Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

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Siebzehntes Kapitel

Es geschah nicht oft, daß Philip Salomon zu einer Gesellschaft einlud; doch wenn es vorkam, dann stets in großem Stil. Ivan – der von der Familie eingesetzte Zeremonienmeister – entwarf bei solchen Anlässen lange vorher ein Festprogramm, das er den Eltern zur Billigung vorlegte. Stets sorgte er für eine Überraschung, auf die er – wie er sagte – »den Erfolg gründen« konnte. Mitunter war es ein besonders prachtvoller Blumenschmuck in den Zimmern, oder es war ein origineller Einfall zum Nachtisch – oder zum Kotillon, falls es sich um einen Ball handelte.

Diesmal hatte er sich ganz besondere Mühe gegeben. In der Hoffnung, daß das Fest – außer zu Ehren des heimgekehrten jungen Paares – auch eine Einweihungsfeier für Pers bedeutendes Werk wurde, hatte er vorgeschlagen, den Garten zu illuminieren und ein Feuerwerk zu veranstalten. Aber dem hatte sich Philip Salomon ganz entschieden widersetzt. Allerdings war Ivan zugestanden worden, ein paar bunte Lampions in den Bäumen zum Wasser hin aufzuhängen, was nach seiner Meinung von überwältigender Wirkung sein würde. Außerdem hielt er eine besondere Überraschung in Bereitschaft. Er nannte sie den »Clou« des Festes.

Noch ehe die Ausschmückung der Räume ganz fertig war und während sich die Familienmitglieder in den Schlafzimmern umkleideten, traf Per ein. Er hatte vergessen zu fragen, zu welcher Uhrzeit man eigentlich geladen hatte, und hatte nun das Pech, eine Stunde zu früh gekommen zu sein.

Von vornherein war er schlechtester Laune. Bei seiner Rückkunft letzte Nacht hatte er eine stattliche Rolle mit Papieren auf seinem Tisch vorgefunden. Max Bernhardt hatte ihm die Zeichnungen und Kostenvoranschläge zurückgesandt, die er seinerzeit von Ivan erhalten hatte. Trotz seiner Müdigkeit und der vorgerückten Stunde hatte Per mit ein wenig scheuer Neugier die Rolle geöffnet und sich darangemacht, die vielen im Laufe der Jahre schon recht vergilbten Blätter zu betrachten, die er so lange nicht in den Händen gehalten hatte. Und es dauerte nicht lange, da nahmen sie ihn ganz gefangen. Das Werk, das ihn in den letzten Jahren in seinen skizzenhaften Umrissen im wesentlichen als Idee beschäftigt hatte, sah er nun in völlig neuem Licht durch all diese halbvergessenen Detailpläne sorgfältig ausgeführter Schleusen, Brückenköpfe und Faschinendämme, durch all die mühsam errechneten Zahlenreihen und labyrinthischen Diagramme – der nüchterne Niederschlag seiner himmelstürmenden Jugendträume.

Die Bewegung, die ihn dabei ergriff, war in erster Linie ein feierliches Staunen gewesen. Er imponierte sich selbst. Welche Fruchtbarkeit! Welche Kraftentfaltung! . . . Mit jedem neuen Blatt, das er aus der Rolle zog, wuchs seine Selbstbewunderung, aber auch ein beklemmendes Gefühl des Rückschritts.

Die letzte Zeichnung vor sich, blieb er sitzen und versank in düsteres Grübeln. Im Geiste sah er sein kleines Hinterstübchen von Nyboder, die kahle Arbeitszelle seiner Jugendjahre, wo er fröhlich pfeifend vor seinem Zeichenbrett gestanden hatte, obgleich er oft kaum Geld für Brot besaß. – Und in ihm erwachte eine Art Heimweh nach jenen Armutsjahren mit ihrem unbezwingbaren Lebensmut, als die Kobolde seines Gewissens noch nicht des Nachts einrissen, was er tagsüber an seinem Glücksschloß aufgebaut hatte, als alle Mißerfolge nur ein erneuter Ansporn waren, weil sie das trotzige Behagen vergrößerten, sich verkannt und benachteiligt zu wissen – nach jener Zeit, als er trotz Hunger, Schulden und geflickter Hosen jeden Tag wie ein König einschlief und wie ein Gott erwachte.

Am Morgen hatte er die Zeichnungen wieder vorgeholt. Doch die Bewunderung, die er zu Anfang empfunden hatte, verlor sich zum Teil bei genauerer Prüfung. Durch die tieferen Einsichten, die er auf der Reise gewonnen hatte, fiel es ihm nicht schwer, angreifbare Punkte, ja geradezu unmögliche Dinge darin zu entdecken. Und diese Erkenntnis machte ihn nach und nach nervös. Sein Selbstvertrauen, das in jüngster Zeit so viele heftige Stöße bekommen hatte, wurde hier allen Ernstes erschüttert. Den ganzen Tag über hatte er zu Hause gesessen, um in sich steigerndem fieberhaftem Eifer zu ändern und zu verbessern. Endlich konnte nichts mehr seiner Kritik standhalten, und trotz aller Anstrengungen gelang es ihm nicht, auch nur auf eine einzige wirklich gute Idee zu kommen. Das ameisenfleißige Gewimmel seiner Gedanken und das Kribbeln in den Fingerspitzen, das er früher stets empfand, wenn er über seinen Papieren saß, blieb gänzlich aus. Zum ersten Mal überfiel ihn ein echtes Gefühl der Ohnmacht und ließ ihn ein Grauen spüren, das an das des Todes erinnerte.

Hier schritt er nun mit düsterer Miene ungeduldig auf der Terrasse vor dem Gartensaal auf und ab. Er sah im übrigen wirklich stattlich aus. Er trug einen modernen Gesellschaftsanzug mit weißer Atlasweste und gestickter Hemdbrust, an der ein Paar Diamantknöpfe, ein Geschenk von Jakobe, funkelten. Das mit der Maschine geschnittene Haar, das seinen Kopf wie dunkler Samt bedeckte, war nach einer neuen europäischen Mode hinten über dem Hals ausrasiert, um die Nackenmuskeln hervorzuheben. Sein kleiner Schnurrbart war nach Art der Offiziere aufwärts gedreht, und der Kinnbart, der auf seiner Auslandsreise immer kleiner geworden war, bestand jetzt nur noch aus einem Tupfen unter der Unterlippe.

Plötzlich hörte er eine Seidenschleppe im Gartensaal rauschen. Als er sich umdrehte, stand Nanny vornübergebeugt in der Türöffnung und schaute sich suchend um.

Sie wußte sehr genau, daß er gekommen war. Oben von ihrem Zimmer aus hatte sie ihn durch das Gartentor fahren sehen. Sie hatte sich mit dem Ankleiden beeilt, um noch vor den anderen unten sein zu können.

Nur flüchtig zeigte sie sich in der Tür, nickte ihm scheinbar zerstreut zu und zog sich sogleich wieder zurück, als suche sie etwas.

Per blieb stehen und schaute ihr nach. Den ganzen Tag über war sie seinen Gedanken so unendlich fern gewesen.

Nach einigem Zögern folgte er ihr. »Suchen Sie etwas? Darf ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Oh, danke, es ist nichts«, wehrte sie ab, gab sich indessen immer noch den Anschein, als suche sie. »Ich habe bloß meinen Handschuhknöpfer verlegt. Aber das ist völlig gleichgültig. Ich war bei Jakobe und habe ihren geliehen. – Anscheinend sind wir zu früh erschienen«, fügte sie nach einer Pause hinzu.

»Ja, ich bin fast eine ganze Stunde hier.«

»Oh – Sie Ärmster!« entgegnete sie und sandte ihm einen mitfühlenden Blick über die nackte Schulter zu.

Per stand wieder einen Augenblick unschlüssig da. Dann trat er entschlossen auf sie zu, verbeugte sich und sagte, indem er ihr mit gespielter Höflichkeit den Arm bot: »Ja, da die Gesellschaft nun begonnen hat, dürfte ich vielleicht um die Ehre bitten . . .«

Sie sah hastig und scheu zu ihm auf, als fürchte sie, in seinen Worten könne eine versteckte Anspielung liegen. Dann öffnete sie mit müder Resignation ihren Fächer, als seien ihr alle Bedenken zuwider, nahm seinen Arm und sagte mit abgewandtem Gesicht: »Sie haben recht! Tun wir so, als amüsierten wir uns . . .«

»Ich finde, gnädige Frau sind heute nicht in der richtigen Stimmung«, sagte er, als sie in das Nebenzimmer, ein weißlackiertes und vergoldetes Kabinett im Rokokostil, eingetreten waren. »Ist Ihnen etwas Unangenehmes begegnet?«

»Nicht das geringste! Ich wünschte nur, dieser abscheuliche Tag wäre erst zu Ende.«

»Und warum?«

»Ich hasse Gesellschaften.«

»Soso. Das überrascht mich eigentlich. Ist das nicht etwas ganz Neues bei Ihnen?«

»Kann wohl sein. Aber ich bin ja jetzt auch eine andere. Man ist ›Madame‹ geworden. Ehe man sich's versieht, ist man schon Großmutter.«

»Ja, wissen Sie, diese letzte Würde erreicht man allerdings nicht ohne gewisse vorangegangene Formalitäten. – Aber wollen wir uns nicht setzen?« Per blieb vor einem kleinen, mit Seide bezogenen Sofa stehen und machte eine einladende Handbewegung. »Oder fürchten Sie, Ihr Kleid könnte zerknittert sein, ehe die Gäste kommen?« fügte er hinzu, als sie zögerte, Platz zu nehmen.

Sie verwirrte ihn abermals, indem sie zu ihm aufsah, als ahne sie einen versteckten dreisten Sinn in seiner Bemerkung. Ohne zu antworten, breitete sie darauf ihr Kleid fächerförmig nach der Seite hin aus und nahm in der Sofaecke Platz.

»Können Sie verstehen«, begann er, als er sich neben ihr niedergelassen hatte, »können Sie es im Ernst begreifen, daß wir uns erst vor acht Tagen in Rom getrennt haben?«

»O ja – warum denn nicht?«

»Haben Sie nicht das Gefühl, als sei eine kleine Ewigkeit vergangen, seit wir an jenem Vormittag voneinander Abschied nahmen . . . Sie erinnern sich . . . auf dem Bahnhof?«

Eine Weile starrte Nanny verständnislos in die Luft. Dann schüttelte sie entschieden den Kopf. »Nein, daran habe ich nicht gedacht.«

»Wirklich nicht?«

»Nein. – Es war übrigens scheußlich in Rom, nicht?«

»Finden Sie? . . . Man merkte es Ihnen allerdings nicht an, als Sie da waren.«

»Nicht? Das kann schon sein.«

»Sie sind, mit anderen Worten, froh, daß Sie wieder zu Hause sind?«

»Froh?« – Nanny wandte sich mit mattem, resignierendem Achselzucken ab. – »Ich meine, es ist überall scheußlich. Und am allerschlimmsten hier zu Hause.«

Per mußte lachen. »Hören Sie, heute sind Sie wirklich schlecht aufgelegt. Wer in aller Welt hat bloß . . .?«

»Was ich noch sagen wollte«, unterbrach sie ihn mit erkünstelter Nervosität, »Ihnen scheint ja Rom über die Maßen gefallen zu haben. Sie waren wahrhaftig ganz begeistert davon.«

»In gewisser Weise – ja. Doch wenn ich die Wahrheit gestehen soll, so hat die Stadt ungemein an Interesse verloren, als Sie – und Ihr Gatte natürlich – abgereist waren. Ich brach ja auch schon ein paar Tage später auf.«

Nach diesen Worten saß Nanny einen Augenblick schweigend da und schaute auf ihren Fächer, wobei sie mit großer Kunst ein schwermütiges Lächeln auf ihre Lippen zauberte. Dann hob sie langsam ihre schönen Augen zu ihm empor, mit einem jener weichen sprechenden Blicke, die auf ihn wirkten wie eine geheime Liebkosung.

Per überfiel allen Ernstes Unruhe. Wieder war er ganz bezaubert von ihr. Sie hatte sich auch aufs äußerste angestrengt, ihre Schönheit an diesem Tag voll zur Geltung zu bringen. Sie trug ihre Lieblingsfarbe, ein strahlendes Goldgelb, das zu ihrem orientalischen Teint und dem schwarzen Haar vorzüglich paßte; und nach Art der Japanerinnen hatte sie ihr Haar hinten straff aus dem Nacken gekämmt und es auf dem Scheitel mit einem hohen Schildpattkamm befestigt. An ihrem nackten Busen wiegten sich zwei große dunkelrote Rosen.

