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Die Schützen

Sonst machte das Leben des Landes ruhig im Wogengang der Stunden und Geschicke seine Fahrt. Woher? Wohin? Wozu? Manche Leute geben müßige Antworten, aber manche stellen noch müßigere Fragen. Das Leben bekommt erst einen Sinn, wenn man sich abgewöhnt hat, nach seinem Sinne zu fragen.

Die Hubertusschützen schossen zu Pfingsten ihren Königsvogel.

Das Mittagessen wurde sehr schnell eingenommen. Die Büchsen waren zu reinigen und zu ölen. Durch die Läufe schauten sie nach dem Himmel. Die Hausfrauen waren dabei, die Ehrenzeichen auf die grünen Röcke zu heften, hier und da war ein Flecken zu tilgen, es wurde viel gerufen und geschimpft, und Augen und Herzen flogen. Da, Musik! Trommeln und Querpfeifen ertönten aus dem Vereinslokal.

Auf öffentlichen und geheimen, auf breiten und schmalen Wegen strebten die Schützen in den »klingenden Schellenbaum«. Der älteste Sohn schleppte an der Donnerbüchse, der zweite trug die Kugeltasche, der dritte den Ladestock, der kleinste das Pulverhorn mit Quaste an grüner Schnur. Nur einer der Schützen blieb zu Hause. Das war S. M. der König, Burgs Paulus, der gottesfürchtige Schreiner. Den werden sie im Triumphzuge abholen. Zweimal nacheinander war Burgs Paulus König geworden; wenn es ihm heute zum dritten Male gelänge, würde er Kaiser werden. Ihm brannte die Brust vor Ehrgeiz, aber –! Zwar steht auf einem Königsvogel neben der Ehre ein Geldpreis, zweihundert Mark, aber sobald der Vogel gefallen und der Tusch geblasen ist, hat der König zuerst den Jungen, welche die Überreste des Vogels herbeibringen, harte Trinkgelder zu geben, ebenfalls dem Knaben, der sein Los gezogen hat, alsdann den Musikanten – und dann kommt das große Traktieren. Gläser Bier, ungezählte – nur der Schankwirt zählt sie – werden getrunken. Die Schützen, Fahnenträger, Losjungen, Büchsenlader, jedermann, alle Welt trinken, trinken, nicht aus Durst, nicht aus Vergnügen, im Gegenteil, aus einer Art von Opfermut. Die Rechnung, die der Wirt nachher, vielleicht, wenn der König einmal dorthin geht, wohin auch Könige zu Fuß gehen müssen, im Vorübergehen vorhält, beträgt hundert Mark. Bleiben hundert Mark fürs erste in des Königs Tasche. Aber die Könige sind die Leuchten der Menschheit. Also, bei den Vorstandssitzungen, den Generalversammlungen, am Namenstage des Schützenkönigs, beim Begräbnis eines Schützenbruders und bei vielen andern Anlässen ist jedem König hinreichend Gelegenheit gegeben, seinen natürlichen Trieb nach königlicher Freigebigkeit zu befriedigen. Das kostet dann nochmals zweimal hundert Mark.

O über die Kurzsichtigkeit der Menschen! Sie sagen: Er lebt »wie ein König«, was bedeuten soll: überaus glücklich. Die verblendeten Menschen! Wie können die Neid empfinden! Wenn Könige einmal unbelauscht beieinander sind und irgendeine große Dummheit bezeichnen wollen, dann sagen sie den Gemeinplatz: Das ist so dumm, wie einen König beneiden.

Wer das nicht glaubt, der soll hingehen zu der Königin Anna Maria, angetrautem Eheweib des Schreiners Paulus, der über dem Wassergraben in den Ruinen der Burg wohnt. Die mag er fragen. Die wird eine Antwort wissen.

