Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Vierunzwanzigstes Kapitel

Als man im Pfarrhaus zu Bøstrup erfuhr, daß Per seine Verlobung mit der reichen Bürgerstochter aus Kopenhagen gelöst hatte, zeigte sich Frau Pastor Blomberg zunächst ernstlich besorgt. Und als sie nun hörte, daß Per in den Weihnachtsferien nach Kærsholm zurückkomme, sprach sie eines Abends im Bett ganz offen mit ihrem Mann über ihre Sorgen und schlug vor, Inger für diese Zeit wegzuschicken. Davon wollte der Pastor aber nichts hören. Auch für ihn lag zwar nichts Verlockendes in der Aussicht, seine Tochter einem Mann mit Pers Vergangenheit zu geben; aber – so sagte er – man müsse sehr vorsichtig sein, wenn man Vorsehung spielen wolle. Überdies habe ja der junge Mann seine Verirrungen eingesehen; und daß seine Bekehrung wirklich aufrichtig sei, dafür bürgten die großen materiellen Güter, die er seinem Seelenheil zuliebe geopfert habe.

»In Glaubensdingen wollen wir keine Gewalt anwenden. Und Liebe ist Glaube. Trotzdem, ich will mal ganz offen mit Inger über die Sache reden. Sie muß wissen, daß wir ihrem Herzen keinen Zwang auferlegen wollen. – Das wird ihr Verantwortungsgefühl stärken.«

Zu Anfang hatte Inger Pers Bruch mit der Kopenhagener Dame überhaupt nicht mit sich selbst in Verbindung gebracht. Obzwar sie ihren Wert sonst gut kannte, faßte sie das Vorgefallene ausschließlich als Ergebnis der Bekanntschaft mit ihrem Vater auf. Erst ihre Freundinnen, die beiden Fräulein Clausen, brachten sie auf die richtige Spur. Und so hatte sie seither in einem seltsam angenehmen Schwindelgefühl gelebt, wenn sie von den vielen Millionen hörte, auf die Per ihretwegen verzichtet haben sollte.

Was sie sonst noch empfand, war ihr lange Zeit einigermaßen unklar. Wenn sie an Per dachte, sah sie nur seine Augen vor sich, vielleicht, weil ihr Vater an jenem Abend nach seinem ersten Besuch im Pfarrhaus seinen Blick mit einem offenen Meeresstrand verglichen hatte, wo Möwen im Sonnenschein um ein halb im Sand vergrabenes Wrack kreisten – »um die Erinnerungen an die Zerstörungen der Winternacht und Äquinoktialstürme«. Damals hatte sie sich über diesen Ausdruck gewundert, weil sie die Andeutungen darin nicht verstand. Jetzt, da sie alles besser begriff, beschäftigten Pers blasse, melancholische Meermannaugen ihre Phantasie und beherrschten ganz ihre Erinnerung an ihn. Sich einem Mann hinzugeben, der schon verlobt gewesen war, kam ihr allerdings undenkbar vor. Zwar wurde die Sache sehr gemildert, weil sie die betreffende Dame nicht kannte und andererseits gesehen hatte, wie unglücklich und elend er sich durch dieses Verhältnis gefühlt hatte.

Sie meinte sogar, ihn gern zu haben, aber ob sie ihn je wirklich liebgewinnen, ihn lieben konnte, das wußte sie nicht, weil sie überhaupt bislang nur unklare Vorstellungen davon hatte, was Liebe war. Ihre beiden Freundinnen hatten ihr bereitwillig Auskunft erteilt. Vor allem die kräftige Gerda wollte ihr gern anvertrauen, was sie persönlich über die Geheimnisse des Liebeslebens erfahren und von anderen aufgeschnappt hatte. Aber Inger wollte es gar nicht wissen. Solche Dinge hatten sie bisher nicht interessiert.

Höchst überrascht war sie daher, als der Vater eines Nachmittags, wenige Wochen vor Weihnachten – sie waren gerade allein im Zimmer –, von Per und dessen möglicherweise bevorstehendem Besuch in der Gegend anfing.

»Wie du wohl weißt, mein Kind, ist Herr Sidenius nicht mehr verlobt. Und nun will ich dich ganz offen fragen, ob du vielleicht mit Rücksicht auf etwaige Schlußfolgerungen der Leute lieber vermeiden möchtest, ihn hier im Pfarrhaus zu sehen. Antworte mir nur ganz ehrlich!«

Inger faßte diese Frage als versteckten Antrag auf. Sie glaubte, Per habe ihren Eltern geschrieben. Und das verwirrte sie zu ihrer Beschämung so sehr, daß sie gar nicht antworten konnte.

Für Pastor Blomberg aber war dieses Schweigen und das Glühen ihrer Wangen Antwort genug. Abends im Bett sprach er mit seiner Frau darüber und wiederholte, man dürfe das Kind keinesfalls zu etwas zwingen; man müsse hoffen, daß Gott der Wahl ihres Herzens den Segen geben und glücklich vollenden werde. Auf den Einwand, Per sei ja nichts und habe kaum Aussicht auf eine Stellung, mit der er eine Familie ernähren könne, erwiderte der Geistliche zuversichtlich, Gott werde sicher auch in dieser Beziehung helfen. Und er dachte dabei vor allem an die Stromregulierung, von der so viel gesprochen worden war und die bestimmt einiges abwerfen würde.

