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Die Rothaut. Die Kritik

Aus dem »Neuen Krugenofen« klang meist Gelächter. Die Farbe auf dem Fußboden um die Theke wurde schnell abgescheuert, soviel standen die Männer da herum, ihnen gegenüber die Agnes mit den schönen Gliedern. Deeres erschien nicht mehr. Da sein Maulwerk daheim entbehrlich war, ging er über Land, mit Gebetbüchern und Hühnervieh handelnd. Nachts schmuggelte er Sprit über die Grenze. Er kannte einen stillen dunkeln Weg durch das Jammertal.

Die Agnes lachte nicht mehr. Sie stand jetzt stumm hinter der Theke, hinter Stühlen und Spülkübeln verbarrikadiert, und sah mit bangen Augen einen jeden an, wieviel sie wohl an Witzen und Anzüglichkeiten zu gewärtigen habe. Sie war wie ein getretener Hund. Aber je bänger sie tat, desto herausfordernder wurden die Männer. Und immer wieder kamen neue: Handwerker, die zum Gewerbe gingen, gehen wollten, traten für eine halbe Stunde oder für einen halben Tag ein. Holzfäller mit ihren Äxten auf ihrem Wege in die Eifelforsten, Wiesenbauern mit der Forke, die auf die Weiden gingen, den Kuhmist in die Halbmonde zu spreiten, Grenzaufseher, die vom Dienst kamen, und Fuhrleute, die auf der Napoleonsbahn unterwegs waren. Deeres, wenn er über Land ging, verfehlte nicht, mit einigen halben Andeutungen zum Besuch seiner Wirtschaft einzuladen. Ein Mädchen mit einer roten Haut wie ein Indianer ... haha!

Mit gesteigerter Angst sah Agnes jeden neuen Gast eintreten, geduldig der Späße harrend, die sie sich mußte gefallen lassen. Es war einer unter ihnen, ein Belgier, der drei Tage hintereinander kam. Er war Waldarbeiter, aber er ließ Arbeit Arbeit sein. Am ersten Tage war er aus Lüsternheit gekommen, aber die leidvolle Miene des Mädchens hatte es ihm angetan, sodaß er keinen Spaß hatte sagen können. Er liebte sie. Aber er war stolz und konnte nicht verstehen, wie sie die Schandbarkeit ertrug. Kopfschüttelnd ging er auch am zweiten Tag. Doch er zwang es sich ab, noch einen dritten Tag zu kommen. Seine Erwartung wurde nicht erfüllt. An dem langen Blick, mit dem er von ihr Abschied nahm, merkte endlich die Agnes. Sympathisch war er ihr schon gewesen als der einzige, der sie verschont. Sie errötete tief und brachte eine schreckliche Nacht zu in dem Gedanken, was der Fremde von ihr denken werde. Sie beschloß, ihm morgen zu zeigen, daß sie Ehre und weibliches Selbstgefühl im Leibe habe. Aber er kam nicht wieder.

»Ich bin ja gar nicht rot!« rief sie unter lautem Weinen.

»So«?! Haha, sie greint!«

»Ich habe weißes Fell wie alle!«

»Beweisen«, schrien sie. »Zeigen!«

Da stürzte sie heulend hinter der Theke hervor; großes Gelächter folgte ihr. Den Mangel an Aufsicht benutzten drei jüngere Steinbrecher, einige Schnapsflaschen zu stehlen.

Deeres, der kurze Zeit darauf zurückkam, warf sie ohne Umstände zur Tür hinaus und drohte mit dem Gericht, wenn sie ihm den Schaden nicht ersetzen werde. In stiller Wut stellte er seinen Handel ein. Der profane mit Federvieh war schlecht gewesen, aber der sakrale mit Gebetbüchern ließ sich gerade zum schönsten Geschäft an.

Als Deeres, der jetzt wieder hinter der Theke stand, nach einigen Tagen hörte, daß die Agnes auf Seffent Stellung genommen habe, schrieb er ihr einen höflichen Brief, stellte ihr ein gutes Zeugnis aus und erließ ihr den Ersatz des erlittenen Schadens.

Seffent, wo die Agnes Unterkunft gefunden hatte – wie kurz vorher die Katherina Emens, welche, nachdem der Kannegießer nach Afrika zurückgekehrt war, das Haus der van den Daele in dem Gefühle, nicht dahin zu gehören, verlassen hatte –, bildete sich mehr und mehr zum Kristallisationsmittelpunkt der höheren Elemente in der Landschaft aus. Die feineren und edleren Gemüter gruppierten sich allmählich um das einsame Haus an der Grenze. Die Gegensätze wurden schärfer und schärfer, und der Mann mit den Zielen eines Volkstribuns drohte langsam in die Rolle eines alten Feudalherrn zu geraten.

