Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

In der Nacht zwischen dem neunten und zehnten Januar war große Not in der kleinen schlesischen Stadt Hirschberg in der Nähe von Breslau, wo sich Jakobe die letzten Monate aufgehalten hatte, um in Einsamkeit und Stille ihre Niederkunft zu erwarten. Frühmorgens war an die Freundin in Breslau telegrafiert worden, an den einzigen Menschen, dem sie ihr Geheimnis anvertraut hatte. Im Laufe des Tages wurde auch ein Arzt telegrafisch herbeigerufen, und Jakobe hatte vierundzwanzig so entsetzliche Stunden durchlebt, daß sie, die doch mit dem Leiden vertraut war, hinterher gar nicht mehr daran denken konnte. Das Kind kam lebend zur Welt, starb aber unmittelbar nach der Geburt. Jakobe hatte es nicht einmal sehen dürfen, weil man es hatte verstümmeln müssen, um das Leben der Mutter zu retten.

Vier Wochen lag sie zu Bett. Schon wurde es fast Frühling da unten, als sie so viele Kräfte gesammelt hatte, daß sie gut eingepackt im Gärtchen ihrer Wirtin sitzen und nach der Schneekoppe und den anderen weißbedeckten Bergen hinüberblicken konnte, die sich über der frühlingsgrünen Landschaft erhoben. Doch all die Schönheit, die sie umgab, erfreute sie nicht. Sie war so verzweifelt über den Verlust ihres Kindes, sie kam sich so leer, unnütz und überflüssig in der Welt vor und dabei so hilflos und schwach, daß sie beständig weinen mußte. In den letzten Monaten vor der Geburt des Kindes hatte sie in Gedanken so innig und vertraut mit ihm gelebt, hatte es körperlich wie die bessere Hälfte ihres Ichs empfunden, daß ihr jetzt war, als sei fast nichts von ihr übriggeblieben. Daß ihr zugleich eine große Last genommen worden war, daran dachte sie nicht. Die Schande, die Demütigung, der Kummer der Eltern, das Mitleid der Hausfreunde – alles, was sie früher gequält und bedrückt hatte, war nach und nach ganz bedeutungslos für sie geworden im Vergleich zu der Freude, die sie erwartete, und zu den Hoffnungen, die sie an das Kind knüpfte, durch das sie selbst neues Leben empfangen sollte.

Von daheim, wo man sie weiterhin in Breslau glaubte, schrieben Vater und Mutter regelmäßig an sie über alles, was im Familien- und Freundeskreis vorging. So erfuhr sie, daß sich Eybert mit einem neunzehnjährigen Mädchen verheiratet hatte, daß ihr Schwager Dyhring Reichstagsabgeordneter geworden und daß Nanny auf einem Hofball gewesen war, wo man sie einem der Prinzen vorgestellt hatte. Aber all das ließ sie völlig gleichgültig. Sie saß hier in ihrem Gärtchen, hatte ein Kissen unter dem Kopf und einen Schemel unter den Füßen und schaute lange den Kindern nach, die draußen auf dem Bürgersteig vorbeigingen.

Es waren meist arme Kinder, die sie sah – blasse, unterernährte Gestalten, von denen es in Fabrikstädten wimmelt, sogar in solchen kleinen dorfähnlichen Städten, wo im Frühjahr Gras zwischen den Pflastersteinen wächst. Zweimal am Tag wanderten sie da vorbei auf dem Weg nach und von der Volksschule, die in der Nähe lag. Jakobe fiel besonders ein Bürschlein von sieben, acht Jahren auf, mit ungesunder, bläulicher Gesichtsfarbe und großen Schorfwunden unter der Nase und auf den Backen. Stets ging er ein Stück hinter den anderen, hatte seine Schiefertafel unter den Arm geklemmt und schleppte sich auf seinen Holzpantinen vorbei wie ein Greis. Als Jakobe so weit zu Kräften gekommen war, daß sie den Garten verlassen konnte, hielt sie ihn eines Tages an und stellte ihm ein paar freundliche Fragen. Der Junge starrte sie verständnislos und scheu an mit einem Paar großen, blauen, freudlosen Augen. Dann setzte er ohne Antwort seinen müden Gang fort. Als er ein Stück entfernt war, drehte er sich ängstlich um, und als er bemerkte, daß sie stehengeblieben war, um ihm nachzublicken, zog er seinen Kopf ein, als wolle er sich gegen eine Gefahr schützen. »Armer Kleiner«, dachte sie laut und ging weiter – etwas an diesem vernachlässigten Jungen und seiner frühen Menschenfurcht ließ ihr Mutterherz schlagen.

Einige Zeit danach folgte sie ihm, um zu sehen, wo er wohnte. Und da sah sie ihn in einer der langgestreckten niedrigen Arbeiterkasernen verschwinden, wo auf jedes dritte Fenster eine Haustür kam. Durch Herumfragen in der Nachbarschaft konnte sie erfahren, wer seine Eltern waren und unter welchen Bedingungen die Familie lebte. Es war die übliche Fabrikarbeitertragödie. Mann und Frau arbeiteten an den Maschinen und überließen die Kinder der Obhut des Himmels. Zu Hause hungerten sie, in der Schule bekamen sie Prügel, auf der Straße wachte das Auge der Polizei über sie. Und unter solchen Verhältnissen verhärteten sie sich, stumpften ab und wurden zu Verbrechern oder Taugenichtsen.

Jakobe hatte noch nie zuvor die Armut so deutlich gesehen; auf sie machten diese Zustände einen starken Eindruck. Sie verschaffte sich Kenntnis über den Tagesverdienst in den Fabriken, über die Arbeitszeit, über die Wohnungseinrichtungen, über die hygienischen Verhältnisse in den Fabrikräumen, über Altersunterstützungen und so weiter. Und aus allem, was sie erfuhr, wuchs ihre Empörung.

Auf die Dauer beruhigte sie sich nicht bei einer passiven Teilnahme für die Unterdrückten. Wie jeder starke Eindruck Tatendrang in ihr wachrief, brachte auch dieses neue Gefühl sie zum Handeln. Mit Hilfe ihrer Wirtin, einer ordentlichen Unteroffizierswitwe, errichtete sie ohne langes Besinnen eine Art Essenausgabe draußen im Garten, wo die verhungerten Kinder auf ihrem Schulweg umsonst eine warme Mahlzeit und Getränke bekommen konnten. All ihre Zärtlichkeit und Opferbereitschaft, die sie für ihr Kind aufgespart hatte, kam nun diesen Heimatlosen zugute, wurde über ein halbes Hundert schorfiger Kinderköpfe gebreitet und wuchs noch dadurch. Zuerst hielten sich die Kinder ängstlich zurück, und ihr Hilfswerk rief das Gespött der ganzen Stadt hervor. Doch der Duft der Suppe, der durch den Gartenzaun drang, und der Anblick des allzeit gedeckten Tisches überwanden nach und nach die Scheu der Kinder. Sogar der kleine blasse blauäugige Junge mit den Schorfwunden saß eines schönen Tages da und stopfte sich voll.

Und dieser Versuch führte Jakobe weiter. Als ihre Körperkräfte allmählich zurückkehrten, übte das Leben mit seiner Geschäftigkeit wieder seinen alten Zauber auf sie aus und erfüllte ihr Herz ganz. Darüber schrieb sie an ihre Freundin in Breslau:

»Hast Du jemals richtig darüber nachgedacht, welch ein verzweifeltes Los unsere Zeit – unsere große, schöne, tatenreiche Zeit! – den Kindern in armseligen Verhältnissen bereit hat und wie unbarmherzig wenig von Staats wegen bisher getan wurde, um ihnen ein menschliches oder wenigstens natürliches Leben zu ermöglichen? Aus einem leeren, öden Verschlag, den sie ihr Zuhause nennen, werden die armen Dinger, die selten Vater und Mutter sehen, in eine Schule getrieben, die für die meisten nichts weiter als eine öffentliche Strafanstalt ist. Der Staat, zu dem sie vertrauensvoll und zuversichtlich aufblicken sollen als zu ihrem verläßlichen Versorger und Beschützer, tritt ihnen überall entgegen in seiner abstoßendsten Gestalt: als unerträglicher Schulmeister, als brutale Polizei, als zudringlicher Armenvorsteher, als Pfarrer, der ihnen mit Tod, Gericht und Hölle droht. Wie soll unter diesen Umständen bei ihnen eine Staatsgesinnung entstehen, aus der sich einst – im Laufe der Zeit – ein wirkliches, bürgerliches Bruderschaftsgefühl entwickeln kann? An eine Festigung des aufgelösten Familienlebens zu denken ist wohl zwecklos. Das Elternhaus, das früher die Grundlage der Gesellschaft war, ist wohl als Institution von der Entwicklung zum Tode verurteilt. Was aber soll man an seine Stelle setzen? – Diese Frage beschäftigt mich zur Zeit so sehr, daß ich noch nachts davon träume. Für die Erwachsenen hat die Öffentlichkeit gesorgt: Sie haben Kirchen, Varietés, Vortragssäle, Bierkneipen, Theater und Bibelstunden. Aber die Kinder? Sage mir doch, wohin sich diese armen Kleinen in ihrer Hilflosigkeit wenden sollen. Ich sehe keine andere Lösung, als daß die Schule nach und nach an die Stelle des Elternhauses treten muß. Aber – natürlich! – die Schule muß dann langsam verändert, muß allmählich auf ihren Ursprung zurückgeführt werden und etwas von dem werden, was in alten Zeiten das Kloster war: ein Asyl, ein Freiplatz, ein stets offener Zufluchtsort. Aber sie muß zugleich etwas ganz anderes werden. Durch ihre bloße äußere Gestaltung, durch Ausschmückung der Schulräume, durch die Form des Unterrichts muß sie zugleich anheimelnd und festlich auf die Kinder wirken. Denn hier sollen den Kindern ja die Grundbegriffe für ein helles, fruchtbares Leben gegeben werden, von denen sie später zehren können und die sie widerstandsfähiger machen im Kampf ums Dasein als die klösterlich erzogene Jugend vergangener Zeiten oder auch teilweise unserer Zeit. Diese heutige Jugend verliert ja bei jeder Enttäuschung sogleich den Glauben an das Leben, das Vertrauen auf das Glück, und wie ein Kind, das sich gestoßen hat, sucht sie wieder Trost im Schoß ihrer alten unfruchtbaren Amme: der Kirche.