Die Aussichten hierfür waren allerdings keineswegs hoffnungsvoll. Im Laufe des Herbstes hatte man auf Betreiben des Hofjägermeisters ein paar Versammlungen abgehalten, doch war es ganz unmöglich gewesen, eine Einigung unter den zwei- bis dreihundert Besitzern zu erreichen, deren Interessen berührt wurden und ohne deren eindeutige Zustimmung nichts unternommen werden konnte. Obwohl im Grunde jeder überzeugt war, daß die Vorschläge für ihn vorteilhaft waren, widersetzte er sich oder zeigte sich auf alle Fälle unwillig, aus Angst, daß der Nachbar, Schwager oder Bruder noch mehr dabei verdienen oder verhältnismäßig billig zu seinem Vorteil gelangen könne. Auch gönnte man dem Hofjägermeister nicht die Ehre, ein so wichtiges Unternehmen durchzuführen. Schließlich waren die großen Bauern ganz weggeblieben, und damit betrachtete man das Projekt als unrettbar verloren.

Jetzt aber mischte sich Pastor Blomberg plötzlich in die Sache. Mit dem ihm eigenen glücklichen Talent, in seinen kleinen Privatangelegenheiten stets Gemeinde- und Weltinteressen von weitgehender Bedeutung zu sehen, beschloß er – wie er zu seiner Frau sagte –, »in diese bösen Brennnesseln zu greifen«; sie erschienen ihm nämlich als schlagender Beweis dafür, wie das Unkraut des Mißtrauens und Haders nach wie vor noch in einer durch den Geist geläuterten und erlösten Gemeinde aufschießen konnte. Zuerst suchte er unterderhand auf einige Leute einzuwirken, von deren Zustimmung ein Umschwung vor allem abhing. Und als er auf Widerstand stieß, wurde er ärgerlich und ging zum Angriff über. Auf einer Erbauungsfeier bezog er die Sache vor versammelter Gemeinde in seine Predigt mit ein und warnte in kraftvoll mahnenden Worten davor, aus kleinlichem Egoismus dem Fortschritt Steine in den Weg zu legen. Der Fortschritt fördere das Erwerbsleben und trage damit auch zur Entwicklung eines gesunden, glücklichen und ehrlichen Christenlebens bei.

Seine Worte riefen bei verschiedenen große Bestürzung hervor, aber auch viel Mißvergnügen, einmal, weil sie auf einer Erbauungsfeier gesprochen wurden, zum andern, weil schon Gerüchte laut geworden waren von einer bevorstehenden Verbindung zwischen Inger und dem jungen Urheber des Plans. Pastor Blomberg ließ sich jedoch nicht beirren. Nicht das erstemal erregte er durch eine gewagte Äußerung Ärgernis in der Gemeinde. Er kannte seine Macht und ließ die Leute murren. Er hatte vorläufig erreicht, was er wollte: Neues Leben war dem Projekt eingeblasen, das in seinen Augen nun nichts weniger bedeutete als das Wohlergehen der ganzen Gegend. Überall auf den Bauernhöfen und in den Katen besprach man seine Predigt, und damit waren die Verhandlungen über Pers Plan wiederaufgenommen.

 

Am Tag vor Heiligabend reiste Per wieder nach Kærsholm, wo er alles ganz unverändert vorfand. Nur die Baronin war abgereist, und die Gesichtsfarbe des Hofjägermeisters glich noch mehr als früher einem welken Ahornblatt. Sogar den schwachen Duft des Torfrauchs aus der Küche spürte er sofort und faßte ihn als anheimelnden Willkommensgruß auf.

Es währte nicht lange, bis die Hofjägermeisterin entdeckt hatte, daß mit Per eine Veränderung vor sich gegangen war, und zwar nicht nur in seinem Äußeren. Sie ahnte, daß er irgendein ernstes Erlebnis gehabt hatte, aber trotz aller Bemühungen, ihm das Geheimnis zu entlocken, indem sie ihm ihre mütterliche Teilnahme zeigte, konnte sie ihn nicht dazu bringen, sich darüber zu äußern, und das verletzte sie schließlich sogar ein wenig.

Am ersten Weihnachtsfeiertag begleitete Per sie zum Festgottesdienst in die Bøstruper Kirche. Der Hofjägermeister fühlte sich nicht wohl und blieb zu Hause. Man hatte gerade mit dem Singen angefangen, als sie in die Kirche kamen. Die eine Hand in der Tasche seines Talars, stapfte Pastor Blomberg im Mittelgang der Kirche auf und ab und nickte Freunden und Bekannten zu, während er zugleich mit lauter Stimme sang. Ab und an blieb er an der Treppe zum Chor stehen und überblickte den gedrängt vollen Kirchenraum, wobei sein Gesicht vor evangelischer Freude glänzte.

Pers Blick hatte sofort Inger gesucht, die gegenüber in der zweiten Stuhlreihe neben der Mutter saß. Sie war ganz in Schwarz, und dies verlieh ihrer hellblonden Erscheinung einen besonders feinen, sanften Liebreiz. Nicht ein einziges Mal hob sie die Augen vom Gesangbuch. Sogar beim Rauschen der Seidengarderobe, mit dem die Hofjägermeisterin ihr Nahen ankündigte und das die Mutter veranlaßte, sich umzudrehen und zu grüßen, schaute sie nicht auf. Aber ihre Wangen waren rot geworden, und Per faßte dies als Siegeszeichen auf und bekam Herzklopfen.

