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Moralunterricht. Ein getreuer Ungetreuer

Mit großen Schritten seiner gottbegeisterten Füße ging, eilte, flog Feuerstein in den Abend hinein. Durch die Sperrstiegel huschte er wie ein Gespenst, auf die Brücken setzte er kaum einen Fuß, über die Steintreppen, die sich da und dort fanden, flog er hinüber, er war ganz Eifer und Heiligkeit.

Jetzt ging es bergan. Die Sonne war untergegangen. Er stieg zu den Steingruben hinauf. Jetzt war er dem Teufelsschreck nahe.

»Am Teufelsschreck« hieß eine große, jetzt in Ruinen liegende Grube mit Kalkbrennerei. Um ihren Namen erzählte man sich folgende Sage: Einstmals, es war während des Dreißigjährigen Krieges, als die Pötterei darniederlag, die Zunft der Fuhrleute die Töpferware nicht ins Reich fahren konnte, viele Leute nichts zu tun hatten und es sehr elendiglich aussah, war ein böser Teufel im Lande, mit Pferdefüßen und zwei schrecklichen spitzen Stierhörnern am Kopfe. Der stellte allen Mädchen nach, und wenn sie ihm nicht gehorchten, stieß er sie mit dem Fuß oder spießte sie mit den Hörnern. So erzählten die Mädchen! Da hatten die Mädchen solche Furcht, daß sie selbstverständlich alle gehorchten. Sogar einige alte Jungfern, welche die Hälfte ihres Lebens in der Kirche gesessen hatten, gehorchten. Ja, auch einige Nonnen aus einem nachbarlichen Ritterstift gehorchten. Und es gab viele unehrliche Kinder. Da war aber zugleich ein Pfarrer da. Er war, von den Kalvinisten wegen seines Glaubens vertrieben, mit den Topfkünstlern in seiner Jugend aus Flandern gekommen und hatte einen Namen, den niemand aussprechen konnte. Er hieß Tepe van Zuid-leeuwardingen. Der war ein großer Mann. Und ein heiligmäßiger Mann. Der stand mit dem Erzengel Michael auf du und du. Der stieg auf die Steinkuhle hinauf. Dort wohnte nämlich der Teufel. Und der Herr Tepe konnte reden, schrecklich reden, donnern konnte er. Und blicken, furchtbar blicken. Und der nahm den Teufel beim Ohr, und nahm ihn vor, und nahm ihn zwischen, und blitzte und donnerte ihn so an, daß der Teufel vor Schreck – unanständig wurde. Seitdem hieß es da oben: Am Teufelsschreck.

Der Vikar hörte Lachen und Kreischen von Mädchenstimmen.

»Ah! Aha! Also recht unterrichtet.«

Und es erregte ihn. Der Lärm von jungen lebendigen Weibern in der Umgebung harten Steines und toter Arbeitsruinen.

»So! – – hm! Heilige Maria, Mutter Gottes, gedenke, daß ich dein bin, und bewahre und beschütze mich als dein Gut und Eigentum.«

Priester sein, und jung sein, und kräftig sein, und gesund sein ... »O heiliger Aloysius, Krone der Reinheit, Hüter der Lilien, bitte für mich!«

Sein Gebet wurde erhört, und als er oben stand, fühlte er es seinen Körper überziehen wie eine hörnene Haut.

Und als er oben stand, ging es wie eine Enttäuschung über ihn, keiner Versuchung zu begegnen. Nun er durch die hörnene Tugendhaut gefeit war! Denn die Mädchen waren gar nicht im Wasser.

Denn die Mädchen standen an dem stillgelegten verfallenen Kalkofen auf der ersten Sohle der Grube – die zweite war ersoffen – in einer langen Reihe und kehrten ihm den Rücken. Es war ein halbes Dutzend und mehr, aneinander gehakt und mit den Firmen verwoben wie ein gedrehtes Band von Feldblumen. Frische derbe Mädchen, wie Löwenzahn auf der Wiese, wie Schlüsselblumen am Wasser. Sie warfen die Beine oder nahmen den einen Fuß in die eine Hand und hüpften auf dem andern. Und lachten sich krank.

