Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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XV.

Schwester Elisabeth, die Gemeindediakonisse, lag ihren Pflichten mit großem Fleiße ob. Gerlands Befürchtung, sie möchte dem schweren Berufe nicht gewachsen sein, bewahrheitete sich nicht. Zu jeder Tageszeit und bei jedem Wetter war er ihr schon im Dorfe begegnet. Sie schien das Geheimnis zu verstehen, an mehreren Stellen gleichzeitig zu sein. Die widerlichsten Dienste am Lager Schwerkranker, oder bei verwahrlosten Kindern, that sie mit freundlichem Lächeln. Ohne Lärm und Aufsehen flog dem Mädchen die Arbeit von den Händen; still wie ein Heimchen war sie, und stets guter Dinge.

Die Gleichmäßigkeit ihres Wesens schien eine beruhigende Wirkung auf die Kranken auszuüben. Schwester Elisabeth war im Laufe weniger Wochen eine beliebte Persönlichkeit im Breitendorfer Thale geworden. Und all die Bedenken, welche man erst gegen die Anstellung einer Gemeindeschwester geltend gemacht, waren verstummt oder sie schwiegen wenigstens einstweilen.

Eine merkwürdige Ironie des Schicksals fügte es, daß Schuhmacher Herklotz, der am gehässigsten gegen die Berufung einer Diakonisse aufgetreten war, jetzt in die Lage kam, den Geistlichen um Überlassung der Schwester zur Pflege seiner erkrankten Frau zu bitten. –

Herklotz, ein vorgeschrittener Fünfziger, hatte trotz seiner Mißgestalt in zweiter Ehe eine junge Person geheiratet, von der er mehrere Kinder besaß. Kürzlich wieder von einem Kinde entbunden, hatte sich die Frau im Wochenbette nicht gehalten; schon am dritten Tage nach der Geburt war sie aufgestanden, um eine Verrichtung in der Wirtschaft vorzunehmen: nun lag sie an schwerem innerem Schaden darnieder.

Herklotz besaß einige Bildung; er las viel – seine Litteratur bezog er von herumziehenden Kolporteuren; auch hatte er selbst ein Blatt radikaler Färbung im Vertriebe. Gegen die Kirche zu opponieren, hielt er für die erste Pflicht des freien Mannes; und da er nicht logisch genug dachte, um die Person von der Sache zu trennen, so trat er dem Geistlichen von vornherein mit grimmigem Hasse entgegen. Gerland hatte mehr als einen Annäherungsversuch diesem verbissenen Querkopf gegenüber gemacht, aber ohne Erfolg.

Nun mußte dem Manne dieses Unglück passieren. Seine junge Frau, die ihm als Wirtschafterin und Kinderpflegerin ganz unentbehrlich war, wollte er doch nicht gern einbüßen. Zuerst hatte er es mit einem Doktor aus der Stadt versucht; aber der verschrieb dem geizigen Manne viel zu viel Medikamente, die ins Geld liefen. Man war also sehr bald von dem kostspieligen Medikus abgegangen und hatte sich Rat bei der Besprechfrau Tonchen geholt. Die hielt denn mit ihrer Weisheit nicht hinter dem Berge; die Folge ihrer Wunderkuren aber war, daß es jetzt, nach einem halben Jahre, schlimmer mit der Kranken stand, denn anfangs. – Schuhmacher Herklotz befand sich in keiner beneidenswerten Lage mit einer bettlägerigen Frau, und vier Kindern, von denen eins noch nicht aus dem Säuglingsalter heraus war.

Die Not hatte ihren Höhepunkt erreicht, als Schwester Elisabeth in Breitendorf eintraf. Gerland war über die Zustände im Hause des Schuhmachers wohl unterrichtet, aber er vermied es, die Schwester dort hinzuführen; aufdrängen wollte er sich dem Manne nicht, so wie sie zu einander standen. – Diesem Charakter gegenüber schien größte Vorsicht geboten. Der Geistliche beschloß, sich in diesem Falle suchen zu lassen.

Gerland konnte sich daher einer gewissen Befriedigung nicht erwehren, als Herklotz eines Tages im Pfarrhause erschien und mit dem »Pfarrn« zu sprechen verlangte.

Nach einigem Drucksen kam der Schuhmacher denn auch damit heraus, daß er sich die Gemeindeschwester zur Pflege seiner Frau ins Haus wünsche.

