Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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XVII.

Martha und Gertrud saßen auf der Rasenbank im oberen Teile der Gartenanlage, mit Handarbeit beschäftigt. Die Zungen der beiden Mädchen gingen mindestens ebenso flink, wie ihre Nadeln. Das Gespräch stand wieder einmal bei Pfarrer Gerland. Immer noch einmal mußte Martha Herberge erzählen, was sie von der Jugendzeit des Geistlichen wußte. Und war es nun, daß Martha wirklich ein so gutes Gedächtnis besaß, oder half hier ihre blühende Phantasie ein wenig nach – kurz, immer neue Anekdoten kamen zum Vorschein, deren Held Willy Gerland war.

Von seiner Mutter und von seinen Schwestern wußte das alte Mädchen ebenfalls zu erzählen. »An die mußt du einmal schreiben, Trudel – hörst du!« sagte Martha, vom Nähen aufsehend, »versteht sich, erst wenn es soweit ist.« –

Gertrud errötete, wie es ihr manchmal scheinbar grundlos passierte, bis unter das helle Haar, und ließ, über die Stickerei gebeugt, die Nadel hastiger gehen.

Martha betrachtete die Nichte verständnisvoll lächelnd. »Er wird schon heute kommen, Trudel!« sagte sie nach einiger Zeit. »Ich glaub's bestimmt.«

»Meinst du?« antwortete die Junge kaum vernehmbar.

»Wie ich ihn kenne, hält er's nicht länger aus. Daß du neulich so wegliefst, hat ihn natürlich betrübt; aber böse ist er dir gewiß nicht – dazu ist er ja viel zu gut.«

Eine Pause trat ein. Weiche, grasduftende Sommerluft umfächelte die beiden und bewegte die Haare und Härchen in Gertruds Nacken, die ohne Hut, im farbigen Musselinkleide, unter Blumen wie eine Schwester saß.

»Ich hab's schon der Köchin gesagt,« fuhr Martha fort, »wenn er kommt, soll er gleich hierherauf gewiesen werden. Es ist gar nicht nötig, daß er erst deinem Vater in die Hände läuft – verstehst du!«

Eine ganze Weile gingen nun wieder die Nadeln; dann hielt die Ältere inne. »Kind, wie wär's, wenn ich dich ein bißchen im Katechismus überhörte? – Hast du 'was Neues dazu gelernt, seit neulich?«

»Jawohl Tante – gestern abend im Bette.«

»Ach, du gutes Ding!« – Martha zog ein kleines graues Buch aus der Tasche, das sie aufschlug. »Wie weit bist du gekommen?«

»Das vierte Hauptstück fertig.«

»Was, das ganze vierte Hauptstück an einem Abend!«

»Jawohl Tante!«

»Nun, – da wollen wir mal sehen.«

Martha begann zu überhören.

Mit ihrer zarten Stimme, ein wenig singend, wie Kinder auswendig Gelerntes wiederzugeben pflegen, sagte Gertrud das Hauptstück auf.

»Höre mal, Kind, das geht ja wie am Schnürchen!« – rief Martha, als das Amen heraus war. »Welche Freude der liebe Pastor da haben wird! Damit überraschen wir ihn eines Tages. Was für Augen wird er da aufreißen, der Gute, – ich sehe ihn schon! – Jetzt sage mir mal schnell noch den dritten Artikel her. Im Schlafen und Wachen muß der Christ seinen Glauben auswendig hersagen können. Kind, du beschämst manchen Konfirmanden. – Und was noch etwa fehlen sollte, das wirst du schon von ihm lernen. – Trudel, habt ihr denn eigentlich schon darüber gesprochen, wie ihr euch das alles denkt?«

Gertrud blickte weg. Ihr Gesicht nahm wieder jenen halb verlegenen, halb eigensinnigen Ausdruck an, wie neulich. – Die Thränen waren ihr nahe.

Marthas schnelles Auge erfaßte sofort diese Symptome und wußte sie zu deuten.

»Na, Trudel, laß nur gut sein! – Ich sage weiter nichts; das sind schließlich deine Privatsachen. – Aber, – weißt du, sprechen müßt ihr doch einmal darüber.« –

Sie griff nach dem Arm der Nichte, den sie streichelte. »Herzchen – ach, du Herzchen!« – Sie zog das Mädchen an sich und flüsterte ihr ins Ohr: »Wie nennt er dich denn, Trudel – wenn ihr allein seid – was – wie?«

Mit einem Male hielt Martha inne. »Trudel – ich glaube, dort kommt er!«

Sie war aufgesprungen und wies in die Richtung nach dem Hause. In der That kam dort Gerland durch die Obstanlage heraufgeschritten.

»Wir müssen uns ordentlich machen!« Sie strich sich und der andren das Haar glatt, und zupfte und nestelte an dem Kleide der Nichte herum. Dabei bemerkte sie, daß Gertrud zitterte.

»Was hast du, Kind? – Unsinn! – Soll's etwa wieder so werden wie neulich, vorm Pfarrhause? – Weglaufen! Stell' dich doch nicht so an!«

»Ach, Tante! – ich weiß nicht –«

»Trudel, sei vernünftig!«

Gerland war inzwischen herangekommen.