Per mußte sich förmlich zwingen, nicht zudringlich zu werden. Nanny merkte das und war auf der Hut, auch sich selbst gegenüber. Sie spürte sehr gut, daß das Spiel für sie sehr gewagt war. Doch das beunruhigte sie nicht mehr – es erhöhte lediglich den Reiz der Spannung. Sie glaubte auch nicht, daß vorläufig eine drohende Gefahr bestand. Wenn es auch sekundenlang siedendheiß in ihr aufwallte vor Lust, die Arme um seinen Hals zu schlingen und seinen roten Mund zu küssen, so fiel es ihr natürlich nicht ein, dies zu tun. Dazu war ihr das Gefühl der Überlegenheit noch immer viel zu lieb. Überhaupt lag ihr der Gedanke fern, Dyhring ernstlich untreu zu werden. Zwar war sie mitunter rasend wütend auf ihn wegen seiner gespielten oder wirklichen Gleichgültigkeit und hatte auch gelegentlich keine Angst, ihm das vorzuhalten. Aber sie war viel zu stolz auf ihn, um sich der Gefahr auszusetzen, von ihm verstoßen zu werden. Täglich erfüllte es sie mit Glück, wenn sie erlebte, wie die ganze Stadt, von den Ministern bis zu den Damen der Amüsierlokale, um seine Gunst buhlten. Und sie schmiedete schon die hochfliegendsten Pläne, was sie als Gattin eines solchen Mannes erreichen könnte.

Ganz ohne Absicht war ihr fortgesetztes Spiel mit Per dennoch nicht. Sie konnte sogar behaupten, daß sie einen erklärbaren, vernünftigen Grund dazu hatte. Aus ähnlichen Fällen, da ein Mann größere Macht über sie gewonnen hatte, als ihr lieb war, wußte sie, daß ihre Verliebtheit sofort ein Ende hatte, wenn es ihr gelang, ihn bis an den gefährlichen Abgrund zu locken und zu beobachten, wie ihn hier der Schwindel erfaßte. Ihre eigene Lust war damit voll befriedigt, und sie konnte ihn in aller Gemütsruhe fallen sehen.

Nun wurden sie von der Haushälterin und einem Dienstmädchen gestört, die etwas im Kabinett zu ordnen hatten. Per war wieder etwas von ihr abgerückt, und sie sprachen eine Zeitlang über gleichgültige Dinge.

Die Dienstboten waren noch zugegen, als Nanny plötzlich ausrief: »Aber wo bleibt bloß Jakobe? Bestimmt weiß sie jetzt, daß Sie da sind. Sie war doch fast fertig, als ich vorhin bei ihr war.«

Per antwortete nicht hierauf. Er wollte sich gar nicht erst auf dieses Thema einlassen.

Aber Nanny fuhr fort: »Sie werden sich übrigens über ihren Anblick freuen. Ihr neues Kleid steht ihr großartig. – Haben Sie es vielleicht selbst für sie ausgewählt?«

»Ich? . . . Nein!« murmelte Per unwillig.

»Nein, es ist ja wahr! Jakobe muß es längst bestellt haben, bevor Sie kamen. Aber dann hat sie es sicher nach Ihrem Geschmack gewählt. Hat sie nicht davon gesprochen?«

»Nei-n . . . jedenfalls erinnere ich mich nicht.«

»Dann soll es wohl eine Überraschung sein.«

Per antwortete wieder nicht. Er war auf einmal ganz geistesabwesend, und gedankenversunken starrte er sie mit Blicken an, die um so beredter waren. Was noch an altem Aufruhrgeist und Freibeuterlust in ihm war, regte sich unter dem Eindruck der Pracht ihres Körpers. Auch seine schlechte Laune, die Unzufriedenheit mit sich, über die er sich hinwegtäuschen wollte, reizten ihn, sich in ein neues gewagtes Spiel zu stürzen. Er fühlte sich zu ihr hingezogen wie zu einem Betäubungsmittel, das er brauchte, um das innere Gleichgewicht wiederzufinden. Und er fühlte, daß gerade sie ihm den starken heißen Trank des Selbstvergessens einschenken konnte, wie er ihn jetzt nötig hatte. Jede Rücksicht auf Jakobe mußte hier weichen. Sie selbst hatte ihm die Anweisung gegeben: Wollte man das Ziel, mußte man auch die Mittel wollen.

Nach dem Weggang der Dienstboten hatte er sich Nanny erneut genähert. Er begann abermals von Rom zu reden und von ihrem Abschied dort. Dabei legte er vertraulich eine Hand auf die Sofalehne hinter ihr. Doch nun ging es ihr wie an jenem Tag auf der Fahrt über den Janiculus: Die unerwartete kühne Annäherung machte sie unsicher, und sie rückte unruhig auf dem Sofa hin und her.

Nun lag auch etwas in seinem Blick, was die Erinnerung an einen Traum weckte, den sie eines Nachts auf der Rückreise von Italien hatte, an einen jener seltsamen, unheimlichen, wollüstigen Träume, aus denen sie stets mit furchtbaren Kopfschmerzen erwachte. Einige Tage zuvor hatte sie den zoologischen Garten besucht und war dort von einem großen gelbgeflammten Tiger sehr beeindruckt worden. Dieser Tiger kroch über den Fußboden in ihr Bett, spielte mit ihr und streichelte sie lüstern mit seinem weichen Fell. Zuletzt legte er sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihre Brust; und plötzlich erkannte sie in den Augen des Tieres Pers bohrenden Blick.

»Erinnern Sie sich: Eine Rose fiel aus Ihrem Strauß, als der Zug abfuhr«, drang Per in sie. »Ich nahm sie auf und verwahrte sie. Ich habe sie noch immer.«

»Herrgott! Sie war der vielen Mühe gar nicht wert.«

»Das kommt darauf an. – Sie entfiel jedenfalls zwei wunderhübschen Händen.«

Ohne es zu wissen, hatte Per ihr das gesagt, was sie am liebsten hörte. Die Hände waren ihr wunder Punkt. Zwar waren sie keinesfalls häßlich; aber sie konnte kaum leugnen, daß die Finger ziemlich kurz waren.

»Mir scheint, Sie sollten sich Ihre Komplimente für Jakobe sparen«, entgegnete sie und änderte wieder ihre Stellung, in dem vergeblichen Versuch, seinem durchdringenden Blick zu entgehen.

»Warum denn?« fragte er und stürmte nun auf gut Glück los. »Ist es ein Verbrechen, einer bezaubernden Dame zu sagen, daß sie schön ist? Sollte ich Ihnen vielleicht etwas vorlügen, liebe Schwägerin, und behaupten, ich hielte Sie nicht für die vollendet schönste . . . die sündhaft gefährlichste Frau, die ich jemals traf? Was sollte das auch nützen? Sie wissen es ja doch. Einst machte ich mir eitle Hoffnungen in meinem Übermut, was Sie ohne Zweifel auch bemerkt haben. Aber reden wir nicht mehr von diesen alten Geschichten! Sie wollten mich nicht. Und ich mußte resignieren. Sie waren wahrscheinlich zu schön für mich!«

Er wurde plötzlich ängstlich, zu schnell zu Werke gegangen zu sein. Ihm schien, und das traf auch zu, als habe er ein sekundenlanges Aufblitzen von Haß in ihren Augen gesehen. Und er bekam Ohrensausen, als er daran dachte, was geschehen konnte, wenn ihm dieser Angriff mißlang.

Da fühlte er plötzlich seinen Hals umschlungen von ihren Armen und ein Paar heiße Lippen auf seinem Mund.

Das dauerte alles nur einen Augenblick. Ehe er sich besann, war Nanny aufgesprungen und ans Fenster geflüchtet. Hier blieb sie stehen, wandte ihm den Rücken zu und preßte in ihrer Bestürzung eine Hand an die Wange, als hätte sie einen Schlag darauf erhalten.

Nun vernahm man Ivans kommandierende Stimme aus dem Vorzimmer, und gleich darauf kam er auf seinen kurzen Beinen geschäftig in das Zimmer getrippelt wie ein aufgezogenes mechanisches Spielzeug. Mit der Miene eines Heerführers, der seine Armee zur Schlacht aufstellt, verschwand er wieder, während sein Stab, einige reich betreßte Lohndiener und ein Dekorateur in blauer Bluse, ihm auf den Fersen folgte.

Als er zurückkehrend die beiden erblickte, die sich ganz gegen das Festprogramm hier im Kabinett versteckt hatten, blieb er eine Sekunde stehen. »Der Empfang ist im Salon!« erklärte er, worauf er mit seinen Gehilfen weitertrabte, die sich hinter seinem Rücken angrinsten.

Weder Nanny noch Per hatten sich gerührt. Doch nun erhob sich Per, noch halb verständnislos und verwirrt.

Beim Geräusch seiner Schritte drehte sie sich nach ihm um und hielt ihn zurück mit einem Blick, der zwar unglücklich und beschämt war, ihm aber doch ganz entschieden, ja verbittert verbot, sich ihr zu nähern. Und da man jetzt Stimmen aus dem Gartensaal hörte, erblaßte sie einen Augenblick vor Angst und eilte mit gesenktem Kopf an ihm vorüber.

An der Tür blieb sie jedoch stehen, blickte zurück und sagte mit halblauter Stimme, während sie den Fächer vor den Mund hielt: »Wenn Sie es wagen, irgend jemand etwas davon zu sagen, was Sie sich erlaubt haben, dann . . .«

»Was dann? Was dann, Nanny?« fragte Per, der jetzt in Glut geraten war.

»Dann . . .«, fuhr sie mit heuchlerischer Verheißung in ihren schönen Augen fort, »dann – werden wir beide niemals gute Freunde.«

 

Es waren die Stimmen Philip Salomons und seiner Frau, die sie gehört hatten. Arm in Arm gingen sie im Gartensaal auf und ab; und der einflußreiche kluge Börsenmann sah ganz einfältig aus vor Entzücken über seine Lea, die ein kostbares weinrotes Kleid mit prächtigen Spitzen trug. Als er aber Per erblickte, der jetzt aus dem Kabinett trat, erstarb das Lächeln auf seinem Gesicht.

Er war an die peinliche Aufgabe erinnert worden, die ihm bevorstand: Er mußte die Verlobung seiner Tochter mit diesem in seinen Augen völlig unbrauchbaren und unnützen Menschen bekanntgeben. Er hatte die Absicht gehabt, schon am Vortag mit Per darüber zu reden. Als er aber von dessen Benehmen bei Max Bernhardt gehört hatte, konnte er sich nicht dazu entschließen. Und auch jetzt ging es ihm nicht anders. Er vermochte sich nicht zu überwinden, seinem künftigen Schwiegersohn die Hand zu geben – wozu ihn allerdings Pers Miene auch keineswegs ermutigte.

Jetzt kam Ivan wieder emsig herein, um sich zu überzeugen, ob alle versammelt waren. Der erste Wagen war nämlich vorgefahren. Kurz vorher waren noch die kleineren Kinder in ihren weißen Kleidern hereingesprungen. Auch Rosalie war erschienen. Nur Jakobe fehlte noch immer. Ihr war ein Mißgeschick mit ihrer Toilette zugestoßen. Ungeübt, wie sie war, sich kleidsam anzuziehen, hatte sie bei ihren Bemühungen, dem Dekolleté den richtigen Sitz zu verleihen, diesem so übel mitgespielt, daß sie zuletzt in ihrer Verzweiflung eines der Mädchen zu Hilfe rufen mußte. Die Hälfte der Gäste war bereits gekommen, als sie sich endlich zeigte.

Nanny, die dafür gesorgt hatte, in Pers Nähe zu sein, um seinen Gesichtsausdruck in dem Augenblick beobachten zu können, da er Jakobe sah, hatte wahrhaftig viel Vergnügen an ihrer listig eingefädelten kleinen Bosheit von vorhin. Per wurde aschfahl im Gesicht vor Ärger.

Jakobe hatte nämlich den unglücklichen Einfall gehabt, sich ein Kleid mit sehr tiefem Dekolleté anfertigen zu lassen, wozu sie keineswegs die Figur hatte. Ihre erotische Erregung, mit der sie ihren Verlobten erwartet hatte, und gewisse glückliche Erinnerungen an ihre Liebeswonnen mit Per hatten sie zu dieser Unbesonnenheit verleitet. Damit traf sie indessen Per an seinem empfindlichsten Punkt. Er hatte bemerkt, wie ein paar Herren bei ihrem Eintreten gelächelt hatten. Und daher sah er zu Anfang nicht nach der Seite, wo sie stand.