Aber ich sehe ein großes Fragezeichen in Deinem Gesicht. Warum erzählst Du mir das alles? fragst Du. Und Du hast Grund, Dich zu wundern. Aber ich muß es Dir so sagen, wie es ist: Hier in meiner Einsamkeit hat sich mir gleichsam eine neue Welt aufgetan, und ich bin wohl noch ein wenig verwirrt davon. Weißt Du, ich denke ernsthaft daran, einen Versuch zu machen und die Gedanken, die ich oben erwähnt habe, zu verwirklichen. Ich habe allerlei kühne Pläne: Ich möchte in Kopenhagen eine Armenschule nach dem hier skizzierten Muster errichten. Das wird mich mein Vermögen kosten. Aber jetzt, da ich keinen habe, dem ich es hinterlassen könnte – wie könnte ich es besser verwenden? Natürlich, das Ganze ist ja nicht heute und nicht morgen zu machen. Erst will ich mich gründlich mit allem beschäftigen, was man in dieser Richtung schon versucht hat. Ich möchte überhaupt die ganze Schulfrage von Grund auf studieren. Ich erinnere mich, gehört oder gelesen zu haben, daß sich irgendwo in Amerika eine ähnliche Bewegung gebildet hat. Deswegen erschrick nur nicht allzusehr, wenn Du eines schönen Tages die Nachricht bekommst, daß ich über den Atlantik will. Fürs erste bleibe ich jedoch hier bei meinen Pflegekindern. Auch von dem kleinen Grab auf dem Friedhof kann ich mich noch nicht trennen. Du siehst mich daher noch nicht so bald . . .«

 

Im Frühling bestand Per sein Examen mit Erfolg, aber seine Freude verringerte sich, weil er fast direkt vom Prüfungstisch in die Kaserne wandern und den Soldatenrock anziehen mußte. Es war dies wieder eine seiner Unterlassungssünden, für die er büßen mußte: Jahr um Jahr hatte er Aufschub für seine Dienstpflicht beantragt, in der vermessenen Hoffnung, er könne sich ihr durch Philip Salomons Einfluß ganz entziehen. Nun war er als Ingenieurrekrut eingezogen und mußte den ganzen Sommer über auf Kopenhagener Exerzierplätzen marschieren, Laufgräben ausheben und Schanzkörbe flechten, zusammen mit einigen hundert jungen Burschen, die in seinen Augen erst halberwachsen waren. Am unangenehmsten bei der Sache waren für ihn nicht die körperlichen Anstrengungen, sowenig er auch an sie gewöhnt war, sondern der Stumpfsinn, der das ganze Kasernenleben beherrschte. Er hatte ein paar Bücher mitgenommen, in der Hoffnung, er werde in seiner Freizeit eine ganze Menge studieren können. Außer dem Kasernendienst hatte er aber genug zu tun, um seinen Körper zu schützen. Hunger und Müdigkeit wurden seine Herren, und außerdem gewöhnte er sich derart daran, alles auf Befehl zu tun, daß es ihm ganz absurd vorkam, plötzlich etwas freiwillig zu unternehmen.

Schon im Herbst wurde er aus diesem geistigen Tod befreit. Noch einmal vom Glück begünstigt, bekam er bei der Ziehung nach dem Ende der Rekrutenzeit eine der wenigen Nummern, die ihn vom Winterdienst, ja sogar von jeder weiteren Einberufung befreiten. In den letzten Septembertagen reiste er, erfrischt an Leib und Seele, nach Jütland, wo seine Verlobung mit Inger feierlich bekanntgegeben wurde. Der Hofjägermeister war unterdessen gestorben. Aber dies hatte die Verhandlungen über die Flußregulierungsarbeiten eher gefördert als gehemmt, und die Vorbereitungen waren denn auch so weit gediehen, daß Per zu seiner großen Freude gleich mit seiner Arbeit anfangen konnte.

Zuerst richtete er sich jedoch eine Wohnung in dem Landhäuschen am Rande des Eisenbahnstädtchens ein, das die Hofjägermeisterin schon zu Weihnachten für ihn ausgesucht hatte. Es waren fünf kleine Zimmer außer den Küchenräumen und ein paar Bodenkammern. Vorläufig beschaffte er sich nur Möbel für zwei Zimmer und richtete sich ganz einfach ein. Ihm fehlte das Talent, Behaglichkeit um sich her zu verbreiten, und dieser Mangel, der alle seine Wohnungen in der Heimat wie im Ausland geprägt hatte, machte sich auch hier bemerkbar.

Auf einer Auktion erstand er aus dem Nachlaß eines Krämers ein paar gemalte Tische, ein Wachstuchsofa, ein paar Holzstühle und anderes. Und wenn er sich mit solchem zusammengewürfelten Hausrat begnügte, so geschah dies nicht – wie er selbst meinte – ausschließlich aus ökonomischen Gründen, um so schnell wie möglich zurückzahlen zu können, was er seinen Geschwistern und Philip Salomon schuldete, sondern weil er als echter Sidenius tief in seinem Innern einen mittelalterlichen Klosterbruder beherbergte, für den asketische Lebensweise und harte Gewohnheiten geheime Anziehungskraft hatten. Als Haushälterin hatte ihm die Schwiegermutter eine ältliche Kochfrau verschafft, die früher im Pfarrhaus gedient hatte. Und eines Tages im Oktober, als der Wind die letzten Überreste des Sommers vor sich her trieb, setzte er zum ersten Mal seine Füße unter den eigenen Tisch.

Die Stadt selbst – sie hieß Rimalt – war eine der üblichen Siedlungen, wie sie sich schnell und deswegen von Zufällen abhängig um eine Bahnstation in einer dichtbesiedelten Gegend bilden. Es gab ein Gasthaus, eine Apotheke, eine Realschule, ein paar Kaufleute und Handwerker, aber weder Kirche noch Pfarrhaus. Ein gutes Stück hinter der Station führte die Bahn über den Fluß, auf einer recht beachtlichen Brücke. Und das hohle Donnern des Zuges hatte Per damals draußen vor Kærsholm über alle Niederungen hinweg hören können. Im Umkreis von zwei Meilen stellten die Leute ihre Uhren danach.

Zu beiden Seiten dieser Brücke lag Pers Arbeitsfeld. Es erstreckte sich am Fluß entlang, eine Meile nach der einen, eine halbe Meile nach der anderen Richtung, und umschloß die Wiesen von Rimalt, Bøstrup und Borup. Jeden Morgen fuhr er in seinem eigenen kleinen Gig hinaus, um Kartenskizzen aufzunehmen, Abflußlinien abzustecken, Grenzmarken richtigzustellen und anderes. Und allmählich kam er mit den meisten Bauern der Gegend in persönlichen Kontakt. Sie gewannen sein Herz nicht bei diesen Unterhandlungen. Einzeln machten sie einen ganz anderen und weit weniger imponierenden Eindruck auf ihn als damals, als er sie an dem bewußten Sonntag in geschlossenen Reihen bei der großen Versammlung im Wald gesehen hatte. Da ihm überdies die Voraussetzungen fehlten, um sie als Individuen beurteilen zu können, kamen sie ihm fast alle gleich vor. Überall sah er nur ihre Standeseigenheiten: Geldgier, kleinliche Rechthaberei, schamloses Auf-die-Finger-Sehen, alles widerliche Eigenschaften, die in engen und abgelegenen Gemeinden unter ärmlichen Verhältnissen wucherten. Er wurde hier in einer Erfahrung bestärkt, die er schon als Soldat gemacht hatte. In seiner Kompanie hatte es kleinstädtische Handwerker und Bauern vor allem aus Westjütland gegeben. Und es war ihm aufgefallen, wie frisch, tatkräftig und mitfühlend die ersteren reagiert hatten, obwohl die meisten von ihnen aus den untersten Schichten Kopenhagens stammten, während die Bauern überhaupt keine Kameradschaft kannten, ja nicht einmal ihr Wesen richtig verstanden. Sie lebten mit niemand in Unfrieden, hielten untereinander sogar zusammen; aber niemals fiel ihnen ein, jemandem einen Dienst zu leisten, ohne eines Gegendienstes sicher zu sein. Niemals wagten sie um Hilfe zu bitten, ohne zugleich ein Entgelt anzubieten.

Oft kam Per abends ganz niedergeschlagen nach Hause, wenn er – wie es häufig geschah – fast einen ganzen Arbeitstag vergeudet hatte, weil ein paar Nachbarn, die noch dazu gute Freunde, ja Glaubensbrüder und politische Gesinnungsgenossen waren, sich nicht über das Eigentumsrecht eines strohhalmbreiten Grabenstücks einigen konnten, das man auf wenigen Schubkarren hätte wegfahren können. Trotz der großen Missionsarbeit, die hier im letzten Menschenalter geleistet worden war, haftete die christliche Nächstenliebe nur äußerlich den Kleidern an, wie eine feierliche Stimmung, die bei Erbauungsabenden und in der Kirche die Leute umhüllte, in der Tretmühle des Alltags hingegen verschwand und namentlich den Geldbeutel gar nicht beeinflußte.

Besondere Anregung im Umgang mit seinen Standesgenossen in Rimalt fand Per nicht. Allabendlich nach dem Posteingang versammelten sich der Realschuldirektor, der Apotheker, der Stationsvorsteher und ein paar Kaufleute im Honoratiorenzimmer des Gasthofs zu einer Art Klub, zu dem auch er eingeladen war. Hier saß man unter einer blakenden Hängelampe um den Tisch und las Zeitungen, rauchte und trank Grog. Ab und zu gab es eine kleine Unterhaltung. Man besprach den Inhalt der Zeitungen; und wohl nirgends auf der ganzen Welt behandelte man die Tagesereignisse mit größerer Überlegenheit als bei diesen abendlichen Sitzungen in dem jütischen Dorfkrug. Der Realschuldirektor prägte das Wesen des Klubs. Er war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, ein pfiffiger Bursche mit einer Menge halb verdauter Kenntnisse, die er in den Diskussionen mit großer Schlagfertigkeit zu nutzen wußte. Er war ein alter Student, hatte auch einmal den mißglückten Versuch unternommen, als Politiker eine Rolle zu spielen. Nun war er in diesem entlegenen Winkel des Landes als Direktor einer Knabenschule mit vierzig Schülern gelandet. Diesem Herrn bereitete es eine persönliche Genugtuung, die Bedeutung all dessen zu verringern, was das Glück hatte, ringsum in der Welt Aufsehen zu erregen. Kriegerische Verwicklungen, Nordpolexpeditionen, bedeutungsvolle Ereignisse in Wissenschaft und Kunst, die Gewerkschaftsbewegung und der gewaltige Vormarsch der Arbeiterklasse – all das weckte bei ihm nur nachsichtiges Mitleid. Sogar die großen technischen Fortschritte der Zeit, die selbst die Bauern mit kindlichem Staunen verfolgten, imponierten ihm gar nicht.

