Öffentlichkeit zu bringen. Wenn die Patente nicht vorliegen, fehlt dem Ganzen jegliche Grundlage, jeglicher Wert, auf den man bauen kann. Alles andere, was du mir da berichtest, klingt ja sehr einleuchtend. Aber es sind erst Luftschlösser. Eine Erfindung jedoch, wenn sie patentiert ist, das ist dagegen gleich etwas Reelles – wie groß oder wie gering die Bedeutung auch sei, die man ihr beimißt.«

Ivan warf sich in den Stuhl zurück, faltete die Hände im Nacken und sah mit hoffnungslosem Blick zur Decke. »Du hast nicht ein Wort von dem ganzen Plan verstanden, Papa!« sagte er. – Dann beugte er sich wieder über den Tisch, breitete die Arme gleichsam beschützend über Pers Zeichnungen aus und fuhr fast schreiend fort: »Die Fabriken müssen gerade deswegen angelegt werden, um die Bedeutung der Erfindungen zu beweisen. Und die Fabriken setzen wieder die anderen Anlagen, die Docks, die Kais und die Arbeiterwohnungen an der Flußmündung voraus. Das Ganze hängt unauflösbar zusammen. Das ist doch das Großartige an dem Plan!«

»Das verstehe ich sehr gut, mein Freund! Aber es ist nun mal eine gute alte Regel, daß man beim Hausbau mit dem Fundament anfängt und nicht mit dem Dach oder den Türmen. Und daß unbedingt so viele Voraussetzungen nötig sein sollen, bloß um einen Mechanismus auszuprobieren, das könnt ihr keinem einreden. Vorläufig geht es darum, die Sache erst einmal in Gang zu setzen. Hat sie Erfolg, dann kommen die weiteren Aufgaben schon von selbst.«

»Ja, so ist es immer! Wie gut ich das kenne! Ist wirklich einmal eine große Idee geboren, so wird sie unweigerlich niedergewalzt, ehe man sie überhaupt anerkannt hat. Es ist sinnlos, Papa, daß wir weiter darüber reden. Du glaubst nicht an Sidenius. Damit ist alles gesagt.«

»Glauben! Glauben! Lieber Ivan, was weiß ich denn schon über Kanal- und Hafenbau? Verstehst du dich vielleicht auf Windmotoren? . . . Ich wiederhole: Ihr habt es verkehrt angepackt. Zuerst habt ihr den Fehler gemacht, zu vermischen, was nicht unbedingt zusammengehört, und dann war es falsch, daß ihr die Patente nicht vorher in Ordnung gebracht habt. Wenn dein Freund wenigstens Gutachten von Sachverständigen vorlegen könnte, die seine Pläne untersucht haben. Das wäre eine Art Garantie gewesen, daß sie sich überhaupt durchführen lassen. Aber daß die Leute so ohne weiteres die Behauptungen eines unbekannten jungen Mannes für bare Münze nehmen sollen . . . na, das ist doch zu naiv, mein Junge!«

»Aufrichtig, Papa – ist es nicht genauso naiv, anerkennende Atteste von denselben Leuten zu verlangen, für die das Projekt eine bewußte Herausforderung ist? Gerade dem alten bürokratischen Schlendrian hier bei uns will ja Sidenius zu Leibe rücken, sein Buch ist eine einzige Anklage dagegen. Im übrigen hat er sich schon vor langer Zeit an unsere sogenannten hervorragenden Autoritäten gewandt, an Privatleute wie an öffentliche Institutionen. Natürlich begegnete man ihm überall mit Spott oder im besten Fall mit Gleichgültigkeit. Oberst Bjerregrav – du weißt, Dyhrings Onkel – hatte sogar versprochen, die Angelegenheit in der Zeitschrift des Ingenieurvereins zu veröffentlichen; als es dann aber soweit war, fehlte ihm doch der Mut dazu. Diese Leute sind alle gleich. Weil Sidenius ihre Kurzsichtigkeit aufgedeckt hat, haben sie sich zusammengerottet, um ihn aus dem Felde zu schlagen. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, man ist wütend auf ihn.«

»Ihr müßt zusehen, wie ihr den Widerstand auf die eine oder die andere Weise überwindet . . . etwas anderes bleibt euch nicht. Kann dein Freund sich nicht noch einmal an Oberst Bjerregrav wenden? Das scheint ein Mann von großem Einfluß zu sein.«

»Das nützt überhaupt nichts. Ich weiß, daß es bei der genannten Gelegenheit zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen gekommen ist. Sidenius hat den Oberst persönlich beleidigt.«

»Dann kann er sich ja bei ihm entschuldigen. Oberst Bjerregrav ist bestimmt nicht rachsüchtig.«

»Sidenius und sich entschuldigen! Da kann man merken, wie wenig du ihn kennst! Ebensogut könntest du den Kaiser von Rußland darum bitten!«

»Ja, dann solltet ihr es von einer anderen Seite her versuchen. Denn ganz ohne die Zustimmung dieser Leute geht es nun mal nicht, das kann ich euch im voraus sagen.«

»Hör mal, was bezweckst du eigentlich, Papa? Diese Unterredung ist doch sinnlos, wenn du uns nicht unterstützen willst. Ich wiederhole noch einmal, die Ursache für die Gleichgültigkeit der Leute dem Projekt gegenüber ist vor allem in deiner Haltung zu ihm zu suchen.«

»Darum wollte ich mit dir darüber reden. – Ich möchte aber gleich das eine feststellen: Meine Haltung zu der ganzen Angelegenheit hat sich nicht geändert und kann sich auch nicht ändern. Wenn du weniger von deinem Freund verhext wärst, würdest du selbst einsehen, daß ich unsere Firma unmöglich in ein Spekulationsunternehmen dieser Art verwickeln kann . . . jedenfalls nicht, wie die Dinge jetzt stehen. Aber ich will dir einen Vorschlag machen. Ich stelle dir eine bestimmte Summe zur Verfügung . . . dann kannst du auf eigene Faust und in deinem Namen vorgehen. Du hast oft davon gesprochen, du hättest Lust, es mal mit einer etwas selbständigeren Tätigkeit zu versuchen. Aus verschiedenen Gründen meine ich, hier wäre eine passende Gelegenheit zu einem solchen Versuch.«

Ivan kniff die Augen zusammen und betrachtete Philip Salomon mit unverhohlenem Mißtrauen. Vater und Sohn hatten in allen anderen Dingen vollstes Vertrauen zueinander, sobald aber die Rede auf Geschäfte kam, waren sie beide auf der Hut. »Bietest du mir ein Darlehen an? Oder soll ich die Firma decken?«

»Das kannst du ganz so arrangieren, wie es dir paßt. Ich stelle es dir in jeder Hinsicht völlig frei. Für mich kommt es, wie bereits bemerkt, einzig und allein darauf an, daß die Sache überhaupt angepackt wird. Jetzt ist nämlich genug darüber geredet worden. Jetzt müßte sie sich endlich bewähren!«

»Aber du bist dir doch wohl darüber im klaren, daß es sich hier nicht um kleine Summen dreht? Im voraus müssen wir uns einige Hunderttausende sichern, allein für den Start.«

»Ach was, weniger dürfte wohl auch reichen. – Doch nun laß es für heute genug sein. Du kannst über mein Angebot nachdenken. Morgen sprechen wir genauer darüber.«

 

Zehn Tage später – es war Anfang April – kehrte Jakobe von ihrer Reise zurück. Nachdem sie eine Woche bei ihrer Freundin in Breslau verbracht hatte, befiel sie ein unbezwingbares Heimweh. In einem furchtbaren Schneesturm kam sie abends in Kopenhagen an, und den ganzen nächsten Vormittag saß sie eingeschlossen in ihrem Zimmer, um an Per zu schreiben.