Unterdessen strömten unaufhörlich Gäste durch die große Vorhalle herein, wo die Zofen und Lohndiener eifrig beschäftigt waren, sie von ihren Hüllen zu befreien. Wagen auf Wagen fuhr an der teppichbelegten Treppe vor, während sich auf dem Strandvej eine lange Reihe von herrschaftlichen Equipagen und Mietsdroschken bildete, die sich Schritt für Schritt und mit unendlichen Pausen der Villa näherten.

Schließlich waren etwa hundert Menschen im Gartensaal und den beiden anstoßenden Zimmern versammelt.

Vor allem war natürlich die Finanzwelt vertreten, was man auch an dem wertvollen Schmuck der Damen erkennen konnte. Im übrigen erblickte man sowohl Universitätsprofessoren und Ärzte als auch Künstler und Schriftsteller. Der größte Teil der jüngeren Damen erschien in Balltoilette, denn man wußte, daß auch getanzt werden sollte. Doch auch viele ältere Damen, besonders die jüdischen Frauen, hatten ohne Scheu ihre Schneiderinnen angewiesen, so viel von ihrer Schönheit zu enthüllen, wie es die Gelegenheit und die vorurteilsfreie Mode des Augenblicks gestatteten.

Von dem verunglückten Freihafen-Konsortium, dessen Mitglieder alle eingeladen waren, hatten die meisten abgesagt, was Ivan nach dem Vorfall des vergangenen Tags nicht anders erwartet hatte. Nur der »ehemalige Landmann«, Herr Nørrehave, war erschienen. Seine bäurische Gestalt, die dicke goldene Halskette und die zwiefach genähten Stiefel, die er trug, erregten Aufsehen in der eleganten Gesellschaft.

Ivan hatte ihn zufällig in einer Droschke mit dem Kopenhagener Salonlöwen, Obergerichtsanwalt Hasselager, vorfahren sehen, und er wunderte sich über die Partnerschaft der beiden. Sofort kam ihm der Gedanke, daß die zwei ihre Pläne mit Per haben mußten. Er erinnerte sich, daß Herr Nørrehave am Vortag bei dem verblüffend schnellen Abschluß der Verhandlungen ein gewisses Mißfallen gezeigt hatte. Und der Obergerichtsanwalt gehörte zu der jungen, mit aller Macht nach oben strebenden Geschäftemachern, die sich Max Bernhardt zum Vorbild genommen hatten. Da war es gar nicht so unwahrscheinlich, daß er sich zu dem Versuch verlockt fühlte, das durchzuführen, was der Meister selbst hatte aufgeben müssen.

Von den üblichen Freunden der Familie, den sogenannten Sonntagsgästen, sah man Aron Israel und – alle anderen überragend – Kandidat Balling, den Literarhistoriker, den großen Zitierer, dem es erging wie den mageren Kühen aus der Bibel. Der erstere, klein und von nervösem Wesen, hatte sich in eine Ecke geflüchtet, wo ihn seine vielen Freunde aber sogleich fanden. Balling dagegen hatte sich an einen augenfälligen Platz neben einer Tür postiert. Doch trotz seiner fabelhaften Länge und interessanten Magenkatarrhblässe hatte er hier wie in der Literatur das Pech, nicht beachtet zu werden. Sogar Rosalie, die sich seinerzeit durch seine Aufmerksamkeiten so geehrt gefühlt hatte, ging Arm in Arm mit einer Freundin an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Und das schmächtige, noch nicht sechzehnjährige Mädchen, das schon wie eine Dame gekleidet war, brauchte doch sonst ihre Augen recht gut!

Per war inzwischen Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit geworden, mehr als ihm bei dieser Gelegenheit lieb war. Seine stattliche sonnengebräunte Erscheinung fiel nun auch angenehm auf zwischen den winterbleichen Gesichtern der vielen Büromenschen und Stubenhocker. Zudem wußten die meisten, in welchem Verhältnis er zu dem Haus Salomon stand, und viele Anwesende begegneten ihm hier zum erstenmal. Die überhaupt etwas von ihm wußten und zum Beispiel von seinem Buch gehört hatten, waren alle verblüfft über seine Jugend. Sie hatten sich ihn mehr als Dichter vorgestellt und waren erstaunt, einen Mann zu treffen, der tatsächlich etwas von einem Bahnbrecher und Zukunftshelden an sich hatte.

Doch niemand in der ganzen Gesellschaft erregte soviel Aufsehen wie Dr. Nathan. Er hielt sich auf der Terrasse auf, wo ihn eine Schar bewundernder Damen und Herren umringte, die alle lachten und sehr laut miteinander sprachen. Man hatte ihn nach seiner Meinung über ein kürzlich erschienenes Buch gefragt, das erhebliches Interesse geweckt hatte, eine große Dichtung mit dem Titel »Ein Jakobskampf«. Der Verfasser dieses Werkes war Poul Berger, jener junge Lyriker mit dem häßlichen Gesicht, der seinerzeit häufiger Gast hier im Hause gewesen war und zu Nannys vielen unglücklichen Verehrern gehört hatte.

Dieser Mann hatte bisher als Schriftsteller zu jenem Kreis von freisinnigen Intellektuellen gehört, die sich um Dr. Nathan gesammelt und im Schatten seiner Autorität Schutz gesucht hatten. Seine Gedichte zeigten eine sprachliche Eleganz, die an Enevoldsen selbst erinnerte, offenbarten aber gleichzeitig einen erschreckend gespenstischen Mangel an Persönlichkeit. Er hatte von diesem Meister gelernt, geduldig an einem Reim zu feilen und stundenlang nach einem Adjektiv zu suchen. In einer Reihe schmaler Bände, die von Jahr zu Jahr dünner und schwindsüchtiger geworden waren, hatte er ständig aufs neue die traurige Geschichte seiner Jugend in Form einer Dichtung erzählt, deren Ton haltlos zwischen Weinerlichkeit und krampfhaftem Titanentrotz schwankte. Vor Jahresfrist hatte er ein Buch herausgegeben, das selbst seine Freunde und Gönner nicht loben konnten, und das war mehr, als der Titan ertragen konnte. Er verschwand plötzlich aus Kopenhagen, und lange Zeit hörte niemand etwas von ihm. Doch eines schönen Tages hieß es, er habe sich in einem kleinen jütischen Dorf versteckt, wo er als Einsiedler in einer armseligen Hütte lebe, fern von der Welt, nur damit beschäftigt, über sein Schicksal nachzusinnen. Von hier aus hatte er sein aufsehenerregendes Buch ausgesandt, in dem er gleich im Vorwort seine aufrührerische Vergangenheit verwarf und erklärte, daß er nach geistigem Kampf endlich Glück und Frieden im demütigen Gehorsam des Christentums gefunden habe.

Während seine ehemaligen Freunde geringes Zutrauen zur Aufrichtigkeit dieser Bekehrung hatten, behauptete Nathan jetzt, eine Religiosität, die aus gekränkter literarischer Eitelkeit, aus Rachsucht und unbefriedigter Sexualität entstehe, sei ganz gewiß echt. Ja nach seiner Ansicht war die Entstehungsgeschichte dieser Bekehrung sogar typisch, was er unter großer Heiterkeit zu beweisen suchte, indem er mehrere erläuternde Beispiele gab, die sich von den Bekenntnissen berühmter Kirchenväter bis zu Grundtvig erstreckten.

Übrigens trug das Gedicht selbst recht deutliche Spuren jenes Durchbruchs, den sein Verfasser auch als Poet erfahren hatte. Jede Seite des umfangreichen Buches zeugte von einer Ergriffenheit des Gemüts, von einer neuerschaffenen Kraft und Innigkeit des Gefühls, die ihren Ausdruck in einer bewußten, starken Kunst gefunden hatten. In dem Dutzend Gesänge, aus denen das Werk bestand, gab es eine Reihe von Stimmungsbildern aus der öden schwermütigen jütischen Landschaft und ihrem farblosen Volksleben. Und überall schien die Wirklichkeit, obwohl sie sogar mit äußerster Naturtreue gezeichnet war, wie vom Licht einer dahinter liegenden unsichtbaren Welt durchstrahlt. Sonderbar und überraschend war es, daß Poul Berger, der bislang unreif auf dem Instrument seiner Seele herumgefingert hatte, in dem Augenblick, da er seinen Kinderglauben wiedererlangte, zugleich seinen persönlichen Ton gefunden hatte, der noch dazu so ausgeprägt männlich war, ein Brustton wie aus Finsternis und Erz, eine Stimme aus der Tiefe . . . aus der Unterwelt.

Nun aber entstand Bewegung in den Zimmern. Die Tür zum Speisesaal wurde geöffnet. Man ging zu Tisch.

 

Unmittelbar bevor man Platz nahm, hatte Philip Salomon Per durch Ivan wissen lassen, daß er nun die Gelegenheit für passend erachte, die Verlobung bekanntzugeben. Mit Jakobe hatte er selber gesprochen. Und da sie nichts hierauf erwiderte, hatte er ihr Schweigen als selbstverständliche Zustimmung gedeutet. In Wirklichkeit hatte sie gar nichts gehört. Sie hatte nur Gedanken für dies eine: für Pers verändertes Benehmen ihr gegenüber eine Erklärung zu finden.

Es dauerte nicht lange, da kam sie auf die richtige Spur. Obgleich Per fleißig den Flaschen zusprach, konnte er seine Unruhe nicht verbergen. Ihm schräg gegenüber saß nämlich Nanny und amüsierte sich köstlich mit einem anderen Herrn. Natürlich saß sie bei Tisch auch neben ihrem Gatten. Aber sie hatte dafür gesorgt, einen ihrer Anbeter, den früheren Kavallerieleutnant und jetzigen Versicherungsvertreter Hansen-Iversen, an ihre andere Seite zu bringen. Und mit ihm unterhielt sie sich die ganze Zeit über.

Ab und zu legte sie allerdings liebkosend ihre Wange an die Schulter ihres Ehemanns, in der unverkennbaren Absicht, ihn schadlos zu halten. Und Dyhring fühlte sich offensichtlich nicht zurückgesetzt, denn er erwiderte ihre Zärtlichkeitsbeweise mit gnädigem Augenzwinkern.

Das geschah indessen nicht, weil er ohne Verständnis war, wie sie meinte. Doch er war ziemlich sicher, daß sie ihre Freiheit nicht mißbrauchen würde, um insgeheim die Grenze dessen zu überschreiten, was er zugestehen konnte. Nachdem er ihre Natur und ihren Charakter näher kennengelernt hatte und besonders nachdem er zu seiner weiteren Beruhigung geschickt ihren Ehrgeiz angestachelt und ihr eine Zukunftsperspektive ausgemalt hatte, die in den Sälen des Königshofes selber endete, war er überzeugt, sie würde sich sogar vor dem bloßen Schein eines Skandals in acht nehmen. Wie groß die Versuchung für sie vielleicht auch sein mochte – es würde ihr sicher genauso ergehen wie in jenen Geschäften, wo sie begehrlich die Gegenstände umkreiste und befühlte, die ihr gefielen, die sie aber unweigerlich liegenließ, wenn sie selber sie bezahlen sollte.

Nicht ein einziges Mal schaute sie zu Per hinüber. Vergeblich wartete er auf einen verstohlenen Blick. Er war und blieb Luft für sie.

Daß ihre angeregte Unterhaltung mit dem Leutnant Verstellung und falsche Vorspiegelung war – dieser Gedanke tauchte ihm zwar auf, befriedigte ihn aber nicht. Ihre Munterkeit machte keinesfalls einen erkünstelten Eindruck, und er war aufrichtig verärgert.

Hierzu kam noch etwas anderes.

Gleich nachdem Philip Salomon auf das Wohl der Neuvermählten getrunken hatte, schlug er wiederum an sein Glas, um die Verlobung zu verkünden. Er tat dies so kurz wie möglich. Trotzdem löste seine Mitteilung – obgleich die meisten vorbereitet waren – lebhafte Bewegung an der Tafel aus.