»Na ja«, sagte er eines Abends, als die Zeitungen eine Nachricht über das soeben erfundene Telefon brachten, dessen Einrichtung und Arbeitsweise Per ausführlich hatte beschreiben müssen, »eigentlich ist es unfaßbar, daß eine solche Erfindung nicht längst gemacht worden ist. Im Grunde ist es lächerlich, daß ich nicht ganz ruhig hier sitzen und mich mit einem Mann in China unterhalten kann! Ja, ich müßte nicht bloß sprechen können, sondern ihn auch sehen, fühlen und riechen! Und so ist das ja auf allen Gebieten. Wir brauchen sieben Tage, um von Europa nach Amerika zu kommen. Das ist ja geradezu beschämend! Höchstens sieben Stunden sollten wir für die kleine Strecke aufwenden! Mit anderen Worten, wir müßten zwischen Frühstück und Mittag von Kopenhagen nach New York kommen können. – Erst wenn wir so weit gelangt sind, nehme ich meinen Hut ab vor der Naturwissenschaft.«

Auch der Apotheker liebte es, sich selbst reden zu hören, obwohl er gern mitten im Satz abbrach, weil er nicht wußte, was er sagen sollte. Der Bahnhofsvorsteher, ein ausgedienter Offizier, unterhielt sich dagegen meist mit seinem Glas, während die beiden Kaufleute andächtige Zuhörer für die Ausführungen der gelehrten Herren waren.

Per fand an diesen Zusammenkünften wenig Gefallen, und er kam nur selten. Aber auch zum Bøstruper Pfarrhaus konnte er nicht jeden Abend kommen. Dazu war die Entfernung zu groß. Sein Pferd mußte ausruhen, und es war nicht immer einfach, nach einem anstrengenden Tag die dreiviertel Meilen bei jedem Wetter und schlechter Straße hin- und zurückzugehen. Aber bei sich zu Hause war es einsam und trübselig. Zwar hatte er seine Bücher, die ihm Gesellschaft leisten konnten, und zu ihnen nahm er denn auch seine Zuflucht an den langen Abenden, die jetzt den Tag schon an Länge übertrafen. Doch die richtige Ruhe, um seine Erfindung ernsthaft weiterzuführen, fand er vorläufig noch nicht. Dazu irrten seine Gedanken zu rastlos zwischen dem Pfarrhaus und seiner Wohnung hin und her. Erst wenn er wirklich eine Familie hatte und hören konnte, wie Inger herumging und eine Melodie vor sich hin summte, würde er Muße finden zu regelmäßiger, geordneter Hausarbeit.

Schon um Weihnachten begann er daher von der Hochzeit zu sprechen. Die Schwiegereltern wollten zuerst nichts davon hören, weil Inger noch so jung sei. Auch schien ihnen seine Zukunft noch nicht gesichert genug. Inger selbst ging auch nur widerstrebend auf den Gedanken ein, aber nach vielen langwierigen und für Per mitunter ziemlich erniedrigenden Verhandlungen setzte er diesmal seinen Willen durch, und es wurde festgelegt, daß die Hochzeit im Mai stattfinden sollte.

Neben der drückenden Einsamkeit und der Sehnsucht nach einem wirklichen Zuhause hatte er nun auch einen dritten – wenn auch geheimen – Grund gehabt, die Heirat zu beschleunigen. Er kam nicht sonderlich mit seinem Schwiegervater aus. Er hatte sich in seiner Entwicklung nach und nach so weit von der Blombergschen Lebensauffassung entfernt, daß sie ihm jetzt beinahe zuwider war. Die Vorstellung von dem gutbürgerlichen lieben Gott, der unter allgemeiner Zustimmung die Welt nach höchlichst anerkannten, humanen Regeln regierte, wirkte jetzt fast komisch auf ihn. In seinen gewitterähnlichen Stimmungen, die ihn im letzten halben Jahr überfallen hatten, ahnte er einen Weltwillen höherer Art mit einem gewaltigeren Ziel. Auch seine täglichen Streifzüge durch die Gegend und die erhöhte Lebensklugheit, die er dadurch gewann, hatten ihn von Pastor Blombergs Gott-Vater-Glauben entfernt. Die Armut in den Tagelöhnerkaten, die Verheerungen durch Krankheiten und Unwissenheit, die ganze – menschlich gesehen – verzweifelte Ungerechtigkeit der Verteilung der Lebensgüter förderte das Bedürfnis nach erneuten religiösen Erkenntnissen, nach tieferem Eindringen in die geheimnisvolle Logik des Daseins. Und weil dies dem Schwiegervater nicht lange verborgen blieb, gab es Anlaß zu vielerlei Mißhelligkeiten. Pastor Blomberg, der den Leuten so großzügig gestattete, über den lieben Gott und die Weltordnung ungefähr das zu denken, was sie für richtig hielten, war doch sehr genau in bezug auf die Gedanken, die man sich über ihn selbst machte. Daran gewöhnt, von seinen Pfarrkindern stets das Echo seiner Stimme zu hören, faßte er jeden Widerspruch als Zeichen bösen Willens und Widerstands auf. Obwohl er selten Respekt für die Ansichten anderer aufbrachte, ja, mitunter gar nicht bange war, ziemlich kindisch religiöse Überzeugungen anderer zu verspotten, trat er doch, sobald er selbst angegriffen wurde, mit einer kirchenväterlichen Würde auf, die der eines geborenen Sidenius nicht im mindesten nachstand. Per hatte in dieser Hinsicht oft an die Zeilen denken müssen, die ihm Jakobe einst über den selbstbetrügerischen Eifer geschrieben hatte, mit dem die Kirche seit je unter der Fahne der Frömmigkeit ihre egoistische Machtgier befriedigt hatte.

So suchte er denn in der Einsamkeit dieses langen Winters bei ganz anderen Persönlichkeiten und in ganz anderen Quellen Nahrung für seinen Geist und vertiefte sein Verständnis für die rätselvollen Seiten des Lebens.

Mit den Jahren war er ein großer Bücherfreund geworden. Jeder gedruckte Band, der in seinen Gesichtskreis kam, zog ihn unwillkürlich an. Fast das erste, wonach er sich umsah, wenn er in die Stuben der Bauern kam, waren die kleinen Bücherregale, die sich dort in der Regel befanden. Und selten verließ er den Raum, ohne ihren Inhalt untersucht zu haben, der fast überall derselbe war: die Bibel, einige historische Romane von Ingemann, Holbergs Komödien, ein Band populärer Naturwissenschaft, ein paar landwirtschaftliche Schriften, etwas aus der sogenannten Schullehrerliteratur oder deren Fortsetzung, der Kaplan- und Volkshochschulpoesie, außerdem eine Reihe eigentlicher Erbauungsschriften, vor allem natürlich die Blombergschen. Mitunter fand Per auch ein zufällig aufbewahrtes Exemplar aus der älteren religiösen Literatur: kleine, dicke Bücher mit sonderbarsten Titeln. Eines hieß »Der Erlösung Öl«, ein anderes »Goldenes Schatzkästlein«, ein drittes »Vier Bücher über die Nachfolge Christi«, ein viertes »Jesu blutige Wunden und Male als sicherste Zufluchtsstätte für alle in Not befindliche Sünder«. Die Leute wurden beinahe verlegen, wenn man sie im Besitz solcher Schriften aus einem unaufgeklärten Zeitalter fand. Und weil tatsächlich niemand mehr darin las, war es Per nicht schwergefallen, einige Exemplare hiervon für seine Büchersammlung zu erwerben. Er hatte sie ganz allein um der Kuriosität willen angeschafft. Doch als er eines Abends in einem der Bände blätterte und vor allem solche Stellen aufsuchte, die verrieten, daß sie früher am meisten gelesen wurden, entdeckte er, daß der naive, bald primitive, bald schwulstige Ton dieser alten Volksschriften, der ihm eigentlich zuwider war, trotzdem eine seltsame Anziehungskraft für ihn besaß.

Und das führte ihn weiter. In seinem unaufhörlichen Drang, sich selbst zu verstehen, sein innerstes Wesen in seinen flüchtigsten Empfindungen zu verstehen, machte er sich an eine historische Untersuchung des religiösen Lebens in dem Zeitabschnitt, aus dem der größte Teil der Schriften stammte. Bei diesen Studien gelangte er bis hin zum Pietismus unter Christian VI. und von hier aus zurück durch den herrnhutischen Separatismus der Aufklärungszeit zur eigentümlichen Laienbewegung zu Beginn des Jahrhunderts, aus der die große volkstümlich-religiöse Erweckungsidee der Gegenwart langsam hervorgewachsen war. Die Schilderungen über jene Bauernsöhne aus Fünen und Jütland und über jene dörflichen Handwerker mit ihrem energischen, ständigen Kampf gegen die rationalistische Rechtgläubigkeit der damaligen Zeit fesselten ihn sehr. Diese Einsamen, die nach Art der Apostel von Stadt zu Stadt wanderten und zeugten und deswegen von der Menge verspottet, von den Pastoren verfolgt und von der Obrigkeit ins Gefängnis geworfen wurden – diese kleinen Gemeinden ringsum mit ihrem evangelischen, gänzlich weltabgewandten Leben – das war ja die Wiederholung der heiligen Geschichte selbst auf heimischem Grund.

