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Ein Kulturmensch. Die fränkischen Flüsse

Ei, nun sieh mal an! In dem Sessel im Park, wer sitzt denn da?«

Eines Tages, in Paris, im Park de Monceau, wer saß denn da?

Sandra van den Daele.

Etwas Kind, etwas Weib, etwas Heldin – etwas Kokotte ... was war sie?

Sie saß in einem bequemen Strohstuhl und schaute hinab auf das Frühlingsleben des Boulevards, auf dem die Linden ausschlugen.

Sie trug ein Kleid, eine graue Mullgarnitur, die wie Schaum um ihren Körper spielte. Schaumgeborene Venus! Und dann das jetzt kindlich scheinende Gesicht, und die Augen, die in Tränen verschwammen ... was rühmt doch Luzian von der Knidierin: den feuchten, zugleich strahlenden Blick der Augen. Was er bei den alten Schriftstellern von der Knidierin gelesen, Bernhard sah es vor sich. Das süße Wort Iüsimeläs, das unheimliche Wort, hier erlebte er es. Wenn der Bithynierkönig Nikomedes den Knidiern gegen die Statue der Aphrodite die Staatsschulden bezahlen wollte, was würde er hier ...? Und die Göttin selbst – damals, als sie von Cynthera nach Knidos hinüberfuhr, um ihr eignes Bildnis zu schauen, frug sie schamhaft und erstaunt: Wo schaute mich Praxiteles denn entkleidet? Wenn sie heute nach Paris herüberkäme, in den Park de Monceau ginge und dort neben einem gelehrten Herrn aus Deutschland ihre Doppelgängerin fände ...? Solche Gedanken ungefähr gingen durch seinen Kopf.

Er begann aber sehr ernst: »Sandra, weißt du, daß es deinem Manne schlecht geht?«

»Es ist mir gleich.«

»Hm ... Hör' mal, Sandra, ist das ... jenes, hm ... eigentlich wahr?«

»Was?« frug sie und errötete dabei.

»Muß ich es dir sagen?«

»Ich verstehe dich wirklich nicht«, sagte sie leise, und ihre Augen, die nicht wagten ihn anzusehen, schauten in die Straße hinaus.

Er hielt sie fest im Auge. »Nun, ich meinte, solch ein Eheleben wäre doch merkwürdig.«

»Nicht wahr?«

»Und töricht!«

»Ja, nicht wahr?« rief sie.

Dann war es einen Augenblick stille.

»Du bist abscheulich«, sagte sie leise, indem sie sich in ihren Korbstuhl zurückgleiten ließ.

Er lächelte. »Ja, so ist das in verliebten Sachen: erst ist die Not so groß ... ja, und nachher meint man, es wäre nicht nötig gewesen. Und dann erinnert man sich nicht oder will es nicht wahr haben. Also ihr habt miteinander gelebt, wie es üblich und in der Ordnung ist. Du hast ein wenig renommiert, Sandra.«

»Reden wir von etwas anderem ...«

»Nein, bleiben wir bei demselben«, beharrte er. »Du hast im Grunde eine ungewöhnliche Seele, Sandra. Sie geht auf große Ziele, aber sie verirrt sich auf dem Wege.«

»Du bist liebenswürdig ...«

»Wir müssen endlich in ein ordentliches Verhältnis zueinander kommen. Siehst du, wer dich kennenlernt, den verblüffst du. Du bist eine von jenen Naturen, die sogleich alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die die Ansprüche steigern und nachher abfallen. Glücklicher sind diejenigen, die zunächst beiseitestehen und sich mit kleinem Maßstab messen lassen. Sie können immer nur wachsen.«

Sie legte die Hand vor die Augen.