*

In einer klerikalen Zeitung der Stadt stand ein heftiger Artikel, in dem lärmende Klage geführt wurde über die zunehmende Versinnlichung der Kunst und das neue Unternehmen drüben auf dem alten historischen Boden des Kannenbäckerländchens ein gefährliches Institut genannt wurde. Die eine Zeitungsauslassung weckte ein vielstimmiges papierenes Echo. Man hatte hier und da dies und das von dem neuen Unternehmen gehört, Liebhaber und Museen hatten von den Erzeugnissen aufgekauft, und nachdem der letzte Topfbrand, der unter großer Teilnahme des Volkes vor sich gegangen, so wohl gelungen war, daß der ganze Kunstbrand schon im Ofen verkauft wurde, waren auf Seffent alle Hände in Bewegung. Die Lästerreden schadeten nicht. Dann aber kamen drei im ganzen ruhige Stimmen aus nichtklerikalen Blättern. Ein Blatt mit vorwiegend kaufmännischen Interessen spottete ein wenig freundlich-gutmütig über die gewaltsame Pflege eines Kunstzweiges in einer Zeit, die soviele ernste soziale und materielle Aufgaben habe. In einer künstlerischen Monatsschrift entrüstete sich ein Kunstbonze darüber, daß gewerbsmäßige Fälscher, Antiquitätenhändler und andre die neuen Erzeugnisse als historische Kunstobjekte verkauften und den Markt verdürben. Was um so leichter, als die Nachahmung wirklich eine vortreffliche sei. Die dritte war die besonnene sachliche Äußerung des größten Provinzblattes, daß, so sehr ein solch ideales Streben nach Wiedererweckung heimischer Kunstarten an sich gelobt werden müsse, in diesem Falle die Unternehmung völlig verfehlt sei und auf verkehrten Voraussetzungen stehe. Höchstens irgendeine hierarchische Kirche, aber kein noch so ideales Unternehmen könne es sich leisten, außerhalb der großen Landstraße der Zeit eigensinnige oder romantische Feldwege zu laufen. Die Töpferindustrie sei vor zwei Jahrhunderten dem Wettbewerb der Fayence und des Porzellans erlegen, und da man sich heute kaum noch irdener Erzeugnisse bediene, so hätte man zum mindesten beim Porzellan anfangen und etwa durch eine neue Zierweise dem Zeitgeist zu dienen versuchen sollen.

Menniken saß, die Blätter in der Hand, nach der Feierstunde am Samstagabend bis tief in die Nacht in der stillen Werkstatt. Die Zeitungsblätter zerknüllte er und warf sie zur Erde. Aber er sah das Jämmerliche seiner Rache, hob die Papiere stöhnend auf, glättete sie und sah sie an mit dem leidvollen Auge, das fragt: Wißt ihr auch, was ihr mir angetan habt?

Enttäuschung.

Wie ein großer Vogel mit weiten breiten Flügelschlägen war sein idealer Plan aufgestiegen. Aber plötzlich ergraute der Himmel, dunkelte, wurde Wolken und Nacht. Und ein Regensturz kam nieder, die Federn wurden naß und die Flügel schwer, das Gefieder troff, und der Vogel stürzte zur Erde.

Enttäuschung.

Und das Schlimmste daran war die gute Einsicht, daß etwas Wahres aus diesen öffentlichen Stimmen sprach.

Es wurde dunkel und spät. Die Nacht reichte mit langem stillen Arm durch die großen Nordfenster in die Werkstatt und malte alles, Wand und Boden, Drehstühle, Gestelle, Kisten und Kasten mit grauer Farbe an. Diese Nacht war sternenlos.

Die Agnes war gekommen, Herrn Menniken zum Abendessen zu bitten. Sie hing mit großer Liebe an dem Manne, der ihr so schnell eine geschützte Unterkunft gewährt. Aber jedesmal, wenn er sie ansah, wurde sie feuerrot.

»Ich mag nicht essen, Agnes.«

»Nein.«

Er lag nachlässig und leidvoll auf dem Sofa. Und er begann zu scherzen: »Morgen also um diese Zeit springen Sie auf dem Sonntagsball im ›Krugenofen‹.«

»Nein!« stieß sie hervor.