Ihre Majestäten standen in der Stube – die Kinder hatte Frau Annemei hinausgeschickt, zu sehen, ob die Musik käme –, der Tisch war zwischen ihnen. Sie hatte die Arme auf die Platte gestützt, den Körper vorgeschoben, und ihr langer Hals mit dem Kropf ragte weit darüber. Ihr Mund redete nachdrücklich, ihre Hände dazu, ihr Finger wies über die Tischplatte hin, als ständen darauf deutlich geschrieben die Worte: »Daß du mir nicht wieder König wirst! Verstanden! Sonst gibt's was! Das soll dir sonst auf die Butterseite fallen, du Faultier! Du Diamantschleifer! Du trübes Licht, wo du bist! Ein Breimaul biste! Und da willste Reden reden? Wenn du mit mir eins in Gesellschaft bist, dann sitzte 'nen ausgelängten Abend und sagst nicht buff noch baff! Mann im Mond! Das Geld den Saufbrüdern in den Schlund werfen, das deine Kinder so nötig haben? Bis du nix mehr auf den Rippen hast und du nach Unseres gewinkwankt kommst! Du Schubbiack! Ich will auch einmal einen weißen Unterrock haben wie die Peterpauls Annemei, die Silo Maria, du Rabenvater du! Du fieser Zuwider! du ... du ...«, sie suchte nach einem starken Schimpfworte und fand es schließlich in: »Du König, du!«

Ihm bebte das Herz in seiner mit dem Ordensvlies des Vereins behängten Königsbrust. Er zitterte und bebte, doch nicht aus Schrecken über ihre Worte – er hörte gar nicht darauf – sondern in der Überlegung, wie er es möglich machen könne, die keifende Königin zu entfernen, wenn das Königsgeleit käme, ihn abzuholen. Er hatte hinter dem Schranke zwei Flaschen Mosel stehen. O weh! Da klang von ferne die Musik: trum, trum, tatarataa, trrr ..., trrr ..., o die Trommelwirbel! Da kam ihm ein Einfall, mochte am Abend daraus kommen, was wollte! Er sagte freundlich, einen ebensolchen Unterrock habe er als Geschenk für ihren demnächstigen Namenstag gekauft. Er läge auf dem Speicher ganz unten in der Kiste mit den alten Profilhobeln. Wenn nicht dort, so irgendwo anders, in der Kinderstube oder auf dem Heusöller, oder ... Die Annemei war fort.

Die Musik kam; der Zug hielt im Burghofe. Die Kinder lärmten; der Hauptmann trat mit dem Königsgeleit ein. Er sagte: »Wir bitten Eure Majestät, uns zur Wiese der Ehre zu folgen, Aas, Burgs Paulus, gib uns zu trinken. Wir haben ix noch nix gehabt!« Schnell tranken sie. Der König hörte, wie die Söllertür heftig zuschlug. Er sagte: »Allons! Raus!« Der Hauptmann kommandierte: »Präsentiert das Gewehr!« Die Donnerbüchsen wurden gehoben. Die Musik blies Tusch. Der König schritt, nein eilte, nein lief die Front ab. »Fahne hoch! Ganzes Bataillon rechtsum! Marsch!« Die Kinder stürzten an die Spitze. Tatarataa! tatarataa! trumterumterumtumtum. Tsching! ta! ta! ta! ... Die Holzbrücke des Burggrabens hielt kaum die Wucht der Musik und den gewichtigen Ernst der Männer aus, die über sie dahinmarschierten.

Die Fahne trug der Hennessens Hennesse Hannes, Steinbrecher am »Teufelsschreck«, ein Riese mit rotem Schnurrbart, rotem Gesicht und von manchem Fehlschlag blau gewordenen Händen. Nicht nur zwischen seine Arme und Hände, schon in seine Gedanken zu geraten, sollte man meinen, müsse gefährlich sein. Von seinen schlimmen Reden, in denen es wimmelte von Mord und Tod und Teufel, hieß er im Alltag »der lebensgefährliche Johann«. Die bemerkenswertesten Schützen waren: Mariänne Lenates, Tieß Bertz, Silo Marias Mann mit dem Knabengesicht, im Lande zurückgebliebenen Spaniern entsprossen, Burgs Paulus der König, Pütz Karel der Küster, Peterpauls Hary, Jan Lennar der Maikäfer, der doppelte Michel.

Glücklich, zu Hause einstweilen einer Sorge entronnen, war Burgs Paulus in zwei neue hineingefallen. Die eine war: Er wäre doch gar zu gern Kaiser geworden, er, Burgs Paulus, nach fünfundvierzig Jahren wieder der erste Kaiser! Außerdem – er hatte ihn gemacht und aufgesetzt – wußte er, wo der Königsvogel sterblich war. Die andre: Vor der Stange mußte er eine Rede halten. O Gott! o Gott! Nicht in seiner Sterbestunde hat Paulus solche Not gelitten, er genoß seinen Triumphzug durch die Ortschaften nicht. Er suchte und suchte nach einer würdigen Hede – und fand sie nicht.

