Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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XXIII.

Das Abschiedsgesuch war genehmigt worden. Ein Amtsverweser saß bereits an Gerlands Stelle; er selbst wohnte bei Doktor Haußner in Eichwald. –

Jetzt, wo der Pfarrer gegangen, machte sich eine starke Bewegung für ihn in der Gemeinde geltend.

Der Vikar besaß keine volkstümliche Begabung; er war den Breitendorfern zu gelehrt. Man verglich seine trockenen Predigten mit denen des früheren Pfarrers; und der Vergleich fiel zu Gunsten Gerlands aus. – Schwester Elisabeth, die Gemeindediakonisse, war, von ihrer Oberin zurückberufen, ebenfalls gegangen. Ihre helfende Hand und Gerlands Rat und Zuspruch fehlten an allen Ecken und Enden in der verwaisten Parochie.

Nun begannen sie Reue zu fühlen, erkannten auf einmal, was sie gehabt.

Eine Deputation erschien eines Tages vor Gerland, um ihn zu bitten, das Amt doch wieder aufzunehmen. Alles sollte ausgeglichen werden, was es etwa an Differenzen zwischen ihm und der Gemeinde gegeben. Man verwünschte Wenzel, seine Frau und ihre gesamte Clique, erklärte sich bereit, nachzuweisen, daß sie falsche Beschuldigungen gegen den Herrn Pfarrer erhoben hatten.

Gerland wies das alles weit von sich.

Er konnte den guten Leuten ja doch nicht auseinandersetzen, daß es nicht eine Intrigue sei, der er zum Opfer gefallen; daß vielmehr sein Weichen von dem bisherigen Posten nichts anderes bedeute, als den natürlichen, notwendigen Abschluß seiner inneren Entwickelung. Wie tief der Riß sei, der ihn von seiner bisherigen Welt und mit ihr von seiner Gemeinde trennte, wußte nur er allein.

Er gab den Braven, deren Anhänglichkeit ihn doch rührte, den Rat, ruhig zu bleiben und sich in das Neue zu schicken.

Er selbst lebte in Übergangsgefühlen.

Der entscheidende Schritt war gethan – er stand jenseits der Schranken im anderen Lande. – Aber, obgleich er sich wohl sagte, daß er durch sentimentales Rückschauen nicht Zeit und Kraft verderben dürfe, so konnte er es doch nicht ändern, daß Heimweh noch manchmal über ihn kam, und die Erinnerung zurückschweifte.

Wenn Sonntags die Kirchenglocken von Breitendorf heraufklangen, da packte ihn eine Unruhe, deren er nicht Herr werden konnte.

Martha, die neuerdings mit Gertrud zu jedem Gottesdienste ging, hatte ihn schon mehr als einmal mit vorwurfsvollen Blicken an seine Sonntagspflichten gemahnt – umsonst! – Dort, wo er so lange mit liebeheißem Herzen des Seelsorgeramtes gewaltet, mochte er nicht den Fremden kalte Formeln aufsagen hören.

Wenn die beiden Frauen sich zum Kirchgange rüsteten, schlich er sich fort – ging hinauf in den Wald – mit zitternder Seele.

Und solche Stunden tief-innerster Zurückgezogenheit waren auch ein Gottesdienst. –

* * *

Mit Haußner stand er sich jetzt vortrefflich. – Die Augen des Arztes hatten aufgeleuchtet, als ihm Gerland Mitteilung davon machte, daß er sein Abschiedsgesuch eingereicht habe. – Wie eine persönliche Genugthuung empfand es der Dissident, daß sein zukünftiger Schwiegersohn sich von dem Priesteramte frei gemacht.

Ein ganz neues Verhältnis bildete sich zwischen den beiden aus.

Gerland erkannte mit freudigem Staunen, was für eine Fülle von zurückgedrängtem Gemüt sich hinter der rauhen Außenseite des eigenartigen Mannes verbarg. Vielleicht, daß die Wendung, welche in der letzten Zeit die Dinge genommen hatten, seine Bitterkeit milderte, Balsam in alte Wunden träufelte.

Die beiden Männer standen jetzt wie Freunde zu einander.

Sie hatten gemeinsam Obstbäume ausgeputzt.