Denn in einer der Öffnungen des Kalkofens, aus dem Gang, der rund um den Trichter lief, trat die Agnes, fast ganz entkleidet. Sie stutzte. »Ihr da ...!« Aber die da lachten sich krank. Sie hatten nicht in den Steinschuppen und -hütten, wie ausgemacht, zum Baden abgelegt.

Die Agnes stand einen Augenblick starr ob ihrer Schmählichkeit. Da sah sie oben am Rande der Grube vor dem dunkeln Abendhimmel eine schwarze Gestalt. Sie wuchs vor dem Himmel ins Riesenhafte.

»Das da ...!« schrie sie laut und streckte den Arm aus.

Die Köpfe der Mädchen fuhren so schnell herum, als hätte jemand sie an ihren Haarflechten gerissen. Dann ein vielstimmiger Schrei. Ein Schreck, als hätten sie den Schwarzen gesehen. Sie schlugen ihre Schürzen vors Gesicht, einige zogen ihre Röcke von hinten her über den Kopf, und sie stoben auseinander, als der Geistliche an ihnen vorbei zornwütig in die Grube stürzte.

Entsetzt floh die Agnes zurück in den Umgang des Ofens. Sie schrie laut, ihr Schrei klang von der hochgewölbten Decke. Sie schrie gewaltig und hielt sich dabei selbst die Ohren zu. Sie lief. Bleich wie ihr Hemd lief sie. Der Vikar hinter ihr her. Den Gang um den Trichter liefen sie. Es ging immer im Kreise.

Nun hatte er sie, nun knetete er ihre Hände, nun kniete sie vor ihm am Boden und schrie und weinte.

In der Tiefe der Grube war bereits Dunkel und in der Ruine des Ofens schon Nacht. Man hörte draußen einen Stein ins Wasser plumpsen, den ein Wiesel angerührt hatte.

»Verführerin! Du Tochter des Teufels! Wie kannst du ...«

»Wir wollten baden.«

»Du Tochter Beelzebubs!«

»Ich bin kein' Rothaut!«

»Es wäre dem Verführer besser, es würde ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt ...«

»Ech well an Zent Bertz danxe! Ech well ä Songdich danxe...!«

»an Sankt Hubertus tanzen? Am Sonntag tanzen? Und dazu verführst du unschuldige Mädchen?«

»Sie sollen sagen, daß ich kein' rote Haut hab' ...«

»Eine schwarze Seele hast du. Was kümmert den Herrgott deine rote Haut!«

»Sie sollen wissen ... sie sollen an die Mannsleut sagen ... ech well danxe ...«

»Du sollst dein Herz zerknirschen in Buße und Reue! Du sollst ...«

»Wir wollten baden.«

»Ihr schamlosen Frauenzimmer. Wie ein guter Engel bin ich dazwischen gekommen, ehe die Sünde geschah.«

»Ech well danxe wie die angdere!« schrie sie plötzlich in wilder Qual, rang sich vom Boden auf, und ihre Augen stachen ihn wie glühende Eisen.

Er fuhr erschreckt zurück und stammelte plötzlich vor Furcht: »Bete zu Gott ...«

»Ech well danxe!« schrie sie lauter und fauchte ihn an wie eine Katze.

Er strebte immer mehr zurück und schluckte an seinen Worten: »... daß er dir ... den Wurm aus der Seele ...«

Und im Augenblick geschah es, da brach in der Agnes die ganze alte Welt zusammen. Schreiend und schrecklich lachend verfolgte sie ihn.

»Hahaha! Fort! ... Hinaus! ... Lümmel! – – Es ist kein Gott!«

Und der Beweis dafür war, daß der Priester dieses Gottes nicht verstand, daß sie Sonntag tanzen gehen wollte.

Der Vikar stürzte plötzlich von Furcht gejagt in die Nacht hinaus, indem er drei Kreuze schlug und bei jedem das Exorzistenwort sagte: »Weiche von ihr, Satan! weiche von ihr, Satan! weiche von ihr, Satan!«

Von Furcht gejagt stürzte er in die Nacht, die Grube hinauf, den Teufelsschreck hinab. Er wußte selbst nicht, warum er so lief.