Nach dem Gottesdienst lud man ihn und die Hofjägermeisterin mit einigen anderen Kirchgängern zu einer Tasse Kaffee ins Pfarrhaus ein. Diese Einladungen, die stets vom Pastor persönlich vorgenommen wurden, waren die Drachensaat in seiner Gemeinde. Stets gab man sehr genau acht, führte man sorgfältig Rechenschaft darüber, wem diese Auszeichnung zuteil wurde.

Im Pfarrhaus traf Per vier Bauern mit den dazugehörigen Frauen, auf deren Gesichtern mit verschiedener Schrift, aber mit gleicher Deutlichkeit geschrieben stand, daß sie zu den begüterten, einflußreichen Leuten der Gegend gehörten. Daß Pastor Blomberg einen bestimmten Zweck verfolgte, indem er ihn mit diesen Leuten zusammenbrachte, kam ihm nicht in den Sinn, obwohl der Geistliche einen auffallenden Eifer zeigte, Per ihnen allen vorzustellen. Die Regulierungsarbeiten wurden von keiner Seite erwähnt. Außerdem dauerte die Zusammenkunft nicht länger als eine halbe Stunde. Der Pastor hatte noch Nachmittagsgottesdienst in der Nachbargemeinde und gab selbst zu verstehen, daß man aufbrechen möge. Zuerst verabschiedeten sich die Bauern, bald darauf auch die Hofjägermeisterin und Per – und Inger konnte wieder freier atmen.

Die ganze Zeit über hatte ihr das Herz bis zum Hals geschlagen vor Angst, sie könne mit Per allein bleiben. Sie war noch immer in dem Wahn, daß er an ihre Eltern geschrieben und sich im voraus ihrer Zustimmung zu einer Verbindung mit ihr versichert habe. Aber sie war sich noch nicht darüber im klaren, ob sie ihn liebte oder nicht. Oder besser: In ihrer Unerfahrenheit konnte sie sich nicht klarwerden, ob das, was sie für ihn empfand, wirklich Liebe war. Sie glaubte immerhin, daß er gut war und lieb zu ihr sein würde, und sie konnte ja auch nicht leugnen, daß die Wiedersehensfreude sie unruhig gemacht hatte und sie die letzten Nächte lange wach geblieben war. Ja, an diesem Morgen hatte sie kurz vor dem Kirchgang, offen gestanden, plötzlich heftige Magenschmerzen bekommen. Aber war das Liebe?

Solange Per dagewesen war, hatte sie fast gemeint, sie liebe ihn nicht. Die Veränderung, die mit seinem Äußeren vor sich gegangen war, hatte ihn ihr so fremd gemacht, obwohl sie fand, daß er auch jetzt nicht übel aussah. Nun, da er fort war, hatte sie doch ein Gefühl, als sei es sonderbar leer im Pfarrhaus geworden, und der Rest des Tages verging ihr sehr langsam, ohne daß sie irgendwo Ruhe fand. Sie setzte sich von einem Stuhl auf den anderen, ging aus einem Zimmer in das andere und betrachtete es allmählich als großes Unglück, ihn je kennengelernt zu haben. Diese Ruhelosigkeit und Unausgeglichenheit, die sonst ihrer Natur ganz fremd war, quälte und erschreckte sie. Schließlich saß sie in ihrem kleinen Zimmer am Fenster und starrte gedankenverloren in den Garten hinaus, wo die untergehende Sonne hinter reifbedeckten Bäumen glutete.

Sie mußte an eine Märchengestalt, einen Helden aus der Sage, denken, den Per durch seinen Besuch in ihrer Erinnerung wachgerufen und der sie seitdem verfolgt hatte. Mit seinem schweigsamen, verschlossenen Wesen, seinem bleichen Gesicht, seinem großen, dunklen Bart und seinen seltsamen Meermannaugen hatte er sie an den »Fliegenden Holländer« erinnert, den sie vor etwa einem Jahr in der Kopenhagener Oper gesehen hatte. Und sie legte plötzlich den Kopf auf ihren Arm und dachte, sie liebe ihn am Ende wohl doch, wenn sie auch darüber nicht froh war.

Sie erwartete ganz bestimmt, daß der nächste Tag die Entscheidung bringen werde. Mit ihren Eltern war sie nach Kærsholm zum Essen eingeladen, und soviel sie wußte, würden keine anderen Gäste anwesend sein. Aber am frühen Morgen kam ein Bote vom Gutshaus und brachte eine Absage. Der Hofjägermeister war in der Nacht an seinem alten Magenleiden ernstlich erkrankt.

Nachmittags erschien die Hofjägermeisterin selbst, begleitet von Per, um sich zu entschuldigen. Während der Unterhaltung spielte sie auf den Besuch der vier Bauern am Vortag im Pfarrhaus an und erwähnte, man spreche bereits seit längerer Zeit davon, eine neue Versammlung zur Behandlung des Flußregulierungsplans einzuberufen, und sie freue sich aufrichtig darüber. »Die Sache geht schon in Ordnung«, sagte sie. »Und wir dürfen Herrn Sidenius hierbehalten.«

Pastor Blomberg, der, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab ging, blieb bei diesen Worten stehen und sagte ernst: »Ja, auch ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß der Geist der Eintracht schließlich auch in dieser Angelegenheit siegen wird.«

Die Pastorsfrau sagte nichts.