Der Geistliche setzte ihm auseinander, daß die Schwester bereits aufs äußerste in Anspruch genommen sei, und daß sie in der nächsten Zeit kaum noch neue Patienten würde zu den alten übernehmen können.

Der Buckelige stand da, den großen kahlen Kopf mit der unsauberen Platte gesenkt, so daß Gerland sein Mienenspiel nicht zu beobachten vermochte.

»Ja, es wird jetzt beim besten Willen nichts zu machen sein, Meister Herklotz!« meinte der Geistliche. »Es ist doch wohl nur billig, wenn diejenigen, welche sich zuerst beworben haben, auch zuerst berücksichtigt werden. Hier, ich will Ihnen mal vorlesen, wo die Schwester jetzt überall pflegt und wie oft sie bereits vorgemerkt ist.« Er begann aus der Liste vorzutragen. »Sie sehen daraus, Herklotz, daß das Bedürfnis nach einer Gemeindeschwester in unserer Parochie ein großes ist.« – Gerland machte eine Pause; diese Pille mußte er seinem Widersacher doch zu kosten geben. »Die Schwester möchte sich zerreißen, soviel hat sie hier zu thun vorgefunden. – Aber ich will Sie vermerken auf der Liste. – Das ist alles, was ich gegenwärtig thun kann, Meister Herklotz.«

Innerlich war Gerland längst mit sich im reinen, daß er Schwester Elisabeth veranlassen wolle, sich dieses Falles anzunehmen.

Der Schuhmacher war offenbar mit dem erhaltenen Bescheide nicht zufrieden. Er blieb auf seinem Platze und drehte die schmutzige Kopfbedeckung in den Händen. Gerland blickte voll höchster Spannung auf ihn; würde der trotzige Geselle sich wirklich zu einer Bitte herbeilassen?

Mit seinem schnarrenden Organ, das Gerland von der Gemeinderatssitzung her noch im Ohre klang, begann der Buckelige: »Is es etwan, und Se wulln mer de Diakunisse ne hergahn, weil'ch 's latzte Kind no ne zur Tofe gebracht habe?«

Der junge Geistliche hatte in der Breitendorfer Stelle ja schon manch eigenartige Erfahrung gesammelt, aber diese Logik machte ihn zunächst doch stutzen. »Ich bitte Sie, Meister Herklotz, was hat denn das für einen Zusammenhang? Gewiß wünsche ich nichts sehnlicher, als daß mir die Kinder zur heiligen Taufe gebracht werden, aus freien Stücken von seiten der Eltern; und ich muß es Ihnen ganz offen sagen, Meister Herklotz, ich warte schon lange besorgten Herzens darauf, daß Sie mir nun auch Ihr Jüngstes endlich zur Taufe anmelden. Aber nie würde ich aus Ihrer bisherigen Versäumnis ein Recht dazu ableiten, Ihnen, oder gar Ihrer armen Frau, die Hilfe abzuschlagen, deren Sie bedürfen. – Ich glaube, Sie verkennen mich völlig, Herklotz! Ich fürchte beinahe, Sie hassen mich! Ich würde viel darum geben, wenn ich es wenigstens so weit brächte, daß Sie mich gerecht beurteilen. Wollen Sie denn nicht Vertrauen fassen zu Ihrem Pfarrer – Meister Herklotz?«

Gerland war aufgestanden und hielt dem Manne die Hand hin.

Der Buckelige zögerte längere Zeit; dann schlug er, ohne aufzusehen, in die dargebotene Hand ein.

Auf Gerlands Versprechen, daß er noch heute mit der Gemeindeschwester zu der Kranken kommen werde, hatte Herklotz kein Wort des Dankes.

Und als er ging, war der Geistliche im Zweifel, ob er diesen Mann gewonnen, oder ob er sich ihn nur noch mehr zum Feinde gemacht habe. –

* * *

An einem der nächsten Tage ging der junge Geistliche wieder nach Eichwald hinauf. Er vermied diesmal, von der Straße her seinen Eingang in Doktor Haußners Besitzung zu nehmen. Die neugierige Miene des öffnenden Mädchens war ihm lästig. – Das Dienstbotenvolk mußte bereits etwas gewittert haben; er wollte keinen Stoff zu Klatschereien geben.

Vom Walde aus, in den der Garten des Arztes verlief, betrat er diesmal das Grundstück.