»Du willst nur herrschen, Sandra, besser: eine Rolle spielen. Und zwar: spielen! Du liebst nicht, ich glaube, du weißt gar nicht, was Lieben ist. Lächle nur. Weil du mich nicht erreichen kannst, jagst du mir nach. Es ist dir nicht um das Erreichen, sondern um das Laufen zu tun. Du willst vor dir selber die Ruhelosigkeit deiner Seele entschuldigen. Deine Seele hat etwas vom gehetzten Hund. Daß du körperlich nervös bist, sieht jeder, aber ich möchte sagen, du bist auch moralisch nervös.«

Sie sah ihn an halb streng, halb bang und sagte halb bang, halb kalt: »woher weißt du das?« »Auf ganz gewöhnlichem Wege. Als ich deinen Mann in euerm Hause kennengelernt hatte, sagte ich mir, er könne wohl kaum so schlimm sein, wie du ihn geschildert. Darüber mußte ich mehr wissen. Ich suchte ihn in der Stadt auf und fand einen liebenswürdigen Menschen, der auch durchaus nicht auf Ausschweifungen versessen war. Dazu fehlte ihm schon das Geld. Nur sehr viel Sorgen hatte er. Wir saßen oft beisammen ...«

»Und da hat er dir alles erzählt, der Lump?« »Ruhig, du schadest deiner Würde. Er hat nichts erzählt. Dazu war er, ich glaube es wirklich, zu zartfühlend. Nur einmal, als wir einen vergessenen Liebesbrief auf unsrer Bank im Kurgarten fanden und wir dann so im allgemeinen auf diese ›Jugendeseleien‹, wie er sagte, zu sprechen kamen, erzählte er in bitterer Ironie, daß ihr euch früher, vor eurer Hochzeit, jeden Tag geschrieben hättet ...«

»Er, ja, der verliebte Narr, er schrieb alle Tage.«

»Und du? Es handelt sich um dein Ansehen bei mir.«

Sie schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: »Dreimal die Woche.«

»Das ist die Wahrheit. So sagte er nämlich. Weißt du, ich gebe jetzt etwas auf das, was er sagt. Er ist ein biederer Kerl.«

»Dann kannst du ja dicke Freundschaft mit ihm schließen.« »Jedenfalls möchte ich nicht, daß er und ich uns aus den Augen verlören. Er ist dir auch früher nicht widerwärtig gewesen, wie du gesagt hast, und hat dich nicht überrumpelt. Im Gegenteil, du wirst ihn überrumpelt haben, genau so wie mich. Du hast das Unglück gehabt, ihn zu bekommen, denn als du ihn hattest, war dein Interesse erschöpft.«

»Nenn' mich nur ein kokettes Frauenzimmer«, weinte sie.

»Oh, du bist nicht eigentlich kokett; dazu gehört Geduld und Überlegung. Dazu muß man sich die nötige Zeit nehmen. Du bist nur atemlos.«

»Hart ist, was du sagst.«

»Sieh, so gefällst du mir. Und nun laß uns ins Reine kommen. Ich durchschaue dich endlich, es hat lange genug gedauert. Ich muß doch höllisch in dich verliebt gewesen sein, bei Gott ja! Du hast keine Seele, Sandra. Oder deine Seele besteht nur aus ein paar armen kranken Nervensträngen. Was immer du tatest, waren Dinge, die wegen ihrer Gefährlichkeit oder Ungewöhnlichkeit dich reizten. Such' das doch nicht abzuleugnen, denn du kennst so gut dich selbst und bist so schlau. Du wußtest damals, als du mich in Versuchung führtest, als meine Leidenschaft bei dir, mein Herz aber bei einer andern war, daß, wenn die Leidenschaft gesiegt, du mich nur für den Augenblick der Leidenschaft besessen hättest. Darum versagtest du dich, weil du meintest, daß du mich dadurch nur noch fester an dich ziehen würdest. Übrigens war dir das physisch leicht, denn du bist auch nicht eigentlich eine sinnliche, nein, geradezu eine kalte Frau. Du hattest Furcht vor deiner – Langeweile, Sandra. Es muß doch weit mit einer Frau gekommen sein, die nur dadurch Aufsehen machen zu können glaubt, daß sie ihren Mann verkleinert und vorgibt, ihm wegen seiner Unwürdigkeit sich entzogen zu haben, was dann als seine moralische Unterscheidung erscheint. Solange dein Nervensystem noch auf alle die Kitzeleien antwortet und irgendeine Tätigkeit zeigt, sprichst du von deinem Leben. Wenn es einmal so überreizt sein wird, daß die Nerven reißen, stumm bleiben, dann – spricht man von deinem Tode, Sandra. Also: ich will dir ein Freund bleiben, oder besser – weil du dann noch immer gefährlich bleibst, du schönes Kätzchen – etwas wie ein guter Onkel.«

