Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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III.

Durch Bitten und Drängen hatte es Gerland bei den Angehörigen der alten Märzliebs-Hanne durchgesetzt, daß die Greisin aus dem Verschlage hinabgeschafft wurde in das Kämmerchen neben der Wohnstube. Dort lag sie an derselben Wand, im selben Bette, wo ihre Enkelin Christel vordem gestorben war.

Der Geistliche besuchte die alte Frau täglich.

Die Kranke war sehr redselig. Sich mitzuteilen, schien ihr große Erleichterung zu gewähren.

Sie erzählte mit Vorliebe aus ihrer Jugendzeit. Über Leute und Geschehnisse von vor siebenzig Jahren sprach sie wie über Gegenwärtige. Die letzten Jahrzehnte mit ihren Erlebnissen schienen ihr weit entfernter zu liegen – die berührte sie nur selten. Schon daraus glaubte Gerland schließen zu dürfen, daß sie einer baldigen Auflösung entgegengehe.

Oft wußte sie von Verstorbenen zu erzählen, mit denen sie in der Nacht Verkehr gehabt hatte. So war ihre Nichte, Christel, einmal bei ihr gewesen, angethan wie ein Engel, und hatte ihr vom Himmel erzählt.

»Se kenn mersch gleba, Herr Paster, dohie ein Stiebel is se gewasen – 's Christel. Ne su schiena, wie die aber ging – urdentlich mit a Fliegeln, wie de saal'gen Engel – und ganz weeß – ganz weeß war se gekledt. Hernoa that se darzahlen, 's Madel, vun Herrn Christus – und vun heil'gen Geiste, und vun a heil'gen zwölf Aposteln. Alle kannte die – man sullt's nich gleba – su a kleenes Dingla. Mir is ganz andersch zu Mute gewurn, wi 'ch 's Madel su darzahlen hierte – gerade wie ei dar Kircha. – Und sicke schiena Wurta findt Se da – 's Christel – sicke schiene Wurta, nee nee! – Ich hoa iber se gesagt: Christel, bleib ack hier, oder nimm 'ch glei mitta. Aber als 'ch, und 'ch that nach er greifa, da war se furt – nischt ne gesahn und gehiert ho 'ch vun er mih.«

In der Nacht darauf war die Alte selbst im Himmel gewesen, nicht im Traum, sondern, wie sie wiederholt versicherte, in Wirklichkeit. Sie gab Beschreibungen von der Erscheinung Gottes, des Heilandes, der Engel und der Seligen, die nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig ließen.

Gerland wollte ihr anfangs Einhalt thun; es erschien ihm wie Blasphemie, wenn sie Gottvater selbst in ihrem Dialekte redend einführte, aber die Alte ließ sich nicht beirren. – Sie sei im Himmel gewesen, versicherte sie, und habe das alles mit eignen Augen gesehen und mit eignen Ohren gehört.

Schließlich ließ der Geistliche sie gewähren; ja er lauschte ihren Berichten mit wachsendem Wohlgefallen.

So war es doch eigentlich das Ideale: ein schlichtes Gemüt, dem nichts unglaublich war, das ohne Kritik die biblische Legende wörtlich nahm. Ein einfach kindlicher Verstand, dem sein Gott nicht ein fernes, hinter Wolken der Metaphysik thronendes, kunstvoll konstruiertes Wesen bedeutete – der im lieben Gott einen Mann in weißem Barte, einen Bekannten und Vater sah. War ein solcher Seelenzustand nicht der wahre Boden für den Glauben? Wenn man dahin hätte zurückkehren können, zu diesem Gotte unserer Vorfahren, den die Theologie dem Auge in fast unabsehbare Fernen gerückt hatte! – Und am Lager dieser alten Christin fühlte der gelahrte, mit Erfolg durch harte Examina geschrittene, Pfarrer und Doctor licentiatus, wehmutsvolles Heimweh nach seinem Kinderglauben, den er im Religionsunterricht der Schule und den Vorlesungen der Universität eingebüßt. –

Auch der Teufel spielte in den Erzählungen der Alten eine große Rolle.