Die Hofjägermeisterin hingegen wurde immer redseliger, und es stellte sich nun heraus, daß sie ein ganzes Programm für Pers Zukunft fertig im Kopf hatte. »Sie erinnern sich doch an das weiße Landhäuschen neben dem Bahnhof? Es steht ja jetzt nach dem Tod der verwitweten Frau Pastor Pedersen leer, und ich kann mir keine passendere Wohnung für Herrn Sidenius denken. Vom Weg her sieht das Häuschen entzückend aus, und es soll auch gut instand gehalten worden sein, mit schönem Garten und hübscher Wirtschaftsgebäuden.«

Inger war aufgestanden. Sie war empört und beschämt über solche Reden, deren Zweck sie sehr gut verstand. Überhaupt, in letzter Zeit hatte sie viel von ihrer Zuneigung für die Hofjägermeisterin verloren. Sie begriff jetzt nicht nur, daß diese Dame schon seit längerem hinterlistig darauf hingearbeitet hatte, sie mit Per zu verheiraten, sondern ahnte auch allmählich, daß sich hinter ihrem Eifer, den sie für Per zeigte, ein unerlaubtes Interesse für seine Person verbarg, die sie ihr gegenüber des öfteren auf höchst geschmacklose Weise gerühmt hatte.

Nach dem Kaffee machte die Gesellschaft einen kleinen Spaziergang durch den Garten und über die Hügel. Doch zu einer Unterhaltung unter vier Augen zwischen Per und Inger kam es auch diesmal nicht. Frau Pastor Blomberg ließ sie nicht aus den Augen, und gleich nach der Rückkehr fuhr der Wagen vor. Die Hofjägermeisterin mußte zu ihrem kranken Mann zurück, und Per forderte man gar nicht erst auf, noch zu bleiben.

Beim Abschied umarmte die Hofjägermeisterin Inger und wollte sie auf den Mund küssen. Doch sie drehte ihr das Ohr zu. Die Liebesbezeigungen der Hofjägermeisterin, für die sie einst so dankbar gewesen war, wurden ihr in letzter Zeit geradezu zuwider.

Nun vergingen einige Tage, an denen sich die beiden Verliebten nicht sahen. Die Hofjägermeisterin war durch die Krankheit ihres Mannes an das Haus gefesselt, und deswegen mußte auch Per auf die großen weihnachtlichen Feste in der Umgegend verzichten. Er bedauerte dies eigentlich nur deshalb, weil er so daran gehindert wurde, mit Inger zusammen zu sein. Er wußte, daß sie wegen ihrer Schönheit und als Pastorentochter der gefeierte Mittelpunkt im Kreis der Jugend war. Aber da er erfahren hatte, daß es in der Gegend keine anderen Herren als ein paar recht bäurische Pächterssöhne und grüne Studenten gab, fühlte er sich durch sie nicht beunruhigt.

In seinem Zimmer hing wie das letzte Mal das Bord mit den verschiedenen Büchern. Und wieder suchte er bei ihnen Zerstreuung. Gegen seine Gewohnheit nahm er sich diesmal jedoch die Unterhaltungslektüre vor, er durchblätterte Romane, Schauspiele und Novellen, um die Zeit totzuschlagen und sich zu betäuben. Vor religiösen Büchern empfand er außerdem eine gewisse Scheu, seit er sich vor seinen Geschwistern so hatte demütigen müssen. Den Gott, den er in den Kämpfen des letzten Herbstes kennengelernt hatte, konnte er nicht gut mit dem Bild vom milden, barmherzigen Tröster vereinen, das ihm so verheißungsvoll aus Blombergs Erbauungsbüchern entgegengeleuchtet hatte. Ein paarmal schaute er allerdings hinein, aber er erlebte beim Lesen dieselbe Enttäuschung, die ihn schon in der Kirche bei Pastor Blombergs Weihnachtspredigt erfaßt hatte. Seine Gedanken fanden keine Ruhe mehr in diesen schönen, aber so allgemeinen Betrachtungen über Leben und Tod, Sünde und Gnade. In seiner religiösen Erkenntnis war er über die Phase hinaus, in der man durch das befriedigt wird, was das Gefühl bewegt, ohne den Verstand anzusprechen. Sein Geist verlangte nach Nahrung, er suchte Wahrheit. Hier aber bot man ihm Blumen statt Brot. Er beschloß jetzt, seinen Gedanken fürs erste Ruhe zu gönnen. Des fruchtlosen Suchens war er müde. Dem unwegsamen Jenseits wollte er für einige Zeit die Tore verschließen und seinen ganzen Sinn auf den großen Wurf richten, der über sein Leben und sein Glück in dieser irdischen Welt entschied.

Früher hatte er sich nicht denken können, um Ingers Hand anzuhalten, ohne sein Examen bestanden und eine Stellung oder doch wenigstens die Aussicht auf eine einigermaßen gesicherte Zukunft zu haben. Aber in diesen Tagen, als er ungeduldig Stunde um Stunde auf ihr Kommen gewartet hatte, war in ihm wieder etwas von seinem alten Wagemut erwacht. Jetzt war er fest entschlossen, eine Entscheidung zu erzwingen, sobald es ihm gelang, mit ihr allein zu sein.