»Nicht?«

»Nein!«

»Kümmert sich denn niemand um Sie? Sie sind doch ein schmuckes Mädchen!«

»Doch.«

»Na also.«

»Alle.«

»Sehen Sie wohl!«

»Sie lachen über mich!«

»Warum denn, Agnes?«

Sie bedeckte das Gesicht und sprach nach einer Weile: »Das sag' ich nicht.« Aber ihr rot erglühender Kopf und Hals gaben die Antwort: Rothaut.

Sie brach in heftiges Weinen aus: »Ich kann nicht ertragen, wenn sie über mich lachen.«

Menniken, mit schmerzlich-lächelndem Gesicht, hätte ihr die Blätter hinüberreichen mögen und sagen: »Sieh her, über mich lachen sie noch mehr.«

»Ich muß sterben, wenn sie über mich lachen«, jammerte sie plötzlich herzzerreißend laut.

»Trösten Sie sich«, sagte er gedankenvoll und dachte mehr an sich als an das Mädchen.

Die Rothaut stürzte hinaus.

Die Nacht reichte wieder mit langem stillen Arm durch die großen Nordfenster in die Werkstatt und trug auf den grauen Anstrich einen dunkleren auf.

Die Tür ging leise und Johanna Menniken stand darin.

»Du kommst nicht zum Abendessen, Bernhard?«

»Komm zu mir, Johanna!«

Wie ein Schatten der Nacht kam sie zu ihm. Sie stützte das Knie auf das Sofa und zog ihn an sich. »Du bist traurig, Bernhard.«

»Ja«, sagte er.

»Ich weiß es«, sagte sie leise.

Es war eine Weile still. Sie atmeten im gleichen Atemzuge miteinander.

»Du, Bernhard!«

»Ja?«

»Sag' mal, Bernhard,« sprach sie leiser, »ist uns nicht eigentlich recht geschehen?«

Er zog den Arm von ihr zurück.

Sie drängte ihm nach.

»Bernhard, du hast Großes gewollt. Gewiß. Aber bist du nicht voreilig gewesen und hast die Mittel nicht recht überdacht? Und wenn das Volk, für das« – sie pausierte ein wenig – »du arbeitest, sich so kühl verhält, verrät es nicht einen klugen Sinn? Denn, die Hand aufs Herz, ist es Interesse für die Leute oder nicht vielmehr der Ruhm des alten Namens der Menniken, der dich nicht schlafen läßt?«

»Johanna!«

»Ich glaube, du bist nicht auf dem rechten Wege, Bernhard. Du liebst das Volk nicht, obgleich du vorgibst, dafür zu arbeiten. Du bist viel zu aristokratisch gesinnt, um dieses selbstsuveräne Völkchen zu lieben.«

»Du urteilst ja sehr sicher über das Volk, obgleich du fern von ihm aufgewachsen bist.«

» Weil ich es bin; und weil du in ihm geboren bist, kannst du es nicht kennen und überschauen wie ein Haus, dem du zu nahe unter die Fassade getreten bist.«

»So –?«

»Ich glaube, Bernhard, ich werde dich dein Volk verstehen lehren müssen.«

»Laß mich, bitte, allein.«

Da ging sie gehorsam hinaus.

Die Nacht langte wieder durchs Fenster und legte auf den dunkleren Anstrich einen schwarzen.

Als er in das Schlafzimmer trat, schlief sie schon. Er trat in den Erker und sah hinaus auf die nachtschlafende Landschaft. Auf dem hochgelegenen Bahnhofe war eben der letzte Arbeiterzug angekommen, der Samstags die jungen Männer und Mädchen, die in den Nachbarstädten arbeiteten, für einen Tag in die Heimat brachte. Die große Schar derer, die zuviel in diesem Land waren, trabte durch die Nacht zu den Häusern, in denen breit und gemächlich die wohnten, welche das Land ernährte. Er stand wieder vor der Frage: Arbeitete er wirklich, wie er es vorgegeben, für diesen Überschuß des Landes?

Als der Tag mit langem Arm ins Zimmer reichte und die Dinge, welche die Nacht schwarz angemalt, mit einem andern Anstrich versah, grau, heller, bis weiß, hob er seinen erschütterten und überwachten Körper aus dem zerwühlten Bett, trat in den Erker hinaus und öffnete das Fenster. Die frische Morgenluft fiel als eine dicke schwere Kühle herein auf den Boden des nachtwarmen Zimmers, und die Kälte und Köstlichkeit des Lufthauches belebte den müden Mann.

