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Selbstbildnis

In den Uffizien von Florenz gibt es einen Saal der Selbstbildnisse. Durch ein Jahrhundert wurden Maler von Ruf aufgefordert, ihr Selbstbildnis in diesen Saal zu geben. Eine merkwürdige Sammlung! Selbstbildnis ist Kind der Ehe von Selbstbewußtsein und Selbstkritik. Schlappheit in der Haltung nie geschmackloser als im Selbstbildnis. Nicht ironisch spöttelnde Selbstbeäugelung (in Wahrheit ist niemand etwas wichtiger als er selbst), auch nicht »Dichtung und Wahrheit« (zu ernst ist die Aufgabe) sieht dem Selbstbildnis an. Das größte aller Selbstbildnisse ist das heroisch-grausame des alten Rembrandt aus dem Jahre 1668 in München. Was man von seinem Leben erzählen kann, ist fast belanglos für den Fremden. Was wichtig ist, das Gesetzliche, weiß man nicht, und was man weiß, das Zufällige, ist nicht wichtig zu wissen. Auch das, was die Adligen aus Galerie und Archiv von ihren Ahnen kennen, ist meist das, was zu kennen nicht frommt. Das »Geschichtliche« geschah. War. Weist in die Vergangenheit, aber höheren Reiz hat die Zukunft. Das Dunkle, Geheime, Triebhafte ist Bedingung und Bestimmung der Zukunft.

Das Individuum ist nicht begrenzt durch die Hauswand der Haut. Es gibt ein merkwürdiges Überindividuum, das über zwei oder viele Glieder der natürlichen Menschenfolge greift. Meine Naturleidenschaft ist älter als ich. In dem Augenblick, wo ich ein phantastisches Naturgesicht habe, steht der nicht gekannte mütterliche Großvater über mir, der, bevor es die Eifelbahn gab, Fuhrmann war auf der Straße von Aachen nach Monschau, hält seinem verschnaufenden Pferde einen Heuwisch vor und verliert sich, mit dem Arme die Augen überschattend, über Hochflächen und Moore. Schlaf der Väter wird Tag der Kinder, das Unbewußte Urvaters des Enkels Wesen und Werk. Vater und väterlicher Großvater, die als Handwerksgesellen in Belgien wanderten, bereiteten mir die Straßen, wenn ich mich zwölf Jahre lang umhertrieb zwischen dem Wende- und dem Polarkreise. Der seefahrende Bruder-Amerikaner und der in Asien verschollene Großonkel sind andere Auswirkungen gleichen fernseligen Blutes. Die Verachtung der Städte unserer Zivilisation ist alter Häusermassenhaß vorelterlicher Bauern, Einsamkeitstrieb und Schweigsamkeitslust Erbe der mythischen mütterlichen Hirten. Daß die väterlichen Väter im saftnassen Holze sägten und mit Kalk und Stein umgingen, wurde mir Leidenschaft zu allem groß, himmelhoch Gebauten: stürmische Höhensehnsucht jagte mich hinauf auf die Türme der meisten Dome zwischen Rhein, Seine und Meer. Daß ich in den Truhen bei den mütterlichen Bauern und Hirten nichts Gedrucktes außer einem Leben der Heiligen fand, ist gewiß mit ein früher Grund für den tiefen Haß, den ich der »Literatur« entgegentrug. Der unbändige Freiheitsdrang, der Vater und seine Brüder sich rühmen ließ, es habe niemals ein Mann der Familie die militärische Zwangsjacke getragen, lebt in mir als Unmöglichkeit irgendeiner Bindung durch Würde und Amt. Er gab dem Vater die stolze Freiheit des Vertrauens, mich als Knaben nächtlich streifen, im deutschen Westen und, kaum das erste Französisch gelernt, in Welschland wandern zu lassen. Not der Väter und eigener Daseinskampf entwickelten Willen in einem starken, oft schädlichen Maße. Der Väter und eigene Arbeit im Auslande – ich drehte vor zwanzig Jahren, als das Kinounwesen aufkam, die Filmspule in einer belgischen Stadt –, die steinwurfnahe Grenze der Kinderzeit führten den Blick aus nationalistischer Kurzsichtigkeit in die Weite allmenschlicher Zusammenhänge. Ungemischtes Blut der menschenalterlang in rassereinem Lande sitzenden Ahnen weckten Schwarm und Liebe für alles Edelnationale. Herkunft aus dem niederen arbeitenden Volke schufen das tiefe Behagen an volkhaftem Denken, Sprechen und Schaffen.