Als sich Per nun erhob, um mit dem Glas in der Hand die Glückwünsche der Gesellschaft entgegenzunehmen, und während um ihn her plötzlich die Luft von seinem Namen erfüllt war, mußte er unwillkürlich daran denken, daß man ihm nicht um seiner selbst willen huldigte, sondern lediglich als Jakobes Verlobtem, als Philip Salomons künftigem Schwiegersohn. Dieser Gedanke dämpfte sein Sideniussches Selbstbewußtsein und stimmte ihn der Versammlung gegenüber nicht sanfter. Obgleich es ihm nicht bewußt wurde, hatte er noch nie so stark wie in diesem Augenblick den angestammten Unwillen seiner Familie gegen diese weltfrohe, unbefangen genießende Gesellschaft empfunden, die sich die gute nannte. Das hundertstimmige Geschwätz ringsum, in das sich stellenweise fremde Sprachen mischten, klang in seinen Ohren wie ein Papageienkonzert. Längst war die Zeit vorbei, da er sich vom Glanz dieser Gesellschaft der Reichen noch blenden ließ wie ein Bauernjunge. Alles um ihn erfüllte ihn immer mehr mit Erbitterung. Der prachtvolle Blumenschmuck auf den Tischen, der nach seiner Berechnung mehrere hundert Kronen gekostet haben dürfte, die schweren silbernen Leuchter, die ganze künstlerisch ausgestattete Tafel, die betreßten Lohndiener und das unablässige Tellerwechseln – all das war in seinen Augen nur ein Zeichen jüdischer Prahlsucht.

Erregt durch Nannys Lachen, das immer ausgelassener durch den Lärm zu ihm herüberdrang, verschaffte er sich schließlich Jakobe gegenüber Luft und sagte ihr ohne Umschweife, er finde das Fest protzenhaft und dumm.

Jakobe entgegnete nichts. Von dem Augenblick an, da ihr Mißtrauen gegen ihre Schwester geweckt worden war, hatte sie überhaupt nicht mit ihm gesprochen.

Nannys scheinbares Interesse für den früheren Leutnant führte sie nicht hinters Licht. Sie kannte ihre Schwester und wußte, daß der Genuß eines Liebesspiels für sie vor allem darin lag, ihren Anbeter eifersüchtig zu machen. Sie wußte auch, daß Nanny aus feiger Furcht, von ihren Gefühlen übermannt zu werden, in gefahrvollen Situationen stets hinter der Bewunderung anderer Männer Schutz suchte.

Daß es zwischen ihr und Per so weit gekommen war, wie das tatsächlich der Fall war, glaubte sie jedoch nicht. Allerdings gab sie sich keinen falschen Vorstellungen hin über die Rücksichten, die Nannys schwesterliche Gefühle ihr auferlegen würden. Sie konnte sich sogar vorstellen, daß es Nanny besondere Freude bereitet hatte, gerade ihren Verlobten ins Garn zu locken. Jetzt begriff sie, daß es Triumph gewesen war, was sie in ihren Augen gelesen hatte, als sie seinerzeit gleich bei ihrer Rückkehr von ihrem Zusammentreffen mit Per erzählt hatte.

Dennoch ließ sich Jakobe nicht das geringste anmerken. Mit der fast übermenschlichen Fähigkeit, sich zu beherrschen, die ihr ihre Kränklichkeit von Kindheit an abverlangt hatte, spielte sie tapfer ihre Rolle als glückliche Braut. Obgleich sie alles wie durch einen Nebel sah und hörte und die ganze Zeit über das Gefühl hatte, sich auf einem schwankenden Schiff zu befinden, war ihr nichts weiter anzusehen, als daß sie etwas blasser als gewöhnlich und ein wenig müde erschien. Per gegenüber war sie nicht imstande, sich zu verstellen. Sooft er sich an sie wandte, drehte sie den Kopf weg. Sie konnte es beinahe nicht ertragen, seine Stimme zu hören. Sobald sein Ärmel ihren Arm berührte, durchfuhr es sie eisig.

Zum Glück hatte sie vorläufig nicht viel Zeit zum Nachdenken. Jeden Augenblick wurde sie aus ihrer steigenden Verzweiflung gerissen, weil Freunde und Bekannte mit ihr und ihrem Verlobten anstoßen wollten. Sogar Nanny trank auf ihr Wohl, und bei dieser Gelegenheit schaute sie Per zum erstenmal an. Mit einer Unbefangenheit, die ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte, nickte und lächelte sie ihnen beiden über dem erhobenen Glas zu.

»Prosit, Herr Schwager! . . . Auf dein Wohl, Jakobe!«

Das ist wahrhaftig zu frech – dachte Per. Er war blutrot geworden und vermochte ihrem Blick nicht zu begegnen.

Jakobe dagegen führte scheinbar ruhig ihr Glas an den Mund, ohne allerdings zu trinken. In ihrer Furcht, erneut Triumph im Blick der Schwester zu lesen, überwand sie sich sogar und erwiderte das Nicken.

Unterdessen waren Per und seine Zukunftsaussichten allgemeines Thema der Unterhaltung bei Tisch, zumindest bei denen, die nicht in seiner Nähe saßen. Besonders die Damen betrachteten eifrig den neuen Schwiegersohn des Hauses. Pers barsche und düstere Miene sowie die Gemessenheit, mit der er selbst den freundlichsten Aufforderungen nachkam, mit ihnen das Glas zu erheben, erhöhten bei vielen den Respekt, den er bereits durch seine männliche Erscheinung hervorgerufen hatte.

»Ja, diese Sideniusse sind Charaktere!« sagte jemand oben an der Tafel in Philip Salomons Nähe, was dieser indessen zu überhören schien, obwohl die Äußerung vor allem für ihn bestimmt war.

Dagegen gab es unter den Gästen am oberen Tischende einen anderen Herrn, einen älteren, stark gebeugten graubärtigen Mann, auf den die Bemerkung gewissen Eindruck machte. Es war der bekannte Etatsrat Erichsen, einer der reichsten, wenn nicht gar der reichste Mann der Stadt, und dabei ein nationaler Wohltäter großen Stils. Schon vor Tisch hatte Obergerichtsanwalt Hasselager ihm von Per berichtet und versucht, ihn für dessen Pläne zu interessieren, die er bisher nur vom Hörensagen kannte. Daher saß Herr Erichsen nun da und beobachtete Per mit prüfenden Blicken, wie er auch aufmerksam all das verfolgte, was die Umsitzenden über den jungen Mann und seine angesehene Familie sagten.

Beim Nachtisch klopfte Philip Salomon zum dritten Mal an sein Glas. Dies geschah jedoch nicht, wie er unter allgemeiner Heiterkeit sogleich versicherte, um noch eine Tochter zu vergeben. Er wollte vielmehr vorschlagen, auf Dr. Nathans Wohl zu trinken und ihn willkommen zu heißen nach dem langen Auslandsaufenthalt, der ihn glücklicherweise nur noch fester an die Heimat und deren Jugend gefesselt hätte. Dieses Prosit wurde von allen mit wahrer Begeisterung aufgenommen. Mehrere Gäste, auch einige Damen, erhoben sich von ihren Plätzen und umringten den Doktor, um mit ihm anzustoßen.

»Er hat sich in all der Zeit gar nicht verändert«, stellten die Gäste ringsum am Tisch fest. »Sein Haar verliert allerdings die Farbe.« – »Na ja, aber deswegen sieht er doch nicht älter aus!«

Ja, wie sah er eigentlich aus, dieser vielgefeierte und heftig befehdete Mann, der energischer und zielstrebiger als irgendein anderer den Boden für Dänemarks Zukunft bereitet und eine geistige Bewegung im Lande hervorgerufen hatte, zu der man seit den Tagen der Reformation kaum ein Gegenstück finden konnte.

Er war von kleiner Gestalt, und allgemein fanden die Menschen sein Gesicht ziemlich häßlich. Es war auf jeden Fall sehr unregelmäßig. Im übrigen war es schwer, das zu beurteilen, weil es niemals ruhig war, sondern ununterbrochen den Ausdruck wechselte und die inneren Bewegungen mit unbeherrschtem, krampfhaftem Mienenspiel wiedergab, was mit den Jahren noch bewußt übertrieben worden war. Am schönsten war es, wenn er zuhörte. Der Gesichtsausdruck empfing dann Leben von dem, was bei ihm das Hervorstechendste war: sein Erkenntnisdrang und sein unersättlicher Wissensdurst . . . oder seine Wißbegier. Bei einer allgemeinen Unterhaltung waren solche Augenblicke allerdings nicht häufig bei ihm. Er zog es unbedingt vor, selber zu reden. Neben seiner unbegrenzten Aufnahmefähigkeit besaß er als Gegengewicht noch als grauhaariger Mann ein fast jungmädchenhaftes Mitteilungsbedürfnis, das mitunter ausartete in Klatschsucht und dann nicht frei von Boshaftigkeit war.

Seine rücksichtslose Lebhaftigkeit hatte mehr, als er selbst es ahnte, zu dem Widerstand und Unwillen beigetragen, mit dem man ihm begegnet war. Freunde und natürliche Bundesgenossen hatten sich deswegen auch zu wiederholten Malen von ihm entfernt, weil diese Lebhaftigkeit ihre nordisch-germanischen Vorstellungen von männlicher Würde verletzte. Sein Naturell war überhaupt so fremdartig, so wenig mit dem dänischen Nationalcharakter verwandt, daß er notwendigerweise Anstoß erregen mußte, um so mehr, als er – im bezeichnenden Gegensatz zu vor ihm in der dänischen Literatur aufgetretenen jüdischen Schriftstellern – weder seine fremden Eigenheiten der Umgebung anzupassen noch sich interessant zu machen suchte, indem er sich mit einem pharisäerhaften »Was soll ich unter euch?« absonderte. Nie hatte er an seiner Berechtigung zum Mitreden gezweifelt. Schon früh hatte er sich vielmehr berufen gefühlt, eine Rolle innerhalb der Nation zu spielen, und zwar gerade wegen seiner andersartigen nationalen Abstammung, die ihn befähigte, das dänische Leben mit dem nötigen Abstand zu betrachten und es vorurteilslos einzuschätzen.

Hinzu kam, daß auch seine Bildung nicht den üblichen dänisch-deutschen Charakter hatte. Seine geistige Heimat war die romanische Kultur. Und seine Vorliebe für französische Geschmacksverfeinerung, die sich in seinen jungen Jahren auch in einer gewissen äußeren Eleganz ausgedrückt hatte, rückte ihn sofort bei allen seinen Landsleuten und nicht zuletzt in der gelehrten Welt in ein schiefes Licht. Im Grunde hatte er seine erbittertsten Feinde innerhalb der Mauern der Universität selbst. Mit seinem schönen, wohlbehandelten Haar, seiner allzeit schneeweißen Hemdbrust, seinem ganzen sorgfältig gepflegten Äußeren sah er genauso aus, wie sich die alten Theologieprofessoren einen Scharlatan vorstellten.

Aber all das erklärte noch nicht die außerordentliche Wirkung seines Auftretens. Ohne Zweifel besaß er glänzende Fähigkeiten, war jedoch keinesfalls das, was man im allgemeinen unter einem »Genie« verstand, kein eigenschöpferischer Geist, kein Neuerer. Im Vergleich zu den heimischen Originalen wie Grundtvig oder Kierkegaard schien ihm fast jede größere Eigenständigkeit zu fehlen. Er war zu ungeduldig gewesen, eine selbständige Weltanschauung zu entwickeln. Er war vom Leben zu sehr in Anspruch genommen und zu lebenslustig, um zäh, lichtscheu und spinnenartig einen eigenen Persönlichkeitsinhalt zu weben. Diese Zähigkeit konnte mitunter auch geringeren Begabungen durch Zufall dazu verhelfen, mehr oder minder bedeutsame Entdeckungen zu machen. Mit seinem rastlosen Eifer konnte man ihn weit eher mit einer goldenen Arbeitsbiene vergleichen, die bei Sonne und Sturm alle Blumenfelder des Geistes absucht und getreulich zum Stock zurückkehrt, vollgesogen mit Honig. Wie mit hundert Augen überflog er die Literatur aller Länder und Zeiten, fand mit nie versagendem Instinkt all das heraus, was als Ansporn für daheim dienen konnte, und braute daraus in sinnreicher Kunst ein bald bitteres, bald süß gewürztes Lebenselixier für die dänische Jugend. Die Geistesgeschichte ganzer Zeitabschnitte entrollte er auf einigen wenigen Seiten, so daß sie Flug und Leben eines Dramas erhielten. Sogar dunkelste philosophische Geheimgänge erhellte er mit ein paar wirkungsvollen Gedankenblitzen, und selbst die Dümmsten bekamen eine Vorstellung, wovon die Rede war.