Eine Illustration zu diesen Schilderungen hatte er außerdem hier in der Gemeinde seines eigenen Schwiegervaters gefunden. In einer weißgekalkten, gut instand gehaltenen Hütte auf Bøstruper Gebiet wohnte ein Holzschuhmacher mit seiner Familie, der ganz für sich allein lebte und keinen Kontakt mit der übrigen Bevölkerung der Gegend suchte. Der Mann fuhr ein- bis zweimal im Jahr mit einer Fuhre seine Holzwaren in die Stadt und verkaufte sie an die Händler. Ansonsten blieb er meist zu Hause. Über der Tür las man auf einem Schild die Worte: »Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen.« Per war einmal zufällig in die Hütte hineingeraten, als er sich nach einigen tüchtigen Faschinenbindern für die Sommerarbeit auf dem Feld umsah. In der Stube fand er eine jüngere Frau an einer Wiege. Ein paar kleinere Kinder saßen auf dem Fußboden und spielten ruhig. Die Tür zur Werkstatt nebenan stand offen, und da saß der Mann rittlings auf seiner Schneidebank und schnitzte. Als er Per erblickte, stand er auf und kam mit verlegenem Gesicht in die Stube. Er war ein Mann in mittleren Jahren, groß und ein wenig gebeugt. Sein bartloses, etwas blasses Gesicht mit den halb niedergeschlagenen Augen gefiel Per nicht. Auch die Frau, die ihn von der Wiege her fast feindlich ansah, wirkte nicht gerade anziehend auf ihn. Zwar lud ihn der Mann zum Sitzen ein, aber das geschah ohne Gastlichkeit. Den Vorschlag, für den Sommer bei der Flußregulierung Arbeit anzunehmen, wies er sofort ab, und zwar so, als weise er die Sache weit von sich. Trotzdem blieb Per ein wenig sitzen. Da gab es – trotz allem – etwas, was ihn in diesem Hause anzog. In der kleinen Stube herrschte eine auffallende Sauberkeit und Ordnung. Es war, als erwarte man vornehmen Besuch. Man konnte fast glauben, das Haus stehe bereit, einen hohen Gast zu empfangen. Hier herrschte offenbar eine Gottesfurcht, die nicht nur eine Stimmung für festliche Gelegenheiten war, sondern wirklich imstande zu sein schien, ein paar Menschen bis auf den Grund ihres Wesens umzuwandeln. Schon allein die Art, wie der Mann im Laufe der Unterhaltung ein Kind auf seinen Schoß nahm und ihm die Nase mit dem Finger abwischte, offenbarte eine fremdartige, feierliche Behutsamkeit, die gar nicht lächerlich wirkte.

Drüben im Pfarrhaus hatte man Per dann hinterher belehrt, daß die Familie zu einer Sekte gehöre, die sich selbst »die Heiligen« nannte und in jüngster Zeit an verschiedenen Orten des Landes aufgetreten sei. Der Schwiegervater nannte sie einfach Mucker und meinte, er betrachte ihre Anwesenheit als eine Schande für die Gemeinde.

Sooft Per nun vom Schuhmachergesellen Ole Henrik Svane, von Kristen Madsen auf Fünen oder von den anderen Wanderpredigern aus der Zeit der religiösen Wiedererweckung las, sah er die kleine, erwartungsvoll stille Stube auf dem Bøstruper Feld vor sich. Gleichzeitig aber kam er hierdurch zu einer niederschmetternden Erkenntnis. Er verglich den innigen Glauben dieser Leute mit seinem eigenen und begriff, daß er weder ein wirklich gläubiger Christ war noch je sein würde. Ja, er wünschte nicht einmal mehr, es zu werden.

Ihn schreckte nicht so sehr die strenge Weltentsagung. Gerade er verstand am besten, welche Befriedigung ein so nach innen gekehrtes, weltabgewandtes Leben gewährte. Aber die Leidenschaft in ihren Gebeten und die Art ihrer Hoffnungen ängstigten ihn. Auch er hatte in den letzten Jahren oft gebetet. Aber Gebet und Andacht hatten ihm im wesentlichen als Kräftigungs- und Reinigungsbad der Seele, als Flucht aus irdischer Unreinheit und Begierde gedient. Dennoch verstand er jene, die dem Gebet die Macht zutrauten, es könne wirklich Unglücksfälle abwehren und in Not und Gefahr Hilfe bringen. Aber durch die Gebete dieser zutiefst frommen Christen ging mehr das Seufzen nach Drangsal und Schmerz. In ihrer Weltangst, ihrer Furcht vor der Versuchung, ihrer Vorstellung vom Leben der Christen als ununterbrochenen Bußgang flehten sie ja geradezu Unglück und Verfolgung selber auf ihr Haupt herab.

»Speise mich, o Herr, mit Tränenbrot und gib mir an Tränen zu trinken ein volles Maß. Dir weihe ich mich und alles, was mein ist, in Zucht und Demut. Deine Strafe falle auf mich, deine Rute belehre mich, denn wahrlich, es ist Gnade für deinen Knecht, daß er aus Liebe zu dir gepeinigt wird und leidet. Ich danke dir, daß du mich in meinen Sünden nicht verschont, sondern gezüchtigt hast mit harten Schlägen.«

Wenn Per auf solche Worte stieß, erfaßte ihn unwillkürlich derselbe Schauder wie damals, als er den nachgelassenen Brief der Mutter gelesen hatte. Vor solch einem brennenden Glauben, der sogar die Grundtriebe des Menschen verzehrte, wich sein natürliches Empfinden zurück.

»Wahrlich, es ist ein Elend, auf der Welt zu leben«, schrieb Thomas a Kempis in seinem Buch »Von der Nachfolge Christi«. »Essen, trinken, wachen, schlafen, ruhen, arbeiten und den übrigen Bedürfnissen der Natur unterworfen zu sein, das ist wahrlich ein großes Elend und eine Plage für den gottesfürchtigen Menschen. Oh, wäre doch nichts anderes zu tun als den Herrn und Gott zu lobpreisen! Dann wärest du weit glücklicher als jetzt, da jedes deiner Bedürfnisse dich zum Diener des Fleisches macht.«

Was Per bei diesen Untersuchungen vor allem beunruhigte, war etwas, was ihm im übrigen schon vor Jahren aufgegangen war, seit jener zufälligen Vertiefung in eine Übersetzung von Platons »Phaidon«: Es war das immer klarer werdende Verständnis, daß das Christentum viel älter war als Christus, in dem es lediglich seine Vollendung erfahren hatte, wenigstens vorläufig; daß er sich also nicht damit trösten konnte, es wäre ein nur vorübergehendes Phänomen geworden, wenn nicht Staats- oder Herrschermacht ihren Vorteil darin gesehen hätte, es auf den Thron des Geistes zu setzen. Es schien seine Wurzeln im menschlichen Urgrund selbst zu haben, seine Nahrung aus einem Instinkt zu saugen, der außerhalb der Natur lag und der – wenn es ihn überhaupt gab – diese schließlich überwand.

»Denn der Körper verursacht uns tausenderlei Kämpfe, erregt und verwirrt uns, so daß wir seinetwegen die Wahrheit nicht erkennen können. Und solange wir leben, werden wir, wie es scheint, nur dann der Erkenntnis am nächsten sein, wenn wir sowenig wie möglich mit dem Körper zu schaffen haben und nur, wo es unbedingt nötig ist, Umgang mit ihm pflegen und uns nicht von seiner Natur ausfüllen lassen.«

So sprach sogar Sokrates. Und Buddha? Da gab es ein buddhistisches Zitat, das in sein Gehirn gebrannt war und wie mit Phosphorschrift leuchtete, wenn ihn dunkle Zweifel plagten: »Wer nichts liebt hier auf Erden, nichts haßt und nichts erstrebt, nur der ist ohne Fesseln und ohne Furcht.«

Aus allen Ecken der Welt die gleiche Antwort! Durch alle Zeiten hindurch die gleiche Forderung: Verleugne dich selbst, töte dein Ich! Denn Glück bedeutet Entsagen. Von Seiten der Welt aber tönte es umgekehrt: Erhöhe dich selbst, liebe dich selbst, zeige Körperkraft und Willensstärke! Denn Glück bedeutet Aneignung. Hier gab es keine Brücke, die über den Abgrund führte. Kastriere den Geist oder den Körper – so lautete die Wahl. Um diese Entscheidung kam man nicht herum, es sei denn, man besaß wie sein Schwiegervater und so viele andere mit ihm die glückliche Fähigkeit, den Horizont mit lyrischem Stimmungsnebel selbsttrügerisch zu verdecken. Man mußte einen Standpunkt beziehen, zum Kreuz oder zum Champagnerglas schwören – und nicht mürrisch und ängstlich, sondern mit zuversichtlicher Entschlossenheit, ja mit Begeisterung.

So endete er wieder bei dem Glauben als der lebenerhaltenden und -rechtfertigenden Kraft. Aber solch tröstliche Zuversicht besaß er nicht mehr, er vertraute weder dem Himmel noch der Welt. Mit den Kindern dieser Welt wollte er keine Versöhnung, und unter den Christen fühlte er sich ebensowenig zu Hause. Und am allerwenigsten konnte er zu dem naiven Blombergschen Unschuldszustand zurückkehren und wie ein Kind schwindelfrei am Rande des Abgrunds Blumen pflücken, ohne Gefühl für die dämonische Anziehungskraft der Tiefe.

 

An einem trüben Morgen Anfang März hielt Pers Gig vor seiner Tür und wartete. Da er selbst noch keinen Stall hatte, mußte er sein Fuhrwerk in der Gastwirtschaft unterbringen, und der Knecht des Gastwirts stand nun leise fluchend neben dem Pferd und schlug die Arme kreuzweise übereinander, um sich warm zu machen. Er wartete bereits über eine Viertelstunde.

Endlich taumelte Per in seinem großen Mantel schlaftrunken heraus, bestieg schweigend seinen Wagen, nahm die Zügel aus der Hand des Knechts und zuckelte davon . . . Wie gewöhnlich hatte er die halbe Nacht gelesen. Und als er ins Bett gekommen war, hatten ihn die Gedanken wach gehalten, so daß er erst gegen Morgen eingeschlafen war. Nun aber wehte ihm der frische Wind sehr bald den Traumnebel aus den Augen. Der Wagen war auch wahrhaftig nicht dazu geeignet, darin zu schlummern. Es war ein alter ausgedienter Rumpelkasten, so mürbe, daß die Federn bei der geringsten Unebenheit der Straße nachgaben. Dafür war das Pferd ein zuverlässiges norwegisches Fjordpferd, das lediglich die Gewohnheit hatte, aus lauter Vorsicht in Windungen von einem Grabenrand zum anderen zu laufen, sobald die Straße etwas abschüssig wurde. Seine Augen beobachteten so genau wie ein Nivelliergerät und entdeckten die geringste Abweichung von der waagerechten Ebene. Per hatte zu Anfang gemeint, es seiner Kutscherehre schuldig zu sein, ihm diese Unarten mit der Peitsche auszutreiben. Aber dann hatte er das kleine sanfte und sichere Tier, das ihn tagaus, tagein bei jedem Wetter durch die Gegend zog, bald liebgewonnen und ließ ihm jetzt volle Freiheit.