Was bedeuten diesen Ahnungstatsachen gegenüber die Neugiersdaten, daß ich 1883 in einem Dorfe der Landschaft des heutigen Zwangsbelgiens, bei Eupen, geboren wurde (wenn nicht das unermeßliche Glück, im grenzenlosen grünen Lande statt in gelber starrender Steinstadt haben aufwachsen zu dürfen)? Daß ich die Hochschulen in Genf, Bonn, Aachen und Berlin besuchte? Wie dunkler Jugend dornige Pfade liefen? Welche glückhaften Umstände lichtere Manneszeit schufen? Dunkelblütige Natur änderte weder das eine noch das andere. Ich war ein fauler sperriger Schüler im Pflichtpensum und von heiligem Nächtefleiß im Freigewählten, zum Leide der Lehrer begabt – denn nur das Mittelmäßige ist Lehrer- und Bürgerideal –, so daß sie mir nie ein Bein stellen konnten. Aber was sie zu tun vermochten, mir die Dinge des Schönen zu verleiden, haben sie ehrlich getan und die angeborene Abneigung gegen die Literatur vertieft. Vielleicht war es gut so. Denn Liebe, die aus Haß wird, darf glauben, daß sie werden mußte! Konnte ich mich für den Ablauf künstlerischen Geschehens besser schulen als nachts auf dem Dache, wenn ich mit dem Rohre der Revolution der Planeten, dem heroischen Wandeltritt der Gestirne folgte und mich mit Ahnung von Gesetzes Majestät erfüllte? Das Lernbare der Kunst steht in drei Zeilen, das Unlernbare nicht in Büchereien. Konnte ich das organische Geheimnis des Kunstwerkes besser kennenlernen als in dem unbegreiflich sinnvollen Aufbau der Steinbrüche? Langsamkeit ist das Kennzeichen des Organischen und organisch das des Künstlerischen. Das Bewußte, zweckvoll Organische der Kunst versteht sich unmittelbar aus menschlichem Aufbegehren gegen das schauervolle Erlebnis der Jahrmillionengeduld der unbewußten, zwecklos organischen Natur. Das Geheimnis dicker Wälder, der unergründlich stumme Baum, der einsam im leeren Himmel hangende Sperber, das läutende fressende sich pflanzende Vieh der Weiden sind bessere Gesellschaft für werdende Dichter als Bücher. Gab es dann vor den Ängsten der Welterfühlung keine andere Rettung mehr als den plötzlichen grellen Einfall, das Verhaßte zu umarmen, den dumpfen Zwang, das scheinbar Unmögliche zu versuchen, so ward vielleicht der Dichter geboren, denn Dichter sein heißt: nichts Besseres sein können, heißt: sich von Gott zertreten fühlen und dem Schöpfer mit eigenem Schöpfungsversuche trotzig begegnen – Dichter wider Willen!

Freilich, ein Buch las ich, doch es ist fast kein Buch mehr, ob es auch »das Buch« heißt, die Bibel. Aber ich schäme mich dieser »Literatur« nicht.

Natur war Schule, aber auch die Kirche. Frömmigkeit der Heiligen wurde gelebt (ob es auch damals kirchlich gebundene Frömmigkeit war), aber davon zu sprechen verbietet die Scham.

