Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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IX.

Zu Doktor Haußners Besitzung in Eichwald, auf der in früheren Zeiten Dominialrechte geruht hatten, gehörte auch eine Loge in der Breitendorfer Kirche.

Solange Pfarrer Gerland in Breitendorf amtierte, war diese Loge stets leer geblieben. Heute zum ersten Male, als er die Sakristei betrat, fielen ihm, gegen das lichte Fenster gegenüber zwei dunkle Silhouetten sofort ins Auge: Gertrud Haußner und das alte Fräulein von neulich.

Während der ganzen Predigt wurde der Geistliche das Bewußtsein nicht los, beobachtet zu sein. Der Schallverteilung wegen hatte er sich daran gewöhnt, nach jener Loge hin zu sprechen; heute vermied er das – richtete seine Worte nach der Orgel zu. Als er nach dem Amen doch nicht unterlassen konnte, einen Blick hinüber zu werfen, sah er, wie Martha Herberge das Taschentuch zu den Augen führte. –

Die Kirche verlassend, bemerkte er das alte Fräulein, abgesondert von der übrigen Gemeinde, neben dem Kiesweg stehen, der nach dem Pfarrhause führte – offenbar wartete sie dort auf ihn.

Sowie sie Gerlands ansichtig wurde, kam sie auf ihn zu und hielt ihm beide Hände entgegen. »Wunderschön – wunder-wunderschön!«

Gerland hörte zerstreut lächelnd ihren enthusiastischen Reden zu; ihn beschäftigten ganz andere Gedanken. Wo war Gertrud? – Warum war sie nicht auch geblieben? – Unwillkürlich spähte er nach der Schar der Kirchgänger hinüber, ob er sie dort irgendwo erblicken möchte.

Das alte Fräulein schien seine Gedankengänge zu erraten. »Das liebe Kind ist nach Eichwald hinaufgegangen. Der Vater durfte sowieso nichts davon ahnen, daß sie in der Kirche war. Sie wissen ja, wie er nun einmal gesinnt ist. Ich bleibe noch zum zweiten Gottesdienst; es war zu schön – zu wunder-wunderschön! Wie herrlich, daß Gertrud das mit anhören konnte.« –

Man schritt langsam dem Pfarrgarten zu. Die kleine Person, in ihrer fransenverzierten Atlasmantille, trippelte neben dem Geistlichen her. Als sie zur Gartenthür gekommen waren, forderte er sie auf, einzutreten und im Pfarrhause den zweiten Gottesdienst abzuwarten.

Voll Begeisterung nahm sie den Vorschlag au. »Daß ich das noch einmal erleben würde – den Sohn meiner lieben Agnes auf der Kanzel, als Diener am Worte –!« Wieder ein warmer Händedruck und ein inniger Blick.

Gerland führte sie die Treppe hinauf in sein Wohnzimmer. – Da er inzwischen Leute bemerkt hatte, die unten auf ihn warteten, drückte er dem alten Mädchen ein Buch in die Hand und begab sich hinunter ins Expeditionszimmer, um die mannigfachen, geschäftlichen Angelegenheiten zu erledigen, die sich Sonntags zwischen den Gottesdiensten wie gewöhnlich zusammendrängten. –

»Ich bin so glücklich, Herr Pfarrer, daß ich einmal unter vier Augen mit Ihnen sprechen kann,« meinte Martha Herberge, als Gerland, endlich von Amtsgeschäften befreit, wieder vor sie trat. »Ich hätte so mancherlei auf dem Herzen.«

Das zarte Stimmchen paßte zu ihrer Vogelerscheinung. Martha mochte in den Fünfzigen sein; doch machte sie durchaus nicht den Eindruck einer verblühten, alten Jungfer. Die kleine Figur erschien wohlproportioniert und zierlich, das feine Gesichtchen war noch immer recht niedlich.

Eine Stelle in der heutigen Predigt sei ihr unklar geblieben, behauptete sie; sie bat den Geistlichen um Aufschluß darüber. Sie sprach lebhaft und mit viel Zungenfertigkeit. Die Technik religiöser Gespräche war ihr durchaus geläufig.

Gerland fühlte sich unwillkürlich an jene Zeiten erinnert, wo er als junger Prediger in der Provinzialhauptstadt unter den älteren, heilsbedürftigen Mädchen mehr denn eine Seelenfreundin gehabt hatte. Er mußte lächeln; daß ihn das nun auch hier hinaus aufs Land verfolgte! –

Er wartete immer noch, daß Martha Herberge mit etwas Besonderem herausrücken werde. Er hatte sich nicht getäuscht; allmählich drängte die Unterhaltung nach einem bestimmten Punkte hin. Die Augen senkend, zupfte sie an den Fransen ihrer Mantille: »Ich glaube mich nicht zu täuschen, Herr Pfarrer – aber, ich meine – wir verfolgen dasselbe Ziel.« –

Gerland blickte sie befremdet an. »Wie meinen Sie? –«

Sie wurde verlegen. »Ich meinte natürlich nur – daß Sie – weil Sie doch im vorigen Jahre Doktor Haußner aufgesucht haben – und Gertrud hat mir ja auch von Ihnen erzählt. –« Das alte Mädchen verhaspelte sich immer mehr. »Ich meine natürlich nur, daß Sie die beiden bekehren wollen, Herr Pfarrer.«

Eine kurze Pause entstand. Gerland antwortete nicht.

