Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Achtzehntes Kapitel

Als Per am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich nicht wohl. Er schlief häufig unruhig. Diese Nacht hatte er die Decken abgeworfen und gefroren.

Wie er sich im Bett aufrichtete, durchfuhr seine Brust ein stechender Schmerz. Da bekam er Angst. Den Schmerz kannte er. Es war derselbe, der ihn schon mehrfach auf seiner Reise beunruhigt hatte, das letztemal in Wien nach den anstrengenden Bootsfahrten auf der Donau. Weil er den ausländischen Ärzten mißtraute und vielleicht auch aus einer gewissen Scheu, die Wahrheit zu hören, hatte er sich bislang nicht untersuchen lassen. Nun aber war es höchste Zeit. Er läutete nach dem Stubenmädchen und ließ einen der bekanntesten Krankenhausoberärzte Kopenhagens rufen.

Nach einigen Stunden kam der Arzt. In seiner Einsamkeit hatte Per genug Zeit, sich in die Vorstellung hineinzuphantasieren, diese sich wiederholenden und jedesmal heftiger auftretenden Schmerzen seien die Vorboten des Todes. Sterben – schon jetzt? Mit vierundzwanzig Jahren? Er hatte sein Lebenswerk noch nicht vollbracht, ja nicht einmal begonnen! Das war doch sinnlos, vollkommen unlogisch wie das Leben überhaupt.

Ja, den Standpunkt vertrat er schon längst nicht mehr, daß man übermütig mit seiner Gesundheit Schindluder treiben durfte und dem Tode trotzen konnte, in der Einbildung, das Leben könne nicht auf einen verzichten, weil seine Fähigkeiten und Kräfte zur Aufrechterhaltung und Förderung des Vaterlandes vonnöten seien. Nun wußte er, daß die Natur reich genug war, um verschwenderisch sein zu können, daß viel fähigere Menschen ins Grab gegangen waren, ohne sich entfalten zu können. Der Knochenmann bat nicht um Erlaubnis. Wie die Sonne Gerechte wie Ungerechte beschien, so griff er, der Mann der Nacht mit den leeren Augenhöhlen, blindlings nach Berufenen und Unberufenen, ohne die mindeste Rücksicht auf den Nutzen zu nehmen.

Per empfand nicht länger ein abgrundtiefes Grauen bei dem Gedanken an die Vernichtung. Wie er so dalag in dem großen Prachtbett unter einer farbenstrahlenden Seidendecke und sich auf sein Todesurteil vorbereitete, war er verhältnismäßig ruhig und gefaßt. Sogar wenn er keine Schmerzen hatte, gab es Augenblicke, da er sich in seiner Müdigkeit fast mit dem Gedanken aussöhnte, diese Welt zu verlassen und von den unnützen Kümmernissen des Lebens befreit zu werden. Der Lärm der Fuhrwerke, der vom Markt heraufdrang, das Geklingel der Straßenbahn, die Vorstellung, erneut mit dummen und frechen Spekulanten verhandeln zu müssen – das alles erfüllte ihn in diesen Augenblicken mit unsäglichem Ekel.

Je länger er jedoch wartete, desto schwerer wurde, es ihm, sein Unbehagen zu unterdrücken. Ein quälendes Gefühl des Verlassenseins erfaßte ihn und trieb ihm den kalten Schweiß aus dem Körper. Wie furchtbar, hier liegen und sterben zu müssen, ohne einen Menschen um sich zu haben!

Um die trüben Gedanken zu zerstreuen, wollte er lesen.

Am Vortag hatte er die Bücher ausgepackt, die er von seiner Reise mitgebracht hatte: vor allem große kostbare technische Werke. Darunter waren aber auch Schriften allgemeinbildenden Inhalts, die er während des langen Winteraufenthalts in Dresack angeschafft und später in Rom vermehrt hatte.

Von diesen letzten suchte er sich eine Sammlung griechischer und lateinischer Philosophen aus in deutscher Übersetzung, ein Buch, das ihn schon einmal unter ähnlichen Umständen getröstet hatte.

Er war jedoch noch nicht weit mit der Lektüre gekommen, als der Arzt eintrat. Es war ein kleiner graubärtiger Mann, der sich ohne viele Worte auf einen Stuhl vor das Bett setzte. Nachdem er Per einige Fragen gestellt hatte, klopfte er ihm Brust und Rücken ab.

Dann sagte er: »Mit den Lungen soll bei Ihnen etwas nicht in Ordnung sein? Das glaube ich eigentlich nicht. Es sind ja die reinsten Blasebälge! . . . Wo fühlen Sie die Schmerzen vor allem?«

Per zeigte auf eine Stelle auf der rechten Seite des Körpers, ungefähr bei der untersten Rippe.

»Ist es da? Aber vorhin meinten Sie doch, es sei mehr hier, auf der linken Seite.«

»Ja, der Schmerz wechselt.«

»Aha – hm. Tut es jetzt weh, wenn ich – so – hier draufdrücke?«

»Nein, das kann ich nicht behaupten.«

»Sie spüren nichts Besonderes?«

»Nein.«

»Vielleicht haben Sie gar keine Schmerzen mehr?«

Per mußte gestehen, daß das quälende, beklemmende Gefühl in der Brust und der Bauchgegend jetzt fast verschwunden war. Nun konnte er wieder tief einatmen, ohne daß er dabei Stiche hatte.

Der Doktor erwiderte nichts, untersuchte aber auch den Unterleib und die Beine. »Mit Ihren Lungen ist, weiß Gott, nichts in Unordnung«, wiederholte er, als er fertig war. »Wünschen Sie sich bloß nicht, die gegen andere einzutauschen. Aber Ihre Muskulatur ist ein bißchen schlaff. Das Herz könnte auch schneller schlagen. Erzählen Sie mir doch mal, wie Ihre tägliche Lebensweise ist. Treiben Sie Gymnastik? Duschen Sie jeden Morgen kalt? – Ja, das sollten Sie aber! Und dann Hantelübungen! Es gibt nichts Besseres als ein paar kräftige Armbewegungen mit 20-Pfund-Gewichten bei nüchternem Magen. Sehen Sie zu, daß Sie Ihr geehrtes Blut etwas flotter zirkulieren lassen. Weiter scheint Ihnen offensichtlich nichts zu fehlen. Aber das ist in Ihrem Alter auch schon mehr als genug. Bleiben Sie jetzt ein paar Tage liegen und versuchen Sie, Ihre Nerven wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Ich kann Ihnen überhaupt nicht genug empfehlen, ein bißchen mehr auf sich aufzupassen. Denn trotz Ihres unbedingt männlichen Körpers neigen Sie anscheinend zu – ja, wie soll ich es mit einem anständigen Wort bezeichnen –, na, zu solchen kleinen Unpäßlichkeiten wie heute morgen. An und für sich ist die Sache leicht zu erklären. Erst mal waren Sie auf einer drei- bis viertägigen Eisenbahnfahrt, während der Sie weder ordentlichen Schlaf noch vernünftige Mahlzeiten bekommen haben, und sind so richtig durchgeschüttelt worden. Dann hatten Sie – wie Sie selbst bemerkten – allerlei Geschäfte mit viel Unruhe wahrzunehmen und waren außerdem auch noch auf Gesellschaften. Das alles ist eine vollkommen ausreichende Erklärung, da wir ja alle hier oben eine ziemlich schwache Konstitution haben, auch wenn Sie selbst zu den kräftigen Typen gehören.«

Bei den letzten Worten hatte er ein eigenartiges böses Funkeln in den kleinen, etwas schielenden Augen. Per hörte ihm kaum noch zu. Nachdem er Gewißheit erlangt hatte, daß er nicht lungenkrank war, fühlte er sich ganz wohl und wünschte nichts sehnlicher, als den redseligen Mann loszuwerden.

Als der Arzt gegangen war, stand er sogleich auf. Mit erneuertem Lebensgefühl schritt er summend im Zimmer auf und ab und kleidete sich an. Dann frühstückte er mit recht gutem Appetit und setzte sich an seinen Arbeitstisch. Plötzlich war wieder Schaffensdrang in ihm erwacht. Er nahm seine Zeichnungen vor, auch die Zeichengeräte, die Tabellen und die anderen Hilfsmittel. Jetzt Volldampf voraus! Full steam!

Als er alles für die Arbeit geordnet hatte, entdeckte er das Buch, in dem er gelesen hatte, ehe der Doktor kam. Er hatte es vorhin auf den Tisch geworfen, zwischen die Zeichenrollen. Nun konnte er es nicht lassen, noch einmal hineinzusehen, bevor er es weglegte. An der Stelle, wo er gelesen hatte, war ein Zeichen. Es war Platons Bericht über jene freimütige Unterhaltung, die Sokrates mit seinen Schülern über den Tod geführt hat, unmittelbar vor der Hinrichtung des großen Lehrers. Pers Blick fiel auf den Abschnitt, wo Sokrates von dem Körper als von dem schweren klebrigen Teig spricht, mit dem die Seele zusammengeknetet wurde und der die Ursache dafür ist, daß die Menschen niemals auf befriedigende Weise in Besitz dessen gelangen, wonach sie streben, soweit dies nicht das Niedrige und Unedle ist.

»Denn der Körper verursacht uns tausenderlei Unbequemlichkeiten. Er erfüllt uns mit Liebesgelüsten und Begierden, mit Besorgnissen und mancherlei Trugbildern und vielen Kindereien . . . Um den Besitz von Geld und Gut nämlich entstehen alle Kriege. Geld und Gut aber müssen wir uns erwerben um des Körpers willen, dessen Pflege wir besorgen müssen. Wenn er uns auch einige Muße läßt und wir uns anschicken, etwas zu untersuchen, so kommt er uns bei den Untersuchungen wieder in die Quere, stört und verwirrt uns und bringt uns aus der Fassung, so daß wir seinetwegen die Wahrheit nicht erkennen können . . . Und solange wir leben, werden wir, wie es scheint, nur dann dem Wissen am nächsten sein, wenn wir sowenig wie möglich mit dem Leibe zu schaffen haben und nur, wo es unbedingt nötig ist, in Gemeinschaft mit ihm treten, und wenn wir uns nicht mit seiner Natur anfüllen . . .«

Per ließ das Buch sinken und sah eine Weile sinnend mit zusammengezogenen Brauen vor sich hin. Seltsam! dachte er. Diese Worte, vier Jahrhunderte vor Christi Geburt geäußert, waren ja wie aus einem christlichen Andachtsbuch abgeschrieben!

Er las die Seite zu Ende und auch die nächste Seite und noch eine . . . Er konnte nicht wieder aufhören. Das tiefsinnige Spiel der Phantasie mit dem Übernatürlichen versetzte sein innerstes, verborgenstes Seelenleben in Schwingungen. – Der Vormittag war schon fast vorbei, ehe er zu seinen Zeichengeräten und Tabellen griff.

Aber er hatte an diesem Tag nicht mehr Glück mit seiner Arbeit als am vorhergehenden. Früher hatte er kein Stückchen Karte sehen können, ohne von Arbeitsfieber erfaßt zu werden. Ja, die Schwierigkeit hatte bei ihm vor allem darin bestanden, mit Umsicht unter seinen wimmelnden Einfällen auszuwählen, die bei der Arbeit unablässig wie Knospen emporschossen. Jetzt fiel es ihm schwer, sich auf das vor ihm liegende Papier zu konzentrieren. Alle möglichen Dinge, die ihn gar nichts angingen, jeder Ruf auf der Straße, jedes Klingeln im Hotel störte und zerstreute ihn.

Wie am Vortag endete es schließlich damit, daß er in krankhafter Erregung das ganze Projekt für verfehlt hielt und in düsterer, hoffnungsloser Verzweiflung sitzen blieb, die Hände vor dem Gesicht.

Da fiel ihm Professor Pfefferkorn aus Berlin ein, der sich während seines dortigen Aufenthalts so angelegentlich für ihn interessiert hatte. Per hatte ihm seinerzeit auf dessen Wunsch hin einen schriftlichen Bericht über seine Ideen zugeschickt. Als Dank dafür hatte ihm der Professor einen längeren Brief geschrieben. Diesen suchte er jetzt unter seinen Papieren hervor.