 

Ja, nun bin ich also wieder zu Hause und kann Dir endlich einen vernünftigen Brief schreiben. Meine oberflächlichen beiden Episteln aus Breslau werden sicherlich in Deine Hände gelangt sein. Ich wünschte fast, es wäre nicht der Fall, denn ich schäme mich ihretwegen ein bißchen. Du mußt ihre verworrene Form verzeihen – ich mußte mir nachts die Zeit zum Schreiben stehlen, wenn ich todmüde aus einer Gesellschaft oder dem Theater kam – und auch den Inhalt, der bestimmt viel zu sehr eine jämmerliche Klage wurde statt, wie es eigentlich sein sollte, ein endloser, unsagbarer Dank an Dich, mein innigst Geliebter, für all das, was wir erlebt haben. Mein ganzer siebentägiger Aufenthalt in Breslau erscheint mir jetzt wie ein nebelhafter Traum; ich frage mich, ob ich überhaupt dagewesen bin. Ich habe einige Gewissensbisse vor meiner Freundin und ihrem Mann, die alles aufboten, um mich zu zerstreuen: Gäste einluden, mit mir ins Konzert und ins Theater gingen – ja sogar in eine Kunstreitervorstellung, die ich verabscheue; aber meine Gedanken waren stets bei Dir. Ich befand mich immer wieder in Dresack und in Außerhof – alles habe ich aber und abermals durchlebt, wach und in wunderbaren Träumen.

Gestern abend traf ich hier also wieder ein, und mich empfing gleich eine Neuigkeit, die mich etwas verstimmte, obwohl ich nicht ganz unvorbereitet war. Nanny hat sich vorgestern mit Dyhring verlobt. Ich bin nicht sehr froh über die Partie. Dyhring ist mir als Journalist wie als Mensch immer äußerst zuwider gewesen; allein Nanny scheint sehr glücklich zu sein. Auch er ist im Augenblick wohl so verliebt, wie er es überhaupt nur sein kann. Er war gestern abend hier, als ich heimkehrte. Es war, wie Du Dir denken kannst, ein bißchen merkwürdig für mich, beide in dem Raum sitzen zu sehen, wo wir so oft gesessen haben, und sie flüstern und lachen zu hören. Aber ich will nicht wieder in schwermütige Betrachtungen verfallen. Unsere Zeit kommt auch, Per! Ich tröste mich mit dem Gedanken, daß jetzt schon neun Tage und Nächte vergangen sind, seit wir voneinander Abschied nahmen – neun Tage von den Gott weiß wieviel Hunderten, die noch vergehen werden, bevor ich Dich wieder in meinen Armen halte!

Wo magst Du heute wohl sein? In Wien? In Budapest? Ich sehe Dich vor mir – ach, nur allzu deutlich – in dem braunen Reisemantel und mit Deinen frischen roten Wangen, die ich in Gedanken immer wieder küsse. In der vorigen Nacht habe ich von dem großen Wald im Laugental geträumt. Niemals werde ich auch nur eine Minute von dem wunderbaren langen Tag vergessen, den wir dort verbrachten. Weißt Du noch? Ein Vogel flog heran, setzte sich zu unseren Köpfen und begann zu singen. Und unsere Rast an der Quelle, wo Du – wie Du sagtest – aus meinen Händen Vergebung trankst für Deine Jugendsünden? – Doch jetzt kein Wort mehr darüber.

Ich bin froh, daß ich wieder zu Hause bin und in meinem Zimmer sitze, umgeben von Deinen Bildern und all den anderen kleinen Erinnerungen an Dich, nach denen ich mich so gesehnt habe. Sie sollen nun zusammen mit unseren Büchern mein Trost und meine Zuflucht in der Einsamkeit sein. Errätst Du, über welches Buch ich mich zuerst hermachen werde? Über Poulsens »Kleines Lehrbuch der Hydrostatik«. Du erinnerst Dich sicherlich, daß ich diesen Winter auf Deine Empfehlung seine »Dynamik« las und begeistert war von seiner phantasiereichen Klarheit. Er ist zugleich auch ein Dichter, im Grunde der einzige wirklich moderne Lyriker unseres Landes. In seiner Darstellung der Fallgeschwindigkeit gab es gewisse Züge, die auf mich wirkten wie seinerzeit ein Sinngedicht von Goethe. Übrigens habe ich den Eindruck gewonnen, als ob hier in bezug auf Dich etwas gärt. Schon gestern abend hat Ivan etwas von einer »entstehenden Interessengesellschaft« angedeutet. Und heute morgen, als ich zum Tee herunterkam, tat er äußerst geheimnisvoll und eilte an mir vorbei, unter dem Arm eine glänzend neue Aktenmappe. Wenn ich Genaueres erfahren habe, sollst Du unterrichtet werden.

Sonst habe ich nichts Neues von hier zu berichten. Vater und Mutter sind gut und lieb wie immer, wenn ich auch spüre, daß sie von unserer Begegnung nicht gerade entzückt gewesen sind. Aber da ist nun eben nichts zu ändern. Heute scheint die Sonne sehr warm, und die Vögel singen; gestern dagegen hatten wir noch winterliches Wetter, und ich kam in heftigem Schneegestöber an, mit dem der Frühling hier im Norden hereingeweht wird. Eine Zeitlang war ich tatsächlich in Sorge, daß der Zug in einer Schneewehe steckenbliebe.

Ich will Dich nicht mit einer eingehenden Reiseschilderung ermüden. Nur ein kleines Erlebnis muß ich Dir berichten. Ich weiß recht gut, wie nichtssagend es an und für sich ist. Aber da ich Dir das im voraus gestanden habe, darfst Du auch nicht über meine Redseligkeit lächeln. Einmal erzählte ich Dir von einer Szene, die ich vor einigen Jahren auf einem der Berliner Bahnhöfe erlebte und die einen erschütternden Eindruck auf mich machte, ja deren Auswirkungen ich wohl noch immer nicht verwunden habe. Ich denke an den traurigen Zug russischer Juden, die einzig und allein ihrer Abstammung wegen von Haus und Hof verjagt worden waren. Es waren fleißige gesetzestreue Leute, die man ausgeplündert, zuschanden geschlagen oder sogar verstümmelt hatte. Wie ein Gefangenentransport wurden sie, verhöhnt vom Pöbel, unter Polizeiaufsicht durch das zivilisierte Europa gebracht. Zwischen halbwilden Stämmen in Amerika sollten sie sich eine Heimstatt suchen. Du entsinnst Dich gewiß, daß ich Dir davon sprach.

Jetzt sollte ich auf dieser Reise, und wieder auf einem Berliner Bahnhof, daran erinnert werden, daß auch ich zum selben Geschlecht der ewig Friedlosen und Verdammten gehöre. Ich saß mit einer Dame im Abteil. Kurz bevor der Zug abfuhr, stieg ein älterer Herr in Begleitung eines jungen Offiziers ein. Als er mein unglückseliges Gesicht erblickte, stürzte er wieder hinaus, gefolgt von dem Leutnant, der ein bewunderndes Lachen anstimmte. Zu dem Schaffner, der gerade die Türen schließen wollte, sagte er erklärend und so laut, daß ich es unmöglich überhören konnte: »Pfui! Hier riecht es entsetzlich nach Knoblauch.

Ja, das war das ganze Erlebnis, und Du wirst mich wahrscheinlich fragen, warum ich es Dir unbedingt mitteilen wollte. Im Grunde ist es auch nicht der Vorfall, dem ich Bedeutung beimesse, sondern die Art, wie er auf mich wirkte und auch jetzt noch eine besondere, seltsame Verwunderung in mir erweckt. Der Auftritt beeindruckte mich nämlich überhaupt nicht nennenswert. Ich empfand höchstens ein wenig Wehmut. Als sich die schon erwähnte Dame nach dem Weggang der Herren mir zu nähern versuchte, offensichtlich in der Absicht, mir Wiedergutmachung für die Kränkung zu verschaffen, wies ich ihre Freundlichkeit nicht ab, wie ich es in früheren Zeiten getan hätte, sondern ließ mich mit ihr auf eine Unterhaltung ein, als sei gar nichts vorgefallen. – Verstehst Du mich nun? Schon als Kind behauptete man von mir, ich sei unversöhnlich – und nun konnte ich nicht einmal zornig werden! So hat mich das Glück verwandelt! Bei dem Gedanken an die große, blinde, irregeleitete Menschheit erfüllt mich unendliches Mitleid, ein alles umfassendes Verzeihen.

Ach, jetzt habe ich schon den dritten Briefbogen anfangen müssen, und trotzdem scheint es mir, als hätte ich noch nichts von alldem geschrieben, was ich auf dem Herzen habe. Für heute will ich aber nun schließen. Ich darf Dich nicht länger aufhalten, Du brauchst Deine Zeit. Allein es ist nicht leicht, von Dir zu lassen. Ich weiß, welche Leere ich fühlen werde, wenn ich meinen Brief versiegelt habe. – Nur noch diesen letzten Kuß – und einen allerletzten und jetzt Lebewohl.