»Hier werde ich noch eine Reihe Äpfel anpflanzen im nächsten Frühjahr!« sagte Haußner. »Für eine Mandel ist gerade noch Platz.« Er sägte einen dürren Ast ab, hielt plötzlich inne, räusperte sich und meinte: »Ihr werdet einmal in Obst ersticken – hier – so in zwanzig, dreißig Jahren, du und Gertrud.« –

Es war selten, daß er so bestimmte Andeutungen über die Zukunft machte. Aber Gerland kannte ihn jetzt zur Genüge, um aus dieser Andeutung zu schließen, daß er sich einen ganz bestimmten Plan zurechtgelegt habe, wie es mit dem Grundstück späterhin werden solle. So vertraut sie auch sonst zu einander standen, über diesen Punkt hatten sie sich noch niemals offen ausgesprochen.

Bald darauf saßen die beiden, von der Arbeit ausruhend, in der Laube.

Gerland mußte – wie sie sich so gegenübersaßen – unwillkürlich an eine Szene denken, die sich vor Zeiten hier abgespielt hatte: jene Unterredung mit dem Arzte.

Es erschien doch fast wie ein Traum. – Zu denken, daß er damals von dem glühenden Verlangen beseelt gewesen, Haußner zu bekehren – den Abgefallenen der Kirche zurückzugewinnen. Dieser Kirche, der er jetzt selbst den Rücken gewandt hatte! – Und wenn er dann bedachte, wie tief ihn damals Haußners Verhalten gekränkt hatte. – Unwillkürlich mußte er lächeln.

Vielleicht verfolgte der Arzt ähnliche Gedankengänge – er saß gesenkten Hauptes, an seinem Barte nagend.

Der Mann trug irgend etwas auf dem Herzen – Gerland hatte es ihm schon den ganzen Morgen über anzumerken geglaubt. – Es war Haußners Art, Pläne und Gedanken lange mit sich herumzutragen, um dann in abrupter Weise plötzlich damit hervorzubrechen.

So platzte er denn auch heute los: »Höre mal, Wilhelm! – Du müßtest eigentlich Medizin studieren.« –

Gerland sah ihn verdutzt an.

»Ich – Medizin!« –

»Ja! – Ich habe mir das überlegt. – Du würdest, glaube ich, gut dazu passen. Zu alt bist du keinesfalls; achtundzwanzig – was ist denn das! – Da habe ich viel ältere Studenten gekannt. Deinen Anlagen nach eignest du dich ausgezeichnet zum Mediziner. Und dazu käme, daß ich dich in diesem Fache mit Rat und That unterstützen könnte. Du würdest gewissermaßen in meine Fußstapfen treten. – Von der Theologie zur Medizin; ich dächte, das wäre gar keine üble Reihenfolge – jedenfalls ein Aufsteigen von der niederen zur höheren Form.« Haußner schmunzelte bei diesen Worten. »Überlege dir die Sache mal!« –

»Schwiegervater! – Da ist nichts für mich zu überlegen. – Auf diesen Plan kann ich nicht eingehen.«

»Aber – irgend etwas mußt du doch anfangen!«

»Natürlich muß ich etwas anfangen. – Niemand kann das Bedürfnis nach Thätigkeit stärker fühlen, als ich.«

»Nun und was willst du denn treiben, wenn man fragen darf? – Denn ich hoffe doch stark, daß du mit der Theologie endgiltig gebrochen hast.« –

»Mit der Theologie – ja! – Aber nicht mit dem Priesteramt – Schwiegervater!« –

»Was soll das heißen?«

»Mit der Theologie im kirchlich-konfessionellen Sinne – wenn du so willst – habe ich allerdings nichts mehr zu thun – aber den Beruf zum Priester fühle ich nach wie vor in mir. Ja, ich bin mir durch den Bruch mit der Kirche erst eigentlich bewußt geworden, daß ich in keinem anderen Berufe je würde glücklich werden können.«

»Was ist das für Unsinn!« rief Haußner, und Gerland bemerkte, wie seine Stirn sich in unheilverkündender Weise dunkel färbte.

»Sieh mal, Schwiegervater!« sagte er und rückte dem Manne näher. »Kein Mensch kann aus seiner Haut heraus. Ich kann mich doch nicht auf einmal, dir zu liebe, zu etwas anderem machen, als was ich bin. – Mir ist nun mal die Religion das Wichtigste auf der Welt. Und ich fühle die Gaben in mir – und darum die Pflicht, von dieser Gabe Gebrauch zu machen – andere zu Gott zu führen. – Wenn ich diesen Grundzug meiner Natur verleugnen wollte, müßte ich heucheln. Ich kann mir nicht denken, daß du das willst!« –

»Nun, zum Teufel!« brauste Haußner auf, »dann sind wir ja nicht einen Schritt weiter gekommen – trotz deines Abschieds! – Du hast die verdammte Muckerei also doch nicht satt gekriegt!«