Mit dem Herbst kamen trübe Tage. Die graue Regenzeit, die endlose Regenzeit des wasserreichen Landes war da. Wenn die feuchten lauen schweren Seewinde vom Atlantischen und von England her über Belgien herüberstrichen, sobald sie auf die Höhen des deutschen Landes trafen, gaben sie ihre Wasser ab. Darum war in dieser Zeit so unsagbar viel Regen; und so dicke dunkle Wolken. Und darunter troff es so unerschöpflich. Die Erde trank so unersättlich. Und wenn sie genug getrunken hatte und satt war und nichts mehr wollte, noch immer goß der Himmel auf sie nieder. Das Wasser floß der Erde am Maule vorbei.

Das Teufelchen Zipperlein, das in dem Herrn Pfarrer sich niedergelassen hatte, wollte in diesen nassen Herbsttagen auf Reisen geführt werden, der Herr Pfarrer mußte nach Wiesbaden. Zum Vertreter wurde der Rektor aus Ludwigsmünster bestellt.

Es freute sich über die zeitweilige Abwesenheit des Herrn Pfarrers dessen Haushälterin Annathresa. Sie freute sich so ehrlich und unbändig, daß man hätte meinen sollen, sie habe das Teufelchen Zipperlein aufgewiegelt. Sie wollte sich nun auch mal einen guten Tag machen.

Am Sonnabend holte sie aus dem Hühnerstall ein jämmerlich schreiendes Huhn und ging in den Steinschuppen im Garten, wo der Pfarr eine Hobelbank und Schreinerwerkzeug hatte. Sie schraubte das Huhn mit den Füßen in den Schraubstock und versuchte, ihm den Hals durchzuschneiden. Das Huhn riß sich los und flatterte aus dem Schuppen, ein roter Blutstreif bezeichnete den Flug. Es flog über die Möhren, über den Kappus, bis es im Spinat zusammenfiel.

Ungewöhnlich laut lärmten die Hühner im Stalle.

Im Garten der anliegenden Kaplanei lustwandelte Feuerstein. Als er den jämmerlichen Lärm aus dem Pastoratsgarten hörte, schaute er über die Hecke und sah gerade die Einäugige die rote Wegspur hinter dem Huhn laufen, die Schürze voll Blut, das blutige Messer in der Hand.

»Pfui, Annathresa,« rief er herüber, »was treiben Sie denn da? Passen Sie doch auf und machen Sie dem armen Vieh das Schreckliche kurz. Haben Sie denn kein Gefühl dafür, was das Tier leidet?«

Sie nahm erst das Huhn auf; dann, indem sie zum Hause zurückkehrte, rief sie, ohne nach ihm hinzusehen: »Herrjeses, Herr Kaplan, das ist noch gar nichts. Da denken Sie doch mal daran, was unser lieber Heiland hat leiden müssen.« Und schlug die Tür hinter sich zu.

*

In jähem Umschlag kam gutes Wetter, ein verspäteter Sommer. Ein kalter steifer Ost trocknete einige Tage das Land aus. Dann drehte er nach Süden. Und schließlich war Windstille. Und nachdem die Winde, die rauhbeinigen Burschen, mit ihrem straffen Besen das Land gereinigt, kam die Sonne und machte es auf einige Tage wohnlich. Und es war wunderschön.

In der Giebelstube auf Seffent saß Frau Menniken. Sie öffnete den Nähkasten, legte Schere und Zwirn zurecht und fädelte ein. Die Agnes kam von dem Söller nebenan und trug die Wäsche herzu. Es war nachzusehen und auszubessern. Die beiden Frauen saßen eifrig beschäftigt am Tische.

Aus der Ferne kamen harte Trommelschläge. Die Agnes wurde sehr unruhig. Sie nähte nicht mehr und sah fragend zu ihrer Herrin hinüber.

Da war der Trommelschlag ganz nah.

»Madam, Zoldate!«

»Na, schauen wir mal zu«, sagte Frau Menniken.

Die Agnes flog zum Fenster.

Da erhob sich plötzlich ein lauter Gesang, fester Klang aus frischen Männerkehlen. Ein Ton. Wie aus einer gewaltigen Männerbrust. Ein Regiment zog aus der Garnison zum Truppenübungsplatze. Eine Staubwolke begleitete den Marsch auf der steinigen trockenen Straße. Da blitzte ein blanker Gewehrlauf, dort eine goldglänzende Helmspitze und ein schwarzer spiegelnder Koppelgurt. Junge Männer, halb noch Jünglinge, mit Frühlingsbärtchen auf der Lippe, voll Kraft und Gesundheit, und kein Schwächling und Krüppel ist unter ihnen, und die Tausende in einem Tritt, für einen Zweck bestimmt, und ein gewaltiger Ton aus ihrer Kehle, und alle in einerKleidung, – das war wie ein Mann, der Mann, der gewaltige ungeheure Mann!