In dieser Kunst der Wiedergabe lag das eigentliche Geheimnis seiner einzigartigen Macht verborgen, die er über die Jugend gewonnen hatte. Sie betörte nicht nur unmittelbar, sondern fand zugleich wirksame Unterstützung in einer Eigenart des Volkscharakters, die man nie vergebens ausnutzt und die er denn auch energisch bekämpfte: in der dänischen Bequemlichkeit. Nie zuvor hatte sich die studierende Jugend Dänemarks Kenntnisse auf so leichte und unterhaltende Art aneignen können. Während man ausgestreckt auf dem Sofa lag, eine lange Pfeife im Mund, schritten die hervorragenden Persönlichkeiten der Weltliteratur leibhaftig an einem vorbei. Der Inhalt ihrer Werke wurde mit solch bestechender Anschaulichkeit wiedergegeben, daß man hinterher meinte, man habe sie alle selbst gelesen und durchdacht, weswegen es die meisten auch für überflüssig hielten, sie wirklich zu lesen. Ohne Widerspruch akzeptierte man Nathans Urteile und Gesichtspunkte, weil man sie für die eigenen hielt. Man füllte sich an mit seinen ganz persönlichen Stimmungen und Gefühlen und sog seine orientalisch flammenden Sympathien und Antipathien ein, im Bewußtsein, wie durch Zaubermacht bereichert worden zu sein. Nie vordem hatte in der akademischen Jugend solch ein Wagemut, solch eine Freiheitsbegeisterung gegärt. Sogar der schwerblütigste Bauernstudent war wie berauscht von dem Drang nach Heldentaten, wenn er sich, nachdem er einige Stunden in Nathans Schriften gelesen hatte, von seinem Sofa wälzte, um sich eine neue Pfeife zu stopfen.

Nun, zu mehr als zu kurzem Aufflackern kam es denn in der Regel auch nicht. Und in vielen Fällen war der Rückschlag sogar viel kräftiger. Poul Berger war durchaus nicht der einzige, dem die Erweckung durch Nathan und seine geistige Feuertaufe die Vorbereitung für eine religiöse Wiedergeburt geworden war. Das konnte gar nicht anders sein. Wo geistiges Leben geweckt worden war, das mit einigem Ernst nach Vertiefung strebte, fand es keinen anderen gepflegten Boden, in dem es Wurzel schlagen konnte, als die Theologie. Was es an Kultur im Volk gab, gehörte fast ausschließlich der Kirche an. Wo die Oberfläche aufhörte, begann entweder das Mittelalter oder die Leere.

In gewisser Weise konnte man daher den Umfang von Nathans Bedeutung am besten an seinen Gegnern erkennen. Bei verschiedenen hatte er heiße Leidenschaft und fanatische Glut zu erwecken vermocht, was er bei seinen Mitkämpfern allzuoft vergeblich versucht hatte. Bislang spürte man allerdings den religiösen Rückschlag in der Hauptstadt noch nicht so stark, weil man hier zu sehr von dem neuen Geschäftsleben in Anspruch genommen war. In der Provinz dagegen, und besonders auf dem Lande, war die Bewegung in aller Stille gewachsen und scharte sich um Pfarrhäuser und Volkshochschulen wie ein Heer um seine Festungen.

 

Als man vom Tisch aufgestanden war, hielten Per und Jakobe in einer Ecke des Gartensaals, in dem der große Kristalleuchter angezündet war, eine Art Gratulationscour ab.

Zu den ersten, die herantraten, um Glück zu wünschen und Per die Hand zu drücken, gehörte Nørrehave. Mit seinem allertreuherzigsten Schnarren des »R« sprach der durchtriebene Jüte sein außerordentliches Bedauern über das aus, was sich am Vortag bei Max Bernhardt ereignet hatte, und versicherte, er für seine Person habe keineswegs mit dieser »Auffassung der Situation« übereingestimmt.

Per hörte nur mit einem Ohr zu. Noch immer richtete sich seine ganze Aufmerksamkeit auf Nanny, die am anderen Ende des Saales in einem Kreis von sie bewundernden Verehrern scherzte und lachte. Obwohl er fest entschlossen war, sie in ihrem eigenen, ziemlich trüben Fahrwasser segeln zu lassen, konnte er doch kein Auge von ihr wenden. Er sah nun, wie Leutnant Iversen, der in der Vorhalle gewesen war und ihr Hermelincape geholt hatte, dies mit behutsamer Sorgfalt um ihre Schultern legte und wie er es ihr auch durchaus unter dem Kinn zuhaken wollte, was sie ihm jedoch nicht gestattete. – Nanny schlug ihm auf die Finger. Doch gleich darauf nahm sie unbefangen seinen dargebotenen Arm und ging mit ihm durch den Saal und in den Garten hinaus, wohin sich bereits andere junge Leute verfügt hatten, um im norwegischen Gartenhaus Kaffee zu trinken.

Nørrehave redete noch immer, und Per wurde klar, daß es dessen Absicht war, ihn über die Ereignisse des gestrigen Tags zum Reden zu bringen, um zu erfahren, welche neuen Pläne er mit dem Projekt hatte. Um nicht zu verraten, wie es in Wahrheit stand, wurde Per immer wortkarger und zurückhaltender, was jedoch die Neugier des Jüten nur noch erhöhte und ihn förmlich erpicht darauf machte, mit ihm zu einem Einverständnis zu kommen.

Endlich zog er sich zurück. Aber er wurde sogleich von einem anderen abgelöst, der sich von der Seite her aus der Gratulantengruppe näherte, die sich um Jakobe gebildet hatte. Es war Aron Israel. Der schüchterne, linkische Gelehrte mit seiner naiven Bewunderung für alles, worauf er sich nicht verstand, vor allem für jede praktische Tätigkeit, hatte Per schon eine Zeitlang umkreist, um einen Augenblick abzupassen, da er ihn begrüßen konnte, ohne anderen den Weg zu versperren. Als er nun Pers Hand ergriffen hatte, wollte er sie gar nicht wieder loslassen, sondern fuhr fort, sie herzlich zwischen seinen beiden zu drücken.

»Und dürfte ich gleich die Gelegenheit benutzen, Herr Sidenius, Ihnen aufrichtig zu danken für Ihre kleine Schrift vom letzten Winter? Sie war wie eine Dynamitbombe . . . wie ein Attentat . . . aber im Dienste der Menschlichkeit angewendet. Ich weiß sehr gut, es kann kein Interesse für Sie haben, zu hören, was ich – ein gänzlich Unkundiger – über Ihr Buch denke. Doch ich muß Ihnen gestehen: trotz seiner vielen starken Ausdrücke, die sicherlich zahlreiche Leute abgeschreckt haben, hat es mich sehr erfreut.«

Per blickte unsicher auf den kleinen Mann nieder. Zwar war er nicht der einzige unter den Gästen, der mit ihm über seine Schrift gesprochen und ihm Artigkeiten über sie gesagt hatte. Doch während Per die lobenden Worte der anderen als Höflichkeitsphrasen abgetan hatte, konnte er kaum an Aron Israels Aufrichtigkeit zweifeln. Dazu hatte er zuviel von der fanatischen Wahrheitsliebe und dem idealen Streben dieses stillen Gelehrten gehört. Außerdem war es nicht das erste Mal, daß er Anteilnahme für ihn und seine Zukunftspläne bewiesen hatte.

Per erwiderte deshalb freimütig, er sei überrascht, daß ihm das Werk überhaupt unter die Augen gekommen sei. Es habe doch sonst gar kein Aufsehen erregt. Nicht einmal die Zeitungen hätten es besprochen, denn alle Kopenhagener Blätter seien an jenen Tagen, da das Buch erschienen war, sehr von einem Plan über die Verlegung des Tivoli beansprucht gewesen.

»Das habe ich auch bemerkt«, entgegnete Aron Israel. »Und ich habe deshalb mit der Lust gekämpft, Ihnen zu schreiben. Ich meinte, Sie sollten wissen, daß es hier in der Heimat Menschen gibt, die Ihr stolzer, mutiger Glaube an die Entwicklungsmöglichkeiten der Menschheit und Ihr Weitblick für zukünftige Natureroberungen erwärmt und erbaut hat. Ja . . . ich verwende absichtlich dieses Wort. Nach meiner Ansicht gehört Ihr Buch zur wahren Erbauungsliteratur. Es hat auf mich gewirkt wie ein Frühlingshauch – verwirrend, aber erfrischend wie das Meer. Ich wünschte aus tiefstem Herzen, daß unsere liebe Jugend sich Ihr Naturevangelium so recht zu Herzen nähme. Sie behandelt ja die Realwissenschaften immer noch mit unverständiger Geringschätzung und ist deswegen so beklagenswert leicht am Leben verzweifelt.«

Per hatte dem alten Herrn zart die Hand entzogen; er war rot geworden.

So erging es ihm immer. Trotz seines herausfordernden Selbstbewußtseins und all seiner inbrünstigen Hoffnungen auf Ruhm und Bewunderung – sobald ihn jemand ernsthaft lobte, wurde er verlegen. Jetzt hatte er zudem eine natürliche Scheu, sich zu weit in diese Dinge einzulassen. Und daher versuchte er, die Rede auf etwas anderes zu bringen.

Doch Aron Israel war viel zu erfüllt von seinem Thema. Er kam auf Nathan zu sprechen, auf dessen Schaffen Per in seiner Schrift mit einiger Geringschätzung hingewiesen hatte, die er zur Entstehungszeit des Buches noch für alle Ästhetiker empfand. Aron Israel bemerkte, er müsse trotz seiner beinahe grenzenlosen Bewunderung für diesen Mann immerhin zugeben, daß dessen Mangel an naturwissenschaftlicher und technischer Einsicht beklagenswert sei und für den Teil der dänischen Jugend verhängnisvoll werden könne, deren Erzieher Nathan war. Es wäre bestimmt besser gewesen, wenn er durch sein Wirken mehr Männer der Tat und weniger Schöngeister hervorgebracht hätte. Zweifellos sei hier Versäumtes nachzuholen. Zur Lösung dieser Aufgabe – vielleicht der größten der Zeit – schien der Verfasser des »Zukunftsstaats« – ohne alle Schmeichelei – hervorragende Voraussetzungen zu besitzen. Die jüngste Generation warte offensichtlich auf ihren Erwecker und künftigen Führer. Ein Thron sei leer. Man spähe aus nach dem Erwählten, dem königlich geborenen . . .

Er mußte abbrechen. Im Saal war es plötzlich still geworden. Ein Herr mit einer schwarzen Mähne hatte sich an den riesigen Flügel gesetzt und schlug ein paar Akkorde an. Ivan aber führte mit einem Gesicht, das wie ein frisch geprägtes Zwanzigkronenstück glänzte, eine stattliche vollbusige Dame nach vorn neben den Pianisten.

Das war die Enthüllung der besonderen Überraschung, die Ivan »le clou« genannt hatte. Die Dame, eine berühmte Sängerin von der Königlichen Oper, hatte Salomons das Wohlwollen erwiesen, eine Einladung zu der Gesellschaft anzunehmen und gegen eine angemessene Barvergütung nach Tisch zwei Lieder und eine Dakaponummer zu singen – eine Gunstbezeigung, die bisher nur wenigen, sehr hochgestellten und wohlhabenden Adelsfamilien zuteil geworden war.

Per, dem jedes Verständnis für Kunstgesang fehlte, suchte sich zurückzuziehen. Er sah, wie einige Herren, die der Friede des Rauchzimmers lockte, mit Erfolg an den Wänden entlangschlichen. Doch er hatte einen zu weiten Weg bis zu den Ausgängen. Bevor es ihm gelang, eine der Türen zu erreichen, tönte ein theatralischer Aufschrei durch den Saal und gleich darauf ein ersterbendes Pianissimo, das ihn zwang stehenzubleiben.

Dem Gesang der Dame lauschte er jedoch nicht. Immer noch klangen ihm Aron Israels Worte in den Ohren; sie machten ihn so seltsam schwindlig. Lag nicht eine Art Fügung darin, daß ihm dieses begeisterte Vertrauen gerade jetzt entgegengebracht wurde, da er begonnen hatte, den Glauben zu verlieren, daß er wirklich zu den Berufenen gehörte? Ein eiskalter Schauer hatte sein Herz erfaßt, als der wunderliche kleine Mann auf seine prophetische Weise von jenem »leerstehenden Thron« gesprochen hatte. Die stolzeste Hoffnung seiner Jugendjahre, die er im Grunde längst begraben hatte, kehrte bei diesen Worten stürmisch in sein Herz zurück wie ein vertriebener Adler zu seinem Horst.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als der Gesang aufhörte und der Beifall, von Ivan geleitet, wie ein Hagelschauer durch den Saal prasselte. Im gleichen Augenblick mußte er an Nanny denken, die mit ihrem Verehrer noch nicht zurückgekehrt war. Die amüsieren sich wahrscheinlich gut da draußen, sagte er sich, und es kam ihn eine bittere Lust an, in den Garten zu gehen, um zu sehen, was sie dort unten im Dunkeln trieben.