». . .  Was erstens Ihren hydraulischen Motor betrifft, möchte ich mich darüber mit Vorsicht äußern. Hiermit haben Sie einen ganz neuen Weg eingeschlagen; da ist es nur natürlich, daß der erste Schritt unsicher ist. Übrigens, bei einer unserer Unterhaltungen habe ich wohl erwähnt, daß man in Amerika ähnliche Versuche gemacht hat und dort unablässig an der Lösung dieser wirklich gewaltigen, lockenden Aufgabe arbeitet, sogar die unerschöpfbare Kraft des Ozeans an das Gängelband menschlicher Klugheit zu legen. Es ehrt Sie, daß auch Sie von diesem Gedanken gepackt sind. Ob allerdings der Weg, den Sie angegeben haben, zum Ziel führen kann, darüber möchte ich mich – wie gesagt – nicht äußern. Hingegen bin ich der Ansicht, da ich mich nun sehr aufmerksam in Ihr neues System zur Regulierung der Windmotoren vertieft habe, daß Sie hier einen glücklichen Einfall gehabt haben. Der Gedanke mit der eingeschobenen Gewichtsstange und vor allem die Methode für das Ausgleichen spricht mich an. Sie haben hier auf Dinge verwiesen, die außerordentliche Beachtung verdienen. Daß gerade Sie die entscheidende und endliche Lösung dieses großen, schwierigen Problems gefunden haben, das von ungeheurer Bedeutung für alle an Gebirgen und Flüssen armen Länder ist, glauben Sie natürlich selbst nicht. Die Regel, daß Vollkommenheit nur durch unendlich viele kleine Verbesserungen erreicht wird, gilt auf keinem Gebiet mehr als auf dem technischen. Sie werden sich sicher nicht mit den bereits gewonnenen Erkenntnissen zufriedengeben. Ich werde Ihnen stets mit Interesse in Ihrer Entwicklung folgen, soweit die Umstände es mir gestatten. Vor allem sehe ich mit gespannter Erwartung den Ergebnissen Ihrer ständigen Bemühungen auf den hier berührten Gebieten entgegen. Über Ihre reichen Anlagen sind Sie sich ja selbst nicht in Zweifel. Bestimmt werden Sie es weit bringen, wenn es Ihnen mehr als bisher gelingt, Ihren erstaunlich offenen Blick für die großen Zusammenhänge der Dinge mit der Vertiefung ins Detail zu verbinden, die man in der Jugend gern unterschätzt, worauf aber in Wirklichkeit der weite Überblick beruht. Ich meine mich zu erinnern, daß es Ihre Absicht war, auf Ihrer Studienreise auch Nordamerika zu besuchen. Das ist sicher sehr empfehlenswert. Dort werden Sie besser als irgendwo sonst Gelegenheit haben, Ihre Erfahrungen auf dem rein praktischen Gebiet zu vervollkommnen. – Und ich meine hiermit eigentlich nicht ausschließlich die Technik. Auch auf anderen Gebieten sind wir die Lehrlinge der Neuen Welt geworden. In diesem Land der bedeutenden Erfindungen werden Sie vor allem lernen können, daß gewaltige Wirkungen sehr oft mit scheinbar recht unansehnlichen Mitteln erreicht worden sind.«

Dieser alte halbvergessene Brief, der nichts für Per bedeutet hatte, weil er ihm nicht anerkennend genug erschienen war, richtete nun sein Selbstvertrauen wieder auf. Außerdem ließ er den Entschluß in ihm reifen, endlich seine unterbrochene Studienreise fortzusetzen. Er wollte deshalb wiederum die Weiterführung seiner Geschäfte in Ivans Hände legen, und vor allem wollte er es ihm völlig überlassen, mögliche neue Verhandlungen mit den Börsenspekulanten aufzunehmen. Per wollte in aller Stille abreisen – und diesmal direkt nach Amerika. Es hatte keinen Zweck, sich noch einmal der Gefahr auszusetzen, den Verlockungen der Alten Welt zu erliegen.

Nachmittags fuhr er hinaus nach »Skovbakken«, um mit Jakobe hierüber zu sprechen. Sie war im Garten, als er kam. Sie saß auf einer Bank im Sonnenschein neben dem Pavillon.

Obgleich sie Pers Stimme von der Terrasse her sehr wohl gehört hatte, blieb sie ruhig sitzen und gab auch durch keinen Zuruf zu erkennen, wo sie war. Als er sie endlich fand, reichte sie ihm nur ihre Wange zum Kuß, obwohl er ihren Mund gesucht hatte. Sie brachte es auch nicht über sich, ihm für die mitgebrachten Blumen zu danken, zumal sie deutlich merkte, daß er es erwartete.

Den ganzen Tag über war sie in einem erzwungenen, angestrengten traumähnlichen Zustand umhergegangen und hatte sich bemüht, zu vergessen, was vorgefallen war. Sie liebte sonst stets die Klarheit; doch in ihrem Verhältnis zu Per fing sie an, auch auf die Weise sich selbst untreu zu werden, daß sie soweit wie möglich vor der Wahrheit die Augen verschloß, wo ihr Liebesglück bedroht war. Wie jemand, der aus süßen Träumen erwacht ist und sich auf die andere Seite legt, in der Hoffnung, weiterträumen zu können, gab sie sich sogar mit einer Art Wollust ihrem Selbstbetrug hin.

Per konnte sich nicht sofort überwinden, ihr zu erzählen, daß sie sich schon wieder trennen müßten. Überhaupt war es ihm nicht leichtgefallen, den Entschluß zum Aufbruch zu fassen. Er war des unsteten Wanderlebens müde, und die Tatsache, daß er sich nur schwer in den fremden Sprachen ausdrücken konnte, von denen das Deutsche ihm noch am einfachsten vorkam, trug das Seine zu seiner Reiseunlust bei. Außerdem tat es ihm leid, Jakobe gerade jetzt verlassen zu müssen, da sie sich endlich in voller Aufrichtigkeit und gegenseitigem Verständnis gefunden hatten. Doch es half nichts – es mußte sein.

Zu Anfang war er zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um die Veränderung in Jakobes Wesen zu bemerken. Doch wie er nun neben ihr auf der Bank saß und überlegte, wie er sie am besten vorbereiten könne, bemerkte er, daß sie hastig etwas von ihrer Wange wischte, so als verscheuche sie mit der Hand eine Fliege. Aber Per hatte Zeit gehabt, zu entdecken, daß es eine Träne war.

Er war ganz verstört. Noch niemals hatte er sie weinen sehen.

»Aber – Liebste!« drang er in sie. »Was ist geschehen? Hast du Kummer?«

»Nein, es ist nichts . . . Es ist nur Nervosität«, erwiderte sie und schob seinen Arm von sich, als er ihn um ihre Hüfte legen wollte.

»Ist dir vielleicht nicht gut?«

»O doch, mir fehlt nichts. Wie ich dir sage: es hat nichts zu bedeuten . . . Wollen wir nicht ein bißchen spazierengehen. Mich friert.«

Sie stand schnell auf. – Seine Fürsorglichkeit war ihr peinlich. Sie gingen zum Strand hinunter. Jetzt fiel es Per plötzlich auf, wie elend sie aussah und wie vergrämt. – Und er schwankte wieder, ob er reisen sollte.

Mitten in seinem Mißmut kam ihm ein verlockender Gedanke. Wie ein einziger Sonnenstrahl, der durch die Wolken bricht, plötzlich eine weite Landschaft verwandeln kann, so vergoldete ihm diese Idee im Nu das Dasein. Jakobe konnte ja mitkommen! Sie würden heiraten und dann vor Gott und aller Welt zusammen abreisen. – Daß er nicht eher daran gedacht hatte! Die Unannehmlichkeiten der Reise, das öde Hotelleben, die Einsamkeit – alles, was ihn bisher mutlos gemacht hatte, verwandelte sich plötzlich in Lust und Freude. Aus Erfahrung wußte er ja, was für eine vorzügliche Reisegefährtin Jakobe war, unerschrocken, anspruchslos, mütterlich besorgt – und dazu bewandert in allen fremden Sprachen.

»Jakobe! Jakobe!« Er blieb mitten auf dem Gartenweg stehen, und ehe sie es verhindern konnte, hatte er die Arme um sie geschlungen. Und nun bekannte er ihr alles, was er seit gestern durchlebt und durchlitten hatte und welche Pläne er für sie beide geschmiedet hatte.

Jakobe ging eine Zeitlang schweigend weiter, den Kopf an seine Schulter gelehnt, in einer Art glücklicher Selbstbetäubung, die ihr das Blut aus Wangen und Lippen sog. Sie wußte genau, daß sie ihn weder begleiten konnte noch wollte. In ihrem jetzigen Zustand war es ganz unmöglich für sie, so weit wegzureisen. Per sprach davon, ein halbes Jahr fortzubleiben, und in kürzerer Zeit würde er auch keinen Nutzen von der Reise haben. Sie wäre ihm indessen nur eine Last und bereitete ihm Sorge.

»Du sagst nichts?« fragte er, als sie auf ihrem Lieblingsplatz am Strand mit der weiten Aussicht über den Sund und die sonnenbeschienene schwedische Küste angekommen waren. »Gefällt dir mein Vorschlag nicht?«

»Ich weiß nicht recht, was ich antworten soll«, erwiderte Jakobe. Sie saß vornübergebeugt und halb abgewendet, den Ellenbogen auf dem Knie. Das Kinn hatte sie in die Hand gestützt. Die andere Hand hatte Per nicht losgelassen. – »Ich verstehe recht gut, daß du dich wieder auf die Reise begeben mußt. Ich habe schon selbst daran gedacht . . . Allein, Liebster, mich kannst du nicht über den Atlantischen Ozean mitnehmen!«

»Aber weshalb nicht? Wenn ich bei dir bin, kannst du beruhigt sein. Ich werde bestimmt auf dich aufpassen. Oder hast du vor der langen Seereise Angst?«

»Ach ja, davor auch. Deshalb bleibe ich zu Hause . . . und warte auf dich. Und ich will bestimmt geduldig sein. Doch mit deinem Vorschlag, wir sollten vor der Reise heiraten, hast du recht. Das wird aus verschiedenen Gründen praktisch sein.«

»Und wenn wir richtig Mann und Frau geworden sind, sollen wir uns gleich trennen? Machst du dich lustig über mich? Das wäre wirklich schlimmste Barbarei. Ich kenne dich beinahe nicht wieder, Jakobe. Wie kommst du bloß auf solche Gedanken? Aber das kann ja gar nicht deine Meinung sein, nicht wahr?«

Sie nickte schweigend.

»Ich glaube dir nicht, Jakobe. Du bist in letzter Zeit so merkwürdig. Was verheimlichst du mir?«

»Wirklich gar nichts, Liebster!« entgegnete sie und preßte fieberhaft seine Hand. Sie konnte sich jetzt weniger denn je überwinden, ihm die volle Wahrheit zu sagen. Sie wagte es nicht. Sie war jetzt hinlänglich mit seinem Charakter vertraut, und sie befürchtete, er könne ihren Zustand als Vorwand benutzen, die Reise aufzuschieben oder ganz aufzugeben. Das wollte sie um keinen Preis auf ihr Gewissen nehmen, denn sie begriff sehr gut, daß der Amerikaaufenthalt von großer Bedeutung für ihn werden konnte. Und mehr als je zuvor war es ihr jetzt darum zu tun, daß es vorwärtsging mit ihm. Hatte sie früher gemeint, sich mit seiner bloßen Liebe begnügen zu können, so suchte sie jetzt unwillkürlich Ersatz für das, was diese Liebe in jüngster Zeit für sie an Wert eingebüßt hatte.

»Hör zu!« unterbrach sie schließlich Pers Überredungsversuche. »Jetzt habe ich eine Idee: Du kannst ja über England reisen. Dann will ich dich so weit begleiten. Wir bleiben acht Tage in London und acht Tage irgendwo auf dem Lande oder an der See. Und in Liverpool trennen wir uns. – Was hältst du davon?«

»Natürlich – wenig ist besser als nichts. Dann bleibt mir immer noch die Hoffnung, daß du in Liverpool auf bessere Gedanken kommst.«

»Das sollst du nicht tun. Am allerwenigsten um deinetwillen, Liebster! Denk auch einmal daran: Wir können nach deiner Rückkehr nicht gut im Hotel wohnen. Wir müssen doch unsere eigene Wohnung haben. Und während du fort bist, habe ich bestimmt genug damit zu tun, sie einzurichten.«

»Das ist wahr. Du hast recht, Jakobe . . . wie immer. Ach, du kluges Mädchen, schon jetzt freue ich mich auf die Heimkehr . . . Stell dir vor . . . unser eigenes Heim! Es braucht wahrhaftig nicht übertrieben großartig zu sein – nicht? Und es müßte vor der Stadt liegen, in freier Umgebung, mit dem Blick auf Wald und Strand. Wie gefällt dir das? Wir beide!«

In seiner Begeisterung hatte er sie von neuem an sich gezogen, und sie lehnte müde ihren Kopf an seine Schulter und schloß die Augen.

»Ach ja!« fuhr er fort. »Im Grunde ist alles andere bedeutungslos und gleichgültig im Vergleich zu den Gütern, die sozusagen für alle gleich sind, für Arme wie Reiche, die so selbstverständlich aus dem Dasein wachsen wie Früchte aus einem Baum. In der Rangordnung der Lebenswerte liegt etwas Verkehrtes – auch in der modernen Gesellschaft. Ich preise mich glücklich, weil ich das beizeiten eingesehen habe. Denn ich wäre tatsächlich bald im Schlamm steckengeblieben!«

Wieder überfiel Jakobe Unruhe. Obgleich es eigentlich nur ihre eigenen Worte waren, die er wiederholt hatte, ja sogar genau dieselben, die zu hören sie so oft erträumt hatte, so wurde sie jetzt von ihnen erschreckt. Inzwischen hatte auch sie sich verändert. Besonders in den letzten Tagen hatte sich ihre Auffassung von den sogenannten »wahren Werten des Daseins« erheblich gewandelt.

»Ich glaube, du siehst die Dinge falsch«, begann sie mit fremder Härte in der Stimme.

»Schau dich doch um, und dann sage mir, ob nicht Egoismus, Eitelkeit, Brutalität und Herrschsucht genauso feste Bestandteile in der neuen Gesellschaft sind wie in der alten!«

»Ja, warum sollten sie es denn nicht sein?«

»Warum?«

»Ja – diese Eigenschaften gehören nun einmal zu den menschlichen Triebkräften, die die Welt vorwärtsbringen. Daher dürften sie wohl auch nicht so verdammenswert sein, wie man es so gern behauptet.«

Per lachte. Er faßte ihre Worte als Scherz auf.