Die Agnes stand mit hämmernden Pulsen am Fenster, ihr Busen wogte, aus ihren Augen flossen Tränen, ihr Gesicht flammte in feuriger Glut auf. Sie lachte, sie lachte, und sie weinte dabei und hielt sich die Brüste fest, und sah ihre junge Herrin an und schämte sich, ihre junge Herrin, die nicht älter war als sie, und schämte sich und schämte sich so tief und konnte doch nicht anders, und sie war ganz hilflos, ganz hilflos – –

Die junge Frau, an den Pfosten des Fensters gelehnt, sah nicht hinaus auf die marschierenden Soldaten, sie schaute nur ihre Dienerin an und was in der geschah. Und sie schämte sich vor ihrer Magd, daß sie eine verheiratete Frau war. »Die armen Weiber«, seufzte sie für sich. Sie hätte zu ihrer Magd sagen wollen: ›Wir haben doch starke gesunde Knechte am Hofe –‹

Als das Regiment vorbei war und sie vor der dicken Staubwolke, die hinterherzog, die Rautenfenster schließen mußten, frug Frau Menniken leise: »Agnes, denkst du nicht daran zu heiraten?«

Die Agnes hielt gerade den Fensterriegel in der Hand. Ihre Hände fielen ihr am Körper herunter. Sie sah mit offenem Mund und großen Augen ihre Herrin an. Dann brach sie plötzlich in heulendes Weinen aus und stürzte aus der Söllerstube.

*

Am Sonntagmorgen kamen die Mädchen aus der Kirche und gingen an den einzelnen Tanzspielen vorbei, welche jedes mit Musik an der Rampe standen. Auch die Agnes war unter den Mädchen. Aber niemand begehrte ihrer. Nicht als ob man ihr die ›Rothaut‹ nicht hätte vergessen können. Aber die Mädchen hatten einen Ring unter sich gebildet und die jungen Männer verpflichtet, nicht mit einer zu tanzen, welche, wie der Herr Vikar Feuerstein gesagt hatte, »auf bösen Wegen wandle«. – In den Dörfern waren ohnehin mehr Mädchen als junge Männer, von denen so viele draußen auf Arbeit waren.

Die Spiele bildeten sich. Die Tanzmeister traten an die Spitze. Sie wirbelten ihre buntgebänderten Stäbe, die Musik fiel ein. Die Tanzspiele verließen eines nach dem andern den Kirchplatz.

Die Agnes blieb traurig zurück.

Des Weges kam der Faun mit seinem sorglosen großartigen Gang, mit seinem üppigen Lachen.

Das war ein Fachmann für wunde Weiberherzen. Er nahm sie unter den Arm und brachte sie dazu, daß sie ihm ihr Leid klagte. Er hörte aufmerksam zu und versprach ihr Hilfe ...

Es dauerte sehr lange, ehe der Faun sie überzeugt hatte. Ehe sie versprach zu kommen. Es war gerade auf der Brücke von Seffent, unter der der Wildbach rauschte. Dann stürzte sie schamübergossen ins Haus.

Die Wallonen in der belgischen Kammer riefen nach einem Festungsgürtel von Luxemburg längs der Maas bis nach Maastricht, denn im Westen war die alte große Furcht, daß Deutschland in einem etwaigen Kriege, der Abmachungen nicht achtend, das neutrale Belgien als Einfallstor in Frankreich benutzen werde.

An der sonst bloßen deutschen Grenze war um diese Zeit in der Stille ein Truppenübungsplatz angelegt worden, was man drüben mit scharfen Augen verfolgt hatte. Sogleich hatten sich einige fremde Leute eingefunden, die scheinbar vagabundierend im Lande herumzogen. Da sie aber stets mit Geldmitteln versehen waren, konnte keine Polizei sie fassen. Über jede Truppenansammlung auf dem Übungsplatze gingen von der Schenke »A la griffe du lion« genaue Berichte nach Brüssel und Paris.