Errötend und mit gesenkten Blicken fuhr Martha fort: »Ich würde es gar nicht gewagt haben, Herr Pfarrer, das vor Ihnen zu erwähnen; aber – mir liegt das ja selbst so sehr am Herzen. Ich kann gar nicht sagen, wie bange mir ist um diese beiden Seelen – besonders um Gertrud. – Nicht getauft – denken Sie nur, nicht getauft! – Mit siebzehn Jahren noch nicht aufgenommen in den Bund der Christenheit. Sehen Sie, Herr Pfarrer, das jammert mich – das beängstigt mich so – ich kann des Nachts darüber oft nicht schlafen. Die beiden so in Sicherheit dahinleben zu sehen – es ist doch ein furchtbarer Gedanke!«

Jetzt war der Knoten gerissen; sie sprach frei von der Leber weg, und Gerland hatte die Empfindung, daß sie es ehrlich meine.

»Was kann denn das arme Kind für den Unglauben des Vaters!« rief sie. »Wenn Bertha am Leben geblieben wäre, dann würde es freilich anders sein – sie war ein religiöser Charakter – dann wäre das Kind nicht ungetauft geblieben, das weiß ich! Ich kenne Haußner schon manches liebe Jahr; Sie werden sich vielleicht wundern über das, was ich jetzt sagen will – ich weiß eben nicht – aber ich halte Haußner nicht für schlecht – für unbedingt schlecht kann ich ihn nicht halten – trotz seines Unglaubens.«

Gerlands Lächeln verstärkte sich; er erklärte dem alten Mädchen, daß er Doktor Haußner nach allem, was er von ihm gesehen und gehört, sogar für einen guten Menschen halte.

»Das sagen Sie, Herr Pfarrer!« rief Martha und riß erstaunte Augen auf.

»Warum soll ich das nicht sagen?«

»Nun, ich dachte. – Ist Ihnen denn Haußners Geschichte nicht bekannt?«

»Genauer als Sie denken mögen.«

»Wissen Sie auch die Sache mit dem Superintendenten Großer?« –

»Jawohl!«

»Und dann später mit Pastor Menke, Ihrem Amtsvorgänger?«

»Alles weiß ich – und trotzdem – ja vielleicht gerade deshalb, sage ich: Doktor Haußner ist ein tüchtiger, ehrlicher und im Grunde guter Mann.«

»O, das beruhigt mich – das beruhigt mich unendlich! Sehen Sie, Herr Pfarrer, es wird mir vielfach verdacht, daß ich im Verkehr mit Haußner geblieben bin – nach all diesen Ereignissen. Ja, ich kann Ihnen versichern, mir sind die schwersten Vorwürfe daraus gemacht worden, gerade auch von geistlicher Seite. Aber sehen Sie, ich sage mir: man hat doch als Christ die Pflicht, sich um das Seelenheil solcher Verirrter zu kümmern. Und ich habe mich auch darin nicht irre machen lassen; selbst durch die Worte meines Beichtvaters nicht, der mich ernstlich vor dem Verkehr mit den Abtrünnigen gewarnt hat, wegen der Seelengefahr. – Es ist mir eine große Beruhigung, Herr Pfarrer, daß auch Sie so denken. Sehen Sie, ich kann mir eben nicht helfen; ich fühle mich mitverantwortlich für dieses Kind. Sie werden ja wissen, unter welch traurigen Umständen die arme Bertha gestorben ist und nun will er die Tochter in seinem Unglauben aufziehen, er, der der Mutter das Herz gebrochen hat. Aber das läßt Gott der Herr gar nicht zu. – Haußners Pläne mit dem Kinde werden zu schanden werden – ich weiß es! Gott hat wunderbare Wege. Sehen Sie, er hat ihr ja allerhand freie Ideen beigebracht, schon in frühester Jugend – allerhand wissenschaftliche und gottlose Lehren. Ich bin selbst dabei gewesen und habe mit Grauen gehört, wie er dem Kinde die Entstehung der Welt erklärte, und daß alles auf natürliche Weise zugegangen sei. Unser Heiland soll ein Mensch gewesen sein. – Und aus der Naturwissenschaft erzählt er dem Kinde – über Pflanzen, Tiere und Steine – und wie der Mensch innerlich aussehe – alles das mußte das Mädchen erfahren; nur das eine, was not thut, davon hielt er sie geflissentlich fern. – Und was hat es ihm schließlich genützt? Er ist mit Gertrud ins Ausland gegangen, weil er nicht wollte, daß sie hier Religionsunterricht genießen solle; das Mädchen hat niemals wirkliche Unterweisung in den heiligen Dingen gehabt. Und sehen Sie, Herr Pfarrer, trotzdem ist sie ein gutes Kind geworden, und ich kann es nicht anders sagen, sie ist voll frommer Wißbegier. – Und dann ist sie ja auch Berthas Tochter. Ich denke immer, die Verstorbene hat dem Kinde ihre Frömmigkeit als köstliches Erbteil vermacht. Gewiß betet die Selige da oben für das Heil ihres Kindes. Und auch ich lasse es ja nicht am Gebete fehlen und thue, was an mir ist, um sie im geheimen vorzubereiten. Und es ruht ein sichtlicher Segen auf meiner Arbeit an dieser Seele. Nun werden Sie begreifen, Herr Pfarrer, wie überglücklich ich war, als ich wahrnahm, daß ich einen Bundesgenossen gewonnen hatte – daß Sie dasselbe anstreben, was ich seit Jahren betreibe – die Gewinnung dieser Seele für das Reich Gottes.« –