Er richtete es soweit wie möglich ein, daß sein Weg ihn über Bøstrup führte, um Inger im Vorbeifahren guten Morgen zu sagen. Er wußte, sie ging um diese Zeit gewöhnlich in den Garten, um nach ihm zu sehen. Und daher lag über diesen morgendlichen Fahrten stets eine besondere, festliche Stimmung. Aber auch die Fahrt selbst war ihm um diese Tageszeit ein großer Genuß, vor allem an so einem Morgen mit frischer Brise, wenn die Wolken niedrig über die Erde dahinjagten und Krähen in Scharen laut krächzend um den Kirchturm kreisten.

Wenn er dann an das dachte, was ihn in der Nacht wach gehalten hatte, als er noch glaubte, nie seinen Seelenfrieden finden zu können, ehe er das Weltenrätsel gelöst hatte, mußte er beinahe lächeln. In diesen Augenblicken, da seine Gedanken noch schliefen und die vielen kleinen Verdrießlichkeiten des Tages seinen Sinn noch nicht belästigten, öffnete er sich wieder vertrauensvoll der Welt und ihren natürlichen Lockungen. Alles Dunkle und Zwielichtige im Leben schien ihm in solchen Stunden so bedeutungslos im Vergleich zu der unbestreitbaren Tatsache, daß er hier jung und gesund in seinem eigenen Wagen saß, auf dem Weg zu seiner Braut, um den Tag mit einem Kuß auf ihren süßen Mund zu beginnen. Er pries den Gott, an den er kaum noch glaubte, lobte das Leben mit all seiner Lust, Sorge und Mühe, das ihm eines Dankes wert erschien, wohin es ihn auch führen mochte. Warum noch grübeln? Selbstquälerei war ein Werk des Teufels. Im Grunde war es nur pharisäerhafte Überheblichkeit, wenn man sich nicht mit den Sorgen begnügen wollte, die einem der Daseinskampf bereitete. In zweieinhalb Monaten sollte seine Hochzeit sein. Am 20. Mai, an Ingers Geburtstag, würde er seine blumengeschmückte Braut heimführen. Und die trüben Jahre der Einsamkeit hatten ein Ende.

Er hatte beschlossen, heute einen Besuch zu machen, der ihn seit langem beschäftigte. Unter den Wiesengrenzen, die von seiner Flußregulierung betroffen wurden, waren auch ein paar, die zum Børuper Pfarrhaus gehörten, und aus diesem Anlaß wollte er den Pastor aufsuchen. Er hatte Pastor Fjaltring seit jenem zufälligen Zusammentreffen beim Gewitter im Heuschuppen vor gut eineinhalb Jahren nicht wiedergesehen. Ein paarmal war er an ihm vorbeigefahren, wenn der Sonderling in der Dämmerung seinen einsamen Spaziergang auf abgelegenen Wegen machte, und er hatte ihn auch immer gegrüßt, allerdings ohne – wie es schien – erkannt zu werden. Aber überall in der Gegend hörte er die Leute über ihn und sein unglückliches Familienleben reden. Besonders über seine Frau waren die unglaublichsten Geschichten in Umlauf. Sie sollte durch das Trinken vollkommen heruntergekommen sein.

Die Straße senkte sich in einer großen Schleife nach dem Dorf Bøstrup hinab, und auf einmal hellte sich sein Gesicht auf: Hinten an der Gartentür des Pfarrhauses erkannte er Inger, die ein Kopftuch trug und nach ihm auslugte.

»Du Siebenschläfer!« rief sie ihm entgegen. »Wo bleibst du bloß?«

»Hast du gewartet?«

»Ich bin schon wie Eis am ganzen Leib.«

»Du Ärmste!« Jetzt war er bis zu ihr gelangt und fuhr so dicht an den Gartenzaun heran, daß sich ihre Münder im Schutz eines wilden Rosenstrauchs über den Staketen begegnen konnten. »Guten Morgen, Schätzchen!«

»Wohin willst du denn heute?«

»Ach, ich habe viel zu tun. Muß gleich wieder weiter.«

»Du bist unausstehlich. Immer hast du es eilig. Dann auf Wiedersehen. Kommst du heute abend?«

»Ganz bestimmt!«

Ein erneuter Kuß und noch einer und »noch ein ganz kleiner als Zugabe«, wie Per sagte.

Der Falbe zog an. Sie aber hielten sich noch immer an den Händen fest, bis sie förmlich auseinandergerissen wurden. Noch ein »Auf Wiedersehen« und Winken – dann war der Wagen hinter der Zaunecke verschwunden.

Gegen Mittag, nachdem er einige Stunden auf den Wiesen mit seinem Vermessungsgerät zugebracht hatte, fuhr Per zum Boruper Pfarrhaus.

Pastor Fjaltring war zu Hause und empfing ihn in seinem Studierzimmer. Es war ein großer, dämmriger Raum, beinahe ein Saal, mit zwei winzigen Fenstern. Obwohl eine Menge Möbel darin standen, sah es wegen der Größe des Zimmers darin leer aus. An der Wand zwischen den Fenstern stand ein Lesepult mit einem aufgeschlagenen Buch. Und von hier trat ihm der sonderbare Höhlenbewohner entgegen, als Per den Fuß über die Schwelle gesetzt hatte.

Im Wesen des Pastors lag wieder dieselbe merkwürdige Mischung aus Verlegenheit, Neugier und Selbstbewußtsein, die Per schon damals in der Kirche aufgefallen war. Er blieb ein paar Schritte vor ihm stehen, grüßte höflich, aber schweigend und behielt die Hände auf dem Rücken. Ob er Per wiedererkannt hatte oder nicht, daraus konnte man nicht ganz klug werden. Als sich Per vorgestellt hatte, wies der Pastor mit einer Handbewegung auf das Sofa, nahm selbst in einem Armstuhl in einiger Entfernung davon Platz und fragte geschäftsmäßig, womit er ihm dienen könne.

Per trug sein Anliegen vor, das sich auf die Vertiefung einiger Gräben auf den Weideflächen des Pfarrers bezog. Fjaltring erwiderte, eigentlich habe er nicht das Recht, auf eigene Faust Entscheidungen über den Grund und Boden des Pfarrhauses zu treffen. Da es hier aber nur um Kleinigkeiten gehe, könne er die Verantwortung sicherlich übernehmen. Er wolle lediglich bitten, daß für eine mögliche künftige Beweisführung die vorzunehmenden Änderungen schriftlich festgehalten werden sollten. Darauf ging Per bereitwillig ein.

Die ganze Verhandlung hatte nicht länger als ein paar Minuten gedauert. Nun folgte ein längeres Schweigen. Der Pastor saß über seine zusammengelegten Hände gebeugt und wartete offensichtlich darauf, daß Per gehen werde. Als sich Per aber wirklich anschickte, schien er doch ängstlich zu werden, daß er unhöflich gewesen sei. Er fragte ihn, wo er wohne und wie ihm die Gegend gefalle. Und als er vernahm, daß Per seine Wohnung in der Nähe des Bahnhofs habe, meinte er, dann könne es ihm ja nicht an Umgang fehlen. Allmählich sei ja eine richtige kleine Stadt um Rimalt entstanden. Und er nannte den Realschuldirektor, den Apotheker und ein paar Ortseinwohner. Den Schwiegervater oder die Häuslichkeit im Bøstruper Pfarrhaus erwähnte er jedoch mit keinem Wort.

Per hatte seit jener Begegnung im Gewitter noch immer großen Respekt vor Pastor Fjaltrings Persönlichkeit, aber jetzt fühlte er sich ziemlich enttäuscht durch diese allgemeinen Redensarten. Und es verletzte ihn auch, daß er hier so ohne weiteres mit den Mitgliedern des Grogklubs in einen Topf geworfen wurde, um so mehr, als der Pastor selbst – nach seinem Ton zu urteilen – diese Leute nicht sehr hoch schätzte. Deswegen betonte er mit einigem Nachdruck, er habe in Rimalt keinen Umgang, sondern lebe im Gegenteil sehr einsam, nur mit seinen Büchern.

Der Pastor hob ein klein wenig den Kopf. Noch immer schaute er Per nicht an, aber es huschte ein aufmerksamer, fast lauschender Ausdruck über sein mageres, gelbblasses, bartloses Gesicht. »Na ja«, sagte er. »Das zurückgezogene Leben – nur in der Welt der Gedanken – kann uns ja auch viel Befriedigung geben, und – viel Gemütlichkeit. Man kann fast sagen – viel Segen.« Und lächelnd fügte er hinzu, die Einsamkeit könne mitunter sogar sehr gesellig sein. Wenn man sich mit genügender Gründlichkeit in sich selbst versenke, habe man oft das täuschende Gefühl, Besuch zu haben.

Per war betroffen über diese Bemerkung und versuchte, das Gleichnis weiterzuspinnen. Er sagte, solch ein Besuch bestehe leider zumeist aus recht beschwerlichen Gästen, die Unruhe und Unbehagen hervorriefen.

Wieder glitt ein stutzender, fast lauschender Ausdruck über das abgewandte Gesicht des Pastors. Er ging jedoch nicht näher auf das Thema ein, fügte nur abschließend hinzu, man nehme ja auch gern seine Zuflucht zu den Gedanken anderer Leute, um die eigenen zu verscheuchen. Bücher wirkten so angenehm ablenkend. Die Betrachtungen, die die Leute in den Büchern drucken ließen, seien meistens nicht gerade aufregend.