»Ihr ekligen Deutschen seid alle so onkelhaft.«

»Ihr Deutschen?«

»Na ja, ich komme nie wieder nach Deutschland.«

»Tu' das! Es ist das beste für dich. Aber du wirst es ja nicht tun. Ich fahre nach Haus. Auf Wiedersehen in Deutschland und daheim ... ma p'tite

Sie sah ihm nassen Auges nach. »Was sind die Deutschen doch für ekelhafte Kerle!« flüsterte sie. Und hatte Freude, daß er an der Ecke des Boulevards einmal grüßend winkte.

 

Herr Dalton, monsieur de malheur, hatte aber auch nicht mehr Kredit für ein Weißbrot. Von seinem Hypotheken- und Immobiliengeschäft bestand nichts weiter mehr als ein Schild über der Bürotür. Die Auskunfteien setzten Herrn Dalton endgültig auf die Liste der Verlorengeglaubten. Mit allem, was er unternahm, erreichte er im besten Falle kurze teure Fristen zur Verlängerung des qualvollen Lebens.

Als er fühlte, daß ihm der Wind ausging, in der letzten Atemnot, wandte er sich noch einmal an seine Frau und Schwiegermutter; seine Frau sagte nichts, die Schwiegermutter zuckte die Achsel. Er meinte ja, die Steine müßten seinen Aufschrei hören. Seine Frau wagte nichts abzuschlagen, zeigte nur, daß ihre Nerven seine Reden und seine Angst nicht ertragen konnten, und verwies ihn an ihre Mutter. Die machte ihn darauf aufmerksam, daß das Heiratsgut drangegangen sei und daß er sich freuen solle, der Sorge für seine Frau enthoben zu sein, die sie bei sich behalten werde.

Herr Dalton ging fort. Er verstand nicht, warum sie ihn so behandelten. Aber den Wunsch hatte er: sein Geschäft wieder aufrecht zu stellen, ein reicher Mann zu werden, Frau und Schwiegermutter verarmen zu sehen, damit er sich an ihnen durch Großmut rächen könne.

Nach einiger Zeit hörte er, daß die Damen ohne Hinterlassung ihrer Adresse abgereist seien. V ›Feinfühlend von ihnen,‹ dachte er mit bitterem Lächeln, ›daß sie meinen Todeskampf nicht mit ansehen wollen.‹

Herr Dalton versuchte dies und jenes, und alles Mögliche, und alles Erlaubte, und schließlich auch etwas Unerlaubtes. Und so war gleich der Staatsanwalt hinter ihm her.

Er floh. Nach Westen, zur Grenze.

Am Fuße der Eifel beginnt das grüne Land. Das Tal eines kleinen Flusses tut sich auf, der sich nach kurzem unentschiedenen Lauf durch deutsches Gebiet nach Belgien hinüberwendet.

Dort ragt die hohe Hammerbrücke auf, eine Reihe mächtiger Steinbogen. Die große westeuropäische Bahn, ihr fernes Ziel, Ostende, Paris oder Madrid, in dem heißen Auge, rast über die Höhe des Aachener Waldes daher. Und wie beim Reihenbockspringen die Knaben sich aneinander ducken, daß die Reihe der Lücken eine lange Strecke wird, die im Springen zu überfliegen ist, so duckt sich Steinbogen hinter Steinbogen, und über die Reihe der Bogenrücken hastet die Bahn in die Ferne. Seltsam ruhig: es geht zu schnell, um viel Getöse zu machen. Nur an den Schienenköpfen stößt es lärmend auf. Und versinkt in Ferne und Stille.