An der Tür stieß er auf Onkel Heinrich. Der alte Lebemann hatte sich zur Feier des Tages über den ganzen Kopf Locken brennen lassen. Mit großer Unverschämtheit trug er seinen mächtigen falschen Brillanten, der an seiner Hemdbrust funkelte wie eine königliche Ehrengabe.

Per wollte an ihm vorbei. Seit seiner Rückkehr hatte er soweit wie möglich diesen bösen Dämon des Hauses Salomon gemieden, der sich nach wie vor den Anschein verlieh, als sei er sein Wohltäter, und dessen Freiheiten Per bei seiner Werbung um Jakobe nur deswegen geduldet hatte, weil er die giftige Zunge des Alten fürchtete.

Der Onkel hielt ihn jedoch zurück und zog ihn mit geheimnisvollem Zwinkern ein wenig beiseite. »Ein Wort im Vorübergehen, mein Freund! . . . Zuerst mein ergebenstes Kompliment! Es scheint ja heute abend vorzüglich zu klappen!«

»Was meinen Sie?« fragte Per, ohne seine Ungeduld zu verhehlen.

»Wie bitte? Na ja! Sie wollen auch vor mir Komödie spielen. Das können Sie sich übrigens sparen, mein Bester. Ich kenne Sie, weiß Gott, zur Genüge. Aber genieren Sie sich bloß nicht! Bleiben Sie nur in Ihrer Rolle – das ist vielleicht genau das Richtige. Ihre ernste Maske ist von grandioser Wirkung, kann ich Ihnen verraten! Herr Gott von Mannheim*, wie habe ich mich amüsiert! Die Leute reden von Ihnen wie von einem ernst zu nehmenden Mann. Ist das nicht komisch? Nur weiter so! Führen Sie alle an der Nase herum! Streuen Sie ihnen Sand in die Augen! Immer drauflos, damit ich mit Ihnen noch ordentlich Ehre einlegen kann.«

Voller Widerwillen blickte Per auf das häßliche Männlein herab. Onkel Heinrich war offensichtlich ein wenig betrunken. Seine halb zugewachsenen Basiliskenaugen sprühten förmlich Funken vor Bosheit. Der falsche »Direktor« war stets giftig wie nie, wenn im Haus des Schwagers Gesellschaften stattfanden, weil keiner von den Gästen etwas mit ihm zu tun haben wollte. Besonders die Börsenleute gaben ihm allesamt offen ihre Geringschätzung zu verstehen.

»Was für dummes Zeug faseln Sie da«, entgegnete Per. »Falls Sie mir etwas mitzuteilen haben, dann beeilen Sie sich.«

»Allerergebenster Diener! Wissen Sie, mich erinnern Sie an ein Stück, das ich hier mal im Königlichen Theater gesehen habe . . . an ein blödes Stück natürlich, ein Ritterschauspiel mit Versen und dem ganzen Quatsch. Darin kam ein junger Mann vor, ein Taugenichts, ein Bauernlümmel, in den sich alle vergafften, wo er sich auch blicken ließ. Alle Damen hängten sich ihm an den Hals, und den König selbst machte er so irrsinnig vor Bewunderung, daß der ihn zum Minister ernannte. Und das alles mit Hilfe eines kleinen Dings*, das er verborgen am Leibe trug und das irgendwie Zauberkraft hatte, versteht sich. Dies Ding verlieh ihm Schönheit in den Augen aller. Haben Sie am Ende den Ring geerbt, mein Bester? Oder was sagen Sie selbst dazu? Sie kommen von Ihrer Reise zurück und rufen gleich einen Skandal hervor, daß man sich Ihrer schämen muß. Und heute sind Sie trotzdem der Held des Abends und haben Erfolg. – Aber Sie, Verehrtester, finden das alles natürlich ganz in Ordnung!«

Ich müßte ihm bei Gelegenheit mal den Mund stopfen, dachte Per einen Augenblick, hatte aber sogleich einen lustigeren Einfall. Nein, der Alte sollte seine dreiste Sprache behalten! Er konnte sein Hofnarr werden, dessen ehrliche Bosheit ihm ab und an eine stille Stunde würzen konnte in der lärmenden Maskerade des Lebens.

Großmütig legte er die Hand auf die ausgepolsterte Schulter des affenartigen Mannes und sagte: »Lassen Sie es gut sein, wertester Onkel! Haben Sie mir etwas anderes zu verraten, so rücken Sie damit heraus. Halten Sie mich nicht unnötig auf.«

»Na, dann hören Sie gut zu! Wissen Sie, daß man ein neues Konsortium auf Ihren Namen bilden will? Sie kennen ihn ja, den dicken Bauern, der heute abend hier ist und überall Gestank verbreitet mit seinen eingefetteten Schmierstiefeln – Nørrehave heißt er. Ich habe vorhin gesehen, wie er mit Ihnen sprach. Haben Sie nichts gemerkt?«

»Nein – nichts Besonderes.«

»Natürlich nicht! Aber es ist so, wie ich sage. Er und dieser lange Windbeutel, Hasselager – der Obergerichtsanwalt –, die haben ihre Fühler ausgestreckt. Ich habe es selbst beobachtet. Vorhin sah ich sie mit diesem Dummkopf, dem Etatsrat Erichsen mit dem Ochsengesicht, reden. Von dem macht man soviel Wesens und nennt ihn einen Ehrenmann und Patrioten, weil er sich nach Strich und Faden begaunern läßt, sobald man nur was von vaterländischer Gesinnung, nationaler Erhebung und geistigem Dänentum faselt . . . der Schafskopf. Ich dachte mir gleich, daß es um Sie ging, und da hielt ich mich in der Nähe, um ein bißchen zuzuhören. Mir scheint, der Fisch hat angebissen. Der Etatsrat hörte die Herren sehr aufmerksam an und sah dabei ziemlich dämlich drein. Deswegen rate ich: Jetzt keine Dummheiten mehr! Nützen Sie den Augenblick, greifen Sie mit beiden Händen zu! Solch günstige Gelegenheit kommt vielleicht nicht so bald wieder!«

Per schwieg eine Weile. Er maß den Beobachtungen des anderen keine große Bedeutung bei. Da er jedoch nach der Unterhaltung mit Aron Israel in angeregter Stimmung war, beeindruckte ihn die Mitteilung des Alten doch ein wenig.

»War das alles, was Sie mir erzählen wollten?« fragte er dann.

»Nein!«

»Da ist also noch mehr?«

»Ja . . . aber Sie erraten bestimmt nicht, was es ist«, antwortete Onkel Heinrich mit verkniffenen Augen und machte eine lange Pause, um Pers Neugier zu erhöhen. »Als ich heute vormittag auf dem Vimmelskaft promenierte, traf ich – na wen wohl? – Oberst Bjerregrav.«

Beim Klang dieses Namens schrak Per ein wenig zusammen. »Dann haben Sie wohl mit ihm gesprochen?« erkundigte er sich.

»Natürlich.«

»Haben Sie ihm vielleicht erzählt, was sich gestern bei Max Bernhardt ereignet hat?«

»Er wußte es schon.«

»Soso? Und von wem?«

»Das hat er nicht verraten. Aber ich habe es inzwischen rausgekriegt. Er ließ nämlich ein Wort über diesen Nørrehave fallen und wollte mich ein wenig über ihn ausfragen. Der schlaue Fuchs* war gestern schon bei ihm und hat ihm was vorgeplappert. Glauben Sie mir, der Oberst wußte über alles Bescheid, was bei Max passiert war. Und man denke sich! – er war tief beeindruckt von Ihnen. Gott strafe mich, er lachte sich sogar eins ins Fäustchen, weil Sie so dreist waren und Max abblitzen ließen. Er sähe ja gern alle unsere jungen Rebellenjuden gehenkt – und Gott segne ihn dafür! Seine Augen glänzten förmlich. Vor dem Kerl nehme ich den Hut ab, sagte er . . . Und ich spürte heraus, daß er so seine Absichten mit dieser Bemerkung hatte. Er wollte, daß ich es Ihnen wiedererzähle. Der will sich bei Ihnen einschmeicheln, verstehn Sie? Er hofft noch auf eine Aussöhnung. Das ist ein Mann nach meinem Herzen, sagte er. Jetzt fordert unsere kraftvolle dänische Jugend ihren Platz und schlägt sich herum mit der ganzen fremden Brut, die sich hierzulande hat breitmachen dürfen! Das waren seine eigenen Worte . . . komisch, was? Großartig!«

Per stand gedankenversunken da und antwortete nicht.

»Na, habe ich vielleicht nicht recht, wenn ich Sie einen Glückspilz nenne? Je mehr Dummheiten Sie anstellen, desto größere Erfolge haben Sie . . .«

Einige Gäste in der Nähe forderten ihn auf, jetzt zu schweigen. Die Sängerin hatte ein neues Notenblatt vorgenommen, und wieder wurde es im Saal still wie in der Kirche.

Per wandte sich von Onkel Heinrich ab und schlüpfte zur Tür hinaus. Langsam ging er durch das Kabinett und weiter in die Vorhalle hinaus. Die Türen zur Bibliothek und zum dahinter liegenden Billardzimmer, die beide als Rauchzimmer dienten, standen offen. Dichter Qualm von Havannazigarren drang aus dem vorderen Zimmer, in dem eine Gruppe Herren lautstark ein lebhaftes Gespräch führte. Man konnte sie von der Vorhalle aus nicht sehen. Doch schon hier draußen übertönten ihre Stimmen die Musik aus dem Saal.

Ein paar Schritt vor der geöffneten Tür blieb Per plötzlich stehen. Er hatte seinen Namen gehört. Mit brennenden Wangen und pochendem Herzen lauschte er. Er selbst war es, über den man drinnen stritt. Sein Projekt hatte die Gemüter erregt. Zwei riefen wie aus einem Mund, Kopenhagens Interessen dürften um des eigenen Landes willen nicht angetastet werden. Darauf erwiderte ein anderer – ein Mann mit kräftiger Stimme –, für ihn bestehe das Neuartige und Ansprechende der dargelegten Idee gerade darin, daß sie so entschieden mit dem Konzentrationsprinzip gebrochen habe, durch das dem Land unermeßlicher Schaden zugefügt worden sei, weil es Dänemark weiter von den europäischen Geschäftszentren entfernt habe, als das der geographischen Lage nach nötig sei.

Mehr wollte Per nicht hören. Behutsam drehte er sich um und kehrte in das leere Kabinett zurück. Hier stand er eine Zeitlang in Gedanken versunken an einem geöffneten Fenster, das nach der Straße und dem Wald hinausging, über dem noch schwach der Abendhimmel glühte.

So war seine Zeit nun doch gekommen! . . . Ihm fiel ein, und er lächelte ironisch, daß der Augenblick ziemlich genau mit seinen alten Berechnungen übereinstimmte, bei denen er die wahrscheinliche Wirkung dessen mit einbezogen hatte, was sich heute hier ereignet hatte. Mit der Bekanntgabe seiner Verlobung war sein »Glück« besiegelt. Nun war er offiziell Anwärter auf die vergoldete Dornenkrone des Ruhms geworden.

Im Saal brach ein neues Hagelwetter los, und gleichzeitig fand ein allgemeiner Aufbruch statt – man verteilte sich wieder auf die Zimmer. Per war der Kopf schwer von der parfümgeschwängerten Luft der heißen Räume. Er hatte keine Lust, sich noch einmal von dem Gewimmel verschlingen zu lassen. Kurz entschlossen kehrte er in die Vorhalle zurück, suchte hier Hut und Überrock an einem der überfüllten Garderobenständer und ging hinaus auf die Landstraße.

Der Abend war sommerlich mild. Auf der einen Seite hatte er den Wald, auf der anderen den Sund, über dem rauchähnlicher Nebel lag. Ein paarmal blieb er stehen und atmete tief die taukühle Luft ein, die den Körper erfrischte und gleichsam reinigte. Den Hut hielt er noch in der Hand. Den langschößigen Überrock hatte er in der Eile nur lose umgeworfen, so daß er frei von den Schultern herabhing wie ein Künstlermantel.

Alles kommt jetzt darauf an, dachte Per, daß ich ernsthaft an die Überarbeitung des Plans gehe. Es würde ihm schon gelingen, die Mängel zu beheben. Daß er heute vormittag so wenig Erfolg gehabt hatte, lag wohl daran, daß er nicht richtig aufgelegt war. Morgen würde es besser gehen.

An einer Biegung der Straße, wo er dem Wasser ganz nahe kam, blieb er wieder stehen. Die ganze Fläche des Sundes lag hier vor ihm zwischen den zurücktretenden Küsten ausgebreitet, überspannt von einem fast wolkenlosen Himmel.