 

Erst ein paar Wochen nach seiner Unterredung mit dem Vater gelang es Ivan, einige Geldleute bei dem bekannten Obergerichtsanwalt Max Bernhardt zu versammeln, den er bereits früher, doch ohne Erfolg, für Pers Sache zu interessieren suchte. Nun hatte sich dieser Mann bereit erklärt, für den Abend einige Geschäftspartner in seinem Büro zusammenzurufen, um Ivan Gelegenheit zu geben, ihnen das Projekt seines Freundes vorzulegen und mit ihnen die Möglichkeiten, es durchzuführen, näher zu untersuchen.

Max Bernhardt war, obgleich erst vierzig Jahre alt und von jüdischer Herkunft, bereits ein Mann mit bedeutendem Einfluß in der Hauptstadt. Er galt als beherrschende und ausführende Macht im Kreise jener wagemutigen Spekulanten, die im Laufe der letzten zehn Jahre Kopenhagen niedergerissen, wiederaufgebaut und es dadurch aus einer Provinzstadt in eine Großstadt europäischen Stils verwandelt hatten. Durch sein Wirken hatte er sich viele Feinde geschaffen; doch selbst diese mußten zugeben, daß er ein blendender Geschäftsmann war, ein blitzschnell reagierender Kopf, der in bezug auf Klarheit der Gedanken und auf juristisches und kommerzielles Wissen seinesgleichen suchte. Dagegen räumten seine Freunde meistens, ohne ernsthaft zu widersprechen, ein, daß er dort, wo das Gewissen seinen Platz haben soll, so leer war wie eine wurmstichige Nuß und daß er kalten Bluts alle Rücksichten zugunsten seines persönlichen Vorteils preisgab.

Sooft sich das dänische Bürgertum in diesen Jahren, aufgeschreckt durch irgendeinen großen Bankrott, ein fehlgeschlagenes Aktienunternehmen oder den Selbstmord eines vom Pech verfolgten Spekulanten, zu drohendem Protest erhob gegen den neuen Zeitgeist, konzentrierte sich die Empörung stets auf Max Bernhardt. Für die Allgemeinheit war er der Inbegriff europäischer Verderbtheit geworden, und diese war nach landläufiger Auffassung im letzten Menschenalter von jüdischer Selbstsucht geprägt worden.

Diesen Mann focht es indessen nicht im geringsten an, was andere Leute über ihn dachten. Es war ihm im Gegenteil ein eigenartiger, tiefer Genuß, die mit Schreck vermischte Neugier zu spüren, mit der ihm die Leute – vor allem die Frauen – begegneten, wenn er auf den Glockenschlag genau ins Büro kam oder es wieder verließ. Alle kannten seine kleine exotische Gestalt, die so oft in den illustrierten satirischen Zeitungen karikiert worden war. Stets ging er sehr elegant gekleidet, hielt sich immer ein wenig vornübergebeugt, steckte meistens beide Hände fröstelnd in die Taschen seines Mantels und beobachtete die Passanten mit einem halb erloschenen, gefühllosen Blick unter gesenkten Augenlidern.

In Wahrheit war er nicht ganz der, für den er sich ausgab. Die ihn als Kind gekannt hatten, erinnerten sich an ihn als an einen schweigsamen, verschlossenen, ein wenig verzagten Jungen, der stets über den Büchern hockte und der das Spiel mit seinen Kameraden aus Furcht vor der rohen Behandlung scheute, der er als Jude und wegen seiner schmächtigen Gestalt ausgesetzt war. Sein Vater, der ein kleines Geschäft in einer Seitenstraße der Stadt betrieben hatte, war oft sehr unzufrieden mit ihm gewesen, weil das viele Lesen in dem Jungen einen Widerwillen gegen das Geschäftsleben erregte.

Mit siebzehn bestand er sein Abitur mit Auszeichnung und begann Jura zu studieren. Damals hatte er die Absicht, die Beamtenkarriere einzuschlagen. Er wollte Richter werden. Die Verfolgungen, denen er während seines Heranwachsens ausgesetzt war, hatten in ihm ein leidenschaftliches Gerechtigkeitsgefühl geweckt. Der dunkelrote Samttalar der Richter am Höchsten Gericht war für den Krämersohn früh Ziel seines geheimen Ehrgeizes geworden.

Doch eines Tages machte man ihn darauf aufmerksam, daß er ungetauft kein Gerichtsbeamter werden könne. Zwar verbot das kein bestimmtes Gesetz, aber man ließ es nun einmal nicht zu. Trotz der schönen Worte im Grundgesetz über die Gleichheit aller Bürger hatte noch nie ein Jude in Dänemark einen Richterstuhl innegehabt.

Als Max Bernhardt Kandidat geworden war, mußte er mit ansehen, wie bald dieser, bald jener von den blonden Dummköpfen unter seinen Studienkollegen auf der akademischen Heerstraße zu Ehren, Macht und Ansehen gelangte, während man ihn ins Geschäftsleben hinausstieß, das er verabscheute. Sein israelitisches Selbstbewußtsein, diese stolze Scheu, bemitleidet zu werden, hatten ihn bereits damals mit einer täuschenden Selbstbeherrschung ausgerüstet. Wenn er sich unter Menschen bewegte, trug er die kalte spöttische Maske eines Weltmanns. Doch sein Herz schlug heimlich so nervös und unruhig wie das eines jungen Mädchens beim Betreten des Ballsaals.

Daher hatte sich auch niemand gewundert, daß er sich kurz nach seiner Bestallung als Rechtsanwalt in eine Reihe gewagter Spekulationsgeschäfte stürzte. Es wurde seine Spezialität, Baukonsortien zu bilden und Aktiengesellschaften zu gründen. Unter seinen Kollegen hatte er sogleich Verärgerung erregt, weil er Mittel anwandte, die in der juristischen Geschäftswelt bisher nicht erlaubt waren. Unter anderem hatte er nach ausländischem Vorbild enge Verbindungen zur Presse hergestellt. Er hatte Redakteure und Zeitungsverleger mit gutbezahlten Aufsichtsrats- und Revisorenposten in seinen verschiedenen Aktiengesellschaften bestochen und sich so nach und nach einen geheimen Stab interessierter Mithelfer verschafft, durch die er die öffentliche Meinung beeinflußte und jeden Gegner schonungslos verfolgte.

Jetzt, nach knapp zehn Jahren, gehörte er zu den größten Steuerzahlern der Stadt und wurde von allen als eine wirkliche Macht anerkannt. Wie sehr man auch mitunter hinter seinem Rücken über seine Praktiken schimpfen mochte – man hatte sich doch in der Geschäftswelt seinen Fähigkeiten und dem wunderbaren Glück beugen müssen, das fast allem anhaftete, was er in die Hände nahm. Mit Ausnahme einiger sehr alter aristokratischer Handelshäuser und einer einzigen Bank, die sich ständig weigerte, mit ihm in Verbindung zu treten, wagte es niemand mehr, sich seinem von Tag zu Tag wachsenden Einfluß entgegenzustellen.

Und dennoch war sein Ehrgeiz noch lange nicht befriedigt. War der Gipfel seiner Hoffnungen seinerzeit die verhältnismäßig bescheidene Würde eines Richters am Höchsten Gericht gewesen, so hatte er sich nun viel weiter gesteckte Ziele gesetzt. Aus dem kleinen, stets ein wenig ängstlichen Jungen hatte die ihm widerfahrene Zurücksetzung einen herrschsüchtigen, zornharten Mann gemacht, der nach immer bedeutenderer Macht dürstete.

Er war sich darüber im klaren, daß er auf Grund seiner Geburt niemals allerhöchste Stellungen im Staat einnehmen konnte, die ihm jetzt allein noch des Kampfes wert erschienen. Aber in der beachtlichen Gruppe der Abhängigen, die er sich im Laufe der Zeit zu schaffen verstand und die er in gehorsame Werkzeuge seines Willens verwandelt hatte, gab es mehrere, die bereits einflußreiche Posten bekleideten. Es war sein Plan, auf diese Weise trotzdem alle wesentliche Macht im Lande in seiner Hand zu sammeln.

Daher war es nur natürlich, daß Ivan sich eifrig bemüht hatte, diesen Mann für Pers Sache zu gewinnen, und daß er jetzt, da dies wirklich zu glücken schien, den Sieg für fast gesichert hielt.