In jener Zeit war auch der Unheimliche im Lande erschienen und dem Menniken gerade in den Weg gelaufen.

In diesem Spätherbst waren große Truppenmassen auf dem Truppenübungsplatz zusammengezogen worden. Es hieß plötzlich, der Truppenübungsplatz an der alten großen Heerstraße solle in aller Stille zur Festung ausgebaut werden.

In der Grenzschenke liefen viele Briefe aus Paris, meistens mit Kurieren ein, und Père Rousseau ging mit ernstem bedeutenden Gesicht umher. Er zwirbelte seinen Napoleonsbart, steckte das Ende zwischen die Zähne und kaute daran.

Es war eine leuchtende Mondnacht, hell, kalt und still. Um den kahlen Ölberg herum war es leer und still. Ein zarter Lichtduft geisterte um die Höhe. Der Ölberg hatte seinen Namen in der großen Geschichte erhalten. Es hatte einmal ein Schäfer, der dort oben hütete, in der weichen Tonerde die Spur eines großen Fußes gefunden. Eines unheimlich großen Fußes. Wie im ganzen Lande keiner zu finden war. Eines rechten Fußes, und im ganzen Umkreis war dazu kein linker aufzutreiben gewesen. Aber Napoleon war vor kurzem im Lande gewesen, und obgleich alle den kleinen Mann gesehen hatten, man war einig, daß nur sein Fuß die Riesenspur könne hinterlassen haben. Man staunte und glaubte. Wie vor langen Zeiten die Jünger, welche die Fußspuren des Herrn auf der Spitze des Berges fanden, von wo er in den Himmel aufgestiegen war. So hieß jener Hügel der »Ölberg«.

Gegen Mitternacht kam der Unheimliche die kahle Höhe herauf. Mit einem Feldstecher suchte er das Gelände ab. Auf dem Truppenübungsplatz war eifrige Tätigkeit; man sah ab und zu einmal einen Spaten blinken. Aber es war unbedingt still und nichts zu erkennen. Hin und wieder sprengte auf der Heerstraße ein Berittener.

Eine kalte Luftwelle floß von Osten her um den Ölberg. Der einsame Wanderer ging zwischen den Hochbenden und den Diepenbenden durch, nahe der Wüstenei hin. In einem alten verfallenen Steinhauerschuppen setzte er sich nieder. Da kamen zwei Männer aus der Nacht heraus auf den Schuppen zu.

»Bon soir, père Rousseau, monsieur Louis.«

»Wir haben einen Brief,« sagte der rote Louis, der Sohn des Zuaven, »den der Kurier gebracht hat aus dem Geheimkabinett von Monsieur le ministre de la guerre a Paris. A monsieur Henry Perronet. Voici.«

Und das enthielt der Brief: Wenn er die Pläne der neuen Festung beschaffen könne, bot ihm der französische Generalstab zehntausend Franken. Er solle suchen, im Lande womöglich irgendeine Stellung mit kurzer Kündigungsfrist anzunehmen und sich auf deutschem Boden gut führen, denn man wolle ihn später in Deutschland verwenden; man machte ihm Hoffnung auf eine große Laufbahn.

Die drei Männer saßen eine Weile still.

»Ich habe gehört, der Menniken wird ja seine famose Werkstatt bald schließen müssen?« frug der rote Louis.

»Ich habe schon eine Stelle als Stiefelputzer und Pferdehalter im Offizierskasino des Lagers«, sagte Perronet.

»Ah«, machte Vater Rousseau.

Dann waren sie wieder still.

Die beiden Wallonen hatten offenbar etwas auf dem Herzen. Plötzlich platzte der alte Rousseau heraus: »Warum wollen Sie sein traitre an Eure patrie?«

»Verräter?!«

»Ja, gemeine Verräterei!« begehrte plötzlich der rote Louis auf.

Der Unheimliche wollte ihm an die Gurgel. Im Mondschein blitzte der Dolch auf. »Pst«, machte der Alte. Die Spione gehorchten sogleich.

»Wir sind Wallonen und hassen die Preußen«, brummte der rote Louis.

»Cochons de Prussiens«, knurrte der Alte dazu.