Auf dem Wege hatte er sich bereits ausgemalt, wie er das Mädchen wohl antreffen möchte, unter welchem Vorwande er sie beiseite locken wolle. – Allerhand abenteuerliche Pläne entstiegen seiner erregten Phantasie.

Es war am Vormittage. Der Garten lag vor ihm in hellem Sonnenlichte, als er aus dem Gehölze trat. Forschend ließ er seine Blicke nach allen Seiten gleiten; nirgends eine Spur von Gertrud! – Wenn er nur wenigstens Martha gefunden hätte, die würde schon Rat gewußt haben. –

Er schritt langsam die mit Obstbäumen bepflanzte Rasenböschung hinab, dem Hause zu.

Unten im Gemüsegarten arbeitete ein Mann; die weißen Hemdsärmel leuchteten weithin, die Schollen flogen vor seinen kräftigen Armen – er wandte dem Geistlichen den Rücken. Jetzt, wo er sich aufrichtete, um zu verschnaufen, hatte ihn Gerland erkannt. – Der Arzt grub seine Gemüsebeete um.

Gerland zauderte. Es war noch immer Zeit, umzukehren und ungesehen im Walde zu verschwinden. Aber weshalb dem Manne aus dem Wege gehen? – Einmal mußte der Zwist ja doch ausgetragen werden zwischen ihm und jenem. Alles erträglicher, als dieser Zustand der Unklarheit und des Mißtrauens!

Gerland näherte sich dem arbeitenden Manne, machte absichtlich ein Geräusch, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Arzt wandte sich, und Gerland brachte seinen Gruß an. Haußner maß ihn mit wenig erfreuter Miene und brummte irgend etwas, das ebensogut eine Verwünschung wie eine Begrüßung bedeuten konnte, in den Bart.

Gerland kannte den merkwürdigen Mann nun doch schon zur Genüge, um sich durch solche Rauheit der Manieren nicht irre führen zu lassen. ›Er ist Gertruds Vater!‹ dieser Gedanke war es, der ihn immer und immer wieder die beleidigende Schroffheit übersehen ließ, deren sich der Arzt mit einer gewissen Absichtlichkeit ihm gegenüber befliß. – Im Grunde konnte er sich eines Gefühls tiefer Zuneigung zu diesem Sonderling nicht erwehren. Viel, sehr viel würde er darum gegeben haben, wenn er sich Haußners Achtung hätte erwerben können.

Der Arzt schien sich durch die Gegenwart des Geistlichen nicht im geringsten in seiner Arbeit stören lassen zu wollen. Mit kräftigen Spatenstichen fuhr er fort, das dunkle, speckglänzende Erdreich umzulegen.

Den jungen Mann reizte es, zu beweisen, daß auch ihm solche Arbeit nichts Fremdes sei. In der Nähe erblickte er einen Schubkarren mit Werkzeugen. Er suchte sich eine Stichschaufel heraus, legte seinen schwarzen Rock ab und stellte sich, ohne ein Wort der Erklärung zu geben, neben den Arzt. Bald flogen seine Erdschollen mit denen Haußners um die Wette.

Vor ihnen am Boden stand ein Blumentopf; Gerland bemerkte, daß der Arzt die Larven, Würmer und Käfer, die beim Umgraben aufgeworfen wurden, in diesem Behälter sammle. Der Geistliche begriff zwar nicht, zu welchem Zwecke dies geschehe, aber er begann ebenfalls, das Gewürm sorgfältig aufzulesen und in den Topf zu werfen, wie er es von dem andern sah.

Nach einiger Zeit stach der Arzt seinen Spaten in den Boden und stand mit verschränkten Armen. Gerland fühlte, daß der Blick des Mannes auf ihm ruhe. Er that nicht desgleichen – arbeitete ruhig weiter.

»Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen,« sagte Haußner plötzlich, »daß ich mal einen Geistlichen zum Gartenjungen haben würde.« –

Es war das erste Mal, daß Gerland eine launige Bemerkung von diesem Munde vernahm. – Kein schlechtes Zeichen, wie ihm deuchte! – Er blickte auf und sah, daß die Augen des bärtigen Mannes auf ihn gerichtet waren, nicht unfreundlich, so kam es ihm vor. Unwillkürlich lächelte Gerland.

Der Arzt bückte sich nach dem Blumentopf, dessen Inhalt er prüfte.