Unter den sieben Herren, die sich jetzt auf Max Bernhardts Veranlassung versammelt hatten, um über den Plan zu sprechen, war auch der Bankier Herløv, Max Bernhardts engster Freund und unentbehrlicher Mitarbeiter, ein großer massiger Mann mit rotem Gesicht, der einen merkwürdig trägen und schläfrigen Eindruck erweckte, obwohl er an Unternehmungsgeist kaum hinter seinem Kompagnon zurückstand und ihn an Erfindungsgabe und Gerissenheit wohl noch übertraf. An der Börse sagte man von ihm, er sei die Phantasie Max Bernhardts. Er heckte die Pläne meistens aus und bereitete mit Berechnung und Umsicht die gemeinsamen Unternehmungen vor, während der andere als geradlinige, vollziehende Kraft auftrat.

Ansonsten waren ihre Interessen ganz unterschiedlich; doch gerade deswegen arbeiteten sie so unvergleichlich gut zusammen. Der Bankier war ohne jeden Ehrgeiz. Ganz im Gegensatz zu Max Bernhardt, bei dem alles auf den Machtbesitz hinauslief, hatte er keinen anderen Wunsch als den Profit, kein anderes Ziel, als möglichst viel Geld zusammenzuscharren. Dabei wußte er nicht einmal, wie er sein vieles Geld anwenden sollte. Er war unverheiratet und hatte nur eine verhältnismäßig billige Leidenschaft: nach der Arbeit des Tages setzte er sich gern in einen der abgesonderten Räume eines feineren Restaurants und aß ganz allein, mit ein paar Zeitungen als einziger Gesellschaft, ein Diner von sieben bis acht Gerichten, wozu er aus Rücksicht auf seine Gesundheit nur Wasser trank.

Jetzt stand er in dem geräumigen, kostbar ausgestatteten Empfangszimmer Max Bernhardts; er ließ den Kopf hängen wie ein Ochse, hatte die Hände auf dem Rücken unter seinen langen Rockschößen ineinandergeschlungen, und seine Augen blickten stumpf hinter der Brille, als schliefe er innerlich. Er war ins Gespräch gekommen mit einem anderen Eingeladenen, einem auffallend gekleideten jungen blonden Modeherrn, der in ganz Kopenhagen von der Østergade und den Theatern her unter dem Namen »Der goldene Lammkopf« bekannt war. Er hieß in Wirklichkeit Sivertsen und war das einzige Kind eines ehemals sehr bekannten Kaffeegroßhändlers. Nach dessen Tod war er, siebenundzwanzig Jahre alt, in den Besitz eines sehr bedeutenden Vermögens gelangt. Er gehörte zu den vielen Theaterfanatikern der Stadt, redete nur über Rollenbesetzungen, Kulissenklatsch und Zeitungskritiken. Er war ein Freund Dyhrings, den er – wie er sagte – »als Gentleman und als Schriftsteller« bewunderte, und durch ihn war er seinerzeit auch mit Max Bernhardt in Verbindung gekommen. Es hatte nicht lange gedauert, bis dieser ihn zu einem seiner Leibeigenen gemacht und seither mit dessen Millionen nach eigenem Gutdünken geschaltet hatte – übrigens keinesfalls zum Nachteil für den jungen Taugenichts, dessen Theaterbesessenheit ihn sonst wahrscheinlich sehr schnell ruiniert hätte, weil er stets für die Ehre zu zahlen hatte, jemanden von der Bühne Freund oder Freundin nennen zu dürfen.

Anwesend war außerdem ein Herr Nørrehave, dessen Namen man ebenfalls oft unter Max Bernhardts geschäftlichen Einladungen sah. Er nannte sich »ehemaliger Landmann« und hatte tatsächlich einmal einen Hof in Jütland besessen. Doch das lag mehr als zwanzig Jahre zurück. Seither hatte er ein sehr bewegtes Leben in Kopenhagen geführt, zuerst als Pfandleiher und Trödler, dann als Häuser- und Grundstücksmakler, bis er sich auf Spekulationen größeren Stils verlegte und Kapitalist wurde. Ursprünglich hatte er Madsen geheißen, aber er wechselte seinen Namen, als er den Kellerladen mit einem Büro vertauschte. Den vertrauenerweckenden Titel eines Landmanns hatte er dagegen beibehalten, ebenso auch das jütische Rollen des »R«, das seiner Sprache in Kopenhagener Ohren etwas Zuverlässiges und Treuherziges gab. Max Bernhardt sagte oft im Vertrauen von ihm, er sei der schlaueste Fuchs von ganz Dänemark.

Als man an einem Tisch Platz genommen hatte, auf dem Pers Zeichnungen und Kostenvoranschläge ausgebreitet waren, ergriff Ivan sofort das Wort. Die versammelten Herren lauschten alle mit wohlwollender Aufmerksamkeit seinem sorgfältig vorbereiteten Vortrag – zumindest während der ersten halben Stunde. Später wurden sie etwas unruhig, und der ehemalige Landmann sah mehrfach mit ländlicher Unbekümmertheit nach der Uhr.

Als Ivan endlich zu Ende gekommen war, trat eine längere Pause ein. Man blickte zu Max Bernhardt hinüber, der sich jedoch abwartend verhielt.

Schließlich ergriff der Bankier das Wort und stellte Ivan verschiedene Fragen, worauf nach und nach eine allgemeine Diskussion in Gang kam.

Nun stellte sich heraus, daß diese Männer – ebenso wie Philip Salomon – es für unumgänglich notwendig hielten, zuerst ein begründetes Urteil über das Unternehmen von anerkannt technischen Sachverständigen zu beschaffen, deren Gutachten dann der Öffentlichkeit vorgelegt werden konnten. Und nachdem in diesem Zusammenhang mehrere Namen genannt worden waren, bezeichnete man schließlich auch hier Oberst Bjerregrav als denjenigen, dessen Wort in einer Sache wie dieser im Lande das größte Gewicht haben würde.

Mit viel Nachdruck wiederholte nun Ivan, was er bereits dem Vater gegenüber betont hatte: Es sei unsinnig, Interesse von einer Seite zu erwarten, die sich – nicht zu Unrecht – von dem Projekt wie von einer Anklage getroffen fühle. Vor allem von Oberst Bjerregrav wisse er mit Bestimmtheit, daß er sich aus rein persönlichen Gründen zu dem Plan und dessen Urheber feindlich verhalte.

Hierauf antwortete der Bankier lediglich, es müsse natürlich dem Ingenieur ein Direktorensitz in der eventuellen Gesellschaft angeboten werden; und da dieser Posten recht einträglich sein würde, sei so ein kleiner persönlicher Unwillen zweifellos leicht zu überwinden.

»Falls keine ernsteren Schwierigkeiten vorliegen«, fügte er trocken hinzu, »ließe sich die Angelegenheit leicht zuwege bringen.«

Zu Pers Kraftmaschinen und zu den anderen Erfindungen, die Ivan als epochemachend bezeichnet hatte, hegten die versammelten Herren nicht das geringste Vertrauen. Im Gegensatz zu Philip Salomon sprachen sie lediglich vom Hafenprojekt und vor allem von der Möglichkeit, der kleinen Düneninsel Anerkennung als zollfreies Gebiet zu verschaffen. Max Bernhardt erklärte offen, daß er nur diesen Teil des Vorschlags für Erwägungen geeignet halte. Er sprach sich jedoch sehr eifrig gegen die Vorschläge einiger anderer Herren aus, die Pers Pläne noch weiter einschränken wollten, um dadurch den Versuch leichter bewältigen zu können.

»Eine weitergehende Amputation wäre gleichbedeutend mit einer Tötung«, erklärte er, »ich muß entschieden darauf bestehen, daß das Freihafenprojekt in seinem vollen Umfang verwirklicht wird . . . als eine Angelegenheit der Nation, für die es das Interesse des ganzen Volkes zu wecken gilt, wie Herr Salomon es vorhin sehr richtig ausdrückte . . . sonst müßte man diese Geschichte von vornherein als undurchführbar aufgeben.«

Ivan horchte auf. In Anbetracht der vorausgegangenen langen Weigerung Max Bernhardts, sich mit der Angelegenheit zu befassen, hatte er gar nicht gewagt, auf eine so unbedingte Zustimmung von seiner Seite zu rechnen. Auch mehrere andere Herren waren sichtlich überrascht von der ungewöhnlichen Wärme, mit der Max Bernhardt hier für ein Geschäft in die Schranken trat, das sich in ihren Augen recht zweifelhaft ausnahm.