Es war dunkel, als Herr Dalton ankam. Zu Fuß wandernd hoffte er leichter über die Grenze zu kommen. Wie er an der Hammerbrücke war, stachen ihm von ferne zwei glühende Punkte in die Augen. Der Orientexpreß, der eben den Grenzbahnhof verlassen. Der Wind war Ost. Darum hörte er kein Geräusch, sah nur die schwarzen Massen schnell sich nähern. Unheimlich, einen Lärm zu wissen und ihn nicht zu hören. Wie durch die Luft getragen schien der Zug aus der Ferne zu laufen.

Herr Dalton stand auf dem Fußpfad an den Schienen. Da plötzlich kam sie über ihn, diese Lust, alles abzuwerfen, die Sorge, den Kummer, die Angst. Nur der eine Drang war in ihm: ›Heraus, heraus aus dem Jammer! Frei von der Not! Zu Ende mit der Komödie und Misere! Hol' der Teufel die Weiber und ihre Elendigkeit! Haha, Liebe! Solchen herzlosen Geschöpfen hält man Treue und läßt das andere arme Wesen in seiner Dachstube verkommen!‹ Die Gedanken kommen, jagen, alle aus Westen, aus der Richtung des Zuges. Sie rasen vor ihm her wie eine Büffelherde vor dem Steppenbrande. ›Hahaha!‹ Der Expreß fährt mit achtzig Kilometern. ›Du bist gestorben arm und verkannt, und ich hatte nichts, dir beizustehen ... O Yvonne!‹ Jetzt hört er doch das Geräusch; aber es ist nicht groß, obgleich der Zug schon nahe. Der Wind ist Ost ... Zeiteinheit ist Zehntelsekunde ... Die Gedanken rasen durchs Gehirn: › O Yvonne, soleil de ma sombre jeunesse! A vingt ans tu étais pleine de grâce ...‹ Schwarz steigt das eiserne Ungetüm auf aus der Nacht. Er hört noch immer nur wenig, der Wind ist steif aus Ost. Er berührt mit der Hand die glänzende Schiene. Sie zittert und bebt wie in furchtbarer Angst vor dem, was sie sogleich erleiden wird. Aber sie ist hilflos. Wie ein Strom rollt der Lärm durch sie in seine Hand, in seinen Arm, in Schulter und Schädel. Er hört von drinnen im Ohr, er hört mittels seines Knochengerüstes, er hört furchtbares Getöse. Der Zug fährt mit achtzig Kilometern, und noch immer nicht laut. › Sais-tu, mon amour? te souviens-tu? ... que de baisers! ... que de joie chez père Dumortier!‹ Oh! ... Zeiteinheit ist Sekundenhundertstel ... Da ist der Zug! ... Bis zum Himmel ragt er auf, schwarz, eisern, furchtbar, gewaltig ... ›Frei! frei! adieu la vie! ...‹ Die Nacht war sternenklar, der Mond stand im ersten Viertel, ›morgen wird es schönes Wetter geben ... frei!‹ Es donnert ... da, glühend wie die Feuerungen der Hölle die zwei Lampen des Zuges ... weit greift ihr Schein in die Nacht ... jetzt wirft der Mann sich hin, frei!

Halt! ...

Ein Haufen Kot lag gerade an der Stelle. Welch ein merkwürdiger Nervenkitzel, Kot gerade neben dem Gleise zu lassen! ... die Maschine zuckt vorbei ... Donnerlärm! ... Die Wagen rasen vorbei, der Zug vorbei ... – – Vorbei? Schon vorbei? Und besteht doch aus zweiunddreißig Achsen! ... Und ein unendliches Getöse ist hinter ihm wie dort, wo Gott seine Donner übt ...

Herr Dalton atmete schwer. Bleich war sein Gesicht. Schweiß stand auf der Stirn und am ganzen Leibe. Es war kalt. Er saß halb leblos neben dem Gleise.

Den Zug verschluckte Nacht und Ferne ...

Dalton kam auf der neutralen Dreikönigenstraße glücklich über die Grenze und verschwand auf Nimmerwiedergesehenwerden.

*

Am Nachmittage dieses Tages fuhren die Damen van den Daele in ihre Sommerpension hinaus nach St. Germain-en-Laye.