»Vielleicht meinst du gar, sie seien verdienstvoll?«

»Ich weiß nicht. Sind es nicht letzten Endes diese Eigenschaften, auf denen das Wohlergehen der Menschen beruht?«

An dem Ton hörte Per jetzt, daß es ihr Ernst war, und er blickte sie überrascht an. Aber er war zum Streiten nicht aufgelegt und zog die Sache ins Lächerliche. »Jaja, heute willst du mir unbedingt widersprechen, und wenn du deine eigenen Meinungen bekämpfst!«

Jakobe schwieg. Auch sie hatte keine Lust, den Streit wiederaufzunehmen. Und so fingen sie an, Reisepläne zu machen und die Reiseroute zu besprechen.

 

Der Krieg, den Max Bernhardt, kräftig unterstützt von Dyhrings »Borgerbladet«, gegen die Urheber des Kopenhagener Freihafenprojekts führte, hatte dieser Tage einen für die Öffentlichkeit überraschenden Abschluß gefunden. Es war ihm wirklich zuletzt geglückt, diese Leute nervös zu machen. Sie hatten sich auch auf ein gewagtes Unternehmen eingelassen; großes Kapital mußte hierfür aufgebracht werden, und das Ansehen des »Borgerbladet« stieg in Börsenkreisen wider Erwarten unter der neuen Leitung ständig. Auch andere Zeitungen, bei denen sich Max Bernhardt Einfluß verschafft hatte, fingen an, die Angelegenheit als Geschäft zu verdächtigen. Um nicht eine Niederlage bei der bevorstehenden Aktienzeichnung befürchten zu müssen, beschlossen daher die großen Herren, vor dem verhaßten Obergerichtsanwalt zu Kreuze zu kriechen und ihm einen Platz in der Direktion anzubieten.

Diesen Ausgang der Sache hatte Max Bernhardt die ganze Zeit über im Auge gehabt und seine Taktik danach bestimmt. Er nahm das Angebot an, ohne irgendwelche Überraschung zu zeigen. Bei einem größeren Jubiläumsfest, das in jenen Tagen stattfand, wurde die Versöhnung zwischen ihm und seinem alten Widersacher, dem zuvor allmächtigen Bankdirektor, offiziell besiegelt. Letzterer bat demonstrativ um die Ehre, ein Glas auf Bernhardts Wohl trinken zu dürfen – eine Begebenheit, die am folgenden Tag in allen Zeitungen der Stadt gewürdigt wurde, im »Borgerbladet« sogar unter der Überschrift: »Ein historischer Moment«.

Für Max Bernhardt war der errungene Sieg von entscheidender Bedeutung. Es war ihm gelungen, der Öffentlichkeit einzuhämmern, daß man ihn nicht umgehen konnte, daß selbst die Börsenmatadore nichts ausrichten konnten, ohne sich seines Beistandes versichert zu haben. Ivan blieb fast der Atem weg, als er die Neuigkeit erfuhr. Er glaubte, nun sei jede Hoffnung für Pers Pläne auf lange Zeit rettungslos dahin, und in einem hysterischen Anfall der Erbitterung schrie er etwas von Verrat und Meuchelmord.

Per zuckte überlegen die Achseln.

»Ich habe es dir ja gesagt«, wandte er sich an Jakobe, die ebenfalls sehr erregt über das Ereignis war. »Gibst du jetzt wenigstens zu, daß dein Herr Max ein bißchen zu gerissen ist und daß es ein Glück war, daß ich ihm nicht auf den Leim gekrochen bin? Sonst hätte ich jetzt wie ein begossener Pudel dagestanden! Nein, ich wiederhole es noch einmal: In unserem Land muß endlich eine Bewegung ins Leben gerufen werden, die diese Schädlinge aus dem öffentlichen Leben tilgt. Sonst geht schließlich jede Anständigkeit im Schmutz unter.«

In Jakobe regte sich Widerspruch. Doch sie verzichtete darauf, zu antworten. Vorläufig war es unnütz, die Diskussion über diesen Punkt fortzuführen. Nun setzte sie ihre ganze Hoffnung auf seinen Aufenthalt in Amerika. Im übrigen unterdrückte sie ihre wiedererwachte Kritik ihm gegenüber, fest entschlossen, ihn so zu lieben, wie er nun einmal war.

Ivans Meinung von Pers Aussichten erwies sich jedoch bald als viel zu schwarzseherisch. Max Bernhardts neuer großer Sieg entfachte gesteigerten Widerstand unter seinen Neidern und heimlichen Feinden, nicht zuletzt bei dem »ehemaligen Landmann« Nørrehave, der sich von Bernhardt in dieser Sache als verraten betrachtete. Mit Obergerichtsanwalt Hasselager entwickelte er plötzlich viel Initiative für Pers Projekt. Und diesen Männern schloß sich nun aus eigenem Antrieb und vorbehaltlos – Oberst Bjerregrav an.

Gerechtigkeitsgefühl und Vaterlandsliebe hatten allmählich die Eifersucht des alten Mannes überwunden. Der Judenhaß war in all seiner instinktiven Kraft bei dem groben Haudegen aufgeflammt, dem das Nationalgefühl Religion war. In seinen Augen war jeder noch so einheimische dänische Jude nur ein halb naturalisierter Deutscher mit heimlichen Sympathien für den Erbfeind. Er behauptete, und dies war auch nicht ganz falsch, daß der größte Teil der jüdischen Großhändler in Kopenhagen Vertreter deutscher Firmen seien, wie auch hauptsächlich mit dem Geld jüdischer Banken aus Hamburg und Berlin die moderne Umgestaltung der Hauptstadt vorgenommen worden sei. Bis in die Provinz, ja bis zu den mit Schulden belasteten Bauernhöfen hätten die deutschen Millionen ihren Weg gefunden und setzten von hier aus unter der Oberfläche die Eroberung Dänemarks fort, die die Kanonen eingeleitet hatten. Deshalb hatte ihm stets so besonders an Pers Hafenplan gefallen, daß dies endlich ein Versuch war, die merkantile Selbständigkeit des Landes gegenüber dem großen Nachbarstaat zu behaupten. Ein Freihafen bei Kopenhagen war jedoch nach seiner Meinung wegen der Lage der Stadt an einer schmalen seichten Fahrrinne nie imstande, den Welthandel anzulocken.

Nun hatte er den Entschluß gefaßt, selbst den ersten Schritt zu einer Versöhnung mit Per zu tun. Er wollte einen Strich ziehen unter den alten Hader. Ja, der Übermut, mit dem Per vor Jahren nach jener verhängnisvollen Auseinandersetzung von ihm Abschied genommen hatte, spornte ihn nun fast noch mehr an. Jetzt, da er in voller Überzeugung den Retter des Landes in ihm sah, bereitete es ihm gewissermaßen eine religiöse Befriedigung, jene Prophezeiung buchstäblich in Erfüllung gehen zu lassen.

Währenddessen ordnete Per im Hotel alles für seine Abreise. Unter anderem arbeitete er ständig und mit großem Fleiß an seinen Zeichnungen. Er hoffte immer noch, er könne die notwendigen Änderungen, vor allem die des Hafenprojekts, abschließen. Schon im Morgengrauen stand er auf und war fast den ganzen Tag zu Hause. Doch es kam noch immer nicht der alte Schwung in seine Gedanken. Es ging nur langsam und beschwerlich voran. Jedes Geräusch auf dem Gang oder draußen auf dem Markt störte ihn.

 

Eines Vormittags gegen neun Uhr saß Per an seinem Arbeitstisch und las, als an die Tür geklopft wurde. Er erkannte Ivans Klopfen und versteckte schnell das Buch unter einigen Papieren. Wieder war es eines der Bücher aus Dresack, das ihn verlockt hatte. »Gibt's was Neues?« rief er dem Schwager entgegen, der mit betroffenem Gesichtsausdruck hereinstürzte.

»Ein neuer Schurkenstreich! Ein Betrugsversuch ersten Ranges! Sieh her!« Ivan zog aus seiner Aktenmappe, die allmählich ein unzertrennliches Requisit für ihn geworden war, ein Exemplar einer kleineren, weniger gelesenen Zeitung. »Lies nur!«

Unter der Überschrift »Neues Land« stand dort ein längerer sachlicher Leitartikel über die dänische Seefahrt. Es wurde einleitend betont, daß es im Grunde ein Auszug aus den Veröffentlichungen eines Ingenieurs Steiner sei, die in einigen Provinzblättern erschienen waren. Darin wurde ein Plan behandelt, der im ganzen Artikel das »Steinersche Projekt« genannt wurde, in Wirklichkeit aber Pers Entwurf mit wenigen unwesentlichen Änderungen war.

»Was sagst du dazu?« fragte Ivan und sah Per voller Spannung an, der beim Lesen bleich und bleicher geworden war. »Das ist geradezu Diebstahl! Kennst du diesen Menschen?«

Per schüttelte den Kopf.

»Er muß augenblicklich entlarvt werden!« fuhr Ivan fort. »Was gedenkst du zu tun?«

»Nichts«, entgegnete Per nach kurzem Überlegen und gab ihm die Zeitung zurück.

»Das kann nicht dein Ernst sein! Der Mann muß doch überführt werden. Du mußt dich verteidigen, dein Recht behaupten.«

»Ich – mich verteidigen?« brauste Per auf.

»Ja – entschuldige, aber du hast kein Recht, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. Sie kann gefährlich werden. Bedenke, du hast viele Feinde und Neider, die sich ins Fäustchen lachen würden, wenn sie sehen, wie du wegen eines anderen beiseite geschoben wirst, der sich die Ehre anmaßt, die deiner Arbeit und deinem Genie gebührt!«

»Oh, das hat keine Not! So leicht kann man mir nicht zu Leibe rücken. Und selbst wenn!« fügte er unter den Nachwirkungen der Stimmung hinzu, aus der er durch Ivans Ankunft gerissen worden war. »Ich habe es bald satt, mich mit diesem Pack herumzuschlagen. Falls es tatsächlich nötig sein sollte, überall gemeinsame Sache mit der Gemeinheit machen zu müssen, dann fragt man sich schließlich, ob das Spiel überhaupt all die Unkosten und Mühe wert ist. – Aber um von etwas anderem zu reden: Weißt du übrigens, daß deine Schwester und ich in Kürze zu heiraten gedenken?«

»Vater und Mutter haben davon gesprochen.«

»Offen gestanden, das nimmt mich im Augenblick mehr in Anspruch als all das Zeitungsgewäsch. Sage mir, da du einmal hier bist, weißt du darüber Bescheid, welche Unterlagen man bringen muß, um hierzulande getraut zu werden?«

»Hast du die Dinge noch nicht geordnet? Ich habe geglaubt . . .«

»Ja, das ist auch gewiß verkehrt von mir. Ich habe es vergessen . . . oder vielmehr . . . Ich konnte mich nicht überwinden, selbst von Amt zu Amt zu laufen. Da werde ich immer so wütend über die Überheblichkeit, mit der man behandelt wird, daß ich Krach schlage. Könntest du mir nicht den Gefallen tun, die Angelegenheit für mich zu ordnen? Ich weiß, daß man sich zum Beispiel an eine Magistratsbehörde wenden muß. Außerdem muß wohl auch, glaube ich, irgendwas öffentlich ausgehängt werden. Das ist ein verteufelter Kram.«

Ivan war es gewohnt, daß ihn Per bei allen Gelegenheiten als Laufjungen verwendete. Er willigte ohne langes Bedenken ein. Dafür nahm er ihm das Versprechen ab, ein wachsames Auge auf den verdächtigen Herrn Steiner zu haben und einzuschreiten, sobald dieser noch ein einziges Mal öffentlich als Urheber des westjütischen Freihafenprojekts genannt werde.

Er hatte seine Aktenmappe schon unter den Arm geschoben und stand an der Tür, um zu gehen, als er sich noch einmal nach Per umdrehte, der am Schreibtisch sitzen geblieben war.

»Noch etwas . . . Heißt irgend jemand aus deiner Familie Kirstine Margrete? Eine Pastorenwitwe hier in der Stadt?«

Per zuckte zusammen. Es waren die Vornamen seiner Mutter. »Nein!« erwiderte er mit unbewegtem Gesicht. »Weshalb fragst du?«

»Oh«, antwortete Ivan ein wenig verlegen, wie immer, wenn er ausnahmsweise einmal Per gegenüber dessen Familienverhältnisse erwähnte. »Heute morgen habe ich zufällig in der ›Berlingske Tidende‹ unter den Todesanzeigen den Namen Sidenius gelesen. Na, dann bis bald! Wir sehen dich gewiß heute nachmittag!«

Noch viele Minuten, nachdem sich die Tür hinter Ivan geschlossen hatte, saß Per reglos auf seinem Stuhl. Als er sich endlich erhob, um den Knopf der elektrischen Klingel zu betätigen, wurde ihm schwarz vor Augen. Zugleich aber gingen ihm Gedanken fast ärgerlicher Art durch den Kopf. Das fehlte noch, daß ihn das gerade jetzt treffen mußte! . . . Er war wahrhaftig ein vom Unglück verfolgter Mensch.