Einen Tag vor Silvester fand er endlich Gelegenheit, seinen Besuch im Pfarrhaus zu wiederholen. Er hatte gehört, daß man von dort mehrmals einen Boten geschickt hatte, der sich nach dem Befinden des Hofjägermeisters erkundigen sollte. Als sich nun an diesem Morgen Anzeichen einer Besserung einstellten, fragte er beim Frühstück, ob er nicht nach Bøstrup gehen und der Pfarrersfamilie die frohe Botschaft überbringen solle.

Gleich nach dem Frühstück machte er sich auf den Weg. Er hatte sich ausgerechnet, daß er in der Zeit zwischen eins und zwei am ehesten darauf hoffen konnte, Inger allein im Wohnzimmer anzutreffen, wo sie zu dieser Stunde Klavier übte. Um so unbemerkt wie möglich kommen zu können, hatte er das Angebot, einen Wagen zu benützen, abgeschlagen. Das Wetter war außerdem sehr schön und der Weg gut. Er brauchte Bewegung nach dem langen Stubenhocken. Die Wintersonne warf lange Schatten über die Felder, wo hier und da ein paar trächtige Schafe weideten und das spärliche Gras abfraßen. Per war zuversichtlich und so ruhig, daß er sich selbst darüber wunderte. Mit eigenartiger, fast religiöser Andacht lauschte er dem Klang seiner taktfesten Sideniusschen Schritte auf der frostharten Landstraße. Ihm war, als verbinde ihn dieser Klang mit einer fernen, fernen Welt, von der ihm geheimnisvoll Kraft, Trost und Besinnung zuströmte.

Dann aber kam natürlich alles ganz anders, als er es vorausberechnet hatte. Als er durch den Torweg des Pfarrhauses schritt, erblickte er zuerst Frau Blomberg, die auf dem Hof gerade die Hühner fütterte. Mit knapp bemessener Freundlichkeit dankte sie für den Gruß, den er überbrachte, und forderte ihn auf, doch näher zu treten. Hier saß Inger auch ganz richtig am Klavier; aber die Mutter wich nicht aus dem Zimmer, und das Gespräch drehte sich ausschließlich um die Krankheit des Hofjägermeisters. Endlich kam der Pastor in seiner zu kleinen schwarzen Jacke herein und übernahm sofort die Leitung der Unterhaltung. Per war schon darauf vorbereitet, unverrichteterdinge wieder abzuziehen.

Da hörte man Hufschläge auf dem Hof, und eine altmodische Kutsche fuhr vor. Es erwies sich, daß ein älterer Pastor aus der Nachbarschaft mit seiner Frau einen Weihnachtsbesuch machen wollte. Schon vorher war ein Tablett mit Wein und Kuchen aufgetragen worden. Jetzt brachte man auch noch Schokolade und Kaffee, und Inger half beim Anbieten.

Nach etwa einer Stunde brach der alte Pfarrer mit seiner Frau auf, und in den wenigen Minuten, die vergingen, als die alten Blombergs ihre Gäste zum Wagen geleiteten, verlobten sich Inger und Per.

Als Frau Blomberg wieder hereinkam, merkte sie sofort, daß etwas geschehen war. Inger stand am Blumenfenster und kehrte ihr den Rücken zu. Per stand neben ihr.

»Was geht hier vor?« fragte sie fast barsch.

Per trat einen Schritt auf sie zu und sagte mit einer Verbeugung: »Ich habe um die Hand Ihrer Tochter angehalten, Frau Pastor, und ihr Jawort bekommen.«

Jetzt erschien auch der Pfarrer in seiner zu kurzen Jacke, und als er hörte, was geschehen war, wurde sein Gesicht ernst. Zuerst fand er zwar allerlei pflichtgemäße, kummervolle Worte, aber leicht besiegt, wie er war, wenn man sein Gefühl ansprach, lachte er bald, breitete seine Arme nach Inger aus, nannte Per seinen Sohn und erteilte ihnen mit Tränen in den Augen seinen Segen.

Wie die Verlobung im Grunde vonstatten gegangen war, wußte Per selbst kaum. Er mußte es sich hinterher von Inger erzählen lassen, und sie schilderte den Vorgang auf eine Art und Weise, die ihn in ein etwas komisches Licht stellte. Sie sagte, sie habe beim Weggang der Gäste mit den Eltern an den Wagen gehen wollen. Da habe Per sie plötzlich bei der Hand gefaßt und zurückgehalten. »Ich hätte wirklich beinahe geschrien, so fest hast du zugepackt. Du weißt ja gar nicht, wie weh es getan hat.« Sie sagte dies ohne alle Schelmerei. Es war eine ernstgemeinte Anklage.

Auf einer Besprechung im Zimmer des Pastors wurde beschlossen, die Verlobung geheimzuhalten, bis Per sein Examen gemacht hätte. Frau Blomberg legte dies ganz entschieden fest, und Per fügte sich willig. Auch die Hofjägermeisterin sollte nichts vor den anderen erfahren. Das hatte Inger ausdrücklich verlangt. Aber als Per nach Kærsholm zurückkam, wurde doch nichts daraus. Sein Gesichtsausdruck verriet ihn.