Van den Daeles hatten bei Dumesnil in dem Hause am Flusse das Erdgeschoß gemietet. Auf der Terrasse vor ihrem Zimmer lag Frau Sandra mit gelösten Gliedern.

»Du bist langweilig«, hatte die Mutter gesagt, als sie allerlei Redereien vergeblich mit ihr zu unternehmen gesucht hatte, war aufgestanden und hatte im ersten Stock einen Besuch gemacht. Wie sie oben vom Balkon herunterschaute, sah sie plötzlich Sandra aufspringen und steif nach dem Flusse hinabschauen. Von dorther kam von Zeit zu Zeit ein merkwürdiger Ton. Wie wenn ein Frosch quakt. Da ... da griff ein Arm in die leere Luft ... und fiel zurück. Ein neuer Ruf ... die Fläche war wieder eben ...

Da warf Frau Sandra plötzlich ihre Oberkleider ab, – die Mutter rief, schrie, protestierte von oben auf deutsch und französisch –, die Terrasse hinab und vornüber hinein in den Fluß. Die Wogen, in ihrer raunenden Unterhaltung gestört, stutzten einen Augenblick, dann sprangen und schäumten sie lustig auf um die schöne Gestalt, sie aber entwand sich mit kräftigen Stößen. Weit griffen ihre Arme aus und zwangen viel Wasser unter sich, stark arbeitete die schöne Maschine ihres Körpers. Da, jetzt rührte sie an etwas! Es war ein Stock ... Sie mußte jetzt unterhalb der Gegend sein, in der sie die Hand hatte auftauchen sehen ... Der Strom trieb ziemlich sanft. Sie griff nach einem alten Schuh, ein Fisch strich an ihrem Knie vorüber ... merkwürdig laut toste in ihren Ohren der Fluß, dessen Wasser an ihr Trommelfell rauschte, es ist immer gewaltiger Lärm in stillen fließenden Wassern ... auch die Laute von der festen Oberwelt drangen in die Wassertiefe: sie hörte die Glocke eines Dampfers, wie das Geläut von Notre Dame klang es gewaltig in den Wassern; es war ihr, als habe sie ihre Mutter schreien hören. Aber sie entdeckte nichts im Wasser. Sie tauchte mit starken Stößen auf, um Atem zu holen: wie ein neues Leben ist dem Auftauchenden die Oberwelt. Frau van den Daele in heller Verzweiflung schrie am Ufer ins Weite hinein: »Was kümmerst du dich um fremde Leute? Laß sie ertrinken!« Sie winkte ihrer Mutter zu, die darauf still war. Sie sog die Lunge voll, nahm', einen Augenblick wassertretend, die Hände über dem Kopfe hoch, versuchte senkrechten Stand zu gewinnen, ließ sich in dieser Stellung langsam hinabsinken und trieb schräg nach unten vor der Strömung. Wieder hatte sich die Oberwelt hinter ihr verschlossen mit dem Geräusch, mit dem eine luftdicht schließende Tür zufällt. Die Augen geöffnet spähte sie in die grau verschwimmende Umgebung hinaus. Langsam sank sie. Das Wasser wurde allmählich klarer und ruhiger, auch dunkler, denn der Tag war dünn. Furcht beschlich leise auch sie ... ein großer Fisch ging vorbei ... es war so merkwürdig gläsern und dunkel; unheimlich ist es, wenn der Mensch in einem Element sich bewegt, für das er von Natur nicht gemacht ist ... Der Kadaver eines großen Hundes erschreckte sie ... Eine ungeheure Sehnsucht hebt sich auf aus dem Körper und bittet jedes Glied, überredet jeden Muskel, überzeugt jedes Haar, hinaufzustreben, zu eilen, zu schießen, dorthin, wo Menschen sind. Und wie sie dem unwiderstehlichen Zwange gehorchen will, da schlagen sich zwei Arme um ihre Beine wie eine Zange. Die Körper sinken. Sie kann sich nicht bewegen ... Ihre Arme allein vermögen nicht die Last der beiden Leiber zu heben ... Eine entsetzliche Angst fällt über sie, sie greift hinab, sie sucht die nackten Arme des andern abzustreifen, der andre läßt nicht los ... Jetzt schlägt sie ihn mit der Faust ins Gesicht – da lockert sich die Klammer der Arme... Sie ist frei, sie kann sich bewegen, sie greift nach dem Arme des Ertrinkenden, ihn mit der einen Hand hochzuziehen, während sie mit dem freien Arme schwimmt. Der aber schlägt beide Arme um ihren Hals, hängt sich wild an sie ... und wieder sinken sie beide ... mit den Beinen allein kann sie der Schwere nicht begegnen. Und nun entspinnt sich unten in der Tiefe des Wassers ein wilder Kampf zweier verzweifelnden Menschen. Sie ringen miteinander, sie sucht ihren Kopf aus der Schlinge seiner Arme zu ziehen ... Die Atemnot wird groß und unerträglich ... da, in der äußersten Not, beißt sie den andern in die Schulter ... ein gurgelnder Ton kommt aus dessen Brust, vor Schmerz scheint er ohnmächtig zu werden, die Arme werden schlaff ... frei! frei! Nun reißt sie die eine Hand des andern an sich, hinauf! ... Die Brust droht zu bersten ... mit starken Stößen vor dem Strome hinauf! hinauf! ...