Doch fast wirklicher als das dinglich Vergangene ist das gespensterhaft Zukünftige, denn jenes ist der Bewußtheit halb und dem Willen ganz entrückt, dieses ist der Bewußtheit ganz und dem Willen halb anheimgegeben. Wille ist Wesenheit (was wir mit dem Willen erreichen, gehört in geheimer Weise schon nicht mehr zu uns). Den lebenden Menschen kennzeichnet sein Karakter, erst den toten seine Bedeutung. Denn der Karakter hat nur Sinn in bezug auf die Zukunft, die Bedeutung in bezug auf die Vergangenheit. Unseres Karakters sind wir halbwegs mächtig, unserer Bedeutung ganz ohnmächtig. Karakter kann man von uns fordern, Wollen von uns wollen – Bedeutung zu verlangen ist unvernünftig und schamlos. Karakter des Künstlers ist sein Ideal. Ideal lebt von bluthaftem Wollen. Ideal ist maßlos. Nach dem Tode gibt es kein Ideal mehr, nur Vollendung – sie ist niemals maßlos, immer mäßig. Ideal kennt keine Bescheidenheit, Vollendung immer Bescheidung.

Ideal ist: wahr sein wie der Tod wahr ist, echt sein wie der Stein echt ist, schlicht sein wie der Untergang eines Sternenkosmos schlicht ist – und fragwürdig wie das Verenden eines Hundes, prächtig wie das Flügelwunder des Falters, architektonisch wie der Bau des Schneekristalls. Vor keinem alten Gotte scheuen, wenn er ein Götze ward, und nicht den flüchtigen Tagesgöttern räuchern. Nicht bänglich bewahrerisch sein und nicht modisch umstürzlerisch, sondern organisch hineinwachsen in einen Zusammenhang deutschen und menschlichen Denkens und mitschaffen an dem, was den Deutschen am meisten fehlt: Bewußtsein ihrer selbst, Volksbewußtsein und Überlieferung. Denn wenn nicht schon die Vernunft, so lehrt die Erfahrung der Geistesgeschichte, daß die appollinisch-nüchternen Franzosen ihre unbestrittene Höhe im Kulturleben der Welt dadurch erlangten, daß trotz allem revolutionären Gebaren der Nachfolger bescheiden in die Stapfen des Vorgängers trat. Der Deutsche aber glaubt in faustischem Drange für sich jedesmal die Welt titanisch einreißen und prometheisch wieder aufrichten zu müssen. Ethisch und menschlich hoch und edel, aber geschichtlich unwirksam und rührend kindlich. Steht bei den Franzosen auf geebnetem Felde der schlichtwuchtige Geistesbau eines Volksblocks, so bei den Deutschen auf klüftereicher Flur eine labyrinthische Stadt mit babylonisch-ungeheuren Grundrissen zu Bauwerken der Riesen, die aber, weil niemand am Gebäude des andern mitbauen wollte, aus Mangel an Bauleuten selten über die Stümpfe genialischer Fundamente hinausgedieh. Heroisch – und tragisch! Wirkungslos in der Welt und tiefste Ursache grausamen Volksschicksals. Kein großes Volk der weißen Welt hat eine so traurige Geschichte wie das deutsche – aber es verdiente es nicht besser. Die bittere Wahrheit muß man deutsch, d. i. deutlich den Deutschen sagen – und sich selbst, wenn man auf halbem Lebenswege, aus dem Walde jugendlich dumpfen Dranges hinaustritt auf das Blachfeld frei zu wählender, männlich zu beschreitender Pfade. Denn ich erkenne es als meines Wesens innersten Kern, was ich tadelnd den Deutschen vorhalte: Alles aus sich selbst schaffen wollen! Niemand etwas danken! Nichts Gedachtes hinnehmen, sondern es selbst ausdenken! Praktisch gesprochen: Hatte ich ein Buch, etwa der Kunstgeschichte, mit Abbildungen vor mir, so las ich den Text nicht, sondern griff wild im Jakobstrotze des »ich lasse dich nicht« die Bilder an, bis ich selbst gefunden zu haben glaubte, was der Verfasser mit ihnen zu belegen suchte, was denn auch manchmal gelang, wie die spätere, nur der Überprüfung der eigenen Arbeit dienen sollende Lesung ergab. Es erschien mir unmännlich, unehrlich, unanständig, schamlos, mir fremde Gedanken anzueignen, mochte der Erfinder sie mir auch anbieten. Probleme waren zu lösen nicht der Probleme, sondern des Lösens willen. Das Studium war weniger eine geistige als eine moralische Anreicherung. Übung des Geistes schien mir das Ziel aller Bemühung des Geistes, und dem Gymnasium entwachsen blieb ich in ewigem Gymnasium. Ich sage es mit allem Stolze auf die Leistung und aller Bescheidenheit wegen der Torheit: es haben bloße Andeutungen genügt, daß ich mir daraus auf meine Weise ahnungsvoll Forschungsarten der Erdkunde, Arbeitsmethoden der Geschichte und der vergleichenden Kunstbetrachtung aufbaute, die ich später in allgemeiner Übung fand. Der Knabe war eine Art Robinson auf einer geistigen Insel, und ich glaube, es hat mich geschmerzt, daß das Einmaleins bereits erfunden war. Doch dieses Treiben, soviel Größe es hatte, hätte nur Vernunft gehabt, wenn der Mensch nicht 60, sondern 600 Jahre alt würde. Aber wer wird der süßen reinen Torheit des überehrlichen Knaben und Jünglings sein Mitgefühl versagen? (Nebenher frage ich: ist es wirklich wahr, daß der Fremde dich besser kennt als du dich selbst? Niemand schaut so tief in dich wie du.) So liebenswert, töricht und – deutsch war ich, ich, der ich aus einem, wie es neueste politische Geschichtsnotzucht im Dienste der Eroberung durch Verträge will, angeblich undeutschen Lande stamme.