Martha that ihr möglichstes, um den beiden, die so gern zu einander wollten und sich dabei so unbeholfen anstellten, über die linkischen Annäherungsversuche hinweg zu helfen.

Der Geistliche hatte einige Blumen mitgebracht, zu einem Sträußchen zusammen gebunden, die er Gertrud mit einer steifen Verbeugung überreichte. Das Mädchen nahm sie errötend an, fand aber kein Wort des Dankes.

Dafür brach Martha sofort in entzückten Jubel aus.

»Nein, sieh nur Trudel! Die reizenden Blumen! – Aus dem Pfarrgarten – nicht wahr? Welch allerliebste Aufmerksamkeit! – Wir haben übrigens auch etwas für Sie, Herr Pfarrer! Ja, ja, eine Überraschung – nicht wahr, Trudelchen?«

Sie sprach ein paar heimliche Worte zu der Nichte – ihr zuredend; bis Gertrud hastig in den Nähkorb griff und etwas in Seidenpapier Gewickeltes hervor holte.

Von Martha geleitet, überreichte das Mädchen mit gesenkten Augen, purpurübergossen, ihrem Bräutigam das erste Angebinde. –

Es war ein Buchzeichen.

»Das soll für mich sein?« fragte Gerland.

Martha antwortete für die Nichte: »Jawohl, für Sie – von Gertrud eigenhändig gestickt. In die Bibel zu legen, – daß Sie immer der Geberin gedenken möchten, so oft Sie, das heilige Buch aufschlagen.«

»Und das haben Sie selbst gearbeitet?« – meinte Gerland, in seiner Befangenheit nicht einmal das »du« findend. »Solch feine Schrift!«

»Ja – und sehen Sie denn auch, womit es gestickt ist? – Fällt Ihnen gar nichts auf?« – rief Martha Herberge, mit bedeutungsvollem Blicke.

»Sind es nicht Haare?«

»Jawohl! – Aber – wessen Haare? – Sie können es doch wohl nicht finden. – Sehen Sie, es ist beinahe Gertruds Haarfarbe und doch nicht ganz. – Ahnen Sie nun etwas?«

»Von Gertruds Mutter?« fragte Gerland mit gedämpfter Stimme.

Martha konnte auf einmal nicht antworten. Sie nickte und mußte schnell wegblicken.

Der Geistliche griff nach Gertruds Hand. Endlich fand er den rechten Ton.

Dann saßen sie auf der Rasenbank, das Brautpaar Hand in Hand.

Zu ihren Füßen lag das Dorf in hellem Vormittagssonnenschein. Eingebettet in das Grün seiner Gärten und Bäume, schmiegte es sich in die tiefste Falte des Thales. Das Getreide stand schon wieder zur Ernte an, der Wind trieb die Kornflächen in langen, silbernen Wogen vor sich her – willig beugten sich die Millionen Häupter dem Atem des Himmels. Es flimmerte in der Luft, im Grase zirpten heimliche Musikanten. Ein Pfauenauge wirbelte durch die Luft und ließ sich vor den Füßen der Sitzenden nieder – die fantastisch geschmückten Flügel ausbreitend, bald die Pracht wieder einpackend, indem es die unscheinbare Kehrseite zeigte.

Gerland, der jetzt kühner als zuvor, einen Arm um Gertrud gelegt hatte, fühlte durch das leichte Sommerkleid ihren jungen Leib – wie das gleichmäßige Auf und Ab der Atemzüge ihn sanft bewegte.

Seltsam! Im Angesichte so vieler Schönheit – im Vollbesitze seines Glückes, überfiel es ihn wie Bangigkeit – wie Trauer! – Eine Regung, deren Ursprung er selbst nicht verstand. –

Da unten lag Breitendorf, sein Dorf, seine Kirche! So weit das Auge von hier schweifen konnte, war sein Bereich. Er durfte sich sagen: das ist dein Kirchspiel, deine Gemeinde, deine Herde. – Er blickte herab auf dieses Thal, wie ein Baum auf den Boden rings um, in den er seine Wurzeln so tief und weit getrieben. Hier hatte er geträumt, wirken zu können, solange sein Auge den Tag sehen würde.

Und während er, in vorahnender Abschiedstrauer, hinabblickte, schreckte ihn eine Bemerkung Marthas auf, die ihn wie eine Einmischung in seine geheimsten Gedanken traf.

»Von hier kann man die ganze Parochie so schön übersehen. Hier werden Sie gewiß noch oft sitzen, Herr Pfarrer, in späteren Jahren.« –

Es drängte Gerland zum Sprechen. Irgend einmal mußten sie es ja doch erfahren, die beiden, daß er nicht der sei, für den sie ihn hielten.

Er glaube nicht, erwiderte er, daß er sein Leben hier beschließen werde; über kurz oder lang würden Änderungen eintreten.