Max Bernhardts und Bankier Herløvs plötzliches Interesse für Pers Werk hatte freilich auch einen geheimen Grund. Sie hatten erfahren, daß man sich in jener der Kopenhagener Hauptbanken, mit deren Direktion sie auf Kriegsfuß standen, gegenwärtig mit einem anderen Freihafenprojekt beschäftigte, das natürlich mit Kopenhagen in Verbindung stand. Ihre Absicht war es nun, den Gegnern zuvorzukommen mit diesem fertig ausgearbeiteten westjütischen Projekt, für das man schon in vierundzwanzig Stunden einen Feldzug in der Presse beginnen konnte. Im übrigen waren sie nicht sehr davon überzeugt, daß es ihnen gelänge, eine wirksame Stimmung dafür in der Handelswelt wachzurufen; es sollte lediglich dazu dienen, das Interesse für den Freihafengedanken zu zersplittern, den es offenbar im Lande gab und den die anderen für ihr Kopenhagener Projekt ausnutzen zu können glaubten.

Nach weiteren Verhandlungen hob man die Versammlung mit dem Beschluß auf, daß man sich an Oberst Bjerregrav wenden wolle, um ihn zu bitten, in die geplante Direktion einzutreten. Sobald seine Antwort vorlag, wollte man ein neues Treffen einberufen, um nach Absprache mit dem Oberst Festlegungen zu treffen, wie die Angelegenheit im einzelnen anzupacken sei.

 

Per befand sich zu dieser Zeit in Wien. Ein paar Wochen lang hatte er in den Sumpfgegenden der Donaumündung gelebt, um dort die großen Flußregulierungen und Hafenbauvorhaben zu studieren. Zu Pferd, im offenen Boot oder auf schwankenden Sandprahmen war er bei jedem Wetter unterwegs gewesen. Mitunter war es ihm nicht möglich gewesen, sich für die Nacht ein Dach über dem Kopf zu beschaffen.

Erschöpft von diesen ungewohnten Strapazen, saß er am Tag nach seiner Ankunft in Wien vor einem Café und hatte das dringende Verlangen, einmal wieder mit einem Menschen über etwas anderes als über Pfahlrammung und Baggerarbeiten zu sprechen. Seit er sich von Jakobe getrennt hatte, war er ausschließlich mit Ingenieuren zusammen gewesen. Doch es waren keine Ingenieure mit der Allgemeinbildung wie zu Hause, sondern Techniker, wie die Weltkonkurrenz sie ausbildete, Männer mit phänomenaler Sachkenntnis auf einem einzelnen, meist sehr begrenzten Gebiet, dafür aber ohne alle Kenntnisse über ihr Fach hinaus und im allgemeinen ohne jede anderen Interessen, außer jenen, die zum Existenzkampf und zum persönlichen Wohlergehen gehörten.

Mit diesen Kollegen war es ihm ergangen wie mit den drei kaltblütigen englischen Whiskytrinkern, mit denen er den Winter in Dresack zugebracht hatte. Mit ihnen hatte er ebenfalls nicht sprechen können, wenigstens nicht über die drängenden Lebensfragen, die ihn seinerzeit besonders beschäftigten. Er war und blieb ein Fremder in einer solchen Gesellschaft. Wie sehr er auch ihre spezielle Tüchtigkeit und Umsicht bewunderte und obgleich ihre Überlegenheit ihn oft zur Nachahmung anspornte, regte sich in seinem tiefsten Innern doch Mitleid mit dieser Art von Menschen, deren Gedanken nie höher strebten als der Rauch ihrer Zigarren.

Nun saß er vor dem Café und hielt eine Zeitung in der Hand. Seine Gedanken waren bei Jakobe, die er in dieser großen wildfremden Stadt doppelt entbehrte. Aus alter Gewohnheit ließ er den Blick über die Hotellisten streifen, um nach Namen aus Dänemark zu suchen. Da traf es ihn plötzlich wie ein Schlag, als er den Namen Baronin von Bernt-Adlersborg las.

Die alte Dame war im Laufe des Winters ganz aus seinem Gedächtnis entschwunden. In seiner Entwicklung hatte er sich in der dazwischenliegenden Zeit so weit von allem Streben nach äußerem Glanz und nach Größe entfernt, daß er sich kaum mehr daran erinnerte, wie er vor seiner Reise von »Onkel Heinrich« in Versuchung geführt worden war, sich die Freundschaft dieser armen Frau zunutze zu machen, um sich dadurch den Titel eines Barons zu erobern. In seinem Verlangen, wieder einmal mit einem Menschen in seiner Muttersprache über allgemeine menschliche Dinge reden zu können, beschloß er, die Baronin aufzusuchen. Er traf sie in einem der elegantesten Hotels der Stadt, wo sie mit ihrer Schwester, der Hofjägermeisterin Prangen, wohnte. Die beiden Damen waren vor einigen Tagen nach Wien gekommen und befanden sich auf der Durchreise nach Italien.

Die Baronin schien von ihrer fast einjährigen Kur in einer deutschen Entwöhnungsanstalt nicht viel Nutzen gehabt zu haben. Ihr Gesicht hatte zwar ein wenig von seiner glühenden Röte verloren, die Mimik war beherrschter, die Hände waren ruhiger geworden; doch ihre Rede war noch genauso verwirrt und verriet ihre geschwächten Geisteskräfte. Ihre sonderbare Liebe zu Per hatte sie unverändert bewahrt. In ihrer Wiedersehensfreude war sie nahe daran, ihm um den Hals zu fallen, und während der nun folgenden Unterhaltung griff sie immer wieder nach seinen Händen, um ihm ihre Dankbarkeit zu bezeigen, daß er gekommen war.

Von ihrem Aufenthalt in der Anstalt sprach die alte Dame nicht. Sie sagte lediglich, ihr »liebes Schwesterlein« habe sie abgeholt und nun wolle sie nach Rom, um – wie sie mit geheimnisvoll gesenkter Stimme erklärte – eine Privataudienz beim Papst zu erlangen.

Sie versuchte ihn zu überreden, sie und die Schwester nach dem Süden zu begleiten, und als sie hörte, daß er schon am folgenden Tag aufbrechen wolle, um nach Paris weiterzureisen, wurde sie in ihren Klagen so unbeherrscht, daß er schließlich versprach, noch eine Woche in Wien zu bleiben, solange sie und die Hofjägermeisterin sich dort aufhielten.

Noch am gleichen Nachmittag begleitete er die beiden Damen auf einer Spazierfahrt in den Prater.

In seinem Brief an Jakobe, in dem er über dieses Zusammentreffen berichtete, schilderte er die Hofjägermeisterin Prangen in folgenden Zeilen: »Die Schwester ist eine große üppige Dame. Ich schätze sie auf siebzig Zoll und von entsprechender Breite. Ungefähr fünfzig Jahre alt. Ist gewiß einmal sehr schön gewesen. Hat noch heute ein Paar ganz brillante Augen. Im Wesen ist sie gemessener als die Baronin, und im Gegensatz zu dieser spricht sie nicht sehr viel. Offensichtlich tief religiös. Schon gestern abend waren wir in eine lange und heftige Diskussion über die christliche Lehre von der Unsterblichkeit verwickelt. Ich habe das Gefühl, sie will versuchen, auf mich einzuwirken. Es wird mich amüsieren, den Kampf wiederaufzunehmen. Sie scheint ein ganz Teil gelesen, gedacht und erlebt zu haben, und trotz ihrer Religiosität ist sie merkwürdigerweise doch kein Kopfhänger. Alles in allem eine interessante Bekanntschaft . . .«

Der Brief versetzte Jakobe in eine gewisse Unruhe. In ihrer eilig abgeschickten Antwort schrieb sie, ohne die Hofjägermeisterin oder deren Schwester mit einem Wort zu erwähnen: »Über einen Punkt unserer Reise bin ich immer noch ein bißchen ärgerlich: daß wir nicht mehr miteinander über das gesprochen haben, was Dich im Winter nach dem Tode Deines Vaters so sehr beschäftigte und auch ein bißchen beunruhigte. Aber die Tage waren allzu kurz. Die Zeit flog davon, und die Liebe forderte ihr Recht. Vielleicht wirst Du einwenden, daß gar nichts mehr zu bereden war, daß Deine Einsamkeit Dich nervös gemacht hatte. – Und das glaube ich ebenfalls. Außerdem, nicht wahr, mein Liebster, haben wir ja jetzt vollstes Vertrauen zueinander in allen Dingen, und Du wirst mir nie mehr verbergen, was Deine Gedanken beschäftigt. Das mußt Du mir versprechen, Per!