»Neilch war der Biese bei mer, nächtens – ich hoe zun gesagt: ›Hebe dich weg vun mir, Satan!‹ Sahn Se, das kunnt er ne vertragen – da sak er glei, daß 'ch a Christenmensch wor, und ar machte daß ar furt kam, der Versucher. Se gleben mersch wuhl ne, Herr Paster? Nee, Se kenn mersch gleba – ich tu se nischt vurliega. Ich kenn' dan Biesen gar wuhl – der is manchmal bei mer gewast, och schun frieher – ich kenn 'n. Und mit dar Tonchen is es grade a su, zu der kimmt ar och, der Versucher. Neilch darzahlt 'ch 's dar, daß 'ch den Biesen gesahn hätte – du, Tonchen, sagt 'ch, heute Nacht is ener bei mer gewast – sagt 'ch – mit an feierruten Gesichte und an zweezipplichten Barte. – Und da ward de Tonchen duch fragn: Hatte dar och Beene wie a Ziegenbuck? – Ju ju! sagt 'ch. A feierrutes Gesicht, an zweezipplichten Bart und Beene wie a Ziegenbuck. Dos is dar Versucher, sagt de Tonchen; bei mir is dar och schun ofte gewast. Dernoa wüßt 'ch's, daß ar dar och derschienen war, dar Versucher.« –

Als trete ihm ein Stück unverfälschten Mittelalters entgegen, so ward es Gerland zu Mute, als er die Alte sprechen hörte. – Er störte sie nicht in ihrem Bericht. Stumm saß er an ihrem Lager und ließ sich von ihr vorerzählen.

Ihr Leben war voll von Wundern gewesen. Einmal war ihr die Scheuerbürste abhanden gekommen, niemand wußte, wo sie hin sei – sie nahm an, daß der Teufel seine Hand im Spiele gehabt habe – dann war die vermißte Bürste auf einmal des Abends zum Fenster hereingeflogen. Ein andermal waren im Garn auf dem Webstuhle eine Menge Knoten – wie von böswilligen Händen verfitzt – da hatte sie zum lieben Gott gebetet, und am nächsten Morgen war alles wieder in schönster Ordnung gewesen. Nachbarsleute aber wollten in derselben Nacht Licht in der Stube gesehen haben – und doch hatte keine Lampe gebrannt.

So häufte sich Wunderbericht auf Wunderbericht. Gerland zweifelte nicht daran, daß sie von der Wahrhaftigkeit ihrer Erzählungen völlig durchdrungen sei.

Was bedeutete dieser Alten, daß sie auf halb verfaultem Stroh, in einer dunklen Kammer, geplagt von Schmerzen, dem Tode entgegensiechte! Sie hatte ihren Glauben; sie war der beruhigenden Zuversicht voll, daß im Jenseits Freuden ihrer warteten, die sie für alles, was sie hienieden entbehrt und gelitten, reichlich entschädigen würden. Ihr machte die »bange Grabesnacht« keine Gedanken. –

Wer dereinst so sterben könnte, getrost und seiner Sache sicher, dachte der junge Geistliche bei sich.

Doktor Herzner war inzwischen auf Gerlands Aufforderung hin von Färbersbach herüber gekommen und hatte die alte Frau aufgesucht. Er bestätigte die Vermutung des Geistlichen, daß die Kranke einem schnellen Ende entgegengehe.

Herzner speiste im Pfarrhause. Gerland hatte eine gewisse Vorliebe für den jungen Arzt. Anfangs hatte ihn zwar das derbe Wesen und der Cynismus des Mediziners abgestoßen, aber der natürliche Witz und die unverkennbare Tüchtigkeit des Mannes gewannen allmählich seine Sympathie.

Der Geistliche erkundigte sich bei dem Arzte, ob der alten Märzliebs-Hanne durch irgend etwas – vielleicht durch starken Wein – Linderung zu schaffen sei. Herzner verzog den Mund zu einem kaustischen Lächeln. – Um den Wein sei es schade, meinte er; in spätestens einer Woche sei es ja doch alle mit der Alten – Gerland möge ihn lieber selbst trinken.

»Sie sind überhaupt viel zu menschenfreundlich,« meinte Herzner. »Lassen mich da extra von Färbersbach herüberkommen. Ich muß Ihnen natürlich den Wagen und meine Zeit anrechnen – eine Masse Unkosten – und alles das für nichts und wieder nichts. Lassen Sie doch die alten Leute in Ruhe, wenn sie sterben wollen. – Was haben Sie eigentlich von Ihrer Philanthropie?« –

»Darauf könnte ich Ihnen mit schönen Tiraden antworten, aber ich weiß, daß Sie darüber lachen würden. Ich will Ihnen nur einen meiner Gründe nennen, und der ist selbstischer und sehr menschlicher Natur: das Wohlthun macht mir Vergnügen – beglückt mich.«

»Nun meinetwegen! – Es giebt schließlich noch verrücktere Sports in der Welt, als den.« –

Über Tisch blickte Herzner sein Gegenüber plötzlich mit klugen Augen forschend von der Seite an: »Was ist denn eigentlich aus der hübschen Witwe geworden, die Sie damals hier hatten, als ich Sie behandelte?«

Der Geistliche ahnte, daß die Frage nicht harmlos sei und war auf seiner Hut. Mit dem Anschein ziemlicher Gleichgültigkeit gelang es ihm, zu antworten: »Sie meinen die Pastorin Menke. – Die hat mich verlassen; ihr Gnadenhalbjahr war abgelaufen.«

»Hm – wissen Sie, daß die betreffende Dame heiraten will, und das sehr bald?«

»Wen denn?«

»Einen gewissen Wenzel. Der soll ja hier bei Ihnen Kantor gewesen sein.«

»Natürlich – ja –«

Der Arzt lächelte, als habe er seine Hintergedanken.