»Bringen Sie mir bitte die ›Berlingske Tidende‹ von heute morgen«, befahl er dem eintretenden Zimmermädchen.

Als er kurz darauf das entfaltete Blatt in Händen hielt und in der langen Reihe von Todesanzeigen den fettgedruckten Namen der Mutter erblickte, wurde ihm erneut schwindlig.

»Unsere liebe Mutter Kirstine Margrete Sidenius, Witwe des Pastors Johannes Sidenius, ist heute zu ewigem Frieden eingegangen.« Die Bekanntmachung war unterzeichnet: »Die trauernden Kinder«. Und auf diese Worte starrte Per jetzt unverwandt, bis die Buchstaben wie zu einem Nebel zerflossen.

Noch vor wenigen Tagen hatte er seinen nächtlichen Besuch vor der Wohnung der Mutter wiederholt. Ein kalter Schauer durchfuhr ihn, als er daran dachte, daß sie vielleicht in jener Nacht in den letzten Zügen gelegen hatte. Auch damals war hinter einem Fenster Licht gewesen, und Schatten hatten sich hinter dem Rouleau bewegt.

Nun ja – was hätte es schon genützt, wenn er dabeigewesen wäre?, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Zu einem wirklichen Verständnis, geschweige denn zu solchen Zugeständnissen, wie sie die Mutter befriedigt hätten, wäre es doch nicht gekommen. Daher war es vielleicht sogar gut, daß sie ihn weit fort geglaubt hatte, wie es auch für ihn ein Glück war, daß er von ihrem Zustand nichts gewußt hatte. Sonst hätte er sich vielleicht dazu verleiten lassen, aus Rücksicht auf ihren Seelenfrieden eine heuchlerische Szene aufzuführen, worüber er sich später geschämt hätte. Arme Mutter! Sie gehörte nun einmal zu den vom Leben Eingeschüchterten. Die langen Jahre hinter den herabgelassenen Vorhängen des Schlafzimmers hatten allmählich ihr Wesen in lauter Sorge verwandelt. Für sie war der Tod sicherlich eine Erlösung gewesen.

Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen, um sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Er war nicht an diese heftigen Gemütsbewegungen gewöhnt, die er instinktiv fürchtete. Und jetzt erinnerte er sich an Jakobe, die ihn zur üblichen Zeit auf »Skovbakken« erwartete. Was sollte er tun? Er fühlte sich außerstande, ruhig über Reisevorbereitungen zu reden oder was sie sonst noch gemeinsam besprechen wollten. Und außerdem hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er ihr noch immer nicht mitgeteilt hatte, daß seine Familie nach Kopenhagen gezogen war.

Er setzte sich wieder hin und schrieb ihr ein paar Zeilen. Sie solle nicht auf ihn warten, schrieb er und gab wie gewöhnlich seine Geschäfte als Vorwand für sein Ausbleiben an. Am Schluß des Briefes teilte er dann ganz kurz mit, seine Mutter sei »laut Anzeige in der ›Berlingske Tidende‹« hier in der Stadt verstorben.

Er läutete noch einmal nach dem Zimmermädchen, um Jakobe den Brief durch einen Boten zustellen zu lassen. Jetzt aber ergriff ihn eine seltsame Rastlosigkeit. Mehrmals setzte er sich an seine Zeichnungen und stand wieder auf. Er konnte einfach nicht stillsitzen, geschweige denn seine Gedanken auf Kurven und Zahlenreihen konzentrieren. Obgleich er zuletzt seinen Kopf fest zwischen die Hände preßte, um ihn zum Arbeiten zu zwingen, kamen die Gedanken nicht von der Stelle. Das Bild der Mutter, Erinnerungen aus der Kindheit, sein Schmerz, nichts über die letzten Tage der Mutter zu wissen, das Bedürfnis, mit einem Menschen zu sprechen, der sie gekannt hatte – all das überwältigte ihn schließlich.

Da gab er die Arbeit auf, kleidete sich an und verließ das Haus. Er setzte sich in das erste beste Restaurant, um zu frühstücken. Dann ging er, um sich zu zerstreuen, in einen Park, wo er Menschen sah und dem Militärorchester zuhörte, das dort spielte.

Als er am späten Nachmittag ins Hotel zurückkam, teilte ihm der Portier mit, daß in seinem Zimmer eine Dame auf ihn warte. Das Blut schoß ihm zum Herzen. Im ersten Augenblick dachte er, es müsse eine seiner Schwestern sein, die irgendwie erfahren hatte, daß er heimgekehrt sei, und die nun seine Adresse ausfindig gemacht hatte, um ihm den Todesfall mitzuteilen.

Daß es Jakobe sein könne, fiel ihm nicht ein. In diesem Augenblick war sie so weit fort aus seinen Gedanken, daß es ihm fast schwerfiel, sie zu erkennen, als sie sich bei seinem Eintritt von ihrem Stuhl am Fenster erhob. Überraschung und Enttäuschung standen so deutlich auf seinem Gesicht geschrieben, daß Jakobe es nicht übersehen konnte. Aber sie war ja auf einen ungastlichen Empfang vorbereitet. Sie kannte ihn jetzt. Schon früher war ihr diese mürrische Schroffheit bei ihm begegnet, hinter der er sich verschanzte, wenn sein Herz unruhig war.

Sie wußte auch, wie behutsam und auf wie vielen Umwegen man in solchen Fällen in sein Vertrauen eindringen mußte und wie ungeheuer schwierig es selbst für sie war, ihn zu bewegen, sich ihr in voller Aufrichtigkeit zu erschließen, sobald von seinen Familienverhältnissen die Rede war.

Daher ging sie ihm ohne Verdruß entgegen, legte die Hände um seinen Kopf, küßte ihn und sagte: »Du kannst es bestimmt verstehen, daß ich es zu Hause nicht aushielt, nachdem ich deinen Brief bekommen hatte. Ich mußte dich sehen! Du Lieber, wie ich deinen Kummer verstehe! Ich mußte selber weinen, denn der Schmerz trifft uns beide.«

Per sah mißtrauisch zu ihr hinab und murmelte, daß seine Mutter in Wirklichkeit für ihn schon lange tot sei. Was ihn angehe, sei daher eigentlich keine Veränderung eingetreten.

»O ja, das reden wir so hin, Liebster, um uns selber zu trösten. Ich weiß sehr gut, was du verloren hast. Warum wollen wir es voreinander verbergen? – Und daß deine Mutter hier in der Stadt gewohnt hat! Daß du es mir nicht gesagt hast! O Per, wann hörst du endlich auf, dich vor mir zu verstecken, wenn wir uns gerade am nötigsten brauchen? Oder hast du es gar nicht gewußt?«

Per machte sich von ihren Händen los und antwortete, er habe die ganze Zeit über die Absicht gehabt, es ihr zu erzählen; aber sooft sie zusammen waren, seien sie sogleich von so vielen anderen Dingen in Anspruch genommen worden, daß er es dann vergessen habe.

»Dann sprechen wir uns doch endlich einmal aus!« rief sie. »Komm, wir setzen uns hin. Ich glaube, es gibt noch so unendlich viel, was ich von dir wissen muß.«

Jakobe zog ihren Mantel aus und legte auch Hut und Handschuhe ab. »Hast du gewußt, daß deine Mutter krank war?«

»Ich wußte nichts. Aber sie kränkelte ja schon so viele Jahre.«

»Du hast sie also nicht besucht . . . auch keines von deinen Geschwistern gesehen?« fragte sie und blickte ihn forschend aus der Ecke des Sofas an, wo sie sich niedergelassen hatte.

»Nein«, erwiderte Per, der ihren Mantel an den Türriegel hängte.

»Aber wie hast du denn erfahren, daß sie hierher in die Stadt gezogen waren?«

»Eines Tages sah ich zufällig in der Zeitung eine Annonce, in der meine Schwester Klavierunterricht ankündigte. Übrigens war schon bei der Beerdigung meines Vaters davon die Rede. Sie wollten nach Kopenhagen ziehen, weil zwei meiner jüngeren Brüder hier eine Anstellung bekommen hatten.«

Er ließ sich auf einen Stuhl in einiger Entfernung von ihr nieder. Sie saß eine Zeitlang da, die Hand unter der Wange, und blickte vor sich hin.

»Weißt du was . . .«, begann sie nach längerem Schweigen, »ich glaube, wenn ich gewußt hätte, daß deine Mutter mir so nahe war, wäre ich bestimmt zu ihr gegangen. Besonders damals, als ich von meiner Reise zurückgekommen war und mich so furchtbar einsam fühlte. Ich sehnte mich nach einem Menschen, mit dem ich über dich sprechen konnte. Glaubst du, sie hätte mich empfangen?«

»Ich weiß es nicht.«

»O sicher. Sie hätte es getan. Ich bin fest davon überzeugt . . . und sie hätte uns zuletzt auch verstanden.«

»Erinnerst du dich: Das dachtest du damals auch, als du in ähnlicher Absicht Eberhard aufsuchtest. Es wurde doch nur eine Enttäuschung für dich.«

Es dauerte eine Weile, bis Jakobe hierauf antwortete. Sie entsann sich noch sehr gut an ihre Begegnung mit Pers Bruder. Die Erinnerung an jene erregende Szene in dem unheimlichen, kalten und kahlen Büro hatte sie gerade in jüngster Zeit recht häufig beschäftigt, ja ihre geheime Sorge wachgerufen, weil sie mehr und mehr bei Per eine Familienähnlichkeit mit diesem Bruder entdeckt hatte.

»Na ja, mit Geschwistern ist es etwas anderes«, sagte sie dann und strich sich eine Locke aus der Stirn, als wollte sie einen peinlichen Gedanken vertreiben. »Das kenne ich auch von uns. Aber von seiner Mutter behält man doch immer noch ein Stückchen sehr lieb, wie weit man sich auch sonst von ihr entfernt haben mag. Deswegen kann ich es gar nicht anders glauben, als daß deine Mutter und ich jedenfalls miteinander hätten sprechen können, wenn wir auch in allem so verschieden waren, wie es zwei Menschen überhaupt nur sein können.«

»Das wart ihr sicherlich.«

»Und ich meine auch, daß wir zuletzt einander verstanden hätten. Aus dem wenigen, was du mitunter von ihr erzählt hast, habe ich mir ein Bild gemacht, das ich liebgewonnen habe. Mir ist, als sähe ich sie deutlich vor mir. Sie war klein, nicht wahr? Und sie hatte nicht dieselben Augen wie du und dein Bruder . . . sie waren dunkler. Ihr Kinder hattet wohl mehr Ähnlichkeit mit eurem Vater. – Und dann ging sie ja an einem Stock, wenn sie vom Bett aufgestanden war. Das tat meine Großmutter auch. Das ist vielleicht der Grund, weswegen ich sie mir so deutlich vorstelle. Und was für einen starken Willen sie bei all ihrer körperlichen Schwäche gehabt haben muß! Ich finde, es ist bewunderungswürdig und rührend, daß sie jahrelang das große Haus von ihrem Bett aus geleitet hat und trotz ihres furchtbaren Unglücks über euch alle wachte und sogar genau achtgab, daß nichts vergeudet wurde. Was für ein Los für eine Mutter mit so vielen kleinen Kindern! Acht Jahre lang ans Bett gefesselt zu sein! Zudem war ja dein Vater, wie du mir erzählt hast, ein schwieriger Mensch. Wohlstand herrschte auch nicht im Haus. Und trotzdem nie eine Klage! Ich erinnere mich noch, wie du mir einmal sagtest, was deine Mutter einem antwortete, der sie bedauerte: ›Beklagen Sie nicht mich, beklagen Sie meinen Mann und meine Kinder!‹ – Mir scheint, das war schön und großartig gesagt.«

Bei diesen Worten hatte Per vornübergebeugt dagesessen, die Ellenbogen auf den Knien. Unruhig knipste er mit den Fingern der einen Hand gegen die Knöchel der anderen. Dann sprang er ungeduldig auf und schritt durch das Zimmer.

»Jaja, laß es gut sein«, unterbrach er sie. »Vorbei ist vorbei. Es ist müßig, darüber zu reden, was alles hätte geschehen können.«

Er stellte sich an ein Fenster und schaute hinunter auf den Markt, wo die Schatten der Häuser schon lang geworden waren. Im Abendsonnenschein stand drüben auf dem Festungsrest die alte Wallmühle und begrüßte gleichsam mit offenen Armen den Sonnenuntergang.

»Du hast recht«, sagte Jakobe nach abermaligem Schweigen. »Vorbei ist vorbei! . . . Sage mir nur, hast du etwas dagegen, wenn ich gelegentlich ein paar alte Briefe von deiner Mutter lese? Wir haben ja so selten von deiner Familie gesprochen. Doch ich fühle, daß es mir fehlt, besonders von deinen Eltern so wenig zu wissen.«

Per überhörte anfangs die Frage. Als Jakobe sie wiederholte, erwiderte er schroff: »Ich habe keine Briefe.«

»Nein, ich weiß ja, daß du in den letzten Jahren mit deiner Familie nicht mehr im Briefwechsel gestanden hast. Aber ich denke an die ersten Jahre, als du in Kopenhagen warst. Damals hat dir ja, wie du mir erzähltest, wenigstens deine Mutter zuweilen geschrieben. Und diese Briefe möchte ich so gern gelegentlich mit dir zusammen lesen.«

»Das kannst du nicht – ich habe sie nämlich nicht mehr.«

»Wo sind sie denn?«

»Wo sie sind? Ich habe sie verbrannt, nachdem ich sie gelesen hatte.«

»O Per – wie konntest du nur . . .«

Jakobe beendete den Satz nicht. Per hatte sein Taschentuch hervorgeholt und fuhr sich damit über das Gesicht, als sei ihm warm geworden. Doch sie hatte es feucht in seinen Wimpern schimmern sehen und begriff, daß er seine Tränen verbergen wollte.