Hier leben wir zur Zeit in einer Periode neuerlicher theologischer Verzweiflung und Verfolgungssucht. Wie ich Dir wohl kürzlich schon mitteilte, ist Nathan jetzt nach Kopenhagen zurückgekommen, und dieses Ereignis scheint eine Panik im Lager der Geistlichen hervorgerufen zu haben. In diesen Tagen nutzen sie jede Gelegenheit, um gegen die neue Zeit und ihre Vertreter zu wettern. Erst gestern abend las ich in ›Berlingske Tidende‹ einen drei Spalten langen Bericht über eine Grabrede, die irgendein Stiftspropst beim Begräbnis irgendeines Konferenzrats in der Frue Kirke gehalten hat. Ich hätte Lust, Dir die Zeitung zu schicken. Selten habe ich so etwas empörend Dummes und Arrogantes gelesen. Natürlich zerfloß der fromme Mann in Tränen des Mitleids über die ›Unglücklichen‹, die ihr Leben ohne Hoffnung auf die Ewigkeit verbringen und für die der Tod nur eine Pforte des Schreckens ins bodenlose Nichts sei. Die gewöhnliche selbstverherrlichende Verzückung über den Glauben, ohne den ›das Leben nicht auszuhalten sei‹! Woher weiß er das? Hat er es vielleicht ausprobiert? Mein alter Großonkel Philip sagte immer, er habe denselben Glauben wie sein Ofen: das Leben sei gleichsam die Flamme, das Knistern und Qualmen, aber ›über den Schornstein hinaus gibt es nichts‹. Und doch war er bis in sein hohes Alter ein sehr glücklicher und fröhlicher Mann. Als er auf dem Sterbebett lag und die Ärzte nicht recht herausfanden, was ihm eigentlich fehlte, witzelte er darüber und sagte, es ärgere ihn furchtbar, daß er nicht einmal erfahren könne, woran er sterbe. Und das ist keineswegs ein Beispiel, das allein dasteht. In meiner eigenen Familie und auch unter meinen Bekannten gab es viele ohne den geringsten religiösen Glauben; und trotzdem sind sie genauso stolz und gefaßt in den Tod gegangen wie manch ein Stiftspropst.

Oft habe ich darüber nachgedacht, ob die übertriebene Angst der Christen vor dem Tode, die ursprünglich sicherlich aus der Lehre vom Jüngsten Gericht entsprang, nicht auch darin ihre Ursache hat, daß das Christentum im Gegensatz zu anderen bedeutenden Religionen im Volk entstand und sich entwickelte, noch dazu in einem unterdrückten Volk. Es besteht gewiß eine Verbindung zwischen Todesfurcht und Sklavenangst. Nie werde ich den Eindruck vergessen, den einige Gipsabdrücke von Leichen aus dem ausgegrabenen Pompeji in einem deutschen Museum bei mir hervorriefen. Unter ihnen befanden sich ein Herr und ein Sklave, beide offenbar vom Aschenregen überrascht und im Laufe weniger Minuten erstickt. Doch welcher Unterschied im Gesichtsausdruck der beiden! Auf dem Antlitz des Sklaven war verwirrtes Entsetzen zu lesen; er hatte sich auf den Rücken geworfen, die Augenbrauen waren bis an den Haaransatz in die Höhe gezogen; der volle wulstige Mund stand offen. Man konnte ihn förmlich schreien hören – wie ein Schwein, das abgestochen wird. Der andere dagegen hatte seine cäsarische Würde bis in den Tod hinein bewahrt. Seine fest geschlossenen Augen, der feine zusammengepreßte Mund zeigten das Gepräge stolzer, schöner Resignation dem Unabwendbaren gegenüber.

Die wesentlichste Anklage, die gegen das Christentum mit seiner Ewigkeitshoffnung zu richten ist, liegt für mich darin, daß es dem Leben seinen tiefen Ernst und damit seine Schönheit raubt. Wenn man unser Dasein hier auf Erden nur als Generalprobe für die eigentliche Verstellung auffaßt – wo bleibt da das Festliche? Doch selbst wenn ich persönlich nicht voll und ganz davon überzeugt wäre, daß der große erhabene Lebenszweck die Zerstörung ist und daß das Kennzeichen eines geistig entwickelten Menschen gerade darin besteht, daß er sich mit dem selbstlosen Gedanken versöhnen kann und es als harmonischen Abschluß des Lebens empfindet, wenn wir so der Allnatur die Kräfte zurückgeben, die in uns wirkten, während alle christlichen Träume von Unsterblichkeit und himmlischen Wonnen nur Umformungen der plumpen Vorstellungen sind, die sich nichtzivilisierte Völker von den ewigen Jagd- und Kriegsfreuden machten – ja, was wollte ich eigentlich sagen? – Du mußt mir verzeihen, aber den Nachsatz bleibe ich Dir schuldig bis zum nächsten Mal. – Nein, nun habe ich es! Ich wollte sagen: Selbst wenn ich also im Tod nicht eine absolute Selbstaufopferung, die vollkommene Hingabe an das All und unsere unauflösbare Vereinigung mit ihm sähe, so würde ich es mir doch sehr verbeten haben, etwas darüber zu wissen, was aus mir wird, wenn ich diese Welt einst verlasse und mit ihr alles, was mir lieb war. Herrgott, darin sind wir uns wohl alle einig, daß wir uns hinsichtlich unserer irdischen Zukunft kein Vorauswissen wünschen, sondern uns im Gegenteil freuen, daß das ewige Weltall uns den Inhalt kommender Tage verborgen hat. Wenn wir im voraus mit einiger Sicherheit wüßten, was uns im Leben erwartete, wäre es sicherlich ›nicht zum Aushalten‹, wie glücklich sich unser Dasein auch gestaltete. Wieviel weniger da, wo es um das ewige Leben geht!

Ach, diese unausrottbare Theologie! Auch sie gehört mit zu dem ›von den Vätern Ererbten‹ – dieses Wort ist hier eine Losung der Kulturfeinde geworden. Ist es nicht furchtbar niederschmetternd und demütigend, ja geradezu zum Verzweifeln, daß noch heute um die einfachsten Grundfragen ein Kampf geführt und Zeit und Kraft vergeudet werden? Wie kann einer jetzt noch länger daran zweifeln, daß wir alle, Juden wie Christen, die Pflicht haben, gerade dieses ›Ererbte‹ in uns niederzuringen, wenn nicht aus einem anderen Grund, so schon deshalb, weil es nur ein Werk des Zufalls ist. Wir hätten ebensogut etwas ganz anderes, etwas völlig Entgegengesetztes ererben können. Wieviel Zeit soll noch vergehen, wieviel Leid sollen wir Menschen denn einander noch zufügen, bis es wirklich verstanden und zur Religion erhoben wird, zum einzigen erlaubten Dogma, daß wir nicht auf dem Zufälligen, dem Besonderen in uns, sondern auf dem Allgemeinmenschlichen unser eigenes Leben und das der Völker aufzubauen haben! . . .«

 

Auf der Zusammenkunft bei Max Bernhardt war Ivan beauftragt worden, sich an Oberst Bjerregrav zu wenden und zu versuchen, dessen Unwillen gegen das neue Unternehmen und gegen seinen jungen Urheber zu überwinden.

Ivan ließ es im allgemeinen nicht an Dreistigkeit fehlen, wenn es galt, etwas für Per zu tun. Schon mehrfach hatte er sich sozusagen seinem Freund zuliebe von den Leuten die Treppe hinunterwerfen lassen. Doch der ehemalige Militär flößte ihm einen besonderen Respekt ein. Von der Straße her kannte er dessen untersetzte Erscheinung mit dem stets rot angelaufenen Gesicht, und er hatte von dem aufbrausenden und rücksichtslosen Wesen des Alten gehört. Dyhring, der Neffe des Obersts, hatte lachend erzählt, dieser würde noch immer rasend, wenn er Pers Namen vernahm.