»Die Muckerei – um dein Wort zu gebrauchen – habe ich allerdings abgelegt – endgiltig abgelegt! – Ich fühle es, daß ich im Anfange einer neuen Entwickelung stehe. – Bisher war ich kirchlich; jetzt hoffe ich fromm zu werden.« –

»Redensarten!«

»Das sind keine Redensarten! – Ich fühle, daß ich gewachsen bin, daß ich freier und besser bin vor Gott und mir selbst, seit ich die kirchliche Fessel abgestreift.«

»Einfach Rückfall!«

»Nein, Befreiung!«

»Du willst den Priester eben doch nicht an den Nagel hängen!«

»Nein – ich will den Priesterberuf in einem neuen Sinne bethätigen.« –

»Ich bitte nun endlich um eine bündige Erklärung, was du eigentlich vorhast. – In dürren Worten: womit willst du dir in Zukunft dein Brot verdienen?« –

»Ich will das Lehramt ergreifen.«

»Einen abgehalfterten Geistlichen werden sie gerade als Lehrer anstellen! – Das halte ich für Illusion, mein Lieber!«

»Nun, ich denke, irgendwo im deutschen Vaterlande wird wohl noch eine Stelle sein, wo man mir Wirksamkeit gestattet.«

»Die Orthodoxen haben überall das Heft in Händen, mein Bester! – Man wird dich einfach nicht heranlassen.«

»Ich weiß das! – Ich weiß aber auch, daß Tausende und Abertausende im deutschen Reiche unter dem Joche der konfessionellen Orthodoxie seufzen – daß sie heißes Verlangen tragen, sich davon zu befreien, wenn es ihnen die Verhältnisse – die öffentliche Meinung – die Einrichtungen nur gestatteten. Ich denke, es ist unsere Pflicht, dafür Sorge zu tragen, daß wenigstens die kommenden Generationen aus dieser Zwangslage befreit werden. Damit die Lüge, die Heuchelei, der Widerspruch zwischen Glaube und Bekenntnis nicht ins Unendliche fortwächst. – Mir kommt es vor, als sei die Zeit reif für den Wandel. Ich fühle mich berufen, an diesem Werke mitzuarbeiten. Es ist das größte, das es für ein Volk und für den Einzelnen geben kann: die Menschen zu Christen erziehen. Denn bis jetzt waren wir nur Namenchristen. Wo anders können wir damit anfangen, als bei der Jugend? – Und siehst du, das ist, was ich Bethätigung meines göttlichen Priesterberufes nenne: ich will Religion leben, nicht mehr sie studieren, nicht mehr mit diesem heiligsten Gefühle experimentieren. – Und ich will auch andern das mitteilen, was ich erfahren habe. Ich will versuchen, den Kindern das zu ersparen, was ich selbst erlebt habe: all die Stadien des Buchstabenglaubens, des gedankenlosen Götzendienstes, des Verzweifelns an allem Göttlichen, des Indifferentismus, des religiösen Bankrotts. – Nicht jeder wird so glücklich geführt, wie ich! Viele bleiben auf irgend einer Stufe der Entwickelung stehen. – Ich möchte meine Erfahrungen der Allgemeinheit nutzbar machen. – Und dazu sehe ich keinen besseren Weg, als den, mich an die Jugend zu wenden.« –

Es entstand eine längere Pause.

Der Arzt saß düster brütend da. Das Vernommene zerstörte ihm einen lang gehegten Lieblingsplan von Grund aus.

»Und da hast du wohl gar schon Schritte gethan?« – fragte er plötzlich.

»Das habe ich allerdings – Schwiegervater!«

»Nun – und hast du irgendwelche Aussichten?«

»Aussichten habe ich; wenn auch die Sache noch nicht zum Abschluß gediehen ist.«

Wieder entstand eine Pause.

»Und – wo denn?« fragte Haußner gepreßt.

Gerland antwortete zögernd: »In Süddeutschland – wahrscheinlich!«

»So weit weg von mir!« sagte Gertruds Vater mit umflorter Stimme. –

Haußner saß lange Zeit gesenkten Hauptes.

Gerland hatte das tiefste Mitleid mit ihm in diesem Augenblicke.

* * *

Zur selben Zeit saßen Martha und Gertrud in einer der großen Parterrestuben bei einander – nähend. Schichten von Leinewand und bunten Stoffen lagen ringsum aufgestapelt. Martha schnitt Hemden aus. Gertrud säumte Wischtücher.

Schon seit Wochen arbeiteten sie fleißig an der Ausstattung: der Hochzeitstermin nahte heran.