»Erlauben Sie, Fräulein Herberge!« fiel hier Gerland ein. »Sie haben da doch zuviel gesehen. Selbst wenn ich gewollt hätte, was Sie mir unterschieben, ich würde gar keine Gelegenheit dazu gefunden haben. Aufdrängen will und darf man sich nicht. Mir ist es bisher versagt geblieben, irgend welchen Einfluß auf das junge Mädchen auszuüben.«

Das alte Fräulein sah ihn auf diese Worte hin, den Kopf nach ihrer Vogelweise ein wenig zur Seite legend, mit unendlich schlauem Blick an.

»Wirklich, gar keinen Einfluß – Herr Pfarrer?« fragte sie.

»Nein! – Mir hat bisher alle Gelegenheit gefehlt.«

»Und das Neue Testament von Ihrer seligen Mutter, das ich bei Gertrud gesehen habe?« – fragte Martha – Triumph malte sich in ihren Mienen.

Gerland errötete über und über. Vergessen hatte er jene regnerische Abendstunde nicht, in der er das junge Mädchen von der Bibelstunde nach Haus begleitet hatte. – Daß er das Buch in ihren Händen zurückgelassen, war ihm stets als eine der glücklichsten Eingebungen erschienen.

»Nun ja – allerdings –« stotterte er, »ich gebe zu, das mag wie eine Art Beeinflussung – wie ein Annäherungsversuch von meiner Seite erscheinen – aber – erlauben Sie, daß ich Ihnen das erkläre, Fräulein Herberge!« –

»Aber, ich bitte Sie, Herr Pfarrer!« rief Martha, die in ihrer Erregung vom Sitze aufgesprungen war. »Ich sagte Ihnen doch schon, wie froh, wie innig beglückt ich bin, einen Bundesgenossen gefunden zu haben. Wir wollen ja nichts Böses – das Reich Gottes zu mehren, darin kann doch nie und nimmer ein Unrecht gefunden werden. Im Gegenteil! Wir wären strafwürdig, wir beide, wollten wir ruhig mit ansehen, wie dieses Kind ohne Gottes Wort aufwächst. Ein so liebes, gutes Geschöpf – so herzensgut – mein Trudel – und die sollte in der Nacht des Unglaubens verkommen! Wir werden dieses Kind der christlichen Gemeinschaft zuführen. Dazu sind Sie ganz der Mann, Herr Pfarrer; das habe ich neulich schon gemerkt und heute wieder. Gehüpft und gejauchzt hat mein Herz, und die Schauer des Göttlichen haben es erfaßt, bei Ihrer Predigt. Und auch bei Gertrud sind Ihre Worte nicht auf unfruchtbaren Boden gefallen – glauben Sie mir das! Sie hat mir schon von Ihnen erzählt; gleich wie ich diesmal nach Eichwald kam, begann sie von Ihnen, Herr Pfarrer – nun, ich will Sie nicht eingebildet machen. – Wahrhaftig, Gottes Segen liegt ersichtlich auf unserem Thun – das Herz des Kindes ist wohlvorbereitet für die Glaubenssaat.« –

Sie hatte, vor ihm stehend, seine Rechte ergriffen, die sie mit ihrem kleinen Händchen festhielt, daß er das Blut in ihren Adern klopfen fühlte. – Was doch für eine Leidenschaft in diesem Persönchen steckte! Martha sah ihm mit Blicken in die Augen, die ihn gewiß verwirrt haben würden, wäre sie um dreißig Jahre jünger gewesen.

»Um eins nur möchte ich Sie dringend gebeten haben, Herr Pfarrer – Vorsicht! – Haußner darf von unserem Plane keine Ahnung haben.«

Sie sprach bereits von einem Plane; Gerland war völlig verdutzt.

»Jawohl, wir müssen die Sache ganz im geheimen betreiben; denken Sie doch nur, um was es sich handelt. Gertrud – mein liebes, süßes Trudelchen! O, ich kann Ihnen ja gar nicht sagen, lieber Herr Pfarrer, wie glücklich es mich macht, zu sehen, daß wir uns so ganz verstehen.«

Und wieder drückte sie ihm stürmisch die Hände.

Gerland fühlte sich in einer sonderbaren Lage dieser kleinen, exaltierten Person gegenüber; sie hatte ihn eingenetzt, er wußte nicht wie. Er schwankte zwischen dem Gefühle des Unbehagens über die eigne Nachgiebigkeit und der Belustigung, welche ihr Wesen ihm unwillkürlich bereitete.