Mehrere Minuten lang lauschte er regungslos dem leichten Plätschern der Wellen gegen das Ufer. Wie an jenem Abend nach seiner Heimkehr, als er mit Jakobe am Strand von »Skovbakken« gestanden hatte, rief dieser einförmige Laut, der in der tiefen Stille wie das vertrauliche Plaudern der Unendlichkeit selber klang, eine eigentümliche Stimmung in ihm wach.

Auch die Sterne schienen ihm so wunderbar lebendig. Da war besonders ein kleiner hell strahlender Stern gerade über der Insel Hveen. Er glitzerte ihn so vertraut, beinahe wiedererkennend an, als strenge er sich an, ihn an etwas zu erinnern. Kennst du mich nicht mehr? schien er zu fragen. Denkst du nicht mehr daran . . . damals . . . vor langer, langer Zeit . . . weit fort von hier . . .

Ein paar Droschken mit heimkehrenden Ausflüglern riefen ihn in die Wirklichkeit zurück. Da bemerkte er weiter entfernt am Strand eine leuchtende Erscheinung, die ihn im ersten Augenblick überraschte, ja fast erschreckte. Aber bald wurde ihm klar, daß es Ivans Lampions waren, die sich in dem blanken Wasser spiegelten und wie eine Reihe leuchtender Feuersäulen wirkten. Etwas landeinwärts sah er nun auch die hell erleuchtete Villa durch die dunklen Baumgruppen des Gartens schimmern. Dieses Bild war an dem stillen Abend von eigenartiger, phantastischer Wirkung. Es erinnerte an einen strahlenden Feenpalast.

Da fiel ihm ein, daß es eigentlich seine Absicht gewesen war, Nanny und ihren Kavalier im Garten zu belauschen. Er hatte sie wahrhaftig ganz vergessen, und das war ihm gar nicht unangenehm. »Mag er sie behalten!« sagte er und nahm mit diesen Worten unwiderruflich Abschied von Nanny und den Liebesabenteuern überhaupt. Hier draußen, angesichts des unendlichen Weltenraums, erschien ihm das hektische Liebesspiel der Menschen geschmacklos, ja es erfüllte ihn mit Ekel.

Er ging weiter, die Straße entlang. Als er an einem Haus vorbeikam, aus dem Musik drang, blieb er unwillkürlich stehen, um einen Blick über die hohe Dornenhecke zu werfen, die eine Umzäunung zur Straße hin bildete. Da lag ein strohgedecktes Sommerhäuschen in einem alten Garten, in dem einige junge Damen und Herren Versteck spielten.

Auch hier wurde offenbar ein Fest gefeiert. Und auf eigenartige Weise berührte ihn der Gegensatz zwischen dieser Gesellschaft und derjenigen, die er verlassen hatte. Die Damen trugen hier helle Kleider, aber man sah nirgends die Auswirkungen jener europäischen Vorurteilslosigkeit, und das Spiel hier war das gute alte nationale und höchst unschuldige »Saltebrød«. Ein Student hatte sich gerade hinter einen Baum gestellt, hielt seine weiße Mütze vors Gesicht und begann nun zu zählen, während die anderen über Rasenflächen und Gartenwege davonschlichen, um sich hinter den Büschen zu verstecken. Durch die offene Haustür erblickte man einen halb abgedeckten Familientisch, an dem ein paar ältere rauchende Herren saßen – der eine mit einem Käppchen –, was den Eindruck ländlicher Einfachheit und Ehrbarkeit noch vervollständigte. Von dorther ertönte auch die Musik, die Per zuerst angelockt hatte – dünne, verstimmte Klaviertöne von einem jener betagten Instrumente, wie es die Schwester daheim im Pfarrhaus gespielt hatte und deren Klänge er nie hören konnte, ohne bewegt zu sein.

Zwei junge Mädchen kamen eng umschlungen vom Hofplatz hinter dem Landhaus. Sie setzten sich auf die Treppe vor der Haustür und gaben sich in schwärmerischer Stellung der Betrachtung des Sternenhimmels hin. Einige andere atemlose Damen, die am Versteckspiel beteiligt gewesen waren, setzten sich zu ihnen, und nach und nach versammelte sich eine Schar weißgekleideter Gestalten, die zum Himmel hinaufsahen und sich mit ihren Taschentüchern Kühlung zufächelten.

»Wenn doch eine Sternschnuppe herunterfallen wollte!« sagte eine.

»Was wünschst du dir dann?« erkundigte sich eine andere.

»Das verrate ich um keinen Preis der Welt!«

»Vertrauen Sie's auch mir nicht an, Fräulein Jensen?« wollte der Student wissen, der sich mit anderen jungen Leuten auf dem Rasen gegenüber den Mädchen niedergelassen hatte.

»Ich weiß nicht – oh, ja vielleicht – wenn Sie mir versprechen, es keinem Menschen zu sagen.«

»Ich schwöre es Ihnen!« rief er und legte seine Hand aufs Herz. »Was würden Sie sich also wünschen?«

»Ich würde mir wünschen, daß . . . daß ich morgen die Suppe nicht anbrennen lasse!«

Jubel und Händeklatschen von allen Versammelten. Nun fragte einer: »Wollen wir nicht ein Lied singen?«

»Ja, singt nur, liebe Kinder«, sagte eine ältere Dame, die bei den letzten Worten in der Türöffnung erschienen war. »Dann richten wir unterdessen den Nachtisch an.«

Ohne daß er es bemerkte, war Per von einem der Paare beobachtet worden, die sich noch im Garten aufhielten. Plötzlich tauchte hinter der Hecke ein Mann auf, lüftete den Hut und fragte mit ironischer Höflichkeit, ob der Herr vielleicht auf jemanden warte.

Da schlich Per davon.

Doch als er einige hundert Schritt gegangen war, blieb er wieder stehen und lauschte. Man hatte angefangen zu singen, und er erkannte Melodie und Worte. Es war eines der üblichen Abendlieder, die auch seine Geschwister im Sommer oft im Freien gesungen hatten:

»Es träumt das Land in tiefer Ruh,
Die Welt schläft ohne Laut,
Der Mond, der lacht der Wolke zu,
Ein Stern zum andern schaut.«

Er lauschte mit verhaltenem Atem. Nie zuvor meinte er so viele schöne Stimmen gehört zu haben. Die tiefe Ruhe des Abends trug wohl das Ihre dazu bei. Trotz der Entfernung klang jedes Wort des Liedes so seltsam klar und rein in seinen Ohren. Beinahe lag etwas Übernatürliches darin. Der Gesang schien unmittelbar aus der Erde um ihn her aufzusteigen, aus dem kahlen Boden zu tönen wie ein Chor von Unterirdischen.

»So blank und ruhig liegt das Meer,
Den Himmel es umschlingt.
Des Wächters Lied zu Gottes Ehr
Vom fernen Strand her klingt.«

Er hatte die Augen geschlossen. Ein dumpfer Schmerz durchzuckte ihn. Der Klang dieser Töne weckte gleichsam ein schluchzendes Echo in verborgenen Tiefen seiner Seele.

»Es ist so friedlich und so still
Im Himmel und auch hier.
Zum Schlafen ich nun bringen will
Dich, ruhlos Herz, in mir.«

Auf »Skovbakken« hatte der Tanz begonnen. Doch vorläufig hatte nur die Jugend den Mut, sich so kräftig nach dem schweren Essen zu bewegen. Die Älteren hatten sich auf die Räume verteilt oder saßen als Zuschauer längs der Saalwände.

Die Stimmung war nach dem Konzert für einen Augenblick bedenklich verebbt. Doch seit die Ballmusik spielte und man zugleich in den Rauchzimmern starke Getränke servierte, war sie wieder im Steigen begriffen.

Aus einem der Nebenzimmer stürmte Dr. Nathan mit zwei der jüngsten und schönsten Damen des Abends – auf dem Weg zum Tanz. Bei keiner Gelegenheit war dieser merkwürdige Mann vielleicht bewundernswerter als in einer Gesellschaft. Wie lang sein Arbeitstag oder seine Arbeitsnacht auch gewährt haben mochte – und die Lampe in seinem Studierzimmer brannte oft noch, wenn der Tag graute –, er kannte keine Müdigkeit, sondern stürzte sich mit stets gleichbleibender jugendlich ungestümer und draufgängerischer Energie in die Unterhaltung. Künstliche Anregungsmittel brauchte er nicht. So aufrichtig und tief seine Menschenverachtung im Kampf der Jahre auch geworden war, sie hatte doch niemals den Lebenstrieb in ihm überwältigen können. Festlich erleuchtete Räume, schöne Frauen, Lachen und Blumen hielten ihn in Atem. Wann und wo man ihn auch erblickte – stets sah man ihn erfüllt davon, vorzutragen, zu erklären und zu überzeugen. Im gesellschaftlichen Leben wie in der Literatur war er ein Eroberer und Zauberer. Aber trotz all seiner übermütigen Herausforderungen war er eigentlich stets besorgt zu mißfallen. Selbst die Meinung eines unbedeutenden jungen Studenten über ihn war ihm nie ganz gleichgültig. Oft spottete er in seinen Schriften über das Leben und dessen Gaukelspiel – doch überall, wo er es traf, gewann es schnell Macht über ihn. Selbst in seinen wenig ansprechenden Formen konnte er ihm nicht widerstehen, so unbezwingbar, so üppig und fruchtbar war der Naturboden bei diesem Großstadtmenschen, der mitten in der Stadt geboren, in ihrem Häusermeer aufgewachsen war wie ein flammender Kaktus des Südens auf Felsengrund.

Gerade diese sprühende Lebenslust machte ihn zu einer so merkwürdigen Erscheinung in einem so wenig frischen Bauernland wie dem dänischen. Im literarischen Konzert der Zeit, in dem man alle möglichen Instrumente hörte – von der Gerichtsposaune bis zur Jahrmarktstrompete und dem frommen Kirchenglockenspiel –, war und blieb er der Naturton, der zugleich lockte und beängstigte. Wie er hier zum Tanzsaal drängte, die beiden errötenden Mädchen am Arm, selbst grau und bocksbärtig und auf einem Bein leicht hinkend, war er die leibhaftige Veranschaulichung dessen, was er für die Jugend seiner Zeit darstellte: Er war der Pan der großen Wälder, der mit seiner Zauberflöte sogar die Verzagtesten zum Jungbrunnen gelockt und das küsterhaft schwerfällige Dänenvolk zum Tanzen gebracht hatte.

Unter den vielen Zuschauern im Saal saß auch Jakobe. Sie blieb hier, weil Musik und Tanzlärm ihr wohltaten, denn sie hinderten sie am Nachdenken. Neben ihr hatte sich Kandidat Balling niedergelassen, der über Poul Berger sprach. Sie hörte jedoch kaum zu. Ihre Augen suchten überall im Saal nach Per. Aber nirgends konnte sie ihn entdecken, während Nannys goldgelbe Erscheinung unablässig zwischen den Tanzenden sichtbar wurde. Sie dachte: Vielleicht sitzt er in einem der Rauchzimmer, und wünschte nur, daß er dort bliebe. Sie war in heller Angst, daß er zurückkommen und sie zum Tanz auffordern könne. Sie meinte, sie würde nicht mehr imstande sein, sich zu beherrschen, falls er eine Annäherung versuchen sollte.

Der lange Literat an ihrer Seite bemerkte ihre Zerstreutheit nicht. Wie stets war er selbst sehr zerfahren, unterbrach sich jeden Augenblick und kehrte seine Eselsohren bald nach dieser, bald nach jener Seite, um zu erfahren, was die Umsitzenden redeten. Balling gehörte zu denjenigen anfänglich braven und gutmütigen jungen Dänen, die sich unter Nathans Einfluß zu kampfdurstigen Löwen entwickelt, später aber ihren Irrtum eingesehen hatten, ohne sich allerdings überwinden zu können, dies einzugestehen, geschweige denn – wie Poul Berger – sich im Lager der Feinde Judasruhm zu holen. Er war der Typ des bleichen Mitläufers im siegreichen Fortschrittsheer, und er gehörte zu denen, die der Fahne nur aus Furcht folgten, während sie im Herzen über jede Niederlage jubelten. Daß er in gewisser Hinsicht ein Opfer seiner Ehrenhaftigkeit war, machte ihn in seinen Augen zu einer tragischen Gestalt. Jetzt überzog düstere Röte sein Gesicht, als Nathan – der Triumphator – mit seinen Damen in der Tür erschien.