Ihr erster Gedanke war, zu ihm zu eilen und die Arme um seinen Hals zu schlingen. Doch Verstand und Erfahrung rieten ihr rechtzeitig, es zu unterlassen und so zu tun, als habe sie nichts bemerkt. Ganz still blieb sie sitzen, bis Per von selbst das Fenster verließ. Dann ging sie hin und schob ihren Arm unter den seinen. Und eine Zeitlang schritten sie nun schweigend im Zimmer auf und ab.

O ja, sie spürte es nur zu gut. Gegenwärtig konnte sie nur schlecht anderen Trost bringen. Sie war selber unsicher und mutlos. Mit ihrer Standhaftigkeit war es vorbei, sobald sie an die lange Trennung dachte. Wenn sie Per wenigstens rückhaltlos alles anvertrauen könnte! Täglich kämpfte sie verzweifelt mit sich, ihm nichts zu verraten. Immer wieder mußte sie sich vergegenwärtigen, wieviel auf dem Spiel stand, falls sie ihn in ihr großes Geheimnis einweihte, ehe der Atlantik zwischen ihnen lag.

Nicht nur die bevorstehende Entbindung erfüllte sie mit Angst und Unruhe. Sie wurde auch bei dem Gedanken an all den Klatsch und Tratsch nervös, der wegen des frühen Zeitpunkts ihrer Niederkunft aufkommen würde. In dieser Frage hatte sie sich seit Pers Rückkehr gründlich verändert. Bis zu der Zeit war sie viel zu stolz auf ihre Liebe gewesen, als daß sie sich darum gekümmert hätte, ob sich ihre voreheliche Hingabe auch würde verheimlichen lassen. Nun, da sie ihren Bräutigam nüchterner betrachtete, kränkte es sie gerade in ihrem Stolz, daß ihr Verhältnis Gegenstand allgemeinen Geredes werden könnte.

Trotzdem hatte sie weniger um ihrer selbst willen als aus Rücksicht auf die Eltern beschlossen, nicht wieder nach Hause zu reisen, nachdem sie Per nach England begleitet hatte, sondern nach Deutschland zu fahren, vielleicht zu ihrer Freundin nach Breslau, und dort ihrem Kind das Leben zu geben. Wenn sie aber daran dachte, daß sie noch länger als ein halbes Jahr auf das Ereignis warten mußte, war sie wieder nahe daran, vor Ungeduld zu verzweifeln. – Und doch, all das würde sie ohne Murren ertragen, wenn sie nur noch dasselbe Vertrauen zu Per gehabt hätte wie damals, als sie vor zweieinhalb Monaten in Tirol Abschied nahmen. Doch seit der Geschichte mit Nanny war sie unsicher geworden und ahnte überall Gefahren. Und jetzt konnte sie weniger als je zuvor daran denken, sich von ihm zu trennen. Obgleich sie ihn nun mit all seinen Schwächen kannte, liebte sie ihn dennoch nicht weniger als zu der Zeit, da ihre Kritik noch nicht erwacht war. Ihre Sehnsucht nach ihm war zeitweise so stark, daß sie ihr selbst krankhaft vorkam. Daher tat sie jetzt ihren Gefühlen mehr Zwang an. Ihr Wesen ihm gegenüber war gedämpfter geworden, auch wenn sie allein waren. Mitunter konnte sie sogar launenhaft erscheinen. Gleichzeitig aber beherrschte er sie so vollkommen und uneingeschränkt, daß sie oft meinte, es könnte gar nichts mehr geben, was sie ihm nicht verzeihen würde.

Per blieb plötzlich stehen und schaute auf die Uhr. »Müßtest du jetzt nicht zum Zug? . . . Ja, ich möchte dich wirklich nicht vertreiben, denn ich bin dir dankbar, daß du gekommen bist. Aber du liebst es nicht, spät heimzukehren. Und es ist jetzt acht Uhr.«

Sie blickte ihm ins Gesicht, das noch immer bleich und verzerrt war. »Und was willst du machen?«

»Ich muß an meine Arbeit . . . Wie du siehst, liegt der ganze Tisch voller Kram, der fertig werden muß. Ich muß meine Zeit nutzen.«

»Nein, nein«, rief Jakobe und schlang ihren Arm gleichsam beschützend um ihn. »Du darfst hier nicht allein sitzen. Für heute abend mußt du die Arbeit liegenlassen. Was kann schon dabei herauskommen? Du hängst doch nur trüben Gedanken nach, solange du hier allein bist.«

»Willst du denn bei mir bleiben?«

»Nein – heute nicht – und nicht hier«, erwiderte sie und wurde rot. »Hier ist es so ungemütlich. Komm mit nach Hause, hörst du! Bleib über Nacht da. Die Fremdenzimmer stehen immer bereit, wie du weißt. Du machst uns gar keine Umstände, und Vater und Mutter legen sicherlich Wert darauf, daß du selbst ihnen den Tod deiner Mutter mitteilst. Mir scheint, das bist du ihnen schuldig. Komm, Per, komm! – Morgen unternehmen wir einen langen Waldspaziergang, und wir vergessen alle unsere Sorgen.«

 

Es war prächtiger Sonnenschein, als Jakobe und Per am nächsten Tag draußen auf »Skovbakken« erwachten. Erst ziemlich spät fanden sie sich unten im Eßzimmer am Teetisch ein, und nach einer hastigen Mahlzeit verschwanden sie sogleich Arm in Arm im Garten. Beide hatten am Abend zuvor nicht einschlafen können. Das Bewußtsein, einander so nahe zu sein, hielt sie in der hellen Frühlingsnacht wach. Zuletzt hatten sie einander gefunden, als alle im Haus schliefen.

Jetzt spazierten sie durch den lichtgrünen Garten, wo der Tau von Zweigen und Blättern tropfte. Am Vormittag, wenn die ganze Familie mit Ausnahme von Frau Lea in die Büros und Schulen der Stadt gefahren war, lebte man hier draußen in fast paradiesischem Frieden. Auch im Wald, wohin sie sich bald begaben, war es jetzt viel ruhiger als später am Tag, wenn die Wege vom Wagenverkehr staubig und alle Klatschbänke besetzt waren. Jetzt hörte man nichts als Vogelgezwitscher. Auf ihrer Wanderung begegnete ihnen nur ein alter Mann, der ihnen väterlich zunickte, als sie vorübergingen.

Nach und nach wurde Per unruhig. Schon im Garten war er ein wenig zerstreut gewesen und hatte davon geredet, er müsse um zwei Uhr in der Stadt sein, weil er, wie er vorgab, für seine Arbeit ein paar Aufschlüsse von einer Behörde brauche, die schon um drei Uhr schließe.

Gleich nach dem Essen verabschiedete er sich. In der Stadt angelangt, setzte er sich in eine Droschke und fuhr zu der Verwaltungsbehörde, bei der sein Bruder Eberhard angestellt war. Er gab dem Kutscher die Anweisung, auf ihn zu warten, und verschwand durch das Portal.

Seit Jakobe vor einem Jahr durch dasselbe Portal in das große schmutziggraue Gebäude gegangen war, hatte man Eberhards Tüchtigkeit und strenges Pflichtgefühl mit einer weiteren kleinen Beförderung auf der hundertsprossigen Rangleiter belohnt. Auf seinem früheren Platz am Pult im Vorzimmer stand jetzt ein anderer junger hoffnungsvoller Bewahrer der Traditionen in dieser würdevollen Staatsmaschinerie. Eberhard hatte nebenan ein eigenes kleines Zimmer mit einem Schreibtisch und einem Lehnstuhl bekommen. Von seinem merkwürdigen engärmeligen schwarzen Rock, der durch die ehrenhafte Abnutzung vieler Jahre an den Ellenbogen und auf dem Rücken blankgescheuert war, hatte er sich deswegen doch nicht getrennt. Auch Schlips und Schuhwerk waren durch die Beförderung nicht vornehmer geworden.

Eberhard war damit beschäftigt, einen Bleistift mit der peinlichen Sorgfalt und dem gewissenhaften Eifer anzuspitzen, womit diese Arbeiten bei Behörden ausgeführt werden. Doch als er jetzt im Vorzimmer, zu dem die Tür nur angelehnt war, seinen Namen hörte, versteckte er schnell das Messer und griff nach einem ansehnlichen Schriftstück. Dies hielt er vor sich und wartete in überlegen zurückgelehnter Stellung auf das Eintreten des Fremden.

»Herein!« sagte er streng, als an die Tür geklopft wurde. Gleichzeitig hob er die Augen genau so hoch, daß sein Blick gerade über den Rand des Papiers reichte.

Seine Überraschung bei Pers Anblick war so groß, daß er nicht einmal den Versuch unternahm, sich zu verstellen. Mit einem Gesicht, als habe er ein Gespenst gesehen, erhob er sich langsam vom Stuhl, und ungefähr eine halbe Minute lang standen sich beide Brüder wortlos gegenüber.

Es fiel Per auf, wie sehr Eberhard dem Vater glich, so wie er sich jetzt – leicht zitternd vor Erregung – auf die Tischplatte stützte. Der strenge Zug um den bartlosen Mund, der altmodisch kurzgeschnittene Backenbart, die rotumränderten Augen, dazu dieser tote, starre Blick und die steife Haltung – all das rief ihm die Gestalt des Vaters in die Erinnerung zurück, wie er ihn aus seiner Kindheit kannte.

Per hatte sofort die Tür geschlossen, damit sie ohne Zwang miteinander reden konnten. Und nun nahm er gegenüber der Tür auf einem Diwan Platz. Auch Eberhard setzte sich.

»Du kannst dir wohl denken, warum ich dich aufsuche«, begann Per. »Ich habe in der Zeitung gelesen, daß Mutter gestorben ist.«

»Ja«, erwiderte Eberhard nach längerem Schweigen mit offensichtlicher Überwindung. »Wir glaubten dich übrigens im Ausland.«

»Ich bin vor einer Woche zurückgekommen.«

»So lange bist du schon hier. Vielleicht wußtest du nicht, daß Mutter in die Stadt gezogen war?«

»Doch . . . doch, ich wußte es«, entgegnete Per und sah zur Seite. Dann fragte er, ob die Mutter lange krank gewesen sei.

Wieder ließ ihn Eberhard eine Zeitlang auf Antwort warten. Schließlich teilte er ihm mit – und dieser Entschluß schien das Ergebnis einer langen Reihe von Überlegungen zu sein –, daß die Mutter plötzlich und für sie alle unerwartet gestorben sei.

»Mutter blieben, Gott sei Dank, körperliche Leiden erspart. Bis zu ihrem Tod war ihr außer ihrer gewohnten Schwächlichkeit nichts anzumerken. Allerdings klagte sie eine Zeit über Atembeschwerden und war auch nachts mitunter unruhig. Doch dies ließ sich ja alles durch ihren Zustand erklären, den wir seit Jahren kannten. Eines Morgens, als Signe ihr das Haar kämmte, bat sie ein wenig ungeduldig, sie möge sich beeilen; sie fühle sich so müde, sagte sie, und sie wolle versuchen, noch ein bißchen zu schlafen. Als Signe zwanzig Minuten später nach ihr sah, konnte sie schon nicht mehr sprechen. Sie öffnete nur noch ein paarmal die Augen wie zum Abschied und schlief dann still ein.«

Eberhard hatte leicht geistesabwesend gesprochen. Nachdem sich seine Überraschung und erste Erregung gelegt hatten, war er darangegangen, auf seine verstohlene Art Pers Kleidung zu mustern. Mit schnellen scheelen Seitenblicken untersuchte er Pers seidengefütterten Mantel, die Handschuhe, die spitzen Pariser Schuhe und die Diamantknöpfe auf seiner Hemdbrust.