»Das junge Paar wird nach Färbersbach ziehen; sie haben dort bereits gemietet.« –

Die Nachricht hatte einen peinlichen Beigeschmack für den Geistlichen. – Die beiden einzigen Feinde, deren er sich bewußt war, hatten sich gefunden, und in solcher Nähe von ihm würden sie sich niederlassen. – –

* * *

Am Abend desselben Tages erhielt Gerland einen Brief. Die Handschrift war ihm halb und halb bekannt; doch wußte er im Augenblick nicht, auf wen er raten solle. Er entzifferte den Poststempel: »Annenbad«. Also konnte nur Polani oder Fröschel der Schreiber sein.

Als er das Kuvert aufgerissen, fielen ein Paar eng beschriebene Briefbogen heraus. Die Unterschrift lautete: Moritz Fröschel.

Neugierig, was der Diakonus ihm zu sagen habe, begann Gerland zu lesen:

»Mein lieber Freund!

Ich habe mir ausgerechnet, daß Du meinen Brief morgen abend haben wirst. Wenn Du diese Zeilen in der Hand hältst, bin ich nicht mehr am Leben. – Ich weiß, Du entsetzt Dich. – Laß es gut sein – der Entschluß ist gefaßt, nicht übereilt, sondern nach reiflicher Überlegung. – Als ich Dich neulich besuchte, war ich bereits im reinen damit. So gern hätte ich Dir einen Wink gegeben – aber, die Besorgnis, Du möchtest mir hindernd in den Arm fallen, hieß mich schweigen. – Man wird nach den Motiven meiner That forschen; ich sehe sie schon wittern und schnüffeln, die Herren Vorgesetzten und Amtsbrüder – wie sie über den Abtrünnigen zu Gerichte sitzen und sich blähen werden in moralischer Entrüstung – wie sie die Augen verdrehen und ausrufen werden: ›Sehet, so vergehet der Gottlose!‹ –