Es gab wieder eine Pause. Der Pastor hatte sich hier offensichtlich auf etwas eingelassen, worüber er nicht näher sprechen wollte. Per erhob sich jetzt, und Fjaltring machte keine weitere Anstrengung, ihn zurückzuhalten. Aber er war keinesfalls unhöflich. Beim Abschied gab er ihm sogar die Hand – eine seltsam trockene, heiße Hand – und entschuldigte sich kavaliersmäßig, daß er ihn aus Furcht vor Zugluft nicht bis zur Diele begleiten könne.

So kurz und geringfügig dieses Zusammentreffen auch gewesen war – es beschäftigte Per doch sehr. Und als er im Bøstruper Pfarrhaus zu Abend aß, begann er in einer Art darüber zu reden, die den Schwiegereltern offenbar nicht sehr zusagte.

»Er ist ein armer, beklagenswerter Mensch!« sagte der Schwiegervater. »Er tut mir aufrichtig leid. Wäre er bloß nie Pfarrer geworden!«

Schon am nächsten Tag setzte sich Per hin und stellte den Bericht zusammen, um den ihn Pastor Fjaltring gebeten hatte. Er gab sich viel Mühe dabei, schrieb ihn schließlich auf einen großen Bogen starken Papiers ab und fügte noch einen sorgfältig ausgeführten Grundriß über die gesamte Wiesenfläche des Pfarrhofes hinzu.

Nach einer Woche, als er wieder einmal in die Gegend von Borup kam, fuhr er beim Pfarrhaus vor und lieferte das Dokument ab. Der Pastor, der es nicht gewohnt war, daß man ihm Aufmerksamkeiten erwies, wurde ganz verlegen, als er die saubere Arbeit erblickte, und dankte ihm herzlich. Und als Per gleich wieder gehen wollte, schien er das sehr zu bedauern. Er bat ihn um Entschuldigung, wenn er bei Pers vorigem Besuch vielleicht ein wenig unpäßlich gewesen sei. Um ihn zum Bleiben zu bewegen, drückte er ihn eigenhändig in sein Sofa nieder, und diesmal dauerte es nicht lange, bis sich eine recht offenherzige Unterhaltung entspann.

Das mitgebrachte Dokument bildete den Ausgangspunkt für das Gespräch. Per teilte dem Pastor mit, daß sich auf den Pfarrwiesen Torf befinde, und zwar in ganz beträchtlicher Menge. Er liege ziemlich tief und sei schwer zugänglich. Wahrscheinlich sei aber gerade deswegen seine Qualität sehr gut. Er sei überzeugt, sagte er, daß es sich lohne, eine Pumpe anzuschaffen, durch die man die Ausgrabung trockenhalten könne, um dann Preßtorf herzustellen.

Pastor Fjaltring war auf dem schmalen Läufer, der über den kahlen Fußboden gelegt war, vor ihm stehengeblieben. Mit krampfhaft ohnmächtigem Lächeln schüttelte er den Kopf. Die Sache müsse er seinem Nachfolger überlassen, sagte er. Seine Gesundheit sei nicht so, daß er mit der Zukunft rechnen könne. »Und übrigens«, setzte er hinzu, »selbst wenn mir der Tod noch eine Frist gönnt, so weiß ich doch gar nicht, wie lange mir die Kirchenbehörde und meine eifrigen Amtsbrüder noch erlauben, vor leeren Bänken zu predigen.«

Per wurde rot und bemühte sich höflich, ein paar Einwände zu machen.

Doch der Pastor ließ ihn nicht richtig zu Worte kommen. »Ich mache mir keine Illusionen. In unserer Zeit ist die Religion zu einer Ware geworden. Und man kann es den Leuten nicht verdenken, wenn sie sich an die Läden wenden, wo sie den Ablaß am billigsten bekommen.«

Per fühlte sich verpflichtet, die Geistesrichtung seines Schwiegervaters zu verteidigen. Aber ohne einen Namen zu nennen, entgegnete Pastor Fjaltring, solch ein wohlwollendes, fast beschützendes oder vielleicht nur neugieriges Verhältnis zu den großen Lebensfragen sei in seinen Augen schlimmer als gar kein Verhältnis.

Der Glaube sei eine Passion; und wo er das nicht sei, treibe man Schindluder mit dem lieben Gott. Künstlich eine bestimmte geistige Regsamkeit beim Volk zu erreichen sei weit davon entfernt, den Boden für einen ernsten, aufrichtigen Glauben – ja sogar für den ernsten Zweifel vorzubereiten. So was töte im Gegenteil die Keime für ein echtes Gottesverhältnis, die in jedem Menschen angelegt seien.

Mehrmals war er auf dem Läufer hin und her gegangen. Nun blieb er plötzlich am anderen Ende der Stube stehen. Es schien, als wolle er sich selbst ermahnen, daß er sich nicht zu weit vorwagen dürfe. Aber sein Mitteilungsdrang war geweckt. Das Gedankengewimmel seiner Einsamkeit drängte heraus, und er konnte die Worte nicht mehr zurückhalten.

Er sagte zu Per, die modernen Ingenieure mit ihrem Wirken könne man nicht freisprechen, ein gut Teil Verantwortung zu tragen für die Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit, die der Fluch des heutigen Menschen sei. Die Hast der Maschinenindustrie habe sich nun auch auf das religiöse Leben übertragen. Da man sich auf allen Gebieten daran gewöhnt habe, seine Lebensbedürfnisse mit möglichst wenig Arbeit zu befriedigen, so verlange man jetzt auch vom Glauben, daß er sich ohne allzu große Anstrengung oder Zeitvergeudung erwerben lasse. Und bei den Verkündern von Gottes Wort – ob Geistliche oder Laien – mangle es ja durchweg nicht an Bereitschaft, diesem Verlangen nachzukommen.

Über die Seele des Menschen und die Bedingungen für ihr Wohlbefinden, fuhr er immer eifriger fort, wisse man beklagenswert wenig. Aber es scheine doch allgemein anerkannt zu sein, daß Glück im weltlichen Sinne den Menschen unfruchtbar mache. Das eigentliche Element der Seele sei die Trauer. Die Freude sei ein Rest des Tieres in uns. Daher komme es wohl auch, daß die Leute in Zeiten des Glücks auf allerlei Äffereien und pfauenhafte Manieren verfielen, während sie in Tagen der Trauer, da sie sich in sich selbst, in die göttliche Quelle der Persönlichkeit vertieften, ein wahrhaft verklärtes Aussehen bekommen könnten. Nun ja, das Christentum teile sich der Welt als frohe Botschaft mit; nehme man dieses Wort jedoch buchstabengetreu, bleibe man bald in einem unlösbaren Widerspruch stecken. Ein Glaube, der Friede, Sicherheit und Freude verleihe, verstopfe die Nahrungsquellen der Seele, lösche das geistige Leben aus. Selbst die Idee vom Paradies als Heimstatt der Vollkommenheit lasse sich schwerlich mit unserer modernen religiösen Sicht vereinen. Das Wort von der »ausgeschlossenen Hoffnung«, das Dante über dem Tor zu seiner Hölle angebracht habe, könne mit ebensoviel Begründung und in weit schrecklicherer Bedeutung auch über der Pforte zu solch einem Himmelreich eingeritzt werden, wo es keine Möglichkeit zur Persönlichkeitsentwicklung mehr gebe. Ja, für den beschränkten Menschenverstand scheine es, als ob man lieber auf die Dauer bei den Unerlösten, bei den ewig oder zeitweise Verdammten bleiben müsse, um eine reine und geläuterte Seele und die wahre Seligkeit zu finden, aufgefaßt als religiöse Erkenntnis.

»Aber vielleicht haben wir Gottes Absicht mit dem Evangelium noch gar nicht verstanden. Und in diesem Fall ließe sich hieraus wiederum die Tatsache erklären, daß das Christentum nach zweitausend Jahren trotz großer Worte und Versprechungen noch nicht die Möglichkeit hatte, mehr für den moralischen Fortschritt des Menschengeschlechts auszurichten. Gewisse Theologen leugnen ja klipp und klar die göttliche Geburt Christi. Und tatsächlich ist die Familienähnlichkeit zwischen ihm und dem Gott des Alten Testaments ja auch nicht leicht zu erkennen. Ohne viel Übertreibung könnte man fast sagen, der eine ist der komplette Gegensatz, ja das Zerrbild des anderen. Wenn aber Christus nicht Gottes Sohn ist – wer bürgt uns dann dafür, daß Gott ihn nicht bloß geboren werden, martern und einen schmählichen Tod sterben ließ, damit er uns als abschreckendes Beispiel diene?«

Pastor Fjaltring blieb wieder plötzlich bei seiner Wanderung über den Läufer stehen, sozusagen erschrocken über seine eigenen Worte. Seine Stirn war während der langen Rede dunkelrot geworden. Unablässig jagten nervöse Zuckungen von den Schultern aus über sein Gesicht.

»Ja, Sie verstehen hoffentlich, daß ich dies alles nicht sage, um zu spotten. Ich meine nur: Wenn die Christusgestalt und ihre Mission durchaus zum Gegenstand kritischer Wertung gemacht werden soll – und dazu ist die Zeit zweifellos gekommen –, dann bitte gründlich, ohne Vorurteile. Und wenn man auch dabei unsere Hoffnung auf Seligkeit aufs Spiel setzte!«

Per wußte auf diese weitschweifigen Gedanken nichts zu erwidern. Und Pastor Fjaltring merkte offenbar überhaupt nicht, wie weit er sich vom Ausgangspunkt entfernt hatte. Er merkte auch nicht, daß sich eine Tür hinter ihm öffnete und daß seine Frau hereintrat. Erst als Per aufstand und sich verbeugte, drehte er sich um und verstummte sofort.

Per machte im stillen dem Gerede der Leute das Zugeständnis, daß die Schilderungen über das Äußere der Frau Pastor nicht übertrieben waren. Sie war unförmig dick und hatte ein feistes, kupferrotes Trinkergesicht mit zwei totenähnlich starrenden Augen, die sich fast weiß von der Haut abhoben. Ihre Nachlässigkeit war um so augenfälliger, da sie offenbar soeben Toilette gemacht hatte. Ihr Haar war vorn in der Eile mit Wasser glattgekämmt, und sie trug ein ziemlich ordentliches Kleid. Aber unter der schiefsitzenden Haube saß der Rest ihres Haares wie die Füllung eines Kissens, und unter dem Kleidersaum guckten ein Paar ausgetretene, ungeputzte Schuhe hervor.