»Aber Ihr seid Deutscher. Aber warum seid Ihr Verräter?«

»Enfin, Louis, ca c'est son affaire.«

»Ich bin kein Verräter«, sagte dumpf Heinrich Perronet.

»Sondern?«

»Ein Rächer.«

»Räscher? Qu'est-ce, Louis?«

»Vengeur«, lachte höhnisch der Rote. »Eh bien!«

»Voici pourquoi«, sagte entschlossen Heinrich Perronet. »Ich räche meinen Vater. Er war Feldwebel, in Ehren alt geworden, bei Sedan mit dem Eisernen Kreuz geschmückt ...«

»Passons là-dessus«, rief heftig der Alte.

»Ich war sein einziger Sohn. Ich heiße richtig Hammer. Eines Tages beschimpfte ein junger Offizier den Vater. Der verlor die Selbstbeherrschung. Nur in Anbetracht seiner tadellosen Führung durch zwanzig Jahre, seiner Ehrenzeichen und der wirklich schweren Beleidigung erkannte das Kriegsgericht auf drei Jahre Gefängnis, Verlust der Ehrenzeichen und Ausstoßung aus dem Heere. Ich habe ihn seit der Verhandlung nicht wiedergesehen. In der ersten Nacht hat er sich am Fenstergitter erhängt.«

Er schwieg einen Augenblick. Der Alte saß ruhig und schaute in die Mondnacht. Schwer ging der Atem des roten Louis.

»Da ging ich nach Frankreich und bot mich der Regierung an. Ich lernte Sprachen, eine ganze Reihe von Handwerken und Berufsarten und bin jetzt hier mit gefälschtem Namen und Paß.«

Schwer arbeitete die Brust des roten Louis. Plötzlich schlug er dem Hammer auf die Schulter. »Ich täte auch so!« sagte er heftig.

Da legte sich über das harte Gesicht des Unheimlichen ein schönes menschliches Empfinden. Er reichte dem Roten die Hand.

Der Rote drückte sie bewegt und sagte kein Wort.

»Hé! Qu'y a-t-il?« rief der Alte seinem Sohne zu.

»Wenn man meinen Vater so behandelte, würde ich auch so tun«, sagte Louis.

»Toi, Louis?«

»Wenn man meinen Vater so behandelte.«

Der Alte schien sich auf den Sohn stürzen zu wollen.

Aus der Ferne klang Trompetengeschmetter durch die Nacht, das sich näherte.

»Wir dürfen nicht zusammen gesehen werden. Ich will allein sein«, sagte Heinrich Hammer.

Sogleich ließen die beiden Welschen von ihrem Handel ab und gingen. Unterwegs aber, als sie sahen, daß die übenden Truppen nach dem Vierländerblick hinüber waren, gerieten Vater und Sohn fast in eine Schlägerei darüber, daß der Sohn den Vater im gleichen Falle auf gleiche Weise rächen wollte.

Heinrich Hammer, unsicher über die Bewegung der Truppen, auch heute wenig zu Spionagegängen gestimmt – zu gewaltig war er erinnert worden –, wandte sich halb unbewußt auf die Höhe hinauf Seffent zu, wo er die zwei Pappeln an den sieben Quellen wie einen Doppelposten ragen sah. Als er aber halbwegs war, verließ er die Straße und ging eine kleine Fahrgasse hinauf zu der stillgelegten Steingrube der Menniken. Hier wie überall dasselbe Bild: der Grund der Grube ersoffen, Schienenbahn, Kette, Winde und alles Eisenzeug verrostet, rohe und halbfertige Blöcke auf dem Steinplatze herumliegend, die Steinhauerschuppen halb verfallen, so wie der Betrieb der Steingruben vor Jahrzehnten liegengeblieben war. Hier und da waren nur die Öfen in Tätigkeit, die, auf halber Grubensohle stehend, den Abfall des Blausteines zu Kalk brannten.