Luft! – – Tag! – – Gerettet!

Es war ein junger Franzose, der von Port Marly bis Maisons Lafitte hatte schwimmen wollen.

Frau van den Daele sorgte dafür, daß die mutige Tat ihrer Tochter in die Zeitungen des Rheinlandes gelangte. Als es im Wirtshause vorgelesen wurde, nahm der Steinbrecher de Losy die Pfeife aus dem Munde, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und sagte: »Das hab' ich doch noch nie gehört, daß Frauleute überhaupt auch schwimmen können!«

*

Die Nacht, während Menniken im offenen Wagen die Napoleonsbahn von Spa her hinauffuhr, war sternenklar. Der Mond stand am Himmel. Die Sterne blinkten gleichmütig. Der Mond schien kalt und gleichgültig. Die alten Ulmen der Straße, unter denen die Fahrt wie unter einem mächtigen gewölbten Gange war, standen steif und still. Nacht und Mond und Sterne schauten wie aus offenen Augen, aber aus Augen, hinter denen nichts ist, wie aus den Fenstern eines unbewohnten Hauses. So leer, so leblos, so nichtssagend war die Stimmung der Nacht.

Genau so teilnahmlos hatten der Mond und die Sterne geschienen in jenen Nächten, als Cäsar in aller Eile diesen durch tiefe Wälder führenden Weg zu einer Militärstraße ausbaute, um seine schwere Artillerie gegen Aduatuka zu bewegen. Seffent war das Lager gewesen, in dem in jener Nacht Cäsar mit seinem Hauptquartier gelegen hatte. Dem siegreichen römischen Adler folgten der Pflug und das Feldgespann, der Kolonist, der Beamte und der Straßenbauer. Aus den Zeiten der Germania cisrhenana lagen rechts und links von der Straße die aufgegrabenen Reste römischer Villen.

Der Kutscher, der den Tag über im Heu gewesen war, schlief betäubt von Heugeruch und Müdigkeit.

Das Gelände ringsum, früher Ackerboden, jetzt Grasland, war von jenen Kolonisten mit einem künstlichen Berieselungssystem versehen worden. Mancher Bauer fand heute, wenn das Erbe wieder einmal aufgeteilt wurde und er sein Stück bezäunte, in der Erde die roten Tonrohre.

Eine Sternschnuppe sauste vom Himmel.

Der Mann im Wagen sank zurück in die Polster und sank zurück in seine Gedanken. Die Pferde gingen langsamer. Der Kutscher nickte tiefer. Die Straße stieg stärker. Leise rührten sich im Nachthauch die Ulmen. Still ging durch sein Gehirn der ferne Lärm der Geschichte.

Durch die Nacht vorbei nach Aachen ritt Karl der Große. Jedoch nicht der germanische Imperator, der Herr der christlichen Welt, der fanatische Sachsenbesieger, sondern der Landwirt, der kaiserliche Meier, der weitschichtige Wirtschaftsbetriebe auf seinen Königshöfen hatte.