»Gestatten Sie mir die Frage, Herr Haußner,« meinte Gerland, »was haben Sie mit diesen Würmern eigentlich vor?«

»Damit füttere ich meine Fische!« war die Antwort.

Das gab dem Geistlichen willkommenen Anlaß zu weiteren Fragen.

»Wenn Sie 's interessiert, können Sie sich meine Pfützen – Teiche wäre ein zu großartiger Ausdruck – mal ansehen.«

Natürlich war Gerland mit größtem Vergnügen dazu bereit. – Im Innern frohlockte er. Der alte Isegrimm fing endlich an, sein rauhes Fell abzulegen.

Sie betraten einen abgelegenen Teil des Grundstückes, von dessen Existenz Gerland bisher nichts geahnt hatte. Durch Wiesen eilte ein Wässerchen zu Thale; an verschiedenen Stellen war der Bach mittelst Querdämmen zu kleinen Teichen angespannt.

Gerland erkundigte sich nach dem Ursprung dieser Anlage und erfuhr, daß sie Haußners eigenstes Werk sei.

Sie traten auf den Damm des untersten Teiches. Der Arzt begann den Inhalt des Topfes stückweise auszuwerfen. Jetzt wurde Leben in dem krystallhellen Wasser. Blitzschnell sah Gerland eine Anzahl Fische herbeischießen. Kaum hatte der Wurm oder der Engerling den Wasserspiegel berührt, so verschwand er auch schon in einem leichten Wellengekräusel.

Man ging zum nächsten Teiche, wo sich dasselbe Schauspiel wiederholte. Gerland fragte, welche Fischarten der Arzt züchte. – »Salmoniden,« meinte Haußner, »Forellen, Saiblinge, Äschen, – die gedeihen in unserem kalten Gebirgswasser am besten.«

»Sind weiter oben keine Fische?« fragte Gerland, da er bemerkte, daß Haußner den Inhalt des Topfes ausgeleert hatte, noch ehe man zum letzten Teiche gekommen war.

»Nein! Dort habe ich eine Art von Beobachtungsstation angelegt.«

Sie waren an den obersten Teich gekommen, in dessen klarer Flut Wasserpflanzen aller Art einen hellgrünen Filz bildeten.

»Sehen Sie, hier ist mein Observatorium!« sagte Haußner.

Gerland bat um Erläuterung, worauf sich die Beobachtungen des Arztes erstreckten.

»Es handelt sich um den Übergang der organischen Materie von einem Lebewesen zum andern. – Eines der interessantesten Probleme der Biologie! Und nirgends kommt man vielleicht der Lösung dieser Frage nahe, wie bei der niederen Tierfauna des Süßwassers; weil die Struktur gerade dieser Lebewesen die denkbar primitivste ist.« –

Der Arzt zog mit einem gekrümmten Aste, den er vom Boden aufgehoben hatte, einige Wasserpflanzen zur Oberfläche; dann nahm er die triefenden Stengel auf die Handfläche. »Sehen Sie 'mal hier – es wimmelt! – Mit dem bloßen Auge sieht man da schon manches. – Wirklich sehen, wissenschaftlich sehen, kann man natürlich nur mit dem Mikroskop.« –

Gerland sah mit Staunen eine Menge kleiner Lebewesen: Käfer, Schnecken, Larven, Würmer, in der schleimigen Masse herumkriechen. Haußner hatte eine Lupe hervorgeholt und musterte damit den Inhalt seines Handtellers.

»Seien Sie so gut, halten Sie mir das 'mal!« sagte er plötzlich und legte dem Geistlichen den nassen Zopf in die Hand. »Hier ist gerade eine Rhabdocölidenspezies, die ich suche.« Er holte eine Pinzette und ein Fläschchen mit heller Flüssigkeit aus seinen Rocktaschen hervor. Das Fläschchen entkorkte er mit den Zähnen. »So!« – Nun suchte er von neuem mit der Lupe. »Hier steckt sie.« Der Fang schien geglückt. Gerland sah, wie er das Tierchen in die Flasche warf, wo es, ein kleiner grünlicher Punkt, zu Boden sank. – –

Der Geistliche fühlte es mit geheimer Wonne, daß er Gertruds Vater im Laufe der letzten Stunde um vieles näher gekommen sei. –

Beziehungen harmlosester Natur hatten sich zwischen den beiden Männern angeknüpft. Der Arzt hatte endlich einmal in dem Geistlichen den Menschen anerkannt.



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