»Sie haben sich verlobt!« rief die Hofjägermeisterin sofort, als sie ihn erblickte.

 

Per konnte wieder einmal die Erfahrung machen, daß ebenso, wie ein Unglück selten allein kommt, auch das Glück oft Gefolge hat. Ein paar Tage danach erhielt er unerwarteten Besuch. Zwei Bauern, die er am Weihnachtstag im Pfarrhaus getroffen hatte, erschienen eines Vormittags auf Kærsholm und baten ihn um eine Unterredung. Beide waren hochgewachsen, behäbig und trugen Lodenmäntel. In ihrem Auftreten zeigten sie viel natürliche Würde. Per forderte sie auf, Platz zu nehmen, und obwohl er ganz unvorbereitet war und zudem gar keine Übung im Umgang mit Bauern hatte, kam es zu einer Verhandlung, die ein paar Stunden dauerte. Die beiden Männer erklärten zunächst ausdrücklich, sie kämen nicht als Abgesandte von irgend jemandem; sie hätten ihn nur aufgesucht, weil sie »davon gehört hätten«, daß er es übernehmen wolle, durch eine Regulierung des Flußlaufs den Wasserstand in den Wiesen dieser Gegend zu senken. Wenn dies seine Richtigkeit habe, sagten sie, wollten sie ihrerseits vielleicht die Angelegenheit näher in Betracht ziehen. Überhaupt trugen ihre Äußerungen das Gepräge berechneter Vorsicht und kleinlichen Mißtrauens, das in merkwürdigem Gegensatz zur Kraft ihrer Gestalten und zum Selbstgefühl ihrer Haltung stand. Obwohl aus den Fragen an Per deutlich hervorging, daß sie sich sogar sehr gründlich mit der technischen und juristischen Seite der Sache vertraut gemacht hatten, gaben sie sich doch ständig den Anschein, als würden sie das Projekt nur ganz oberflächlich kennen. Und als der eine einmal ein Wort über eine mögliche neue Versammlung fallenließ, beeilte sich der andere hinzuzufügen, daß es noch sehr zweifelhaft sei, ob daraus etwas würde, worauf der erstere rundweg erklärte, er für seine Person glaube nicht, daß für die Sache überhaupt Stimmung vorhanden sei.

Als sie gegangen waren, hatte Per fast den Eindruck, daß sie nur gekommen waren, um ihn auf eine endgültige Absage vorzubereiten. Doch die Hofjägermeisterin, der er hinterher die Unterhaltung wiedergab und die die Verhandlungstaktik der Bauern besser kannte, beglückwünschte ihn und erklärte mit ihrem leisen, frivolen Lachen, jetzt könne er sich getrost Maß nehmen lassen für sein Hochzeitshemd. Auch im Pfarrhaus machte man ihm große Hoffnungen, und es dauerte nicht lange, da verbreitete sich das Gerücht, die beiden Bauern seien nach Kopenhagen gefahren, um mit dem zuständigen Reichstagsabgeordneten zu bereden, wie man einen staatlichen Zuschuß zur Durchführung der Arbeiten beschaffen könne.

Per verbrachte schließlich fast den ganzen Tag im Pfarrhaus, und Inger überwand nach und nach ihre Scheu. Mit jedem Besuch gab sie sich ihrem Gefühl für ihn vorbehaltloser hin. Sie verlor zwar nie ihr ruhiges Gleichgewicht und zeigte sich sogar jedesmal ein wenig verstimmt, wenn er sie küßte, aber sie konnte ganz rührend in ihrer Fürsorge für ihn sein. Wenn er zudem bei schlechtem Wetter kam, brachte sie ihm gleich ein warmes Getränk und zwang ihn, es fast noch kochend zu schlucken. Und abends, wenn er heimging oder ‑fuhr, nahm sie jedesmal beim Abschied auf der Diele ihr kleines seidenes Tuch von den Schultern und knüpfte es ihm eigenhändig um den Hals, damit er sich nicht erkälte. Ihre Liebe steckte immer noch in den Windeln der Mütterlichkeit, und Per ließ sich ohne Murren wie ein Kind behandeln.

In seinem Verhältnis zur Schwiegermutter war ebenfalls nach und nach eine glückliche Änderung eingetreten. Mit Rücksicht auf Inger hatte er sich sehr bemüht, ihren Unwillen gegen ihn zu überwinden, was ihm jetzt auch tatsächlich zu gelingen schien. Er hatte entdeckt, daß sie Wert darauf legte, beim Nähen unterhalten zu werden, am liebsten ließ sie sich aus einem Buch aus dem Lesezirkel vorlesen. Jeden Nachmittag hatte er daher ein paar Kapitel aus einem der sogenannten Schullehrerromane vorgetragen, die im Hause sehr beliebt waren. Und obwohl ihn das Buch nicht fesselte, fand er nach und nach doch Gefallen an diesen Stunden, da seine Stimme mit dem Klappern von Ingers und der Schwiegermutter fleißigen Nadeln und dem gemütlichen Prasseln im Ofen zusammenklang.