»Natürlich waren wir nicht ganz unvorbereitet, daß Mutter einschlafen könnte«, fuhr er fort, »ebensowenig wie sie selbst es war. Dazu war sie zu lange leidend. Es scheint sogar, als habe sie eine Vorahnung von ihrem Tod gehabt. Sie traf nicht nur genaue und ausführliche Anweisungen über ihre Beerdigung und über die Verteilung des Hausrats; sie schrieb auch Abschiedsbriefe an alle Geschwister, die sie nicht täglich um sich hatte. – Für dich ist ebenfalls ein Brief da. Und ein versiegeltes Kästchen.« Das letzte fügte er nach einer kleinen Kunstpause hinzu. Dabei beobachtete er den Bruder, um zu sehen, welchen Eindruck seine Mitteilung auf ihn machte. »Vorläufig hat Signe beides in Verwahrung genommen«, ergriff er wieder das Wort. »Wir glaubten ja, du seist im Ausland. Nun weiß ich nicht, ob du es dir selbst abholen willst. Du wirst uns in diesen Tagen alle versammelt finden. Auch Ingrid und Thomas sind gekommen, um dabeizusein, wenn wir Mutter in den Sarg legen. Übrigens, Mutter soll natürlich neben Vater begraben werden. Morgen nachmittag wird sie mit einem Schiff übergeführt. Vorher wollen wir noch eine kleine Familienandacht am Sarg abhalten. Und da wir jetzt wissen, daß du hier in der Stadt bist, wäre es für uns sehr schmerzlich, wenn wir dich auch hierbei vermissen müßten. – Das kann ich getrost in aller Namen sagen. Gegen Abend fahren wir dann alle gemeinsam mit der Eisenbahn hinüber. Das hat Mutter so bestimmt mit Rücksicht auf Signe und Ingrid, die die Seereise nicht vertragen können. Sie hat gewollt, daß wir alle beisammen sind. Dadurch kommen wir rechtzeitig drüben an, um bei der Ankunft des Schiffes zugegen zu sein und außerdem die nötigen Vorbereitungen zur Beerdigung zu treffen. Der Sarg wird dann direkt vom Schiff zur Kapelle gebracht, von wo aus die Beerdigung am nächsten Tag in aller Stille stattfindet. Alles ist so, wie Mutter es ausdrücklich gewünscht hat.«

Per sagte nichts. Auch seine Miene verriet in diesem Augenblick nichts von dem, was ihn bewegte.

Als er etwas später Anstalten machte aufzubrechen, fragte ihn Eberhard beinahe sanft: »Und wie geht es dir? Beabsichtigst du jetzt, im Lande zu bleiben?«

»Nein. Ich reise in Kürze nach Amerika. Ich habe drüben allerlei auszurichten. Übrigens, vorher werde ich heiraten. Wie du weißt, bin ich mit einer Tochter von Philip Salomon verlobt.«

Jetzt war es Eberhard, der die Antwort schuldig blieb. Er schlug auf einmal die Augen nieder, nachdem sie erneut die Diamantknöpfe an Pers Hemdbrust gesucht hatten.

Per erhob sich.

»Ich habe dir noch nicht mitgeteilt«, Eberhard sprach diese Worte wieder mit derselben Selbstüberwindung, »daß unsere kleine Trauerfeier auf halb vier Uhr angesetzt ist. Falls du also die Absicht hast, mit uns gemeinsam . . .«

Per schüttelte den Kopf. »Ich glaube, aus verschiedenen Gründen ist es das beste, wenn ich fernbleibe«, entgegnete er. »Unter anderem wäre ich nicht gern dabei, ohne meine Braut mitzubringen. Und sie würde andrerseits kaum dahin passen – ja möglicherweise nicht einmal willkommen sein bei diesem Anlaß.«

Hierauf erwiderte Eberhard nichts. Sein Gesicht war wieder zu einer Maske erstarrt und verriet nichts von dem Entsetzen, das der Gedanke ihm einflößte, eine jüdische Weltdame könnte bei der Trauerfeier an der Bahre der Mutter stehen.

Per verabschiedete sich und ging.

Unten im Torweg begegnete er zwei jungen Leuten, die plötzlich mitten in einem taktfesten soldatischen Marsch vor ihm zurückwichen und ihn dadurch veranlaßten aufzusehen. Es waren halbwüchsige Burschen von sechzehn, siebzehn Jahren. Sie hatten ein provinzielles, ja ländliches Aussehen und trugen langes Haar unter breitrandigen grundtvigianischen Filzhüten.

Per erkannte sie sofort; es waren seine beiden jüngeren Brüder – die Zwillinge. Daß auch sie ihn erkannt hatten, verrieten sie selbst recht deutlich. Erschrocken blickten sie einander an und wurden rot.

Er hielt sie an. In der Scheu, mit der sie vor ihm zur Seite gewichen waren, hatte etwas gelegen, das ihm zu Herzen ging, ja ihn beschämte. Er war in einer versöhnlichen Stimmung und hatte Eberhard gegenüber keine Gelegenheit gehabt, durch eine Annäherung an seine Geschwister zu sühnen, was er seiner Mutter gegenüber verschuldet haben konnte.

»Guten Tag«, begrüßte er sie und reichte ihnen die Hand. Sie nahmen sie zögernd und verlegen. »Wollt ihr zu Eberhard hinauf?«

»Ja«, antworteten sie im Chor.

»Gerade bin ich bei ihm gewesen, um etwas über Mutters Tod zu erfahren.«

Bei diesen Worten schlugen die Brüder wortlos die Augen nieder. Der eine fing an, mit der Schuhspitze zwischen den Pflastersteinen des Eingangs zu scharren.

Per spürte die Anklage, die in diesem verlegenen Schweigen lag. Was sich während des Gesprächs mit Eberhard noch an Unwilligkeit und streitbarer Gesinnung in ihm geregt hatte, schmolz nun vor diesen jungen Zwillingsbrüdern dahin, die ihm hier in der Unschuld und glücklichen Einfalt des Heims seiner Kindheit entgegentraten. Trotz ihres ziemlich bäurischen Aussehens – oder vielmehr gerade deswegen – kämpfte er mit dem Verlangen, ihre Köpfe zwischen seine Hände zu nehmen und sie zu küssen.

Doch bei all seinem Bedürfnis nach Vertraulichkeit wußte er ihnen nichts mehr zu sagen. Und sie wiederum standen hilflos fremd vor ihm und fühlten sich durch seine Gegenwart bedrückt.

Da gab er ihnen noch einmal die Hand, bemerkte, daß er es wegen seiner bevorstehenden Reise ziemlich eilig habe, und verabschiedete sich.

Als er im Wagen saß, überwältigten ihn seine Gefühle völlig. Statt sogleich nach dem Bahnhof zu fahren, um zu Tisch wieder auf »Skovbakken« sein zu können, wie er es Jakobe versprochen hatte, ließ er sich ins Hotel bringen. Er war mit sich selbst uneins geworden, und Jakobe konnte ihm in diesem Fall nicht helfen.

Im Hotel brachte ihm der Portier eine Visitenkarte. Per las: C. F. Bjerregrav, Ingenieuroberst a. D.

»War dieser Herr hier?«

»Ja, es mag vielleicht eine Stunde her sein. Er hat auch was hinten drauf geschrieben.«

Per drehte die Karte um. Dort las er: »Ein alter Kriegsveteran wünscht Ihnen Glück und Gelingen in Ihrem patriotischen Kampf.«

Per blieb mit der Karte in der Hand stehen und lächelte unmerklich. Obgleich er selbst seine übermütige Voraussage vergessen hatte, empfand er diesen Gruß nun in seiner aufgelösten und halb verzweifelten Gemütsverfassung als eine übernatürliche Fügung, als eine neuerliche Bestätigung seines dämonischen Pakts mit dem Glück.

»Kannst du dich erinnern«, äußerte er am Abend zu Jakobe, »daß du und Ivan mir mein Auftreten bei Max Bernhardt zum Vorwurf machtet, vor allem meine Haltung Oberst Bjerregrav gegenüber, und das auf eine Weise, die . . .«

»Wir wollen jetzt nicht mehr darüber reden«, unterbrach sie ihn unruhig.

»Doch, gerade jetzt wollen wir darüber sprechen! Schau her!« Er reichte ihr die Karte des Obersten.

»Ist er bei dir gewesen?«

»Ja. – Lies mal, was hinten drauf steht! – Na, was sagst du nun?«

Jakobe wußte wirklich nicht, was sie sagen sollte. Vor Überraschung war sie wie betäubt. »Aber du bist ja ein richtiger Zauberer, Per!«

 

Am nächsten Morgen ging Per zum Hafen hinunter und suchte das Schiff, mit dem die Mutter vermutlich nach Jütland gebracht werden sollte. Er wandte sich an den Steuermann und erfuhr, daß tatsächlich eine Leiche als Frachtgut angemeldet war, und er erkundigte sich, um welche Zeit man sie erwartete.

In einem Haus dem Schiff gegenüber befand sich ein billiges Café. Am Nachmittag, etwas vor der angegebenen Zeit, setzte er sich dort an einen Tisch unmittelbar am Fenster. Er bestellte ein Glas Bier, und versteckt hinter einer Zeitung, wartete er klopfenden Herzens auf die Ankunft des Leichenwagens.

Draußen fiel ein leichter Sommerregen. Trotzdem regte sich auf dem breiten Hafenplatz geschäftiges Leben. Überall lagen Kisten, Tonnen und Säcke. Bis zur Abfahrt des Schiffes waren es nur noch ein paar Stunden. Von allen Seiten fuhren schwere Wagen heran, die sich zum Entladen an der Rampe drängten. Die Dampfwinde klirrte und zischte. Riesige Holzkisten, Eisenträger, Mehlsäcke und Petroleumfässer wurden aus den Tiefen der Wagen hochgerissen, schwebten einen Augenblick über der Ladeluke und sanken dann in den alles verschlingenden Schiffsbauch hinunter. Auch ein großes Schwein sollte an Bord gebracht werden, was sehr viel Mühe kostete. Zwei Männer zerrten es an den Ohren. Ein dritter drehte unablässig den Ringelschwanz wie den Griff eines Leierkastens. Trotzdem wollte es nicht vom Fleck. Regen und Arbeit machten die Leute munter, und man hatte viel Spaß an dem widerspenstigen Borstenvieh, das quiekte, als riefe es alle himmlischen und irdischen Mächte um Schutz an. Endlich glückte es, das Schwein über den Landungssteg zu schleifen, und in kurzem Galopp verschwand es unter dem Verdeck. – Darauf entspann sich ein Wortgeplänkel zwischen zwei Kutschern, die unterdessen zwischen den Warenstapeln aufeinander losgefahren waren. Nun konnten sie mit ihren Wagen weder vor noch zurück. Es sah sehr nach einer Prügelei aus. Doch da erschien ein Polizist und ließ ein paar Fässer beiseite rollen, so daß Platz wurde.

Inzwischen hatte der Regen nachgelassen. Doch die Luft lag noch schwarz und schwer über der Stadt. Man erkannte gerade noch die roten Speicherdächer drüben auf der Seite von Kristianshavn.

Auf einmal bemerkte Per einen einspännigen geschlossenen Leichenwagen, wie man sie zum Überführen eines Toten vom Sterbehaus zur Kirche oder Kapelle verwendet. Auf dem Bock saß neben dem Kutscher ein Mann in Arbeitskleidung. Ein Stück vom Schiff entfernt hielt der Wagen an. Ihm folgte eine geschlossene Droschke, aus der jetzt vier Personen stiegen – seine Brüder. Zuerst erschien Eberhard mit florumwundenem Zylinder, hochgestreiften schwarzen Hosen und einem Regenschirm, den er sofort aufspannte, obwohl es in diesem Augenblick gar nicht regnete. Hinter ihm tauchte Thomas auf, der rotwangige Kaplan, und den Schluß bildeten die beiden jüngeren Brüder.

An der Dampfwinde war man gerade dabei, die letzten Warenballen von einem Plattenwagen zu heben. Als dieser wegfuhr, setzte der Kutscher des Leichenwagens sein Pferd in Bewegung und kam näher. Aber ein Ruf des Steuermanns, der von der Kommandobrücke aus das Verladen leitete, hielt ihn zurück. Er bekam die Weisung, noch ein wenig zu warten. Erst sollte ein junges ungebärdiges Pferd an Bord gebracht werden, und das erforderte Zeit. Man versuchte zuerst, es über den Landungssteg zu führen wie vordem das Schwein, was fast geglückt wäre. Obwohl das Roß vor Angst zitterte und schnaubte, daß ihm das Blut aus den Nüstern sprang, hatte man es endlich doch geschafft, beide Vorderfüße auf den Steg zu setzen, als unglücklicherweise einer der kleinen Schlepper, die ständig ein- und ausliefen, seine Dampfpfeife ertönen ließ. Da wurde es so wild, daß schließlich nichts weiter übrigblieb, als es ebenso wie das Frachtgut an Bord zu heben. Der Schiffskran wurde zum Kai geschwenkt. Hier war das Tier inzwischen in eine mannshohe Box aus starken Brettern gezogen worden. Zwei starke Eisenbügel, die über den Kastenrand ragten, dienten zur Befestigung der Krankette. Die Dampfwinde setzte sich in Bewegung, und das Tier – im selben Augenblick, da es vom Boden gehoben wurde, erstarrte es wie vom Schlag getroffen – wurde nun langsam im Bogen über die Köpfe der versammelten Arbeiter gehievt und auf dem Vorderdeck abgesetzt.

Während sich dies zutrug, hatte Per kein Auge vom Leichenwagen gewandt. Die ganze Szene, die eine Menge interessierter Zuschauer angelockt hatte, war überhaupt nicht in sein Bewußtsein gedrungen. Nun aber erhielt der Kutscher ein Zeichen, daß er vorfahren sollte. Eberhard und die anderen Brüder folgten zu Fuß.

Der Mann in Arbeitskleidung, der auf dem Bock gesessen hatte, war schon vorher zur Rampe an der Ladeluke gegangen, wo er mit ein paar anderen Männern eine drei Ellen lange kofferähnliche Lattenkiste zurechtstellte, auf deren Deckel ein großes Frachtgutzeichen gemalt war. Hastig öffnete man den Leichenwagen, und der niedrige blumenlose Sarg wurde sichtbar. Zwei Hafenarbeiter wollten helfen, doch Thomas hielt sie zurück. Dann setzten er und die anderen Brüder den Sarg behutsam in die offene Lattenkiste, die er fast ausfüllte. Als die Zwischenräume ringsum mit Stroh ausgestopft waren, setzte man den Deckel auf und schraubte ihn fest.