Da, da waren sie ja schon auf der Schützenwiese! Da stand er ja schon vor der Stange! Die Musik schwieg, und alles schaute ihn erwartend an.

Burgs Paulus, der gottesfürchtige Schreiner, warf sich auf das Gottvertrauen.

»Liebe Schützenbrüder! Wir wollen heute den Königsvogel schießen. Wir wollen hier nicht reden, sondern wir wollen schießen. Die Könige reden überhaupt zuviel. Der Kaiser lebe hoch! hoch! hoch!«

Auch Mennikens waren auf der Schützenwiese. Als das Schießen in Gang kam, richteten sich alle Augen auf Herrn Menniken, dem als Besitzer von Seffent noch aus den Zeiten des Bischofs von Lüttich, als die Seffenter dem Krummstab lehnspflichtig waren, das Erbrecht eines Protektors der Schützengesellschaft gehörte. Als solchem stand ihm der erste Schuß auf den »Beck« des Vogels (den Schnabel, d. i. den Kopf) zu, der die freundliche Größe eines Kindsköpfchens hatte. Nachdem der leicht befestigte Kopf glücklich gefallen war, beglückwünschten die Schützenbrüder den treffsicheren Schützen und lächelten ihm freundlich zu wie einem Knaben, der seine Sache gut gemacht hat. Dann nahm ihm einer kalt und kurzweg die Büchse aus der Hand, und nun erst begann der wichtige Ernst des Waffenspieles. Nach sorgfältigem Einrichten im Schießstande und bedächtigem Zielen brachten einige Schützen die schmalen Flügel und den dünnen Schwanz zur Erde. Nun aber ging es auf den Rumpf, den mächtigen Eichenklotz.

Auf der Schützenwiese war reges Leben. Ein Karussell drehte sich, die Frauen der Schützen saßen an Pfahltischen und tranken Braunbier, die Kinder spielten, der Anschreiber saß am Pulttisch und rief die Namen der Schützen auf, am Ladetisch wurden die Büchsen bereitet, Pulver wurde aus den Hörnern in den Lauf gegossen, die Bleikugeln mit einem Leinpflaster umwickelt in die Vorderlader geschoben, zuerst mit einem Hämmerchen eingeklopft, dann mit dem Ladestock hinabgetrieben – nun kam der Schütze in den Stand. Der Hauptmann, ehemaliger Kanonier, jetzt Dynamitverwalter und Sprenger in den Gruben, war Büchsenmeister, der einzige, der Zündhütchen hatte. Wenn der Schütze seine Blitz- und Donnerbüchse auf den Schießrechen gebracht, die Arme auf die Stützstangen gelegt und die Beine weit gespreizt hatte, dann erst versah der Büchsenmeister die Büchse mit dem Zünder. Der Schütze rückte das Schießrohr bedeutend zurecht, schielte einmal groß nach dem Vogel, dann brachte er das Korn ins Visier, eine gewichtige Pause – – paff! Der Schuß krachte, die Schulter des Schützen flog zurück, und wenn er ein Neuling war, gab es einen Schlag wider den Unterkiefer, der zwei Zähne kosten konnte.

»Numero 43, der Küster, schießt!« rief der Anschreiber am Pulttisch. »Der nächste Schütze ist Jan Lennar.«

Die Musik spielte, das Karussell lärmte, die Weiber schwatzten. Die Kinder spielten, die Schüsse krachten, auf den umliegenden Wiesen muhten schrecklich die Kühe. Manche von ihnen wurden heute vergessen und ließen unter Schmerzen die Milch.

Herr Menniken hatte mit redlichem Bemühen allen Personen und Dingen seine Aufmerksamkeit gewidmet. Als aber die Sonne zu sinken begann, das Gras der Wiese mählich unter den Füßen kalt und feucht wurde und er unwillkürlich gähnen mußte, da faßte er kurz entschlossen seine Frau unter den Arm und sagte: »Wir gehen.« In ihren Augen lag die Anerkennung seines Bemühens, als sie zustimmend nickte. Unterwegs, als sie sich über stille Wiesenpfade entfernten und die Schüsse mählich fern und ferner in der Landschaft verhallten, sagte er: »Ich kann nicht! Es hat keinen Zweck, ich werde mir auch keine Mühe mehr geben. Ich bin dir zu Willen gewesen und mitgegangen. Hast du dich denn vergnügt?«

»O ja, ich habe manch eigentümlichen Brauch gesehen, manch lustiges Wort gehört und dies und das mit tüchtigen Männern und Frauen gesprochen. Ich mag dieses grüne Land wohl mit allem, was darin ist.«

»Auch mit den Geistlichen und ihren Ausschreitungen, von denen uns gestern abend unser alter Lenates erzählte?«

Da schwieg auch sie; nach einer Weile meinte sie kleinlaut: »Das scheint nun auch dazu zu gehören«; und nachdenklich gingen sie ihres Weges heim.