Er sah auf das Land, auf Wiesen, Steinbrüche, Kalköfen, Häuser und Höfe. Nachdenklich.

Es war ein grauer Tag. Die Sonne lugte einmal durch einen Schlitz in den Wolken in die Welt hinein wie Kinder durch einen Riß im Segeltuch in den Zirkus.

Er wandte sich vom Fenster ab und schaute nach Johanna hin. Das weiße Laken über ihr verwischte die Umrisse und prägte nur eine Ahnung ihres Körpers aus. Ihr Atem ging leicht wie die weiche Flanke einer Eidechse. Sein Blick bewegte sich über sie. Sie wachte auf, sah ihn groß wie einen Fremden an, schluckte einmal, rieb sich die Augen, war zunächst nur ein rein animalisches, ein schönes weibliches Tier; dann kam das Bewußtsein, breitete die menschliche Seele wie ein schönes Kleid sich über sie aus, und sie sagte lieb: »Guten Morgen.«

»Guten Morgen, Johanna.«

»Ei, du bist ja fröhlich. Hast du gut geschlafen?«

»Gar nicht.«

»Und doch –?«

»Ich habe die ganze Nacht nachgedacht über das, was du gestern sagtest, Johanna. Ich glaube, du hast recht, Johanna: ich habe nur an mich gedacht.«

»Ah ...!«

»Ich seh' es wohl ein, aber ... ich kann doch nicht anders fühlen«, klagte er. »Weißt du, ich ... ich mag das Volk nun einmal nicht!«

»O edler Volksbeglücker! Ich glaube, dergleichen hat mancher Volkstribun im stillen Kämmerlein seiner Frau ins Ohr gesagt. Aber«, fügte sie ernst hinzu, »du solltest dich mehr unter das Volk mischen.«

»Ich kann nicht!«

»Aristokrat, schrecklicher!« sagte sie lachend, »du bist einer! Wenn ich vor den Leuten sagte, du seist ein Aristokrat, so würde es heißen: das ist eine schlechte Frau, die schimpft ihren Mann.«

»Du bist doch ein kluges Weib«, sagte er langsam und nachdenklich.

»Aber wirklich, Bernhard, geh' etwas mehr unter die Leute und freu' dich mit an ihren einfachen Vergnügungen. Ich fühle mich ganz wohl unter ihnen. Hör' herum, was sich zuträgt, auch wenn es nichts mit dir und deinen Absichten zu tun hat, oder laß es dir von Lenates erzählen. Du, Bernhard, zum nächsten Schützenfest, da gehen wir beide hin, ja?«

»Ja«, sagte er lächelnd.

Da lachte sie ihn an und war ein fröhliches Weib.

»Der Kannegießer,« sagte er, »jener tapfere Mann, von dem ich dir erzählt, ich glaube, das wäre einer gewesen, mit dem ich mich außer mit Lenates noch wohlbefunden hätte. Obschon er ein ungebildeter Mann war. Er war so ganz ein Mensch, einer von denen, die von vornherein das sind, was andre durch die Bildung erst werden wollen. Schade, daß er zurückging in die Kolonien.«

»Ja,« sagte sie, »das ist jammerschade; aber das Leben ist eben keine Puppenbühne, auf der man die Figuren nach Absicht und Behagen schieben und fahren kann.«

»Wie ist es mit der Katherina? Bedauert sie ihre Unerbittlichkeit nicht? Mag sie ihn nicht zurückrufen?«

»Nichts, man merkt nichts an ihr; sie tut ihre Pflicht so treu wie ein Hund, lacht nicht, weint nicht, und da sie selbst nicht davon spricht, mag ich sie nicht fragen.«

»Wunderliche Menschen,« sagte er, »man findet sie lächerlich und hat doch ein Staunen vor ihnen, das mit Schrecken gemischt ist.«

»Laß sie, sie wird wohl ihr Teil am Glücke haben in dem Bewußtsein, daß sie sich durchgesetzt hat, mehr vielleicht, als sie als Weib und Mutter gehabt haben würde. Manchmal meine ich, es ist nichts gerechter als die wilde Natur und das unbarmherzige Leben.«

»Wunderliche Menschen«, sagte er.

Sie traten zusammen in den Erker und sahen die morgenhelle Landschaft hinab. Über den Steingruben, an den Hängen und in den Wiesenbenden wogten langsam die weißen Nachtnebel, als dehnten und streckten sie sich vor dem Aufstehen auf ihren weiten Betten. Dann erhoben sie sich und zogen fort.

Plötzlich riß eine Wolke auf, und die Sonne trat herein.


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