Es geisterte durch die Nacht ... Der Nebel wogte schwer in den Gründen ... so schwer wie die Geschichte durch das Hirn des Reisenden.

Damals hielt eines Mannes Hand das Abendland in festem Griffe zusammen. Heute zersplitterten sich die Nationen wie Holz, das auf dem Haustock geschlagen wird ...

Hinter einem Haufen scharfen Sandes, der zur Erneuerung der Straßenoberhaut am Graben lag, regte es sich. Drei Zöllner rührten sich in ihren Schlafsäcken, schoben ihre Gewehrläufe heraus, für einen Augenblick versilberte sie der Mond; als sie das Gefährt erkannten, legten sie sich zurück, steckten ihre Pfeifen wieder in den Mund und riefen den Reisenden einen Nachtgruß zu.

Es ging wieder abwärts. Die Pferde liefen. Über dem Kopf des Reisenden schlugen die Kronen der Bäume zusammen, über seinem Geiste die Wogen der Geschichte.

Die »Römerstraße« verfiel langsam; sie wurde nun »Heidenstraße« genannt. Mit dem Trockenlegen der Niederungen stiegen die Ansiedlungen immer mehr in die Täler hinab, »Deus lo volt« erklang, und Gottfried von Bouillon ritt von seiner Burg in den Ardennen herab. Damals wurden einige römische Grabsteine zerschlagen und der Meilenstein umgestürzt, auf dem die Entfernung von Colonia verzeichnet war. Im Volke ging die Sage: Als der Teufel das fromme Werk habe hindern wollen, sei der Heidenstein ihm auf den Fuß gefallen und habe ihm die Ferse zerschlagen. Von diesem Tage an müsse der Teufel bis in alle Ewigkeit hinein hinken.

Es ist ein Schönes und Gewaltiges um eine alte Straße. Alles Große und Kleine, das über sie hinweggegangen, haftet an ihr in einer sinnlichen oder idealen Spur. Alle große Geschichte, die einmal geschehen und durch die Aufzeichnungen immer wieder geschieht, und alle kleine Geschichte, die einmal vollzogen, untergegangen und für alle Ewigkeit vollendet ist. Hier fiel Heinrich IV. auf der Flucht vor den Söhnen seinem Freunde, dem Lütticher Bischof, in die Arme ... Hier wurde irgendein Mädchen von Ardennenwölfen zerrissen ... Ein Pfarrer wurde mit großem frommen Gepränge eingeholt; es war ein schöner Sommertag, und er war glücklich und hat viele Jahre segensreich gewirkt ... Hier fiel einmal im Herbst zur großen Zeit der Töpferei ein schlafender Fuhrmann vom Sitz, der von seiner Frühlingsausreise mit Töpfen aus dem Königreich Navarra zurückkam, und wurde von seinem Wagen überfahren; ein Steinkreuz am Wege fordert auf, für die Seelenruhe des Fuhrmanns zu beten ...

Es ist ein Schönes und Gewaltiges um eine alte Straße. Ehrfurcht heischt sie wie ein greises Haupt.

Wenn eine solche Straße einen Mund hätte zu reden, ihre Geschichte und Erlebnisse erzählen wollte, man könnte ungezählte Stunden am Graben sitzen und zuhören.

Besonders dann, wenn sie den Ton heben würde wie eine Orgel ihr einleitendes Vorspiel, da die Messe eingeht. Wenn sie den Ton heben würde, das würde sein, wenn sie von Napoleon, ihrem Paten, spräche.

Wie der kleine Gallierkaiser daherritt und seine Blicke nach Deutschland hineinschoß, davon träumt die Straße beinahe schon hundert Jahre ...

Damals wurde die unter der Landeshoheit der Spanier und Österreicher verfallene Straße wiederhergestellt. Sie hieß in den Akten wieder »Römerstraße«. Das Volk aber nannte sie die »Napoleonsbahn«.

Da, noch eine Höhe, noch eine Biegung – ein Baum steht noch im Wege – da liegt Seffent! Da liegt ja Seffent!

Zweites Buch


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