Am Tag nach den Heiligen Drei Königen fuhr er nach Kopenhagen zurück. Er durfte sich jetzt nicht länger seiner Arbeit entziehen, und außerdem hatte die Krankheit des Hofjägermeisters eine schlimme Wendung genommen. Den letzten Tag verbrachte er ganz im Pfarrhaus, und beim Abschied sah er Inger zum ersten Mal richtig bewegt. Tränen standen ihr in den Augen, und sie hielt seine Hand so fest, als könne sie sie gar nicht mehr loslassen. Als er abfuhr, standen seine Schwiegereltern und alle seine kleinen Schwager und Schwägerinnen neben ihr auf der Steintreppe und winkten ihm, bis der Wagen zum Torweg hinaus war. Und hinterher lief Inger in den Garten, wo sie auf den Zaun kletterte, um ihm von hier aus ein letztes Lebewohl zuzuwinken.

Trotz allem war er ein wenig enttäuscht. Bis zum letzten Augenblick hatte er gehofft, Inger werde die Eltern um Erlaubnis bitten, ihn zum Bahnhof begleiten zu dürfen. Das Wetter war zwar kalt und stürmisch. Aber es wunderte ihn trotzdem, daß sie nicht einmal daran gedacht hatte. Und als er nun so auf dem Wagen saß, den leeren Platz neben sich, dachte er unwillkürlich an Jakobe. Er erinnerte sich an eine Formulierung, die sie einmal in einem Brief gebraucht hatte, um ihre Sehnsucht nach ihm auszudrücken. Sie hatte geschrieben, sie wolle gern um die ganze Welt reisen, nur um eine einzige Minute mit ihm zusammen zu sein. Ihm fiel noch ein, daß er diese Wendung damals für hysterisch übertrieben gehalten hatte. Jetzt, da er selbst liebte, verstand er sie.

Nach gut halbstündiger Fahrt sah er den Bahnhof vor sich liegen, und gleich darauf kam er an dem Häuschen vorbei, das die Hofjägermeisterin als sein und Ingers Liebesnest ausgesucht hatte. Das Gebäude, es lag etwas abseits vom Weg vor einem Hügel, war im Villenstil errichtet und hatte einen ganz ansehnlichen Garten, der selbst jetzt in seiner winterlichen Kahlheit das Ganze anheimelnd und einladend machte. Merkwürdig feierlich wurde Per zumute bei dem Anblick. War es möglich, daß dieses fremde Haus einmal sein Zuhause werden sollte, daß dort ein kleines warmes Nest stand und darauf wartete, sein Glück aufzunehmen? Sollte er, obwohl er sich gegen alle Schutzgeister des Lebens vergangen hatte, da drinnen hinter den jetzt kahlen Fenstern mit Inger sitzen, beschützt von denselben milden, guten Mächten, denen er so hochmütig hatte trotzen wollen? Sollte das Lachen und Weinen ihres Kindes einmal aus dem jetzt so stillen, öden Garten bis hier heraus zur Landstraße dringen? Und da – auf dem Berg hinter dem Haus –, ja, dort oben erhob sich vielleicht eines Tages seine Versuchsmühle und verkündete der Welt einen großen Sieg.

Als er in sein Abteil gekommen war und der Zug losrumpelte, fand er sich allein mit einem kleinen weißhaarigen Mann, in dem er bald den Pastor erkannte, der an seinem Verlobungstag mit seiner Frau einen Besuch bei den Schwiegereltern gemacht hatte. Der Geistliche, ein munterer und redseliger Herr, erkannte ihn nun auch, und bald kam ein Gespräch in Gang.

»Sie sind ja wohl ein Sohn des verstorbenen Pastors Johannes Sidenius, nicht wahr? Habe Ihren Vater nur flüchtig gekannt. War ja ein Mann, der sich nicht viel unter seine Amtsbrüder mischte, sondern ein Leben in tätiger Zurückgezogenheit vorzog. Ihre Mutter dagegen habe ich sehr gut gekannt in meinen jungen Jahren. Wir waren beide aus derselben Stadt – aus Vejle – und so ziemlich im gleichen Alter. Sehe da, daß Sie ihr sehr ähnlich sind. Schon kürzlich, als ich Sie bei unseren lieben Blombergs traf, kam es mir so vor, als ob Ihr Gesicht mich an jemand erinnerte. Dachte damals nicht dran, was für eine Geborene Ihre Mutter war. Aber später wurde mir klar, ich hatte da die Thorsenschen Gesichtszüge wiedererkannt. Nun ist mir, als sehe ich Ihren Großvater leibhaftig vor mir. Er war ein herrlicher Mann, munter und lebensfroh bis zu seinem Tod, stets voll lebhaftem Interesse für alles, was sich in der Welt zutrug. Sein gastliches Haus war ein großer Segen für das Städtchen, und Ihre Mutter war der Mittelpunkt aller jugendlich-harmlosen Vergnügungen. Ach ja! Glückliche Tage waren das! Ich erinnere mich noch an einen Maskenball, der in den Weihnachtsferien auf einem Gutshof eine Meile vor der Stadt stattfinden sollte. Und wir jungen Leute hatten Einladungen bekommen und freuten uns natürlich sehr. Da geschah es dann, daß am Nachmittag ein furchtbarer Schneesturm einsetzte; ein Schneegestöber war draußen, daß sich keiner hinaustraute, und wir alle waren verzweifelt. Und wie wir noch trostlos in unseren Stuben hocken, hören wir auf einmal Schlittenglocken und Peitschenknall auf der Straße. Wir rennen ans Fenster . . . wen sehen wir? Kirstine Thorsen auf dem Weg zum Ball! Vom Zuhausebleiben hatte sie nichts hören wollen. Sie hatte zuletzt erklärt, sie würde zu Fuß auf ihren weißen Strümpfen hingehen, wenn keiner sie fährt. Da bekamen natürlich auch wir anderen Mut, und das tolle Unternehmen lief sehr gut ab, wir amüsierten uns alle köstlich.«