Um ihren Eifer, der gefährlich werden konnte, ein wenig abzudämpfen, erklärte er, daß hier noch mancherlei zu überlegen sei.

Sie wußte auch diese Antwort sofort zu ihrem Vorteil zu wenden: »Natürlich!« rief sie. »Sehr behutsam müssen wir sein! Wie steht denn in der Schrift: ›Siehe, ich sende euch wie die Schafe mitten unter die Wölfe; darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.‹ – Also, nicht wahr, lieber Herr Pfarrer – wir sind Bundesgenossen?«

Gerland mußte sie jetzt bitten, mit ihm zur Kirche zu gehen, denn die Zeit zum zweiten Gottesdienste war herangekommen.

* * *

Inbrünstige Gebete schickte Martha zum Himmel empor, daß der liebe Gott doch den Arzt ja nicht merken lassen solle, was vorgehe. Vor Haußner hegte die alte Jungfer entsetzliche Angst. Sie hatte manches mit ihm erlebt, sie wußte, daß er von Natur zum Jähzorn geneigt war und nahm an, daß er nicht viel Federlesens machen würde, wenn er hinter ihre Absichten kommen sollte. – Sie wollte ihn vor eine fertige Thatsache stellen, an der er nichts mehr würde ändern können.

Gerlands glaubte sie sicher zu sein; ihren runden Vogeläugelchen, die sie so schamhaft zu senken verstand, war das Interesse des Geistlichen für die Nichte nicht entgangen. Aber sehr bald merkte sie auch, wie unerfahren, unbeholfen und schüchtern in solchen Dingen der junge Mann noch sei; man mußte ihm vorwärtshelfen, ihn unterstützen – vor allem ihm Gelegenheit schaffen.

»Ach, wie schön ist es doch jetzt abends auf dem Querwege über Eichwald!« – ließ sie gelegentlich Gerland gegenüber fallen. »Bei Sonnenuntergang – der Blick auf Breitendorf hinab – entzückend! – Ich bin jeden Abend dort mit Gertrud.« –

Bis jetzt hatte Gerland allen offenen und versteckten Versuchen der alten Jungfer, mit ihr und Gertrud einen gemeinsamen Spaziergang zu unternehmen, widerstanden. Er wußte, wohinaus die Bemühungen Marthas wollten.

Im geheimen hatte auch er sich manch liebes Mal mit Gedanken an Gertrud beschäftigt – schon im vorigen Jahre. Das Mädchen hatte beim ersten Anblicke Eindruck auf ihn gemacht. Er ahnte allerhand süße Geheimnisse hinter ihrem kindlich unentwickelten Wesen. Kleine Züge, die er an ihr beobachtet – am Krankenlager – im Verhalten ihrem Vater gegenüber – in der Bibelstunde – hatte er zusammengetragen und sich ein liebliches Bild von ihr gemacht, das er wie ein besonderes Kabinettstück im Herzen trug, zu dem er gern sich flüchtete.

Er glaubte, dieses Mädchen, nach den wenigen Malen, wo er sie gesehen, durch und durch zu kennen; sie war gut, rein und keusch – darauf hätte er schwören mögen. Soweit hatte er sich ihre Erscheinung und ihren Charakter schon zurechtgestutzt, daß sie in allem seinen Wünschen entsprach. Sie war ein gesundes Geschöpf, frisch wie eine Feldblume, gut erzogen, gebildet, dabei einfach, selbständig und in häuslichen Dingen wohlbewandert.

War sie nicht wie geschaffen zur Lebensgefährtin eines Mannes? –

Konnte es denn wirklich ein Unrecht sein, auf ein solches Ziel hinzuarbeiten?

Der Plan, der dem Geistlichen anfangs unheimlich gewesen war, schmeichelte sich mit der Zeit mehr und mehr bei ihm ein. –

Und so fand er sich denn eines Spätnachmittages auf dem Wege nach jenem Platze, von wo aus man nach Marthas Aussage den Sonnenuntergang so schön sehen konnte. Er schritt auf Fußpfaden und Feldrainen quer über Wiesen und an Feldstücken hin – weit und breit kannte er jetzt die Wege in der Umgegend.

Die Leute hielten in der Arbeit inne, wenn der Geistliche an ihnen vorüberkam, sie grüßten und machten ihre Bemerkungen über Wetter und Stand der Feldfrüchte. »Guntagoh« und »Gunabendoh, Herr Paster!« klang's von allen Seiten. Gerland war ein populärer Mann geworden im Breitendorfer Thale. –

»Ich will nicht von hier fort,« sagte der junge Geistliche zu sich, im Anblicke dieses redlichen, ihm wohlgesinnten Völkchens. Hier hatte er Liebe gefunden, hier hatte er Grund gefaßt, und immer weiter und tiefer wollte er seine Wurzeln treiben in diesen Boden.

Oben am Rande des Holzes machte er Halt. Hier führte der Querweg, von dem Martha gesprochen, auf dem Kamme hin, durch den gräflichen Forst.