Das wehrhafte Spiel auf der Schützenwiese wurde lang und länger. Ein Splitter nach dem andern sprang vom Königsvogel; ein Riß nach dem andern kam in seinen eichenen Rumpf.

Aber er fiel nicht. Er drehte sich im Kreise um das Eisen der Stange. Allmählich ward es Abend. Und das Spiel lang und langweilig.

»Numero 107, Seine Majestät der König!« rief der Anschreiber.

»König, gib dem Aas eins, daß es verreckt!« rief Jan Lennar, der Maikäfer, und gähnte.

Burgs Paulus lag im Stand. Er schob sich zurecht. Er äugte hinauf. Vor sein gekniffenes Auge trat für einen Augenblick sein Ehegemahl, Burgs Paulus Annemei, drohend, schreiend: »Daß du mir nicht ...« Er drückte das Auge zu. Der Büchsenmeister steckte das Zündhütchen auf. Die Musik schwieg. Die Kinder und Frauen standen, das Ende erwartend, hinter den Männern. Es war eine große Ruhe und Stille. Aber drinnen in des Burgs Paulus Brust kämpfte es heftig. »Kaiser! Kaiser!« rief die eine Stimme. Und die andere rief: »Daß du mir nicht ...!« Das Zielen dauerte lange. »Kaiser! Kaiser!« – »Daß du mir nicht ...!« – »Kaiser!!!« – »Daß du dich unterstehst ...!«

Ein qualvoller Kampf.

Kaiser, Kaiser! Jetzt oder nie! Wann werde ich noch zweimal hintereinander König? Und würde nicht dann vielleicht der Maikäfer, das Luder, der sich immer in mein Handwerk drängt, den Vogel gemacht haben? – Paulus wußte, wo der Königsvogel sterblich war. An dem Auge unter dem Stangenloch. »Kaiser, Kaiser, Kaiser!« »Daß du dich ... du Rabenvater, du ... du König, du!« – – –

»Es lebe der Kaiser! Hurra!« Die Musik spielte Tusch, der Vogel, in zwei Stücke gerissen, fiel von der Stange.

»Es lebe der Kaiser! Der Kaiser lebe!«

Der Kaiser aber war beinahe tot vor Schrecken. Wenn er das auch einmal gedacht hatte, er hatte es nicht gewollt, bei Gott, das hatte er nicht ...!

Bis in den nächsten Morgen hinein feierte die Schützengilde den Kaiser. Der aber ging nicht nach Hause. Er nahm die Einladung seines Freundes, des Maikäfers, an und schlief in dessen Haus draußen in den Benden. Auch den folgenden Tag ging er nicht. Er saß in seinem Ornat in den Wirtshäusern, und bereits am dritten Tage war die ganze kaiserliche Zivilliste im Betrage von dreihundert Mark mit den Freunden vertrunken.

Auch den dritten Tag nicht. Er hatte viel zuviel Furcht. Denn die Annemei würde sich nicht scheuen, ein Majestätsverbrechen an ihm zu begehen.

Der Annemei wurde es schrecklich klar. Am vierten Tage, als Paulus schon an fünfzig Mark Schulden gemacht hatte, mußte sie ihm nachlaufen und ihn inständig bitten, unter heiligen Versprechungen, daß sie ihm nichts Böses tun werde, bitten, nach Hause zu kommen – sie sehne sich so sehr nach ihm.

Da ging er nach Hause.

Aber in der Folge wurde er niemals wieder der gefügige Burgs Paulus. Er ging auch öfter ins Wirtshaus, ohne gerade zum Trinker zu werden, wenn sie drohte, sagte er: »Meinetwegen.«

Burgs Paulus hat noch einige bessere Tage gehabt bis an sein seliges Ende.


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