Die ungestrichene, unbehobelte Kiste, die da mit ihrem teuren Inhalt auf dem Hafenpflaster stand, unterschied sich nicht sonderlich von all dem anderen Frachtgut, das man auf dem regennassen Kai abgesetzt hatte. Vor allem nach der Abfahrt des Leichenwagens konnte keiner mehr auf den Gedanken kommen, daß diese Bretter mit dem aufgemalten Frachtgutzeichen einen Menschen umschlossen, eine Mutter, ein erloschenes Leben, das reicher und bewegter gewesen war als das der meisten. Und nun legten die Arbeiter, genauso wie bei den Mehlsäcken und Petroleumfässern, eine eiserne Kette um die Kiste, und nachdem sie dem Maschinisten an der Dampfwinde ein Zeichen gegeben hatten, wurde sie emporgehoben. Über der Ladeluke schwebte sie einige Augenblicke in der Luft, bis ein neues Kommando ertönte. Unter Kettengerassel und lautem Zischen wurde die alte jütische Pfarrerswitwe hinabgesenkt zwischen die Bierkästen, Branntweinfässer und Zuckersäcke.

Hinter dem Fenster des Cafés war Pers Gesicht bleicher und bleicher geworden. Der Kellner, der ihn während der ganzen Zeit beobachtet hatte, weil er so still war und sein Bier nicht anrührte, sprang erschrocken hinzu und fragte: »Sind der Herr krank?«

Per sah ihn mit verstörtem Blick an. Er hatte vergessen, wo er sich befand. Er fühlte plötzlich, wie sich der Fußboden mit ihm emporhob und wie die Wände in das Zimmer kippten.

»Geben Sie mir einen Kognak«, stieß er hervor.

Er trank zwei Glas, kurz hintereinander, und da kam wieder ein wenig Blut in seine Wangen. In dem Augenblick, da er seine Mutter wie einen Warenballen in der Luft hängen sah, war es Nacht um ihn her geworden, und wie beim Aufzucken eines Blitzes hatte er in dem Dunkel den Grund des Daseins unverhüllt gesehen, eine so kalte, schweigende, in ewiger Gleichgültigkeit ruhende Eiswüste hatte sich ihm aufgetan, wie er sie seinerzeit auf seiner ersten Reise durch die Alpen erlebt hatte.

Als Per wieder zum Dampfschiff hinübersah, war das Umschlagen der Tonnen und Säcke erneut in vollem Gange.

Mitten auf dem Kai standen die Brüder mit dem Mann in der Arbeitsbluse, und Eberhard zählte gewissenhaft eine Geldsumme in dessen ausgestreckte Hand. Nachdem er das Geld erhalten hatte, blieb der Hafenarbeiter noch einige Augenblicke stehen, offenbar in der Hoffnung auf Trinkgeld, das jedoch ausblieb. Die Brüder entfernten sich in geschlossener Reihe mit taktfestem Gleichschritt.

Per blieb sitzen. Obwohl die Gäste im Lokal ihn zum Gegenstand recht zudringlicher Aufmerksamkeit machten, konnte er sich nicht entschließen zu gehen. Er wollte bis zum letzten Augenblick hier in der Nähe der Mutter bleiben. Es war ihm unheimlich, daß sie dort so ganz allein und verlassen liegen sollte. Plötzlich durchzuckte ihn ein erlösender Gedanke. Er brauchte sich doch keineswegs schon hier von ihr zu trennen. Er konnte sie ja auf ihrer letzten Reise begleiten, ohne daß es jemand erfuhr. Er konnte sie als heimliche Ehrenwache auf dieser nächtlichen Fahrt durchs Kattegat geleiten und an einem der Anlegeplätze in der Fjordmündung daheim an Land gehen, die der Dampfer frühmorgens anlaufen würde. Von dort aus erreichte er im Laufe des Vormittags eine Station der ostjütischen Bahn und war abends wieder in Kopenhagen.

Er schaute auf die Uhr. Bis zum Ablegen des Dampfers waren es knapp zwei Stunden; es konnte folglich keine Rede davon sein, noch zu Jakobe hinauszufahren, die als einzige von dieser Reise zu wissen brauchte. Er mußte sich damit begnügen, ihr zu schreiben.

Als er aber im Hotel die Feder eintauchte, begriff er, wie schwierig es war, sich in der Eile in einem Brief verständlich auszudrücken. Daher ließ er sich ein Telegrammformular bringen und schickte ihr eine ganz kurze Mitteilung, die das Wichtigste erläuterte.

Dann begann er, einen Handkoffer zu packen. Doch plötzlich hielt er erschrocken inne, ein Paar Stiefel in der Hand: Ihm war Oberst Bjerregrav eingefallen.

Aller Wahrscheinlichkeit nach erwartete der Oberst schon heute seinen Gegenbesuch. Es war eine Unhöflichkeit, ihn um ein paar Tage zu verschieben, die leicht wieder ein Verhältnis zerbrach, das ihm jetzt bestimmt von unschätzbarem Nutzen sein konnte. Was war zu tun? Nun, es half nichts, der Oberst mußte sich vorläufig mit einem Brief begnügen. »Auf Grund einer unaufschiebbaren Reise . . .«, schrieb er.

Kurze Zeit später saß er in einer Droschke auf dem Weg zum Dampfer.

Währenddessen war ihm eingefallen, daß er, wenn er jetzt nach Jütland kam, auch gleich der Hofjägermeisterin und der Baronin den versprochenen Besuch auf Kærsholm abstatten konnte. Es konnte nur zweckmäßig sein, wenn er aufs neue die Verbindung mit den beiden Damen herstellte. Seit seiner Rückkehr hatte ihn das Abhängigkeitsverhältnis zu seinen Schwiegereltern bedrückt, die ihm fremd waren und immer bleiben würden. Philip Salomon hatte zwar nie auf ihr pekuniäres Verhältnis zueinander angespielt, trotzdem war es Per eine Qual, diesem Mann zu Dank verpflichtet zu sein. Andererseits war er gezwungen, erneut eine Anleihe aufzunehmen, um überhaupt nach Amerika zu kommen. Jetzt war es seine Absicht, die Baronin darum zu ersuchen, die ihm seinerzeit aus freien Stücken ihre Unterstützung angeboten, ja fast aufgedrängt hatte.

 

Als Pers Telegramm auf »Skovbakken« eintraf, war Jakobe auf ihrem Zimmer. Ohne zu ahnen, was ihn den ganzen Tag beschäftigt hatte, war sie nach dem Frühstück in die Stadt gefahren, um einige Einkäufe zu machen. Sie war auch in seinem Hotel gewesen. Doch als sie vom Portier erfuhr, er sei nicht da, war sie verlegen geworden und hatte weder eine Nachricht noch eine Karte hinterlassen. Dann war sie eine Weile durch die Straßen gegangen, in der Hoffnung, ihm zu begegnen, zugleich auch in einer gewissen Angst, weil sie wußte, daß Per solch zufälliges Zusammentreffen nicht leiden konnte. Schließlich hatte sie der Regen nach Hause getrieben.

Doch auch hier fand sie keine Ruhe. In den letzten Tagen war eine Rastlosigkeit über sie gekommen, die sie zu allerlei unnützen und müßigen Beschäftigungen trieb. Ständig war sie mit den Vorbereitungen zu ihrer und Pers Reise nach England beschäftigt. Allem, was jenseits dieser »zweiten Hochzeitsreise« lag, wie sie sie insgeheim nannte, verschloß sie sich soweit wie möglich, damit keine Angst, keine Unruhe oder Sorge einen Schatten auf ihre erneute Vereinigung werfen sollte. Während der beiden armseligen kurzen Wochen ihres Zusammenseins wollten sie nur für ihre Liebe leben. In tiefen und vollen Zügen würde sie ihren brennenden Lebensdurst löschen, ehe die Tage der Bedrängnis kamen.

Als sie das Telegramm gelesen hatte, überfiel sie rein instinktiv eine angstvolle Ahnung, deren Ursache sie sich im nächsten Augenblick selbst nicht erklären konnte. Es lag wahrhaftig nichts Besonderes in Pers Handlungsweise. Sie sagte sich, es sei nur natürlich und schön, daß er seiner Mutter die letzte Ehre erweisen wollte. In ein paar Tagen würde er wieder zurück sein.

Trotzdem – als sie das Telegramm noch einmal las, ergriff die Furcht sie von neuem. Und sooft sie seine knappe Mitteilung las, war es ihr, als könne man immer noch mehr herauslesen. Die zwanzig Wörter riefen nach und nach ebenso viele Fragen in ihr wach. Wann war er nur auf diesen Gedanken gekommen? Am Vortag hatte er nicht das mindeste davon erwähnt. Hatte er vielleicht mit jemandem aus seiner Familie gesprochen? Und wieso telegrafierte er dann erst im letzten Augenblick? Warum war er ohne Abschied abgereist?

Jakobe blieb sitzen, die Hand unter dem Kinn, das Telegramm auf dem Schoß. Es war dämmrig geworden; und die Abendschatten, die aus den vielen Ecken und Winkeln des kleinen Raums hervorwuchsen, taten das Ihre, über ihre ahnungsvolle Stimmung einen noch düstereren, drohenderen Ernst zu legen.

Sie mußte daran denken, wieviel er ihr trotz all ihrer Bitten um Offenheit und Vertrauen noch immer verheimlichte, wie wenig sie mitunter von seinen Plänen, Gedanken und Vorstellungen wußte; und sie fragte sich, ob es ihr jemals gelänge, dies Versteckte, Verschlossene und Treulose in seinem Charakter zu überwinden, das ihr soviel Kummer bereitete.

Unten im Gartensaal ging es zur gleichen Zeit munter zu. Einige Bekannte aus benachbarten Villen waren zu Gast, und Nanny führte die Unterhaltung. Immer brachte sie so viele Geschichten aus der Stadt mit. Sie lachte unaufhörlich, aber es war ein krampfhaftes Lachen, in dem noch die Enttäuschung mitschwang, daß sie Per nicht angetroffen hatte.

In dieser Hinsicht hatte sie wahrhaftig wenig Glück gehabt, denn seine Besuche auf »Skovbakken« waren in jüngster Zeit sehr unregelmäßig gewesen. Obwohl sie im voraus allerlei Wahrscheinlichkeitsberechnungen anstellte, damit er ihr nicht entschlüpfte, war sie entweder gerade hinausgekommen, wenn er abgefahren war; oder sie war gezwungen gewesen, unmittelbar vor seiner Ankunft zurückzukehren. Deshalb war sie zuletzt schon ganz krank vor Ungeduld, ihn zu sehen. An Rache dachte sie jedoch nicht mehr. Sie hatte nämlich aus Jakobes Verhalten ihr gegenüber entnehmen können, daß Per nichts verraten hatte; und danach gestand sie sich offen ein, daß sie in ihn verliebt war. Durch sein Schweigen, das sie als Rücksichtnahme auf sie auslegte, was wiederum verborgene Zärtlichkeit voraussetzte, hatte er ihr bißchen Herz völlig erobert.

Der Gedanke, seinetwegen ihre Ehe und die Hoffnungen, die sie daran knüpfte, aufs Spiel zu setzen, war ihr nicht mehr so fremd. Sie würde auch nicht davor zurückschrecken, den Kampf mit der Schwester um ihn aufzunehmen. Da sie von den Hochzeitsvorbereitungen gehört hatte, war sie jetzt noch leidenschaftlicher darauf bedacht, ihn zu erobern. Sie gönnte Jakobe diesen schönen starken Mann mit dem roten Mund nicht. Zeitweise ließ sie die Erinnerung an Pers schwellende Lippen vor Sehnsucht vergehen.

Und nun kam er auch heute wieder nicht!

Nanny war nicht die einzige, die ihn voll Ungeduld erwartet hatte. Bis vor kurzem war Ivan ruhelos auf der Terrasse auf und ab spaziert und hatte jeden Augenblick auf die Uhr geschaut.

Er hatte ihm etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Obergerichtsanwalt Hasselager hatte ihn in einem Brief um Pers Adresse gebeten, da er und Hofbesitzer Nørrehave sowie einige andere Herren sich gern schon am nächsten Tag mit ihm treffen wollten. Ivan hatte gemeint, Per um diese Zeit am sichersten hier anzutreffen. Doch als er hörte, für Jakobe sei ein Telegramm gekommen, wurde ihm klar, daß dies seine Absage war. Da war er denn zum Bahnhof geeilt, um ihn vielleicht in der Stadt zu finden.

Unterdessen war es im Gartensaal fast dunkel geworden. Die Haushälterin kam herein und schloß die Tür zum Garten. Dann stellte sie brennende Lampen auf Tische und Konsolen.

Jakobe ließ sich nicht sehen. Auch zum Tee erschien sie nicht, obwohl man sie ausdrücklich rufen ließ. Dies hielt Nanny, die ebenfalls von dem Telegramm erfahren hatte, für eine gute Vorbedeutung. Aus der Heirat wurde sicherlich nichts! Die Eltern redeten auch sowenig wie nur möglich darüber, sie hatten wohl kein großes Zutrauen dazu.