Die Sonne stand noch hoch; er war zu zeitig eingetroffen. Langsam schritt er auf dem Wege hin, nach einigen tausend Schritten umkehrend. Keine Menschenseele zeigte sich um diese Tageszeit hier. Nachdem er dieselbe Strecke noch einigemale hin und zurückgeschritten war, änderte er seinen Plan. In der Nähe war eine Lichtung am Berghange, von dort aus mußte man einen Ausblick auf das Grundstück des Arztes haben.

Richtig, dort unten lag das Haus; er meinte es greifen zu können. Das große Gebäude erschien, von hier gesehen, wie ein Spielzeug. Aus einer der beiden Essen stieg langsam weißlicher Rauch empor. Die hintere Hausthür stand offen; der Fußpfad, welcher sich durch die Gartenanlagen zur Höhe schlängelte, war gut zu übersehen, auch ein Stück der Landstraße vor Doktor Haußners Besitzung.

Er setzte sich auf einen vom Sonnenscheine geheizten Granitblock. Vor ihm dehnte sich die Kultur aus; zwischen den Pflänzchen wuchs Gras und mannigfaches Unkraut, die kleinen Bäume häufig vollkommen überwuchernd.

Gerlands botanisches Interesse wurde wach. Aus Erfahrung wußte er, daß auf solchen Standorten die seltensten und üppigsten Exemplare gediehen.

Wenn der hundertjährige Forst dahingesunken ist vor der Axt des Holzfällers, dann tritt mit einem Male ein völliger Wechsel ein; der Waldboden lernt den Himmel aus eigner Anschauung kennen. Keime, die nur darauf gewartet, daß die Riesen fallen sollten, werden munter, und schießen in Übermut empor. Die Zwergexistenzen sind jetzt Herren des Platzes und blähen sich in frecher, koketter Pracht, bis ihre Zeit kommt und sie verdrängt werden von einem langsam wachsenden Geschlecht, das zielbewußt und ernst dem Himmel zustrebt, schlicht, in einfachem Kleide, ohne seine Kraft in farbenprächtigem Blütenschmucke zu vergeuden. –

Gerland pflückte ein paar Blumen, beinahe unabsichtlich wand er sie zusammen.

Darüber hatte er gänzlich versäumt, das Haus da unten weiter im Auge zu behalten. Erst die purpurne Glut des Sonnenunterganges erinnerte ihn daran, weshalb er eigentlich hier sei. Er verließ die Lichtung. Im hohen Holze herrschte schon gedämpftes Zwielicht. Von Breitendorf herauf hörte er in langgezogenen Schlägen das Abendläuten.

Mißmutig schritt er noch einmal den Querweg hinab. Sein Gang war umsonst gewesen. Marthas Bemerkung konnte ja auch ganz absichtslos gefallen sein, und er hatte ihr nur einen besonderen Sinn untergelegt.

Plötzlich hörte er Stimmen tiefer unten im Walde; er lauschte klopfenden Herzens. Lange, ehe er sie sah, konnte er die beiden Frauen sprechen hören. Langsam schienen sie den Berg herauf zu kommen, seinem Auge versteckt durch einen dichten Fichtenbestand. Ein Mädchenlachen hüpfte ausgelassen zu ihm empor – heiße und kalte Ströme jagten ihm vom Herzen zum Kopfe.

Fünfzig Schritt vor ihm in der Wegebiegung tauchten jetzt die Silhouetten der beiden Frauen auf. Gertrud in hellem Sommerkleide und breitkrämpigem Strohhut; daneben huschte Martha in grauer Gewandung – wie ein Fledermäuschen der Dämmerstunde.

Langsam ging er zurück und ließ sich absichtlich einholen.

»Herr Pfarrer!« rief Martha hinter ihm.

Gerland wandte sich.

»Nein, welch reizende Überraschung! – Trudel – der Herr Pfarrer!«

Es war gut für Gerland, daß schon Dämmerlicht herrschte. Er errötete, als er den beiden gegenüber trat. Ihm war unheimlich zu Mute bei der Komödie. Martha blinzelte ihn mit listigen Äuglein an; Gertrud allein war unbefangen.

Er bot dem Mädchen mit linkischer Verbeugung seinen Strauß an. Gertrud dankte und meinte, sie würde die Blumen zu Haus in Wasser stellen, damit sie die Köpfe wieder aufrichten sollten.

Es stellte sich heraus, daß sie die Namen all der Blumen wußte, und daß auch sie daheim ein kleines Herbarium besitze.

»Das mußt du dem Herrn Pfarrer einmal zeigen, Trudel!« rief die alte Jungfer.

Die Unterhaltung ging mit Marthas Hilfe, die, sobald eine Stockung drohte, mit Fragen rechtzeitig zur Hand war, leidlich flott.

Plötzlich blieb sie stehen. »Ach du lieber Gott!«

»Was ist denn, Tante?«

»Ich habe mein Taschentuch verloren!«

Gerland bot sich an, es zu suchen.

»Nein, nein! – Bleiben Sie nur! Ich kann mir schon denken, wo es liegt! – Bleiben Sie nur bei Gertrud, Herr Pfarrer!«

»Wir helfen dir suchen, Tante!«

»Nein, nein! Ich gehe selbst – mir ist das lieber. Geht nur inzwischen weiter; ich, komme euch nach.«

Damit war sie auch schon im abendlichen Dunkel verschwunden.