In seiner Verlegenheit vertraute Ivan sich Onkel Heinrich an, der sein Berater in allen schwierigen Fällen war und sich denn auch nach allerlei Einwänden bereit erklärte, ihn zu unterstützen.

»Ich kenne diesen Bjerregrav etwas näher. Habe ihm ab und zu kleine Gefälligkeiten erwiesen. Ich werde ihm einen Wink geben, damit er zugänglich wird. – Könnt ihr mehr verlangen?«

In dieser Prahlerei lag ein Körnchen Wahrheit. Onkel Heinrich stand mit Oberst Bjerregrav tatsächlich in einer Art Verbindung. Obgleich er es nie wahrhaben wollte und daher seine Familie stets darüber im unklaren ließ, betrieb der angeblich so wohlhabende Onkel nämlich ein bescheidenes Kommissionsgeschäft, von dem er sich zum Teil ernährte. Er war unter anderem Vertreter für eine englische Firma, die Eisen- und Stahlträger herstellte. Und in dieser Eigenschaft besuchte er regelmäßig ein paarmal im Jahr den Oberst mit seiner Preisliste.

Einige Tage nach der Unterredung mit Ivan fand er sich wieder bei seinem Kunden ein. Nachdem er eine halbe Stunde auf der Diele hatte warten müssen, wurde er endlich vorgelassen. Er traf den Oberst in fröhlichster Laune, rot und erhitzt nach dem Frühstück.

Ganz ungeniert lachte der alte Offizier über den häßlichen kleinen Juden, der in grauen Gamaschen, den Zylinder und ein Paar zusammengelegte Handschuhe in der Hand, bei ihm eintrat.

»Sieh an! Guten Tag!« sagte er und setzte sich hinter seinen Schreibtisch, ohne dem anderen einen Platz anzubieten. »Wie steht's denn so, mein lieber ehemaliger Wüstenwanderer?«

Herr Delft klemmte sein bläuliches Monokel vor das Auge und wieherte vor geheucheltem Vergnügen. Er spürte eine günstige Stimmung für die Geschäfte und war viel zu schlau, seine Chancen zu zerstören, indem er sich gekränkt zeigte.

Nach einigen Verhandlungen gelang es ihm, den Oberst zu einer Bestellung zu bewegen.

Er hatte seine Sachen schon wieder zusammengepackt, Hut und Handschuhe ergriffen und schickte sich an zu gehen, als er plötzlich seinen frisierten Schimpansenkopf auf die Seite legte und sich abermals an den alten Offizier wandte. »Darf ich Herrn Oberst ganz im Vertrauen eine Frage stellen?«

»Ja, bitte?«

»Haben Herr Oberst schon von dem großen nationalen Unternehmen gehört, das zur Zeit erwogen wird?«

»Weiß von nichts.«

»Wirklich nicht?«

»Habe genug mit meinem Kram zu tun . . . halte mich gern raus aus allem Spektakel, wissen Sie!«

Herr Delft wandte sich mit seinem gerissensten Lächeln ab. Nun, da das Geschäft gemacht war, hielt er die Gelegenheit für gekommen, dem Oberst seinen »Wüstenwanderer« heimzuzahlen. »Ach ja!« seufzte er und schüttelte seinen Lockenkopf. »Die Zeiten haben sich geändert. Jetzt sind es die Jungen, denen man überall zujubelt. Die alten erfahrenen Kräfte werden beiseite geschoben . . . einfach ignoriert. Die Jugend hat das Wort!«

»Fassen Sie sich kurz! Was wollen Sie mir sagen?« unterbrach ihn der Oberst plötzlich ungeduldig und im Kommandoton.

»Ein großes Freihafenprojekt ist vorgesehen. Es stammt von einem blutjungen Mann, fast noch einem grünen Jungen. Sidenius heißt er.«

»Ach dieser großmäulige Affe!« erwiderte der Ingenieur. »Den kenne ich zufällig. Er hat uns ja seinerzeit die Türen eingerannt mit seinem ›nationalen Werk‹. – Die Leute wissen anscheinend nicht mehr, wo sie mit ihrem Geld bleiben sollen. – Aber ich glaube nicht, daß die Phantasiegebilde eines Grünschnabels ernsthaft jemanden anlocken können.«

»Das Unternehmen ist gesichert . . . zumindest was die pekuniäre Seite angeht. Das weiß ich ganz bestimmt.«

»Was sagen Sie?«

»Aus dem Projekt wird etwas. Man wartet nur noch auf die Zustimmung der gesetzgebenden Macht. – Ja, es ist, wie Herr Oberst bemerkten: das dänische Geld hat heutzutage die reinste Tanzwut. Es hat angefangen zu tanzen und kann nun nicht wieder aufhören, solange die Musik spielt. – Und außerdem: Herr Sidenius hat ausgezeichnete Verbindungen in Börsenkreisen.«

Der Oberst war still geworden. Seine geschweiften buschigen Brauen hatte er gesenkt. Es schien, als würde die satte Röte seiner Wangen von den Augen aufgesogen, die wie die eines Stiers zu glühen anfingen. »Dann ist es also wahr, daß sich dieser junge Laban mit einer Tochter von Philip Salomon verlobt hat? Sie müssen das ja wissen, Delft! Ist nicht Herr Salomon Ihr Schwager?«

»Herr Oberst, mein Mund ist geschlossen! Für Liebesaffären habe ich keine Agentur.«

»Sie sind Diplomat, Delft! . . . Na, mir einerlei. Haben die Leute Lust, ihr Geld in die See zu rollen, meinetwegen! Es wäre schade, ihnen das Vergnügen zu nehmen. Prosit Mahlzeit*, meine Herren! In der Hjertinger Bucht ist Platz für viele Tonnen Gold!«

»Ein gottgesegnetes wahres Wort, Herr Oberst!«

»Ich halte mich, wie gesagt, raus aus dem ganzen Schwindel. Möchte nicht einmal davon hören. – Auf Wiedersehen, Herr Delft!«

»Habe die Ehre, mich zu empfehlen!« verabschiedete sich der kleine Israelit und zog sich mit seiner ehrerbietigsten Verbeugung zurück.

Der Oberst blieb sitzen, stützte die Hand unter die Wange und kaute heftig an seinem Schnurrbart. Eine förmliche Raserei packte den alten cholerischen Herrn bei solchen Nachrichten; hatte er doch selbst einmal in jugendlichem Übermut dem nationalen Schlendrian den Fehdehandschuh hingeworfen und davon geträumt, Führer und Erneuerer auf seinem Gebiet zu werden! Und nun gehörte er zu den erbittertsten Gegnern der neuen Zeit. Wie die meisten Altliberalen betrachtete er die jungen siegreichen Männer des Fortschritts mit einem neidischen Haß, der Per gegenüber fast den Charakter einer Manie angenommen hatte. Der Gedanke, daß diesem Bauernlümmel, der ihn in seiner eigenen Wohnung zu verhöhnen gewagt hatte, all das gelingen könnte, was er selbst nicht erreicht hatte, lastete auf ihm wie ein Alptraum.

Noch knüpfte sich jedoch von früheren Zeiten her eine Vorstellung von Vorurteilslosigkeit und Selbständigkeit an seinen Namen. Das war auch der Grund, weswegen Philip Salomon und Max Bernhardt sofort an ihn gedacht hatten, als es galt, einen angesehenen Sachverständigen zu finden, der in der Öffentlichkeit für Pers Ideen einzutreten bereit wäre. Man wußte zudem, daß der Oberst ein eitler und nebenbei sehr geldgieriger Mann war.

Schon am nächsten Tag wiederholte Herr Delft seinen Besuch. Bjerregrav hatte nämlich Aufschlüsse über die Gewichtsverhältnisse gewisser Stahlschienen gewünscht, und um einen Vorwand zu einem neuerlichen Besuch zu haben, hatte Herr Delft so getan, als trüge er die entsprechenden Tabellen zufällig nicht bei sich.

Wie erwartet, brachte der Oberst wiederum die Rede auf Pers Pläne und suchte zu erfahren, welche Börsenleute und Geldinstitute dahinterstünden. Im ersten Augenblick stellte sich Herr Delft völlig verständnislos. Dann schüttelte er lächelnd den Kopf.