Ursprünglich, original wollte ich sein – und war auf dem Wege, »ein Original« zu werden, nach Notwendigkeit, Gesetz und Typus strebte ich – und hätte beinahe das erreicht, was der Franzose mit »un type« meint, ironisch meint.

Da – aus dem Walde dumpfer Jugend in die Freiheit hinaustretend, traf ich auf die eigene Spur. Sah, daß ich in ungeheurem Kreise gewandert, zwar moralisch aber nicht geistig vorangeschritten war. Das war der Augenblick des Entschlusses, nicht mehr um jeden Preis auf den eigenen Füßen zu wandern, sondern mit den Mitteln des öffentlichen Verkehres für das übliche Entgelt zu reisen – der Augenblick, den Haß gegen die »Literatur« als die Summe des vom allgemeinen Menschen Gedachten abzulegen. Ich bereue den Umweg nicht. Ob er mich auch tief ins Hintertreffen der Gleichstrebenden mit geringeren Skrupeln brachte. Was deutsch war, habe ich tief erfahren und deutschen Jünglingen gleicher Geistesart widme ich diese kritische Selbststudie zu Lehr und Nutzen. Nun darf ich ohne Schaden die Literatur lieben (wie liebe ich sie!), sie kann des gereiften Menschen in Notwendigkeit heilige, fatalistisch gegebene Naturveranlagung nicht mehr zerstören. Und wenn ich jetzt die Namen Meister Eckhart, Spinoza, Shakespeare, Beethoven, Kleist und Tolstoi nenne, so stecke ich mir leuchtende Fackeln ehrfürchtig an meinem Wege auf.

Eines jeden Dichters, Schöpfers in Worten, erste Pflicht ist, was ich mir verschrieb: zugleich innigen und zornigen, demütigen und kühnen Dienst an unserer göttlichen Sprache – sie ist nicht göttlicher als andere Sprachen auch sind, aber sie ist die göttlichste, weil sie uns Erbe und Pflicht ist.