Dem Geistlichen war nicht recht geheuer zu Mute. Verstohlen blickte er Gertrud von der Seite an; sie wenigstens schien vollkommen arglos. »Wir wollen langsam gehen,« sagte sie, »damit uns die Tante einholen kann.«

Und so schritten sie weiter, zwischen den dichten Mauern eines zwanzigjährigen Fichtenbestandes hin. Nur ein schmaler Streifen des Abendhimmels blickte von oben hinein. Die Welt schien weitab zu liegen. –

Wie oft in den letzten Tagen hatte Gerland eine Gelegenheit herbeigesehnt, mit dem Mädchen allein zu sein. – In Gedanken war es so einfach gewesen. Und jetzt schien alles so ganz anders, als er sich's gedacht.

Als er in ihr liebliches Gesicht blickte, das unbefangen lächelte, da ihre Augen einander begegneten, fühlte er sich vollständig unfähig zu irgend welchen Phrasen.

An so viel Naivetät scheiterte jede unlautere Absicht. Er kam sich wie ein Dieb vor. Beschämung war es, die ihn plötzlich von jedem weiteren Versuche, die Gelegenheit auszunutzen, abstehen ließ. Er blieb stehen und schlug dem Mädchen vor, umzukehren und die Tante aufzusuchen.

Sie gingen bis an die Stelle zurück, wo man sich getrennt hatte. Keine Spur von Martha.

Gertrud lief voraus und rief mit heller Stimme den Namen der Tante in den Wald hinein. Von einer fernen Baumwand kam es zurück: »Martha – Tante Martha!« – Sie hatte ein kindliches Vergnügen an dem Echo und wiederholte den Ruf immer und immer wieder. Gerland sagte kein Wort.

»Wo kann die Tante nur hin sein?« Von neuem eilte sie vorwärts, Gerland folgte, die elastischen Bewegungen der schmiegsamen Mädchengestalt – wie sie vor ihm her durch die Halbdämmerung huschte – mit Wonne in sich aufnehmend.

Endlich erblickte man Martha. Sie habe ihr Taschentuch wiedergefunden, berichtete sie, und zeigte es vor, zum Beweise.

In dem Blicke, mit dem die alte Jungfer die beiden musterte, lag eine neugierige Frage. Ein Zug von Enttäuschung malte sich in ihrer Miene, als sie weder an dem Geistlichen, noch an ihrer Nichte etwas Außergewöhnliches entdecken konnte.

Und nun mußte Gertrud in ihrer Harmlosigkeit auch noch fragen: »Warum bist du uns denn nicht nachgekommen, Tante?« Martha entschuldigte sich damit, daß sie müde geworden sei. »Und darüber haben wir den Sonnenuntergang ganz verpaßt,« meinte Gertrud in bedauerndem Tone.

»Nun, die Sonne geht jeden Abend unter, Trudel; das können wir noch oft haben. Ach, und jetzt ist auch immer solch schöner Mondschein, nach neun Uhr, da sitzen wir oben am Kuhsteine – nicht wahr, Trudel? – Sind Sie dort schon mal bei Mondschein gewesen, Herr Pfarrer? – Sie kennen doch die Bank am Kuhsteine? Der Blick hinunter aufs Thal – die Beleuchtung – Wenn der Mond so herüberkommt über die Berge. – Ach, da wird einem immer so schwärmerisch zu Mute – so – ich weiß nicht wie! – Da schwärmen wir – was Trudel, mein Herzchen? – Sie sind gewiß auch schwärmerisch – ein ganz klein bißchen schwärmerisch – nicht wahr, Herr Pfarrer?« –

* * *

Ein paar Tage schwankte er; dann eines Abends, als die Dämmerung hereinbrach und es ihm gar zu einsam wurde in den vier Pfählen seines öden Junggesellenheims, lief er hinaus, durch das abendliche Dorf, dem Walde zu.

Als er durch den Tannenforst schritt, oberhalb Eichwalds, fielen verräterische Lichtstreife über seinen Weg. – So war er also schon aufgegangen, der freundliche Mond! – Um so mehr beeilte sich Gerland.

Als er dem Gipfel der Anhöhe näher kam, zügelte er seine Hast, vorsichtig auftretend gleich einem, der auf unerlaubten Wegen geht. – Das Herz klopfte ihm wie einem Schulknaben bei verbotenen Streichen. Durch die letzten Bäume schimmerte schon der graue Felsblock; von der Kuhgestalt hatte diese weit und breit bekannte Landmark den Namen bekommen.

Keine Täuschung! Martha und Gertrud waren zur Stelle; dort saßen sie auf der Holzbank.

Noch einen Augenblick zauderte Gerland; dann faßte er sich ein Herz, trat vor auf den mondbeschienenen Platz.

Martha sprang wie elektrisiert auf. »Da ist der Herr Pfarrer! – Siehst du, Trudel, ich wußte 's doch, daß er kommen würde.« – Sie preßte Gerlands Hand mit einem starken Drucke. –

Der Geistliche setzte sich zu den beiden.