»Ach, auf dieses Sideniussche Amphibium spielen Herr Oberst an. Ich habe zu der ganzen Geschichte kein Vertrauen. Es ist eine Totgeburt.«

»Wieso denn das! . . . Sie selbst haben doch gestern erzählt, das Unternehmen sei gesichert. Sie wüßten es ganz bestimmt, haben Sie erklärt!«

»Ich bitte Herrn Oberst, sich zu erinnern, daß ich sagte, ›in pekuniärer Hinsicht‹ gesichert. Ausdrücklich fügte ich hinzu, daß die erforderliche Billigung des Plans durch den Staat noch ausstehe. Und die wird man nie erlangen.«

»Und wieso nicht? Wenn das Geld beschafft werden kann, was sollte den Staat da veranlassen, sich dem Unternehmen zu widersetzen?«

Herr Delft zog die Schultern hoch und wand sich wie in schrecklicher Verlegenheit. »Herr Oberst werden mich hoffentlich verstehen, auch ohne Worte.«

»Was denn, Sie sind ein ganz verteufelter Geheimniskrämer. Was meinen Sie damit?«

Herr Delft schwieg und drehte noch immer den Kopf geniert von einer Seite nach der anderen. In diesem Augenblick sah er wirklich aus wie ein abgerichteter Affe.

»Aber so sprechen Sie doch, Menschenskind!« schrie Bjerregrav.

»Nun, ich meine, Herr Oberst . . . die Regierung traut sich nicht . . . daran liegt es.«

»Traut sich nicht? Und weswegen nicht? Ich kapiere kein Wort davon!«

»Ich möchte Herrn Oberst nicht länger aufhalten. Ich habe die Ehre, mich zu empfehlen.«

»Blödsinn! Jetzt sollen Sie reden, frisch von der Leber weg, Delft! Was könnte nach Ihrer Ansicht den Staat abhalten, seine Zustimmung zu erteilen, wenn das Geld beschafft werden kann – und wenn der Plan ansonsten Hand und Fuß hat?«

»Gerade die Tatsache, daß der Plan Hand und Fuß hat.«

»Pr . . .rrrrr! Jetzt verliere ich den Verstand! Was soll das wieder heißen?«

»Also, um ganz offen zu sprechen: Herr Oberst, glauben Sie wirklich, unser Nachbar im Süden würde es ruhig mit ansehen, daß man Hamburg eine so gefährliche Konkurrenz schafft? – Ich jedenfalls glaube es nicht . . . Nie im Leben!«

Der Oberst warf sich in seinen Stuhl zurück und stemmte die Fäuste in die Seiten. Sein dunkelrotes Gesicht lief bläulich an. »Habe mein Lebtag noch nicht solchen Blödsinn gehört! Wie kommen Sie bloß auf diesen verrückten Gedanken, Mann? Denken Sie, die Deutschen erklären uns deswegen den Krieg – oder wie?«

»Mein Gott – Krieg! Das wäre wohl nicht mal nötig. Nur so eine bescheidene, ein bißchen bestimmt formulierte Note von Berlin nach Kopenhagen . . . Sie werden mir zugestehen, Herr Oberst, so etwas hat früher in ähnlichen Situationen stets völlig ausgereicht.«

Der Oberst schlug wortlos die Augen nieder.

Herr Delft zuckte die Achsel. »Das ist nun mal das Schicksal kleiner Nationen! Sie müssen sich beugen . . . Und obendrein noch zu dem Unrecht schweigen. Das ist traurig, sehr traurig, aber der Lauf der Welt. Die Kleinen müssen sich den Großen fügen . . . müssen sich fügen und vorsichtig sein . . . äußerst vorsichtig«, wiederholte Herr Delft mehrmals, als er sah, wie seine Worte auf den alten Vaterlandsverteidiger wirkten, der an seinem Leib noch die Kugelspuren der Deutschen trug.

Der Oberst war noch immer stumm, und Herr Delft nutzte den Augenblick, um seinen Besuch zu beenden.

Es war auch die höchste Zeit. Kaum war er nämlich zur Tür hinaus, als der Oberst wie ein von einer Bremse gestochener Stier vom Stuhl aufsprang. Und wie stets, wenn sonst niemand da war, an dem er seine Gefühle auslassen konnte, rannte er aus seinem Büro ins Wohnzimmer, um seinem Ärger vor seiner Frau Luft zu verschaffen. Diesmal mußte er sie sogar aus der Küche hereinrufen. Und ohne auf ihre weinerlichen Einwände zu achten, daß ihre Suppe gleich überkoche, wütete er eine halbe Stunde lang gegen den Geist der Feigheit und Erbärmlichkeit, von dem das dänische Volk seit dem Krieg beherrscht werde.

An diesem Tag aß Onkel Heinrich wie so oft bei seinem Schwager zu Mittag. Als man sich vom Tisch erhob, nahm er Ivan beiseite und sagte mit der mürrischen Verlegenheit, die ihm eigen war, wenn er sich ausnahmsweise einmal uneigennützig bemüht hatte: »Jetzt kannst du den Oberst aufsuchen, mein Junge! Nun ist er präpariert.«

Um jedoch kein Mißtrauen zu erregen, ließ Ivan einige Tage verstreichen, ehe er ans Werk ging. Er schrieb Bjerregrav einen Brief, in dem er um die Ehre bat, mit ihm sprechen zu dürfen, und in kurzen Zügen den Anlaß darstellte.

Es lag etwas in dem Ton des Briefes, das den Oberst sofort entwaffnete. Ivan besaß in hohem Grad die jüdische Fähigkeit, sich bei den Leuten einzuschmeicheln, indem er ihre Eitelkeit streichelte. – Und der Oberst war für Schmeicheleien sehr empfänglich. Außerdem lag in dem Namen Salomon ein Goldklang, der in den Ohren des geldgierigen Mannes verführerisch tönte.

Aber vor allem war es seiner Natur zuwider, tatenlos zuschauen zu müssen, wie andere handelten. Trotz seiner siebzig Jahre hatte er noch zuviel Unrast im Blut, um sich bereits gutwillig zur Ruhe zu setzen. Ein zuverlässiger Bundesgenosse war er daher für die hemmenden Kräfte im Lande niemals gewesen. Trotz aller Gnadenbeweise von oben war der alte Geist des Aufruhrs nie ganz in ihm erloschen. Hinter der Erbitterung gegen das Neue und hinter dem Neid und dem vorgeblichen Ärger regte sich geheime Sympathie. So wie er stets der unruhige Brausekopf mit der offenen Sprache geblieben war, hatten auch alle jungen, kräftigen und kühnen Lebensäußerungen immer noch starken Einfluß auf ihn. Selbst in seinen Gefühlen für Per lag in Wahrheit eine gute Portion Verliebtheit.

Als ihn Ivan ein paar Tage später aufsuchte, empfing er ihn dennoch ziemlich ungnädig. Erst als Ivan rundheraus erklärte, die Angelegenheit stehe und falle mit seiner Beteiligung, ergab er sich.

Allerdings stellte er verschiedene Bedingungen, unter anderem, daß Per sofort zurückgerufen werde, weil an seinem Entwurf noch mancherlei zu ändern sei, ehe er als Grundlage für die Detailpläne verwendet werden könne.

Außerdem verlangte er, um überhaupt eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen ihm und Per zu ermöglichen, dieser solle ihn persönlich auffordern, die Sache in die Hand zu nehmen. Überhaupt müßten die einleitenden Schritte zu einer Verständigung von Per ausgehen.

Ivan bat den Oberst eindringlich, von diesen Forderungen abzusehen.

Allein in diesem Punkt war Bjerregrav unnachgiebig. Er hatte die Worte nicht vergessen, mit denen sich Per an jenem Tag von ihm verabschiedet hatte: »Das nächste Mal, Herr Oberst, werden Sie es sein, der mich aufsucht!« – Diese übermütige Voraussage sollte denn doch nicht allzu buchstäblich in Erfüllung gehen!

Ivan versuchte noch ein paarmal, ihn zu überreden. Aber der Oberst, der während der ganzen Zusammenkunft sichtlich nervös gewesen war, unterbrach ihn schließlich in aufbrausendem Zorn und schrie: »Darüber wird hier nicht mehr diskutiert. Überhaupt betrachte ich die Angelegenheit zwischen uns jetzt als genügend durchgesprochen.«

Da stand Ivan auf und verließ ihn ganz bedrückt.


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