Es fröstelte den Spion; und dort in einem Ofen lockte wohlige Wärme. Er sah die Luft über dem Trichter zittern, sah den Mond in den Luftwellen tanzen, als freue er sich der ungewohnten Wärme, der kalte Nachtwanderer, der durchfrorene Geselle. Leise knatterte und puffte es in der Glut. – Da, welches Geräusch! Da waren Stimmen! Unten im Gewölbe um den Trichter! Der Boden war steinig, aber der geübte Schleicher ging unhörbar. Oben am Rande des Trichters in der Wölbung des unteren Umganges fehlte ein Stein. Er horchte hinab. Er hörte ein Mädchen weinen und einen Mann auf sie einreden. Da erkannte er die Personen, wie sie unten im Schein einer Feueröffnung saßen.

Wohl hatte der Faun sich überzeugt, daß die Agnes keine rote Haut hatte. Wohl hatte ja der Faun an ein Abenteuer gedacht, ein Abenteuer besonderer Art, weil verzweifeltes Vertrauen einen Mißbrauch unmöglich machen mußte. Aber dafür, daß sie so schön war, dafür hatte am Ende der Faun auch nichts gekonnt. Und so war es gekommen.

Heinrich Hammer erkannte alles. Er wußte von der Not des Mädchens, über die in der Werkstatt viel gelacht worden war.

»Treubruch –? Niederträchtiger!«

In drei, vier Sätzen sprang er die Steintreppe am Ofenkörper hinab, jetzt stand er in der Öffnung des Umganges, lautlos, schrecklich, der Unheimliche. Die Agnes war eben still und bereit, sich in das Geschehene zu ergeben. Aber da sah ein andrer Mann ihre Schmach. Sie sprang auf und rannte durch die zweite Öffnung des Ofenumgangs hinaus.

Der Faun aber saß starr. Und der Unheimliche machte ein, zwei, drei Schritte, Sprünge. »Hund ...!« Ein Dolch leuchtete rot im Widerschein des Feuers – und es war geschehen.

Heinrich Hammer wischte den Dolch an den Kleidern des Toten ab, legte die Leiche in den Feuerschein des Ofenloches, besah das Gesicht, das krause Haar, die üppigen Lippen – der Faun hatte noch im Tode sein faunisches Lächeln.

Er setzte sich auf den Stein, auf dem die Agnes gesessen hatte. Er blieb im Ofen. Er wollte dem Mädchen Zeit lassen, unbemerkt zu entfliehen.

Er sah einen Ring an der Hand des Toten – und dann hielt er es nicht mehr aus in der Glut seiner Sinne und des Feuers. Er trat schnell hinaus vor den Ofen. Da schwamm unten auf dem Wasser eine weiße Gestalt. Im ersten Augenblick war es ihm, als fröre alles in ihm. Dann hatte er wieder die kalte Ruhe der Tat.

Er fischte den toten Mädchenkörper aus dem Wasser, trug ihn in den Gang und legte die Toten nebeneinander. Er saß dabei und dachte sich das Wenn-nicht aus.

Wenn er nicht dazwischengekommen wäre, lebten sie beide; und wenn ... Aber er erkannte, daß das müßigste Tun ist, verspätete Wenn oder Wenn-nicht zu überlegen.

So sorgte er dafür, die Leichen wegzuschaffen. Er trug sie die Steintreppe hinauf auf den Ofen an den Rand des Trichters. Die Masse war etwas herabgebrannt. Er zog dem Faun den Ring vom Finger und legte die Leichen auf die Glut. Er schaufelte eine Lage Kohlen über die ganze Trichteröffnung. Die Leichen waren bedeckt. Dann eine Schicht Kalkstein, Kleinschlag, so wie es sich in einer ordentlichen Kalkbrennerei gehört. Wieder eine Lage Kohlen und so fort, Heinrich Hammer verstand auch davon etwas.

Nach einer Weile war der ganze Trichter ausgefüllt und nichts mehr zu sehen.

Nun nahm Hammer den Ring vor, den Ring, den Frau Menniken damals dem Zillekens in raschem Entschlusse geschenkt hatte. Er besah ihn lange im Mondlicht. Und seufzte tief auf ...

Auch das ging vorüber. Er verließ den Ofen und stieg nebenan auf den Erdhügel, der aus der Grube aufgeschüttet war. Dort stand er und schaute hinaus in die nächtliche mondbeglänzte deutsche Landschaft. Und er sah hinüber nach Seffent mit einem langen Blicke.

Dann gab er sich einen Ruck und wanderte von dannen. Er sah sich auch nicht ein einziges Mal mehr um.


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