Man kann gar nicht anders als aus seinem Volke fühlen. Ohne Volk sein, schlägt um in: ohne Karakter sein. Denn das Volk und seine Blutsdränge sind die unbewußte Hälfte unseres Karakters und der größte Teil des Unterbewußten unserer Seele. Nur Dummköpfe leugnen es. Vor dem Volke fliehen heißt vor sich selbst entlaufen. Man kann sich seiner Eltern schämen, aber seine Abstammung kann man nicht unwirklich machen. Wir sind die letzte Wirkung geheimer vorelterlicher Ursachen und sind nicht nur wir selbst, wie ich gezeigt habe. Wir waren, bevor wir waren, und werden sein, wenn wir nicht mehr sind – im Volke. – Spreche ich für Nationalismus? Meinem Herzen liegt Pazifismus näher. Aber die Menschen des 20. Jahrhunderts erheben sich noch wenig über die Tiere; der Generalbeweis ist eben geliefert. Der an der Völkergrenze Erwachsene ist behütet vor nationalen wie übernationalen Überschwenglichkeiten. Er kennt die drei Tugenden und dreißig Laster jedes der Völker. Den Völkern wurden wie den einzelnen Menschen jedem gerade seine Eigenschaften verliehen, und diese schließen in karaktervollen Wesen oft genug einander aus. Der Deutschen bester und ihnen vorbehaltener Teil ist ihre Innigkeit (wie will man das Wort ins Französische übersetzen?), der Welschen großes Erbgut ihr Formtalent. Die zwei Begabungen schließen sich nicht aus, wie die Geschichte lehrt. Die französische, überfranzösisch innige Gotik des 12. Iahrhunderts ist nicht zu denken ohne das Zumünden des germanischen Blutstroms der Völkerwanderung, und so heißt es nur, für ein Geschenk ein Gegengeschenk würdig empfangen, wenn zur Formlosigkeit neigendes deutsches Wesen sich romanischer Formengröße willig (doch vorsichtig) öffnet. Wenn ich mir selbst das Ziel stelle, nach hohem Umriß und architektonischer Gewalt des Dichtwerkes zu streben, so leite ich die Aufgabe schon aus meinem Namen ab, der besagt, daß die Ahnen in einem Orte saßen, wo die Römer mit allen Künsten des Bauens eine sperrige Holzbrücke über einen westlichen Fluß des (von Rom aus) »diesrheinischen Germaniens« schlugen oder eine schönbogige Steinbrücke wölbten, während die rechtsrheinischen Germanen noch in Weidenflößen über ihre Flüsse setzten.

Fragt mich aber von jungen Mitstrebenden einer, wo man Kunst, soweit sie lernbar sei, lernen könne, so weise ich ihn dorthin, wo ich sie am meisten lernte, soweit sie lernbar war: in die gotischen Dome. Freilich sollte er zeichnen können und rechnen, wissen, wie Steine beschlagen und versetzt werden, daß sie hier körperschwer lasten und dort gewichtlos fliegen, unten erdnahe ruhen und oben himmelauf rauchen, und die Zahlengeheimnisse der Statik verwalten (oh, wenn ihr wüßtet, wieviel göttliche Form eine mathematische Rechnung enthält!), und ein Begabterer als ich braucht vielleicht keine drei Jahre Mühens um die Architektur wie ich. Ahnung ist Triebwissen. Ahnung und Begeisterung – sie dürfen grenzenlos sein! – sind das fast Einzige, was ein Künstler braucht, das Übrige lernt sich in einer halben Stunde. Das wahre Kunstwerk ist steinern gediegen und wesenlos geistig, irdisch gebunden und überirdisch entfesselt. Schauernd, schaudernd habe ich in der Kathedrale von Reims gestanden, ohnmächtig an die Säulenplinthe gebannt wie ein Wurm und mit den Engeln gottselig geschwebt um die Gesimse. Im Steinrausch der Westseite war der Himmel geborsten, die Blöcke blühten, die Engel rauschten, die Heiligen atmeten, und Gottes Herrlichkeit war entfaltet ... Als ich im Kriege, in den kurzen Tagen unseres Siegeslaufes, die Kathedrale als Uniformierter wieder betrat – ich hatte Tränen in den Augen.

Vor dem Anfange der Zeiten mit der Kenntnis der Zeiten beschenkt und gefragt, wann ich geboren und was ich werden wollte, hätte ich sicherlich nicht unser unseliges Zeitalter des Geldes, der groben nationalistischen Macht und der schamlosen wirtschaftlichen Ausbeutung nach englischer Lehre gewählt, sondern das französisch-gotische der Gottesfreundschaft, als die Franzosen noch Franken waren wie ich einer bin, und wäre Bildhauer, Glasmaler, Baumeister am Dome von Reims geworden – oder auch Handlanger.

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