Die Motive meiner That! – wenn auch Du danach fragen solltest – so erinnere Dich unseres Gespräches von neulich, Gerland! – Dies ist ja nur das natürliche Ende eines langen, fruchtlosen Kampfes – ich ziehe nur ein Fazit. Mir selbst erscheint das, was ich thue, so furchtbar einfach, so durchaus notwendig. Dir, in Deiner optimistischen Freude am Dasein mag das unverständlich, mag das wohl gar frivol klingen. – Ich kann Dir versichern, Gerland, mir ist sehr ernst zu Mute. Ich sehe keinen Ausweg – nach keiner Seite – höchstens den, das Leben leicht zu nehmen, und dazu ist mir die Anlage versagt. Wer könnte beschreiben, mit einem faßbaren Ausdrucke umgrenzen, was auf mir lastet! – Ich kann es nicht. Es ist mein von Grund aus verfehltes Dasein, das wie ein bergabeilender Stein unaufhaltsam dem Ende entgegenstürzt. Es ekelt mich, zu leben – und zehnfach ekelt es mich, als ein Heuchler zu leben. Es ist schwer, es ist furchtbar schwer, die Rolle des Priesters zu agieren. Den Dummen spielen für Geld, das ist doch das erniedrigendste Handwerk, das es giebt. – Ich weiß, man kann mir viele und gerechte Vorwürfe machen: Warum ergriff ich den Beruf? Warum harrte ich so lange in ihm aus? Ja, warum that ich es? – Aus Schwäche, Schwäche, Schwäche! – – Ich will in dieser Stunde ihr nicht fluchen, die mir das Leben gab. – Wenn ich ihr doch den Schmerz, den Vorwurf ersparen könnte! Aber, ich weiß es, sie hat einen Tröster: ›Der Herr ist gerecht in allen seinen Wegen. Was er thut, das ist wohlgethan.‹ – Wer so sprechen kann mit aufrichtiger Seele, der wird auch noch über den Tod des abtrünnigen Kindes hinwegkommen. Ja, wenn man ihr das mit gutem Gewissen nachsprechen könnte! – Wie lieblich, wie bequem muß das Leben für die Kinder Gottes dahinfließen. Das, mein Freund, ist das Furchtbare für uns, die wir uns selbst ausgestoßen haben aus dem Lande, da Milch und Honig fließt – die Erinnerung, die geheime Sehnsucht, die wir stets nach dem Verlassenen bewahren. Wir verlorenen Söhne sind belastet mit dem Heimweh nach dem Vaterhause – belastet mit dem noch quälenderen Gefühle, daß wir unser bestes Teil verscherzt haben – leichtsinniger noch als Esau; denn was tauschten wir ein für die gesicherten Güter des Glaubens und die Anwartschaft auf das ewige Heil? Ein Erkennen, das in einem ignoramus gipfelt, ein Sehen, das an dem dunklen Punkt im Auge scheitert, ein Forschen, das nach kurzem Wege überall an verschlossene Thüren führt. – Für Sicherheit Zweifel, für Ruhe Unrast, für die süße, kindliche Hoffnung der ewigen Seeligkeit die bittere, kalte Trostlosigkeit des Nichts. Mag sein, daß spätere Zeiten diesen Widerspruch lösen mögen, – was nutzt das uns, uns, die wir hineingestellt sind in das Zwielicht! Unglückliche Zwittergeschöpfe, aufgepäppelt mit all den Wärmemitteln der dualistischen Weltanschauung – angefüllt in jungen Jahren bis zum Platzen mit eudämonistischem Supranaturalismus. Und dann, wenn das Leben, der große Empiriker, all diese künstlichen Hüllen und Binden und Präservativs gegen den Unglauben von unserem also verweichlichten Geiste reißt, dann stehen wir da in bitter kalter Luft, für die wir nicht abgehärtet waren. Und dort, wo sich der Märchenbau der christlichen Mythologie erhob, steht die mechanische Weltanschauung – nüchtern und abstoßend für unser verwöhntes Auge. Und nichts – nichts ist da, um dieses kahle Brettergerüst zu verkleiden, nichts als Kompromisse. Davon freilich giebt es genug, in den unendlichsten Arten und Unterarten, mit Prächtigen, großklingenden Namen – herrliche, in allen Farben schillernde Exemplare. Der eine will aus Vernunft die Offenbarung annehmen, der andere auf die Offenbarung hin zur Vernunft gelangen. Ein anderer hat sich zur doppelten Buchführung entschlossen, sammelt Erkenntnissätze und fromme Gefühle in getrennte Scheuern und schließt, wenn er von einer zur andern will, hübsch hinter sich ab. – Nein, diese Hinterthüren mag ich nicht! Für den Mystizismus sehe ich zu scharf, für den Materialismus fehlt mir der Leichtsinn, und dieses neueste Allheilmittel des religiösen Empirismus ist mir lächerlich. Vom Erkennen so lange wegnehmen und dem Glauben zulegen, bis die Wage richtig spielt, daran hindert mich – wie soll ich es nennen – ein gewisser Ernst – ein Anstandsgefühl, das mir angeboren sein muß, denn in theologischer Schulung habe ich es sicherlich nicht erlernt. –

Und so stehe ich denn tatsächlich an der äußersten Peripherie – dort, wo alle Wege in die Wüste enden – wo die Luft zum Atmen ausgeht. –

Wozu erzähle ich Dir alles das – wozu? Kein Mensch kann den andern verstehen. Wir sind allein – ganz allein, gerade dadurch, daß wir leben. Vereinigung mit dem Stoffe, aus dem wir stammen, das ist mir eigentlich, so lange ich denken kann, als das natürlichste erschienen, und nur mancherlei anerzogene und angewöhnte Lügen haben mich über dieses echte Gefühl hinweggetäuscht.

Über diesen Punkt habe ich einiges aufgesetzt, auch manches andere Blatt ist vorhanden. Ich habe das alles zusammengelegt. Du wirst das Paket in meinem Schreibtische finden, rechter Hand, im oberen der kleinen Fächer. Bitte, nimm die Manuskripte an Dich, noch ehe andere unberufene Hände darüber geraten. Ich übergebe meinen schriftlichen Nachlaß Deinem Gewahrsam und Deiner Diskretion.

Meine Mutter ist verreist, ein Brief an sie liegt auf der Schreibtischplatte.

Leb' wohl! Du hast das Zeug dazu, auf dieser Welt relativ glücklich zu werden. Ich vertraute Dir mehr als andern, weil Du, obgleich anders denkend, doch nie einen Versuch gemacht hast, mich geistig zu beeinflussen. Leb' wohl!

Dein

Moritz Fröschel.«



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