»Verzeihen Sie«, unterbrach ihn Per etwas verlegen. »Das kann meine Mutter nicht gewesen sein.«

»Aber sind Sie nicht ein Sohn des seligen Johannes Sidenius?«

»Ja.«

»Und hieß Ihre Mutter nicht Kirstine? Und war sie nicht eine Tochter des Kreisarztes Eberhard Thorsen aus Vejle?«

»Ja.«

»Aber dann kann ich mich doch nicht irren!«

»Meine Mutter hatte doch noch eine Schwester.«

»Ach ja, die Signe, das arme Ding. Ach nein, die war schwach und kränklich und starb schon als ganz junges Mädchen. Ihre Mutter dagegen sah aus wie das blühende Leben, nicht sehr groß, nein, aber fein und anmutig. Mir fällt noch eine andere Geschichte ein. Es war im Sommer, wir Jungen hatten eine Landpartie arrangiert, eine Sammelfahrt, wie wir es nannten, und fuhren mit drei großen Leiterwagen zu einem Wald ein paar Meilen vor der Stadt. Der Wald gehörte einem Baron, der aus irgendeinem Grunde mit den Leuten der Umgegend auf Kriegsfuß lebte. An allen Waldeingängen waren große Schilder angeschlagen mit strengen Vorschriften für den Aufenthalt in den Jagen, obwohl sich der Wald über ein riesiges Gebiet erstreckte und er selbst weit entfernt wohnte. Die abgegrenzten Wege durfte man nicht verlassen, durfte nicht rufen und nicht spielen, um das Wild nicht zu verscheuchen. Ganz besonders streng verboten war es, im Wald Mahlzeiten zu bereiten. Wahrscheinlich hatten alle diese Vorschriften so viel Unwillen gegen den Baron erregt, und in übermütiger Laune beschlossen wir, ihnen zu trotzen. Wir lagerten uns ganz einfach auf einer Waldwiese, packten unsere Proviantkörbe aus, stellten die Kaffeemaschine auf und waren natürlich seelenvergnügt. Plötzlich verstummten wir, als hätte uns einer auf den Mund geschlagen: Zwei Männer kommen genau auf uns zu, der Baron selbst und ein Förster. Der Baron war dafür bekannt, daß er ein furchtbarer Grobian sein sollte, und schon sein Aussehen war furchteinflößend. Er war ein dicker, starker Mann mit einem rotblauen Gesicht wie ein Puter. Wir wußten wirklich nicht, was wir machen sollten, und hatten schreckliche Angst. Da sprang Ihre Mutter auf, goß schnell eine Tasse Kaffee ein und ging damit quer über die Waldwiese genau auf den Baron zu. Ich sehe sie noch genau vor mir in einem hellila Kleid, dazu mit einem riesigen kiepenförmigen Strohhut mit Blumen drauf. Ja, sie hatte eine wunderbare Figur und einen so leichten, schwebenden Gang, daß es eine Lust war, sie zu sehen. Sie macht einen Knicks vor dem Baron und bittet ihn ganz schelmisch, uns die Ehre zu erweisen und unser Gast im Grünen zu sein. Da konnte er nicht widerstehen. Im Grunde war er ein gutmütiger Mann, und das Ende vom Lied war, daß er uns einlud, ihn auf dem Rückweg in seinem Schloß zu besuchen und seinen Champagner zu kosten. Den Tag hat wohl keiner von uns vergessen. Hat Ihre Mutter denn nie davon erzählt?«

»Nein.«

Der Zug hielt in der Kreisstadt, wo der schwatzhafte alte Herr ausstieg. Per freute sich, daß er allein blieb. Die Geschichten des Pastors hatten ihn auf eigenartige; Weise verstimmt. Bei der Weiterfahrt mußte er daran denken, wie wenig er eigentlich von seiner Familie mütterlicherseits und von der Jugend der Mutter wußte. Während es für den Vater stets stolze Genugtuung war, sich an seine Jugend zu erinnern und von dem Leben im engen, armseligen Pfarrhaus des Vaters zu erzählen, hatte die Mutter förmlich Scheu davor gehabt, mit ihren Kindern von ihrem Elternhaus und ihren Angehörigen zu sprechen, Ihren einzigen Bruder, der irgendwo auf Fünen Arzt war, hatte Per noch nie gesehen. Er kam nicht ins Pfarrhaus, und seinen Namen erwähnte man dort nur selten.

Per saß am Fenster, die Hand unter dem Kinn, und schaute mißmutig auf die vorüberziehenden Felder, über denen es bereits dämmerte. Und allmählich verstand er das ängstliche Schaudern, das ihn unwillkürlich ergriffen hatte, als er den hinterlassenen Brief seiner Mutter las.


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