Als ihr Mann Per vorgestellt hatte, lächelte sie einladend. »Herr Sidenius wird uns vielleicht das Vergnügen machen, mit uns zu frühstücken? Es ist angerichtet.«

Per wußte nicht, was er antworten sollte. Mitleid mit dem unglücklichen Mann erfaßte ihn. Am liebsten hätte er abgelehnt, fürchtete jedoch, den Pastor durch eine Absage zu kränken. Daher nahm er die Einladung an.

Es überraschte ihn, daß sich Pastor Fjaltring seiner Frau gegenüber nicht ernster verstimmt zeigte. Allerdings war er beim Essen ziemlich verlegen und zerstreut. Aber in seinem ganzen Verhalten ihr gegenüber erwies er sich als aufmerksamer Gatte, rücksichtsvoll, ja sogar galant. Sie selbst hatte offensichtlich nicht das mindeste Verständnis für ihre Schande. Sie führte im Gegenteil das Gespräch und erzählte ziemlich verworren von Kopenhagen und von ihren Erinnerungen an Nordseeland, wo ihr Vater Pfarrer gewesen war. Da sie zudem aus Gewohnheit nie hinhörte, wenn andere sprachen, war sie zuletzt die einzige, die überhaupt redete. Als die beiden Männer in das Studierzimmer zurückgingen, spürte Per gleich, daß sich ihre unterbrochene Unterredung nicht wiederaufnehmen ließ. Der Pastor forderte ihn auch nicht zum Bleiben auf, begleitete ihn jedoch beim Abschied bis auf die Diele hinaus, wo er ihm erneut für die Aufmerksamkeit dankte, die er ihm erwiesen hätte, und betonte, es werde ihm stets eine Freude sein, ihn zu sehen, falls er wieder einmal vorbeikommen könne.

Per freute sich über dies Angebot und suchte in der Folgezeit häufig das Pfarrhaus auf, wobei er die Grabenvertiefungen auf der Pfarrweide zum Anlaß nahm. Zuletzt fand er sich ohne jeden Vorwand ein und fühlte sich stets willkommen. In der Boruper Dorfkirche beim Gottesdienst ließ er sich jedoch nicht wieder sehen. Und er hielt sich nicht nur aus Rücksicht auf seinen Schwiegervater dort fern. Der Eindruck, den er von Pastor Fjaltrings Predigt von dem einen Mal, da er ihn hatte reden hören, bewahrt hatte, lockte ihn nicht zur Wiederholung. Auf der Kanzel gab Pfarrer Fjaltring eine eigenartige Kasperfigur ab. Er war ein Wahrheitssucher, kein Stimmungsmacher oder gar ein Verkünder. Ihn mußte man in seiner Einsiedelei aufsuchen. Und selbst da flatterte er mitunter bei unverhofften Besuchen merkwürdig verlegen und unbeherrscht umher, wie eine Motte, die plötzlich ins Licht gerät. Entweder bedrückte ihn der Gedanke an seine Kleidung, die selten darauf abgestimmt war, von Fremden gesehen zu werden, oder er war das Opfer seiner eingebildeten Krankheit. Dann setzte er sich unruhig von einem Stuhl auf den anderen oder hockte zusammengesunken da, die Hand unter dem eingewickelten Kopf. Per gegenüber verlor er jedoch seine Scheu meist ziemlich rasch. Und wenn er sie erst überwunden hatte, redete er Stunden, ohne müde zu werden.

Im Pfarrhaus zu Bøstrup erwähnte Per seinen fortgesetzten Umgang mit dem verketzerten Pastor nie. Auch Inger erzählte er nichts davon. Er wußte, sie würde sich wie ihr Vater dadurch gekränkt fühlen, und er konnte ihr vorläufig sein Interesse für die neue Bekanntschaft nicht verständlich machen, weil sie noch ganz kindlich an die Unfehlbarkeit ihres Vaters glaubte. Damit mußte er warten, bis sie zusammen lebten. Die wenigen Male, da es zwischen ihm und dem Schwiegervater zu einem kleinen Wortwechsel über Geistliches gekommen war, hatte sie ihn hinterher heftig gescholten und ihm zu verstehen gegeben, daß man es ihm als jugendliche Überheblichkeit auslegte, wenn er sich in solchen Fragen gegen die Ansichten des Vaters auflehnen wolle.

Das Geheimnisvolle, das hierdurch über seinen Besuchen bei Pastor Fjaltring lag, prägte seine Eindrücke, die er von dort mitbrachte, und gab ihnen einen Schimmer von Mystik. Hierzu trug auch Fjaltrings bemerkenswertes und vielseitiges Wissen bei. Per machte hier erstmalig Bekanntschaft mit der mittelalterlichen Theologie. Er wurde eingeführt in die byzantinischen Gedankentempel der Scholastiker, eingeweiht in die gotisch-phantastischen Traumgesichte der vorreformatorischen Schwärmer, hörte von Männern wie Meister Eckart, Johannes Tauler, Ruysbroeck und Geert Groot, deren Persönlichkeiten Pastor Fjaltring augenscheinlich zu weitläufigen Studien verlockt hatten. Aber insgesamt schien kein Lehrgebäude, keine Glaubensrichtung in alter und neuer Zeit ihm fremd zu sein. Sogar mit bestimmten unheimlichen Auswüchsen einer bizarren religiösen Phantasie, wie dem Satanskult, dem Rosenkreuzer-Orden und der Schwarzen Messe, war er vertraut, und er zitierte wortgetreu aus dem Gedächtnis lange Passagen aus den Schriftstellern dieser geheimen Sekten.

Was Per bei diesen Besuchen jedoch am meisten interessierte, war Pastor Fjaltrings eigene Persönlichkeit und das Gepräge des Selbsterlebten, das er allen seinen Erzählungen zu geben wußte. Wie er mit allen Gedankenrichtungen vertraut war, schien er auch jede menschliche Lust und jeden Schmerz aus eigener Erfahrung zu kennen. Selbst wenn er von der Hölle sprach, so tat er dies auf eine Weise und mit einem krankhaften Blick, als sei er dagewesen und durchlebe noch einmal in der Erinnerung die ganze Rangfolge der Qualen. Aber auch ein Himmelreich konnte sich in seinen feinen, so lebendigen und wechselhaften Gesichtszügen in glücklichen Augenblicken widerspiegeln. Dann glitt ein flüchtiger Ausdruck über sein bleiches Antlitz, als fange er aus der Ferne Töne von Sphärenmusik auf.

Wenn Per dann hinterher im Pfarrhaus zu Bøstrup saß und seinen rotwangigen Schwiegervater reden hörte, fühlte er noch stärker als bisher, welch geringen Wert eine so billig erkaufte Freudigkeit im Vergleich zu einem Glauben, ja selbst zu einem Zweifel besaß, der Kampf und Blut gekostet hatte. Der Gegensatz fiel ihm besonders auf einem der sogenannten Privatkonvente auf, die mehrmals im Jahr im Pfarrhaus abgehalten wurden und bei denen sich die sogenannte liberale Geistlichkeit der Gegend unter dem Vorsitz des Schwiegervaters versammelte, um aktuelle kirchliche Streitfragen zu erörtern. Wenn er diese Männer so dasitzen sah, wie sie gemütlich über Sündenvergebung und Erhörung verhandelten, eine wohlgestopfte Pfeife im Mund, wenn er sie sich überbieten hörte in ihrem selbstgefälligen und freudigen Entgegenkommen gegenüber den Forderungen nach einer Religion zu herabgesetzten Preisen, dann verstand er die Bezeichnung »die Großhändler«, die Pastor Fjaltring ihnen gegeben hatte.

Auch am Charakter des Schwiegervaters hatte er immer mehr zu bemängeln. Vor allem war seine Kritik erwacht, nachdem er zufällig Klarheit über das sonderbare Verhältnis zu dem alten Großvater erlangt hatte, das seinerzeit der Inspektor auf Kærsholm andeutete. Der Alte hauste wirklich in sehr kümmerlichen Verhältnissen irgendwo auf Fünen. Und wenn ihm der Sohn sein Haus verschlossen hatte, so deswegen, weil sich der Vater einmal als älterer Mann gegen das sechste Gebot versündigt und ein Kind mit seiner Haushälterin gezeugt hatte. Dennoch hatte Per den leisen Verdacht, daß Pastor Blomberg im Grunde ganz froh war, diesen Vorwand zu haben, um sich den lästigen, fast erblindeten Greis vom Leibe zu halten. Er war sehr zurückhaltend, wo es um eine wirkliche Hilfeleistung für andere ging. Mehr als einmal hatte Per Gelegenheit gehabt, mit anzuhören, wie er arme Leute abfertigte, die bei ihm Hilfe suchten. Der Pastor versprach ihnen, »sie warm in seine Gebete einzuschließen«.

Trotz allem zweifelte er nicht einen Augenblick an der Aufrichtigkeit der Religiosität des Schwiegervaters. Aber es war für ihn gerade das Mißliche an der Sache und das, was schließlich sein Verhältnis zum Glauben bestimmte, daß dieser Glauben – wo er nicht wie bei den eigentlich »Heiligen« jedes natürliche Gefühl ganz auslöschte – offenbar nicht imstande war, veredelnd und verfeinernd zu wirken. In seinen Darlegungen kam Pastor Fjaltring immer wieder auf den Zweifel als die Voraussetzung für den Glauben zurück als dessen »wollüstigen ewig empfangenden Mutterschoß«. So wie der Tag aus der Nacht und diese wieder aus dem Tag geboren werde, wie alles Leben auf der Erde aus diesem Wechsel zwischen Dunkel und Licht erwachse, werde auch die Religiosität durch ein unveränderbares gegensätzliches Verhältnis bedingt, das mit seinem Widerspruch die seelische Unruhe aufrechterhalte. Ein Glaube, der nicht ständig durch den Zweifel erneuert werde, sei leblos wie ein Besenstiel, wie eine Krücke, mit deren Hilfe man vielleicht seine Lähmung eine Weile vergessen könne; eine echte, lebenerhaltende Kraft aber sei er nicht.