Mitten im Tanzgewühl gewahrte man Nannys goldstrahlende Bajaderengestalt. Auch sie hielt nach Per Ausschau. Überall hatte sie vergeblich nach ihm ausgespäht, und sie begriff nicht, was er vorhatte. Trotz ihrer Ausgelassenheit war sie den ganzen Abend unruhig gewesen, beklommen beim Gedanken an die Szene im Kabinett. Ihr Benehmen seither war darauf berechnet, Pers Eindruck davon zu verwirren und das Ganze bei sich selbst in Vergessenheit zu bringen. Doch nun ängstigte sie sich schon, daß sie zu weit gegangen war und er aus Rache auf den Einfall kommen könne, aus der Schule zu plaudern.

Unterdessen war Per zurückgekehrt. Er stand in der Vorhalle und hängte seinen Mantel an den Garderobenhaken. Als er durch die offenen Türen in die jetzt überfüllten Rauchzimmer sah, erblickte er zufällig Dyhring, der dort im Kreise bekannter Börsenleute saß.

Wie Dyhring seinerzeit seinen Ruf dadurch begründet hatte, daß er bei den braven Bürgern Ärgernis erregte, brachte er jetzt sein Schäfchen ins trockene, daß er mit derselben Schlauheit genau das sagte und schrieb, was die Leute – und vor allem die von der Börse – im Augenblick gerade hören wollten. Seine Reisebriefe über französische und italienische Handelsverhältnisse hatten aus diesem Grunde in Geschäftskreisen große Anerkennung gefunden und ihm den Ruhm eingetragen, über erstaunliche Sachkenntnis zu verfügen. Er hatte hierin unablässig die Rechtschaffenheit und Solidität des dänischen Handelsstandes im Gegensatz zu dem des Auslands betont. Daher erkannte man allenthalben an, daß er sich der Stellung als Leiter einer bedeutenden Handelszeitung völlig gewachsen gezeigt habe. In seinen Artikeln hatte man einen Ernst und ein Verantwortungsbewußtsein gefunden, das man bei dem ehemaligen Varieté-Kritiker des »Falken« nicht erwartet hatte. Und in seiner Ernennung, die anfangs so stark angegriffen worden war, fand man einen erneuten Beweis für Max Bernhardts geniales Talent, seine Leute auszusuchen und an die richtige Stelle zu setzen.

Es war Pers Absicht gewesen, sich unter die rauchenden Herren zu mischen, um die einsamen Gedanken abzuschütteln und mit Hilfe eines Glases Whisky zu verstehen, in Einklang mit der Umgebung zu gelangen. Doch der Anblick des umlagerten Pressejunkers nahm ihm jede Lust, sich anzupassen, und so wandte er sich den anderen Räumen zu.

In seinen Gesichtszügen spiegelte sich noch ein schwacher Abglanz von Stimmungen, die einer anderen Welt angehörten. Doch allmählich, als er jetzt durch die überfüllten und überhitzten Räume mit den vielen glühenden Gesichtern und fieberhaft arbeitenden Fächern strebte, bekam er wieder das düstere, barsche Aussehen, das er bei Tisch gehabt hatte. Überdies blendete ihn das grelle Licht der Kronleuchter. Der rasche Wechsel von der abendstillen Straße zum wogenden, brausenden Gewühl dieser Gesellschaft verwirrte ihn. Er hatte das Gefühl, in eine dröhnende Kraftmaschine geraten zu sein, die unter unnatürlichem Hochdruck lief.

Als er an den Saal gekommen war, blieb er in der Tür stehen und schaute den Tanzenden zu. Man war unterdessen recht lebhaft geworden. Auch die älteren Herrschaften hatten Lust bekommen, sich im Tanz zu drehen.

Auf einmal wurde ihm ganz warm ums Herz, als er mitten in diesem Wirbel Jakobe erblickte, die an der gegenüberliegenden Wand an derselben Stelle saß, wo er sie vor über einer Stunde verlassen hatte. Ja, dachte er, sie allein war und blieb es doch, bei der er sich hier geborgen fühlte. Kein täuschender Instinkt, sondern sein innerster Lebenswille hatte ihn zu ihr gezogen, noch bevor er imstande gewesen war, ihren wahren Wert zu erkennen. Es wurde ihm bewußt, wie fremdartig sie sich in dieser Umgebung ausnahm. Sie hatte offenbar auch nicht getanzt; ihr Fächer und ihre Handschuhe ruhten in ihrem Schoß.

Für Per lag eine Art Offenbarung in diesem Wiedersehen. Nie zuvor hatte er so stark empfunden, wie unlösbar sie miteinander verbunden waren, ja daß Jakobes Liebe in Wirklichkeit das einzig Wertvolle war, was er bisher auf seiner Glücksjagd in das Märchenreich gewonnen hatte.

Von nun an wollte er sich bemühen, diese Liebe besser in acht zu nehmen, dachte er, während er weiter zu dem klugen, feinen und bleichen Antlitz mit den schweren Lidern und der kräftigen, aber ausgeprägt fraulichen Mundlinie hinüberstarrte. Sogar das unvorteilhafte Kleid rührte ihn jetzt, gerade weil sie es damit so unglücklich getroffen hatte.

Per wollte eben versuchen, den Saal zu durchqueren, um zu ihr zu gelangen, als Nanny im selben Augenblick, Arm in Arm mit ihrem Herrn, erhitzt vom Tanzen, auf ihn zustürzte.

»Ja, wo sind Sie denn bloß gewesen, Mensch? Wir Damen wollen mit dem glücklichen Bräutigam tanzen, und da sind Sie – husch – verschwunden! Ist das ein Benehmen?«

Per sah sie kühl an. »Ich bedaure sehr. Aber Jakobe fühlt sich müde, und deshalb tanze ich heute abend auch nicht.«

Damit wandte er sich ab, während Nanny zu lachen begann, um zu verbergen, wie sehr seine Worte und sein Blick sie erbeben ließen.

»Wir wollen versuchen, ob wir nicht eine kleine Erfrischung finden«, schlug sie vor und zog mit ihrem Herrn ab. »Einen schrecklichen Grobian hat sich meine Schwester genommen! Meinen Sie nicht auch?«

Jakobe hatte Per im gleichen Augenblick entdeckt, als er an der Saaltür auftauchte. Obgleich sie nach der anderen Seite geschaut hatte, war ihr die kurze Szene zwischen ihm und Nanny keineswegs entgangen. Als sie ihn nun auf sich zukommen sah, da ahnte sie, daß zwischen beiden in aller Stille eine Abrechnung stattgefunden hatte.

Per nickte ihr freundlich zu und setzte sich auf den Stuhl, den Kandidat Balling kurz zuvor verlassen hatte.

Bald rückte er näher an sie heran und legte still seine Hand auf die ihre, die entblößt auf der Stuhllehne lag. Und sie entzog sie ihm nicht. Sie konnte es einfach nicht. Sie war schon überwunden durch diese stumme Bitte um Verzeihen. Doch sie brachte es noch nicht über sich, seinen Händedruck zu erwidern oder gar seinem Blick zu begegnen, worauf er deutlich genug wartete. Ihr Stolz litt noch zu sehr darunter, daß sie seinen Liebkosungen gegenüber wehrlos war.

»Wie kalt deine Hand ist«, sagte er. »Du frierst gewiß. Soll ich dir einen Schal holen?«

»Nein. Ich fühle mich sehr wohl.«

»Zieht es nicht von der Tür her?«

»Nein, ich merke nichts.«

»Aber bestimmt. Willst du nicht . . .?«

»Nein, nein – laß doch sein!«

»Wie du willst, Liebste.«

In ihrer Stimme lag etwas Ungeduldiges und Gequältes, das Per jedoch nicht bemerkte. Er streichelte ihre Hand und führte sie an seine Brust, so daß ihr Arm in seinem ruhte. Zugleich lehnte er sich noch etwas mehr zu ihr hinüber, bis sich ihre Schultern vertraulich berührten. Als sie ihm ihre Hand entziehen wollte, hielt er sie auch mit der anderen Hand umfangen. Und in einem Tonfall, den sie aus ihren Liebesnächten kannte und der ihr das Blut in die Wangen trieb, flüsterte er ihr ins Ohr: »Du meine süße . . . süße Geliebte!«

»Hast du getanzt?« fragte er nach einer Weile.

Sie schüttelte den Kopf.

»Möchtest du gern?«

»Nein, wirklich nicht . . . ich bin zu müde«, fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu, weil sie fürchtete, er könne ihre Weigerung mißverstehen.

»Dann möchte ich dir etwas vorschlagen. Heute abend ist so herrliches Wetter. Es ist lau und mild wie an einem Sommerabend. Hättest du Lust zu einem kleinen Spaziergang durch den Garten?« Als sie mit der Antwort zögerte, fuhr er fort: »Ich glaube, die frische Luft wird dir guttun. Und außerdem . . . habe ich dir etwas zu sagen, Jakobe.«

Nun sah sie ihn zum ersten Mal an – rein instinktmäßig übrigens, denn ihre Gedanken waren weit weg. Doch sie hatte wieder diesen besonderen Tonfall aufgefangen, der so aufrichtig und vertraulich war.

Da erhob sie sich. Und nachdem Per für sie beide die Mäntel geholt hatte, entfernten sie sich durch die Gartentür.

Draußen auf der Terrasse, auf der die Tanzenden sich abkühlten, ging es lustig zu an ein paar Tischen, auf denen kühle Getränke und andere Erfrischungen standen. Hierher unter den Sternenhimmel hatte sich auch Nanny mit ihrem Kavalier zurückgezogen. Gerade wollte sie eine Portion Fruchteis verzehren, als sie Per und Jakobe Arm in Arm vorübergehen und über die Marmortreppe hinab verschwinden sah.

Jetzt erzählt er ihr das Ganze! – durchzuckte es sie. Sie wurde kreideweiß vor Haß und Lüsternheit.

Sie stellte den kaum halb geleerten Glasteller hin und kehrte mit ihrem Herrn in den Saal zurück. Ja – ja! fuhr sie in Gedanken fort, während sie weitertanzte. Lange sollte Jakobe nicht mehr triumphieren! Dafür wollte sie schon sorgen. Jetzt begann der Krieg!

Per und Jakobe durchquerten den Garten und setzten sich auf die umfriedete Bank am Wasser, wo sie sich aufzuhalten pflegten, wenn sie ungestört sein wollten. Hier draußen in der Einsamkeit ergab sich Jakobe ganz. Per legte seinen Arm um sie, und sie schmiegte sich so eng an ihn, daß ihr Kopf an seiner Brust ruhte.

So saßen sie ganz still. Vor ihren Füßen gluckste das Meer wie im Schlaf, während sich der Widerschein von Ivans Lampions draußen im Wasser tummelte wie Schwärme von Goldfischen.

»Du frierst doch nicht?« fragte Per und zog das Pelzcape fester um sie.

»Nein, nein – gewiß nicht«, antwortete sie, wieder ein wenig gereizt.

Per knüpfte an das an, worüber sie am Vortag an dieser Stelle gesprochen hatten. Als er die Gesellschaft heute abend beobachtete, sei er noch mehr zu der Überzeugung gelangt, daß die Vertreter des heimatlichen Fortschritts von beginnendem Verfall gezeichnet seien. Der Zauber, den sie alle seinerzeit auf ihn ausgeübt hätten, sei jetzt jedenfalls gründlich verflogen. Er müsse, sagte er, ihr völlig recht geben in dem, was sie ihm einst gesagt oder geschrieben habe: Eine Gesellschaft, in der beispielsweise ein Mensch wie Dyhring eine hervorragende Rolle spielen durfte, hätte sich selbst verurteilt. Er sei sich klar darüber geworden, wollte man auf einen Sieg des Freisinns und des Weitblicks in Dänemark hoffen, dann mußten ganz andere Kräfte in die erste Reihe treten, Männer in der wahren Bedeutung des Wortes, ernste und hochherzige Naturen, die den Sinn ihres Leben in etwas anderem sahen als in der wilden, täglichen Jagd nach Geld, Weibern oder persönlichen Auszeichnungen.

Per entwickelte seine Ansicht mit gewohnter Beredsamkeit. Doch Jakobe hörte ihm gar nicht zu. All die ernsten, echt empfundenen Worte glitten an ihren Ohren vorüber wie ein dumpfes Brausen.

Als er sie dann zum Zeichen ihres Einverständnisses um einen Kuß bat, vernahm sie ihn allerdings sofort. Gleich hob sie den Kopf und reichte ihm ihren Mund wie eine Verschmachtende, die keinen anderen Gedanken hat, als ihren Durst zu löschen.


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