Martha, eine Brille auf dem spitzen Näschen, hielt plötzlich in der Arbeit inne. Über die Gläser hinwegschielend, betrachtete sie das junge Mädchen. Gertruds Nadel ging fleißig; wo mochten die Gedanken wohl sein? – Ein Lächeln flog über ihre sonnigen Züge.

Martha räusperte sich zur Einleitung. Ihr war während der letzten halben Stunde allerhand durch den Kopf gegangen. – Lange hielt es die Mitteilsame selten in Gesellschaft ihrer eignen Gedanken aus.

»Ja, ja!« meinte sie, »sechs Dutzend Wischtücher ist wirklich ganz genug – Trudel – für den Anfang.«

Das junge Mädchen sah nur flüchtig von der Näherei auf, lächelte die Tante an und arbeitete weiter.

»Weißt du, Trudel!« begann Martha nach einiger Zeit, »eigentlich ist das eine sonderbare Sache mit euch! – Du weißt noch nicht einmal, wo du hinkommst. – So gar nichts Sicheres darüber zu wissen, wo man sich niederlassen wird, das ist doch, wenn man's überlegt, sehr eigentümlich.« –

»Das ist Wilhelms Sache – Tante!« –

»Freilich ist es Wilhelms Sache! – Natürlich ist es Wilhelms Sache!« rief die Alte voll Eifer. »Das ist 's ja eben! – Wäre er im Amte geblieben – hätte er nicht seinen Abschied genommen, ohne Sinn und Verstand – denn man weiß eigentlich gar nicht warum – er hatte ja so schöne Aussichten – das hat mir neulich erst meine Freundin geschrieben. – Und man wundert sich auch allgemein – jawohl! – Großes Aufsehen hat die Sache gemacht – berechtigtes Aufsehen!« –

Das alte Mädchen mußte wegen Mangels an Atem aussetzen; wenn sie auf dieses Thema kam, zeigte sie sich immer sehr erregt.

Gertrud war errötet. Ihre Nadel setzte aus. »Tante! – Wilhelm hat uns doch auseinandergesetzt, daß er nicht anders konnte.«

»Ja, ich weiß schon! – Er spricht dann immer von moralischem Zwange – von der Lüge, die er nicht länger ertragen konnte und durfte. – Aber, ich frage: warum denn!? – Warum kann er sich denn nicht fügen? Warum mußte er sich denn mit dem Herrn Superintendenten und seinem Patron, dem Grafen, entzweien? – Das war gar nicht nötig. – Und nun sitzt er da, ohne Stellung! – Aber ich will dir sagen, mein Kind, woher das kommt: Von den freien Anschauungen kommt das – wenn man nicht an der orthodoxen Lehre festhält. – Das ist sehr schlimm! – Ich muß dir das einmal sagen, mein Kind. Und wenn Wilhelm nicht beizeiten umkehrt auf diesem Wege, wird es noch ganz arg mit ihm werden. – Ein Geistlicher, der seiner Kirche den Rücken kehrt – man weiß gar nicht, was man dazu sagen soll!« –

Gertrud hatte geschwiegen; es arbeitete in ihren Zügen. Dann, ohne die Tante anzusehen, antwortete sie etwas stockend: »Tante Martha, ich finde es gar nicht schön, daß du so über Wilhelm sprichst.«

»Aber Kind, ich spreche doch nicht schlecht von Wilhelm – ich doch gewiß nicht!« –

»Du sagst immer, er sei nicht fromm.«

»Nun ja – das heißt – ich meine, er ist nicht orthodox. – Verstehe mich nur recht, Trudel!«

»Wilhelm sagt: darauf käme es gar nicht an. Was man glaubt, wäre nicht so wichtig, sagt er, als wie man glaubt.«

»Das sagt er! – Nun, siehst du, das ist eben unchristlich gedacht – wenigstens nicht orthodox. Eben sehr kommt es darauf an, daß man das Richtige glaubt. – Da hast du gleich einen Beweis seiner freien Richtung. Und darin solltest du ihn nicht bestärken, Trudel! – Du solltest ihn vielmehr anhalten zum wahren Glauben, wie du ihn dir selbst angeeignet hast. Und ich hoffe auch darin wirklich sehr auf dich, daß du ihn mit der Zeit zurückführen wirst – zur Kirche!«

»Nein, Tante!« sagte Gertrud. – In ihren kindlichen Zügen drückte sich plötzlich großer Ernst aus, »Das werde ich nicht thun! – Ich werde immer ehrlich sein.«

Das alte Mädchen sah die Nichte erstaunt an. –

Das Kind war ihrer Leitung entwachsen.



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