Es wurde nun eine Stunde musiziert, und als es elf Uhr geworden war, brachen die Gäste auf. Nanny jedoch erkühnte sich diesmal, Dyhrings ausdrücklichem Verbot zu trotzen. Sie blieb die Nacht da, weil sie hoffte, Per würde am nächsten Morgen kommen.

In diesem Augenblick kehrte Ivan völlig verstört aus der Stadt zurück. Als die Gäste gegangen waren, fragte er, zu den Eltern und Nanny gewandt: »War Jakobe heute abend nicht unten?«

»Nein . . . Wieso?«

»Sidenius ist abgereist.«

»Abgereist. Wohin denn?«

»Ich glaube, nach Jütland. Im Hotel sagten sie, er würde einige Tage wegbleiben.«

»Er ist wohl zur Beerdigung gefahren«, erwiderte die Mutter.

»Sicherlich hat er deshalb das Telegramm an Jakobe geschickt.«

»Ja – aber ist das nicht sonderbar . . . einfach wegzufahren, ohne ein Wort zu sagen? Und gerade jetzt!« rief Ivan und erzählte von dem Brief Hasselagers, den er erhalten hatte, und von dem Besuch des Obersten, den Per noch nicht erwidert hatte.

Frau Salomon sah ihren Mann fragend an. Der sagte aber nichts. Er hatte es sich zur Regel gemacht, sich nicht über seinen zukünftigen Schwiegersohn zu äußern. Er schüttelte nur den Kopf und sagte: »Nun, Kinder, dann wollen wir zu Bett gehen.«

 

Das Schiff, auf dem sich Per befand, hatte die offene See längst erreicht.

Wie ein schwimmender Riesensarg glitt der große schwarze Schiffsrumpf über die stille Meeresfläche in der dämmrigen Nacht, und der Kohlenrauch darüber wallte wie ein Trauerflor. Der Himmel war mit Wolken bedeckt und lag schwer und schwarz über dem Horizont. Aber hier und da war ein Riß in der Wolkenwand, durch den einige blasse Sterne wie Engelsaugen blickten, die die feierliche Leichenfahrt zu überwachen schienen.

Per saß allein auf dem Oberdeck, eingehüllt in seinen Mantel. Er sah auf das Wasser hinaus. Seinen Platz hatte er sich so nahe wie möglich der Stelle gewählt, unter der der Sarg der Mutter stand.

Alle übrigen Passagiere waren nach und nach zur Ruhe gegangen. Weder von den Räumen des Vorderdecks noch von den Kajüten her klangen Stimmen herüber.

Oben auf der Kommandobrücke ging der wachhabende Steuermann mit schnellen Schritten auf und ab, und vom Achtersteven her vernahm man in bestimmten Zeitabständen das kurze Klingen einer Loguhr. Sonst hörte man auf dem ganzen Schiff nichts als das regelmäßige Stampfen der Maschine und der Schraube und bisweilen von unten her das Scharren der Schaufel eines Heizers.

Im Südwesten war das Leuchtfeuer von Hesselø am Horizont aufgetaucht.

Kurz darauf wurde die Wache auf der Brücke und am Steuer abgelöst; Per merkte, wie der erste und der zweite Steuermann miteinander über etwas verhandelten, was sie veranlaßte, die Stimmen zu senken.

Gleich danach lag um ihn her wieder alles in tiefer Stille. Er selbst dachte nicht an Ruhe. Er wollte der Mutter so nahe wie möglich sein. Außerdem wußte er, daß er doch keinen Schlaf finden würde.

Viele Bilder aus dem Elternhaus glitten in dieser Nacht an ihm vorüber, während er dasaß und über die leuchtende Meeresfläche starrte. Eigentlich hatte er sich noch nie zuvor eine umfassende und geordnete Vorstellung von seiner Mutter gemacht. Da sie im Leben stets im Schatten des energischen Vaters gestanden hatte, war Pers Erinnerung an sie ebenfalls verdunkelt worden durch das krasse Unbehagen, mit dem er sich an ihn noch immer erinnerte. Am besten entsann er sich an sie aus der Zeit ihres langen Krankenlagers. Sooft er sich – im Wachen oder im Träumen – mit ihr beschäftigt hatte, und das war öfter vorgekommen, als er sich dessen bewußt war, hatte er sie im Bett gesehen, in dem dämmrigen Schlafzimmer mit den stets heruntergelassenen dunkelgrünen Rouleaus, wo er oder eines der Geschwister am Fußende des Bettes saß und ihre kranken Beine massierte. Doch in den letzten Tagen waren ständig mehr Erinnerungen in ihm aus der Zeit aufgetaucht, da sie sich noch im Haus betätigte, abends und morgens die Kleinsten wusch und ankleidete, die Sachen der Größeren stopfte und flickte, den noch Größeren bei den Hausaufgaben half. Damals war sie jede Nacht in ihrem langen weißen Nachthemd zu ihnen in die Kinderzimmer gekommen, hatte hier ein Kissen zurechtgelegt, dort ein Oberbett aufgeschüttelt und ihnen mit ihrer seltsam weichen Hand über das Haar gestrichen, wenn sie im Halbschlaf die Augen aufschlugen und sich umdrehten.

Am deutlichsten erinnerte er sich an sie aus der Zeit des Krieges, dessen Unglück zu begreifen er zu klein gewesen war und dessen Unruhe und Übergriffe ihn daher belustigt hatten. Monatelang war die Stadt von deutschen Truppen besetzt gewesen, die täglich mit Musik und beeindruckenden Tambourmajoren an der Spitze durch die Straßen zogen, um auf dem Markt oder der Reitbahn ihren Appell abzuhalten. Im Pfarrhaus selbst wimmelte es stets von Soldaten. Oft waren zwanzig Mann im Hof, dazu sieben, acht Pferde, die im Torfstall standen und jeden Morgen im Garten unter Aufsicht eines Offiziers gestriegelt wurden. Der Familie waren nur einige Zimmer überlassen worden, in denen die vielen Kinder untergebracht werden mußten, so gut es ging. Wenn er es recht bedachte, mußte die Mutter damals ihre Niederkunft erwartet haben, ihr zwölftes Kind, den zwölften qualvollen Kampf mit dem Tod. Nicht genug damit. Mehrere Kinder waren krank, eines von ihnen, ein dreijähriges Mädchen, starb unter schweren Leiden. Aus späteren Erzählungen wußte er, daß es seinen Atem in den Armen der Mutter aushauchte, gerade als ein preußisches Regiment aus der Stadt ausgerückt war und ein anderes erwartet wurde.

War es da eigentlich so verwunderlich, daß ihr ganzes Wesen schließlich aus lauter Sorge bestanden hatte? War die jüngere Generation, die in friedlichen, ruhigen Zeiten heranwuchs, nicht oft sehr ungerecht gegenüber der Unsicherheit und Mutlosigkeit der Älteren, vor allem gegen jene, über die die Leiden und Demütigungen des Krieges hereingebrochen waren? Mußte man nicht vielmehr staunen, daß die Mutter all das überhaupt ausgehalten hatte? Sogar Jakobe, die doch selbst viel erdulden mußte, hatte neulich verwundert gefragt, woher die schwächliche, zarte Mutter diese fast übermenschliche Kraft genommen hatte, um all die Schicksalsschläge zu ertragen, ohne auch nur zu klagen.

Ja, wo hatte sie die her? Welche innere Kraft hatte die ältere Generation durch all das Unglück jener Tage geleitet, durch die furchtbare Erregung der Kriegsjahre und den totenähnlichen Lähmungszustand, der danach folgte . . . durch den ganzen blutigen Zusammenbruch, für den die Leidensgeschichte der Mutter ein ergreifendes Sinnbild war?

Was sie selbst betraf, war die Mutter wegen der Antwort nie im Zweifel gewesen. Per erinnerte sich an einen Spruch, auf den sie in Unterhaltungen immer wieder zurückkam:

Nicht ich, o mein Herr Jesus Christ,
Der Held bin, wahrlich, du es bist!

Er stand auf, ein Gefühl eisiger Kälte überkam ihn. Er begann auf der langen Laufmatte, die über das Deck gelegt worden war, auf und ab zu gehen. Ihm war, als seien seine Füße Sandsäcke. Der Kopf war ihm schwer von den Aufregungen der letzten Tage, so daß er sich gleich wieder setzen mußte.

Da kam der Steuermann von der Kommandobrücke herunter und stellte sich in Pers Nähe, in der deutlichen Absicht, ein Gespräch einzuleiten. Er machte ihn auf eine Reihe Boote aufmerksam, die sich mit schlaffen Segeln auf der Dünung wiegten, und erzählte, es seien Flundernfischer, die nun mit dem Südstrom von den Bänken um Anholt heimwärts trieben.

»Hm, aha«, bemerkte Per kurz.

Er mußte an den Brief denken, den ihm die Mutter hinterlassen hatte, und an das Päckchen, das vermutlich die Uhr des Vaters enthielt. Er wußte nicht, woher er den Mut nehmen sollte, den Brief zu lesen. So gern wollte er glauben, daß die Mutter ihm gegenüber nicht ganz verständnislos gewesen war. – Aber in Eberhards Blick hatte gestern etwas gelegen, das nichts Gutes verhieß.

Wieder stand er auf, von neuem durchzuckte ihn ein eiskalter Schauer. Qualvolle Unruhe erfüllte ihn, so daß er nicht still sitzen konnte.

»Legen Sie sich lieber schlafen, Mann«, riet jetzt der Steuermann und rückte ihm näher auf den Leib, die Hände in den Hosentaschen. »Der Deibel soll mich holen, wenn es auf Deck nich massig zu kalt is, de Sach hier zu versuchen.«

Der respektlose Ton veranlaßte Per, sich aufzurichten. Er hatte eine grobe Antwort auf der Zunge. Da wurde ihm klar, daß man ihn vermutlich in Verdacht hatte, er wolle Selbstmord begehen, und daß die beiden Seeleute hierüber bei der Ablösung leise ein paar Worte gewechselt hatten. Er fragte den Mann geradeheraus, ob er glaube, daß er über Bord springen wolle.

»Wo Sie dat nu selbst sagen, will ick nich abstreiten, daß wir so 'n büschen dran gedacht haben. So 'ne Dinge kommen ja nu mal hin und wieder vor. Und für uns is dat nich grad angenehm, denn hinterher haben wir bloß Schererei, Verhör und alles mögliche. Erst letzten Herbst hatten wir so 'n Theater mit ein' Mann, der in die See sprang, genau in diesem Fahrwasser hier!«

»Und was war das für ein Mann?«

»Ein Deckpassagier aus Horsens. Irgendwas war verkehrt gegangen mit ihm inne Welt, sagte man. Wir sahen weiter nix mehr von ihm als sein' Hut. Und er hat nie wieder was von sich hören lassen. Jetzt is er wohl bei de Makrelen gelandet.«

Per schlug unwillkürlich die Augen nieder. Dann wünschte er gute Nacht und begab sich unter Deck.

Einige Stunden lag er unten im Schiffsraum inmitten schnarchender und stöhnender Menschen und konnte nicht einschlafen. Seine Gedanken fanden keine Ruhe. Er fühlte: In dieser Nacht vollzog sich in ihm eine lange vorbereitete geistige Neugeburt. Ihm war, als öffne sich in Dunkel und Nebel eine neue Welt für ihn, zu der er bis jetzt den Weg nur schwer erkennen konnte. Was hinter ihm lag, versank im Nichts. In der Gestalt einer alten gichtbrüchigen Pastorsfrau hatte sich ihm eine Kraft offenbart, gegen die selbst die Macht eines Cäsars ihm nun armselig und gering vorkam – es war eine Kraft und eine Größe im Leiden, im Entsagen, im Aufopfern.

Die Hände unter dem Kopf, sah er mit weitgeöffneten Augen ins Dunkel. Voll Angst ahnte er die Seelenkämpfe, die ihm bevorstanden. Trotzdem war er nicht niedergeschlagen. Zu seiner eigenen Verwunderung beneidete er die Menschen nicht, die um ihn herum unter der Wirkung eines ruhigen Gewissens, jenes Schlaftrunks, schnarchten und schnauften. In seiner erwachenden Reue und Pein lag etwas von dem wunderbaren Rausch wie in den Wehen einer Gebärenden, die verkünden, daß ein neues Leben hervorbricht mit neuen Hoffnungen und Verheißungen.

 

Bei Tagesanbruch verließ Per an der ersten Anlegestelle in der Fjordmündung das Schiff. Von einem Hügel aus verfolgte er die langsame Fahrt des Dampfers durch die vielen Windungen des Fjords zwischen meilenweiten Wiesen. Es war derselbe Weg, auf dem er vor acht Jahren in die Welt hinaus gefahren war, mit soviel jugendlichem Mut und sonnenhellen Hoffnungen. Vor acht Jahren! Und er hatte wirklich das »Glück« in seinem Gepäck gehabt. Er hatte sogar das Königreich gewonnen, nach dem er gestrebt und dessen Krone zu tragen er sich berufen gefühlt hatte.

Während sich der Tau wie regenbogenfarbene Tränen in seinen Wimpern festsetzte, starrte er dem zwischen den buntblühenden Wiesen davongleitenden Sarkophag nach, bis er im goldenen Morgennebel entschwand wie eine Vision, vor der sich die Reiche des Himmels erschließen.


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