Es war eine wunderbar klare Mondnacht. Das gemütlich schelmische Vollgesicht stand erst wenige Spannen über der gegenüberliegenden Bergkette. Als ginge Wärme von diesem milden Gestirne aus, so weich und lau strömte die Nachtluft. Kein Wölkchen am Himmel, hin und wieder ein Geflüster in den schlafenden Kronen des nahen Forstes – gleich Traumreden. Massig lag der Fels da, wie ein Haus, breiten Schatten hinauswerfend. In weißem Dunst versteckte sich das Thal. Selbst die silbereingefaßten Berge schienen sich auflösen zu wollen in Duft.

Wie ein Heimchenpaar saßen die beiden Mädchen dicht aneinandergedrückt. – Der Schatten des Felsens lag über den dreien. Gerland sah ihre Gesichter nicht; aber er fühlte die weibliche Nähe, in beseligter Erregung.

»Denken Sie nur, Herr Pfarrer!« rief das ältere Mädchen, »wir sprachen eben von Ihnen; ich erzählte Gertrud von Ihrem Elternhause, wo ich so manche schöne Stunde zugebracht vor Jahren. – Von Ihrer seligen Mutter – und von Ihrer guten Tante Ulrike. – Können Sie sich noch auf Tante Ulrike besinnen?« –

Ob er sich noch auf Tante Ulrike besann! Ihr altes, rötlich, faltiges Gesicht in der Herrnhuter Haube, das den Knaben stets an gebratene Äpfel denken machte, war eine seiner ersten Kindererinnerungen. Unzertrennlich war die Tante mit gnadenthaler Schmätzchen und Brüderherzen verbunden. Tante Ulrike führte diese Süßigkeiten im Strickbeutel mit sich. Die backen die lieben Englein im Himmel für artige Kinder, pflegte sie zu sagen.

»Wir saßen in der Kirche nebeneinander,« berichtete Martha weiter, »Ihre gute Tante und ich. Durch Ulrike habe ich auch Ihre selige Mutter kennen gelernt und dadurch ja auch gewissermaßen Sie, Herr Pfarrer. – Was wußte Ihre selige Tante nicht für allerliebste Geschichten von Ihnen zu erzählen. Was für ein frommes, sinniges Kind Willy sei. Sie hatte eine Photographie von Ihnen – ich besinne mich noch ganz genau auf die bloßen Ärmchen und die kurzen Höschen.« –

Hier unterbrach sie ein Kichern der Nichte.

»Sehen Sie bloß! Das Mädchen findet das lächerlich. So oft ich davon erzähle, will sie sich ausschütten vor Lachen. – Trudel, der Herr Pfarrer war doch auch einmal ein kleiner Junge! – Natürlich, wenn man ihn jetzt so vor sich sieht – so groß – und würdig – kann man sich das schwer vorstellen. – Wer hätte damals ahnen können, als mir die gute Ulrike von ihrem kleinen Neffen Willy vorschwärmte, daß ich dem Knaben noch einmal als geistlichem Herrn begegnen würde – und – unter welchen Umständen – unter welchen ganz besonderen Umständen! – Meinen Sie nicht auch, daß das höhere Fügung ist? – Ich wenigstens erkenne darin den Finger Gottes, ganz deutlich.« –

Sie bat den Geistlichen, er möge ihnen doch selbst etwas aus seiner Jugend erzählen.

Gerland begann mit einer Beschreibung des väterlichen Hauses, der Eltern, des Kreises von Menschen, der ihn während der ersten Jahre umgeben. Allmählich erwärmte er sich über dem Erzählen. Von allen Seiten schossen ihm Erinnerungen zu; Dinge, Menschen, Ereignisse, an die er jahrelang mit Bewußtsein nicht mehr gedacht, standen plötzlich in Lebendigkeit vor seiner Seele.

Die Spiele der Kinderzeit wurden beschrieben – die ersten Freundschaften – der Tod eines Schwesterchens, das an den Zahnkrämpfen starb – der tiefe Eindruck, den dieses Ereignis auf das kindliche Gemüt hervorgebracht – dann die auf sehr realer Basis gegründete Freundschaft mit dem Zuckerbäckerslehrling von der Ecke – der Kanarienvogel – Emmy, das Stubenmädchen, die er heiraten wollte; deren Weggang, als sie Knall und Fall wegen Diebstahls entlassen wurde, den Knaben zum ersten Male die Tragik des Lebens ahnen ließ. – Dann die Kinder des Oberkirchenrats. Dieser Hermann, den er im Grunde nicht ausstehen konnte, weil er ihm stets als Beispiel von Folgsamkeit und Fleiß vorgehalten wurde. – Wo war der Musterknabe wohl jetzt? Längst verschollen! – Und Ännchen, in die er verliebt war? Seit Jahren verheiratet, Mutter vieler Kinder.