In einem seiner ironischen Augenblicke hatte Fjaltring gesagt: »Falls es richtig ist, daß der Weg zur Hölle gepflastert ist mit unseren guten Vorsätzen, dann muß ja notwendig der zum Himmel mit unseren schlechten gepflastert sein.« Danach hatte er dargelegt, daß hierin vielleicht mehr Wahrheit stecke, als man im ersten Augenblick glaube, denn – so meinte er – wie der menschliche Gang bekanntlich ein stetes, aber rechtzeitig unterbrochenes Fallen sei, so sei auch unsere geistige Entwicklung zur Vollkommenheit ein unaufhörlicher Sündenfall, aus dem wir uns nur durch einen instinktiven Selbsterhaltungstrieb, der göttlichen Ursprungs sei, wieder aufrichteten.

Wenn Per auf seine eigene Entwicklung zurückblickte, schien sie ihm fast eine Bestätigung dieser Worte zu sein. Und er sah wieder mit Hoffnung und Zuversicht in die Zukunft.

 

Im Pfarrhaus zu Bøstrup war man schon eifrig mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt. Den ganzen Tag über summte die Nähmaschine, und Frau Blomberg fuhr jeden Montag in die Stadt, wo man den größten Teil der Aussteuer bestellte. Begriffe wie Drell, Nußbaum, Satin, Zwischensätze, Rips, Matratzen, Roßhaar, Dowlas schlugen Per entgegen, sobald er zur Tür hereintrat. Auch Ingers Gedanken waren anscheinend mehr auf Tischler und Tapezierer konzentriert als auf das bevorstehende Weihefest der Liebe, und Per fühlte sich im Pfarrhaus immer überflüssiger.

Übrigens traf er selbst zu Hause bei sich in aller Stille Vorbereitungen zu ihrem Empfang. Er hatte schon recht beträchtliche Einnahmen. Neben der Flußregulierung hatte er in der Gegend verschiedene kleinere Arbeiten übernommen, die einen ansehnlichen Verdienst einbrachten. Er hatte denn auch bis auf den letzten Pfennig alles zurückbezahlt, was er seinen Geschwistern schuldete, ja er hatte sogar begonnen, zur Tilgung seiner Schulden bei Philip Salomon und Ivan eine erste Rate zurückzulegen.

Nun ließ er das ziemlich verfallene Gebäude außen und innen instand setzen, die Wände tapezieren und den altmodischen kalten Steinfußboden in der Küche durch Dielen ersetzen. Bei dieser Gelegenheit ließ sich seine Erfindungsgabe nicht leugnen. Sie äußerte sich in allerlei kleinen praktischen Einrichtungen zur Verbesserung des Küchenherds, des Wasserablaufs und so weiter. Per wußte, daß sich Inger über nichts mehr freute als über eine gut eingerichtete Küche, eine kühle, luftige Speisekammer, einen frischgekalkten Keller und einen leicht zugänglichen, wohlgefüllten Holzschuppen. Sie hatte den Ordnungssinn und den Putzeifer ihrer Mutter geerbt und konnte über blankgeputztes Kupfergeschirr in Entzücken geraten wie andere über ein Kunstwerk.

Wie so oft öffneten die Ausbesserungen eines Gegenstandes den Blick für die Mängel anderer. Als die Küchenräume fertig waren, fand Per, auch das Wohnzimmer müsse einen neuen Fußboden bekommen. Ohne es selbst richtig zu merken, steckte ihn das Einrichtungsfieber im Pfarrhaus an. Aus lauter Angst, die Zeit werde nicht ausreichen, wünschte er – wie Inger – fast, die Hochzeit möge noch um ein paar Wochen verschoben werden.

Als die neuen Möbel aus der Stadt schließlich eintrafen und an ihren Platz gestellt werden sollten, gab es neue Sorgen. Ein Kleiderschrank erwies sich als zu groß für die Wand, an der er stehen sollte. Eine Gardinenstange war dagegen zu kurz, und – was Inger einen Augenblick völlig aus der Fassung brachte – die neue Wohnzimmertapete sah lange nicht so gut aus zum Teppich und zum Möbelbezug, wie sie es erwartet hatte. Sooft Per in das Pfarrhaus kam, eilte sie ihm mit besorgten Fragen nach der Breite einer Fensterwand oder der Länge eines Fußbodens entgegen. Und wenn er ging, vergaß sie mitunter vor lauter Aufträgen, seinen Kuß zu beantworten.

Diese geschäftige Umzugsunruhe dauerte bis zum Festtag selbst. Ja, ein paar Tage vor der Hochzeit steigerte sie sich durch ein Mißgeschick zu förmlicher Panik. Alle bestellten Möbel waren unterdessen gekommen. Es fehlten nur noch die Betten, auf die man schon Woche für Woche gewartet hatte. Einen Boten nach dem anderen hatte man bereits mit Rückfragen an den Tischler in der Stadt geschickt. Und dieser Mann hatte jeweils versprochen, sie zu bringen. Inger und ihre Mutter sprachen zuletzt von nichts anderem mehr als von diesen Betten, die hartnäckig ausblieben. Per fühlte sich etwas verlegen dabei. Er verstand gar nicht die Ungeniertheit, mit der die sonst so zartfühlende Inger ihren Gefühlen Luft machte, und zwar nicht nur ihm gegenüber, sondern auch vor allen anderen, die ins Pfarrhaus kamen. Sogar bis in das Dorf hinein verpflanzte sich die Spannung. Überall sprach man von diesen Betten, und alle waren richtig erlöst, als sich am Tag vor der Hochzeit herumsprach, nun seien sie endlich gekommen und stünden an ihrem Platz.

Am Festtag beschien die Sommersonne ein fahnengeschmücktes Dorf, und alle waren auf den Beinen, als der Hochzeitszug sich der Kirche näherte. Inger saß in einer offenen Kalesche neben einem stattlichen älteren Herrn mit baumwollartigem Spitzbart und einer Rose im Knopfloch, es war der Bruder ihrer Mutter. Sie sah reizend aus, und sie wußte das wohl auch sehr gut. Ihre Tanten, die sie geschmückt hatten, ihre Freundinnen, die Schleier und Myrtenkranz auf ihrem Kopf befestigt hatten, die Dienstmädchen aus dem Pfarrhaus, die sie bis an den Wagen geleitet hatten – sie alle sagten ihr, nie sei eine schönere Braut zur Bøstruper Kirche gefahren.

Unter den Gästen sah man auch zwei von Pers Geschwistern, Eberhard und Signe. Ansonsten waren alle bekannten Persönlichkeiten der Gegend zugegen: die Familie von Justizrat Clausen, die Hofjägermeisterin, der Volkshochschuldirektor, mehrere Geistliche, der Gemeindevorsteher, dazu ein paar Auserwählte aus Rimalt, insgesamt über fünfzig Personen.

Während des Hochzeitsessens drangen Neugierige in den Garten ein, um die Reden durch die offenen Fenster zu hören. Später deckte man für sie unter den Bäumen Tische; alle Zuschauer sollten bewirtet werden. Nach und nach, als die Menge herbeiströmte, bekam die Hochzeit den Charakter eines Volksfestes.

Gleich am nächsten Vormittag reisten die fremden Gäste wieder ab, zuerst Eberhard und Signe, dann der Bruder von Frau Blomberg. Es war dies ein merkwürdiger Mensch, so etwas wie ein Abenteurer, der viel in der Welt herumgekommen war und sich schließlich als geschäftstüchtiger Chef einer großen, sehr angesehenen Schiffswerft in Fiume niedergelassen hatte, wo er bis heute lebte. Er hatte die Gelegenheit, die ihm die Hochzeit der Nichte bot, benutzt, um nach vielen Jahren sein Vaterland wiederzusehen. Nun war er eine ganze Woche lang in Bøstrup gewesen. Bei seinem fremdartigen Wesen und seinen ausländischen Gewohnheiten war es ihm recht schwergefallen, mit den Bewohnern des Pfarrhauses auszukommen, vor allem mit Pastor Blomberg, der ihn ganz offen einen alten Gecken nannte. Dagegen hatte er großes Gefallen an Per gefunden. Er hatte ihn mehrmals auf seinen Rundfahrten zu den jetzt begonnenen Wiesengräben begleitet, und obwohl er kein Techniker war, hatte er sehr wohl begriffen, wieviel Wert die Arbeit besaß. Und hinterher hatte er der Schwester und dem Schwager gegenüber seine Bewunderung mit Worten ausgedrückt, die vorsichtig andeuteten, daß er den Schwiegersohn für viel zu befähigt halte, um hier auf dem Lande zu bleiben und Gräben für die Bauern auszuheben.

Frau Blomberg, die den ganzen Morgen über sehr zerstreut war, konnte nach der Abreise der Gäste keine Ruhe mehr finden. Sie brachte den Bruder zum Bahnhof, um gleich einmal bei dem jungen Paar hereinzuschauen.

Sie traf die beiden bei einem verspäteten Frühstück in einer alles andere als gemütlichen Stimmung. Per war verlegen, Inger blaß, still und erbittert. Frau Blomberg tat, als bemerke sie nichts. Sie ahnte, was vorgefallen war, und lächelte im stillen. – Ihr war, als erlebe sie noch einmal ihren Hochzeitsmorgen vor zweiundzwanzig Jahren. Dann trank sie mit dem jungen Paar Kaffee und erzählte von der Hochzeit und den abgereisten Gästen. Später ging sie mit Inger in die Küche und die Speisekammer, um hier noch einiges zu ordnen. Per begab sich in sein eigenes Zimmer und blieb dort, solange der Besuch der Schwiegermutter dauerte.

Da saß er am Fenster, die Wange auf die Hand gestützt, und blickte hinaus auf die Felder. Er wußte ja gut, daß eigentlich kein großes Unglück geschehen war. Er zweifelte nicht daran, daß sich Ingers Scheu allmählich verlieren würde. Trotzdem war er ernsthaft enttäuscht und niedergeschlagen. Was die feierlichste Erinnerung seines Lebens hatte sein sollen, war zu einer Szene geworden, von der er sich stets mit Beschämung und Unbehagen abwenden würde. Seine Gedanken schweiften zurück zu einer anderen Hochzeitsnacht – zu der mit Jakobe –, und er konnte es nicht unterlassen, einmal zu vergleichen. Doch plötzlich kam ihm ein unheimlicher Gedanke. Er fühlte ihn wie einen giftigen Schlangenbiß im Herzen: Hatte er nicht vielleicht selber schuld? Mußte er nicht auch hier wieder für seine Vergangenheit büßen?


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