Und nun die Schulzeit, die Prügeleien, die Ränke, die Streiche. Der Kampf um die Censuren, das Rennen um den ersten Platz in der Klasse – eine Vorschule für die Rücksichtslosigkeit des Lebens. – Lehrerphysiognomieen. – Die großen und kleinen Sünden, die man täglich begangen, aus Dummheit, aus Schwachheit – weil man's nicht besser wußte. Wie anders stellte sich das dem rückschauenden Blicke dar. Welch ein superkluger, frühreifer, kleiner Gernegroß war man gewesen! – Wie hatte man sich die Jugendzeit selbst verdorben und verderben lassen, durch Neid, Lieblosigkeit – Egoismus in jeder Form. –

Gerland näherte sich in dem Berichte einem Abschnitte seines Lebens, über den offen zu sprechen, er sich gescheut haben würde, selbst wenn er andere Zuhörer als die beiden Mädchen vor sich gehabt hätte. Das ahnungsvolle Aufkeimen der Männlichkeit, die qualvollen Stimmungen – Kämpfe mit der erwachenden Sinnlichkeit – schwüle Ahnungen – erhitzte Phantasieen – asketische Anwandlungen – Verzweiflung über die Schwachheit des Fleisches – ein immerwährendes Auf und Ab von heroischen Entschlüssen und jämmerlichen Rückfällen. –

Und mitten in diesem Chaos als wichtigstes Erlebnis, die Liebe zur Cousine. Die mystische Richtung, in die das Verhältnis zu dem Mädchen ihn geführt. Das Ideal, auf das sie ihn gewiesen – Das Christentum, welches als asketischer Zuchtmeister während der nächsten Jahre seine Geißel über dem Jünglinge schwang.

Von alledem konnte und wollte Gerland den beiden Frauen nichts verraten. Er überging die Kämpfe dieser Zeit, gab nur einen Bericht von den äußeren Ereignissen.

Vor allem ließ er es sich angelegen sein, ein Bild von dem elterlichen Hause zu entwerfen.

Dem Vater, mit dem er eigentlich nie besonders gestanden, versuchte er Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er rühmte die Festigkeit seines Charakters, die er oftmals als Härte und Schroffheit empfunden hatte.

Das Verhältnis zwischen Vater und Mutter war ihm immer interessant gewesen; schon als Knabe hatte er Betrachtungen darüber angestellt. Mit dem scharfen Blicke des heranwachsenden Kindes hatte er frühzeitig bemerkt, daß die Eltern nicht in allem einig waren. Der Vater hatte durch tyrannische Pedanterie seine Frau häufig gequält – sie recht eigentlich daran gehindert, ihr sonniges Naturell in ganzer Liebenswürdigkeit zu entfalten.

Der Knabe stand in seinem Herzen immer auf Seiten der Mutter. Sie liebte er mit der ganzen Zärtlichkeit, deren ein erwachendes Jünglingsgemüt fähig ist.

Gerland verwandte alle Strahlen von Schönheit, deren er habhaft werden konnte, die Gestalt der Mutter damit zu umgeben – das verblichene Haupt der innig Verehrten zu schmücken.

Martha weinte.

Ihm war mehr daran gelegen, zu erkennen, welchen Eindruck seine Worte auf Gertrud hervorbrächten. Das Mädchen saß auf der äußersten Kante der Bank, ihm zugewandt, mit geöffneten Lippen lauschend. Ihr offenbares Interesse spornte ihn an. Unbewußt wurde er zum Dichter.

Der Mond, der jetzt hoch über ihnen schwamm, war ihm ein stummer Helfer. Seine mildträumerische Gegenwart löste die Seele; der Erzähler ging aus sich heraus, wie er's im nüchternen Tageslichte nimmermehr vermocht hätte. –

Gerland war eben dabei, auseinanderzusetzen, wie er unter dem Mißverhältnisse der elterlichen Charaktere schon als Kind halb bewußt gelitten habe, als Martha plötzlich, mit einem Ausrufe des Erschreckens, seinen Arm gewaltsam drückte.

Was gab es!

Schritte nahten. »Das ist er!« sagte Martha mit bebender Stimme.

Eine massive Gestalt tauchte vor ihnen auf. Im vollen Mondlicht stand Doktor Haußner da. Beide Teile starrten einander für Sekunden sprachlos an.

»Dachte mir's doch!« vernahm er die tiefe Stimme des Arztes, der mit langsamen Schritten näher kam.

Martha hielt in wahnsinniger Angst Gerlands Arm mit beiden Händen umklammert. »Da ist ja Papa!« sagte Gertrud gänzlich arglos.

Der Geistliche machte seinen Arm frei, schritt dem Manne entgegen. – Eine hastig gestotterte Entschuldigung sollte die Zweideutigkeit der Situation abschwächen.

Haußner antwortete ihm nicht. – »Kommt nach Haus, ihr beiden!«

»Aber, Papachen, es ist doch so schön hier! – Setz dich doch zu uns. Wir sind alle Abende hier.«

»Heute zum letzten Male. – Kommt, ihr beiden – aber sofort!« Die Stimme des Mannes schwoll zu einem Grollen an, das jeden Widerspruch abschnitt.

Gerland wußte nichts Besseres in seiner Verwirrung, als »gute Nacht« zu wünschen. Martha, am ganzen Leibe zitternd, reichte ihm doch noch die Hand. Gertrud wollte ein gleiches thun.

Ein drohender Ruf des Vaters hielt das Mädchen zurück. –

Die drei verschwanden.

Wie betäubt blieb der Zurückgelassene auf dem mondbeschienenen Platze stehen.



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