Martha ließ ihn nicht ausreden. »Sehen Sie einmal an! Das hatte ich mir ja im stillen schon immer gedacht. Ein Mann wie Pastor Gerland wird's wohl nicht lange bei uns aushalten; der will ja natürlich höher hinaus. – Haben Sie schon was in Aussicht?« –

»Nein, nein – so ist das nicht zu verstehen, Fräulein Herberge!«

»Wohl in der Stadt – was? – Weißt du, Trudel, wir sprachen neulich schon darüber. Sie sind eigentlich viel zu gut fürs Land, Sie brauchen einen größeren Wirkungskreis.« –

Gerland schüttelte unwillig den Kopf. »Solche Pläne, kann ich Ihnen versichern, Fräulein Herberge, liegen mir sehr fern.« –

»Das sehe ich gar nicht ein! Ich will Ihnen nicht schmeicheln – aber, wenn man so begabt ist! – Sie müssen aufs Konsistorium los arbeiten, Superintendent werden, oder sowas. – Herr ›Superintendent Gerland‹, das wäre doch zu schön, was Trudel?« –

Hier galt es ein offenes Wort, das sah Gerland. So schwer es ihm wurde, dem alten Mädchen die schönsten Illusionen zu zerstören, einmal mußte die Wahrheit ja doch an den Tag. – Es war besser, wenn sie beizeiten vorbereitet wurde.

Marthas Augen öffneten sich weit vor Staunen, ihr beredter Mund verstummte während der nächsten Minuten.

Gerland versuchte den beiden eine Ahnung zu geben von der außergewöhnlichen Geistesverfassung, in der er sich gegenwärtig befinde. – Freilich, je länger er sprach, desto klarer wurde ihm selbst, daß seine Sache noch nicht spruchreif sei. Vollends diesen Frauen gegenüber mußte er sich auf Andeutungen beschränken. Vor ihren Ohren konnte er nicht offen enthüllen, wie alles gekommen. – Die mannigfachen Ereignisse der letzten Jahre, die eigenartigen Erlebnisse in der Gemeinde, die Erfahrungen mit den Amtsbrüdern und den Vorgesetzten – Fröschels Selbstmord, der schriftliche Nachlaß des toten Freundes – vieles davon taugte nicht für solche Ohren.

Und diese Ereignisse waren es doch gerade gewesen, die seiner Entwicklung den letzten entscheidenden Anstoß gegeben; unter ihrem Drucke war er dahin gelangt, wo er jetzt stand: zerfallen mit seinen bisherigen Idealen, tastend nach einem neuen Halt – der Kirche, deren Diener er noch war, entfremdet.

Von dem mächtigen Gährungsprozesse, in welchem sich sein ganzes Wesen befand, konnte er den beiden Frauen keine Ahnung geben.

Gertrud hörte mit Teilnahme zu, ohne daß ihr Gesicht Spuren tieferer Erregung gezeigt hätte; aber Marthas Mienen nahmen den Ausdruck großer Bestürzung an.

»Aber – das ist doch gar nicht möglich! Sie sprechen gegen die Kirche – das ist ja schrecklich! – Dann sind Sie ja eigentlich geradezu irreligiös.« –

Gerland versuchte es, ihre verwirrten Begriffe über diesen Punkt zu klären – wollte ihr begreiflich machen, wie herzlich wenig im Grunde Religiosität und Kirche miteinander zu thun hätten.

Aber sie mochte davon gar nichts hören. Er hatte das alte Mädchen an einer Stelle verletzt, wo sie empfindlich war.

»Unsere Kirche – unsere evangelische Kirche soll morsch sein – reformbedürftig? – So etwas darf doch ein Geistlicher nicht sagen!«

»Sehr richtig: so etwas darf ein Geistlicher nicht sagen! – Und weil es doch nun eben meine unumstößliche Überzeugung ist, die sich mir durch Erfahrungen am eignen Leibe aufgedrängt hat, daß das wahre Christentum jetzt überall anders zu suchen ist, als im Schoße der offiziellen Kirche – und weil ich mit jedem Male, daß ich eine Amtshandlung vornehme, das peinigende Gefühl habe, heucheln zu müssen – nicht mit den Worten, die ich sage, den Sinn verbinden zu können, den die Kirche hineingelegt sehen will – sehen Sie, Fräulein Herberge, darum eben sehne ich mich nach Befreiung aus diesem geistigen Joche, ringe ich mit dem Gedanken, mich von einer menschlichen, ungöttlichen Autorität zu befreien, die ich mit gutem Gewissen nicht mehr anerkennen kann.« –

»So sprechen die Liberalen. Neulich war mal im ›Christenmenschen‹ was abgedruckt – nur zur Probe natürlich, – das klang auch so. – Ich weiß gar nicht, was ich denken soll, Herr Pfarrer! Sind Sie denn noch ein Christ, mit solchen Anschauungen?«

Gerland mußte unwillkürlich lächeln. »Daß ich ein Christ bin, Fräulein Herberge, das wollen Sie mir, bitte, aufs Wort glauben. – Ja, ich darf es wohl sagen, ich bin weit mehr Christ jetzt, als in jenen Zeiten, wo ich mir äußerlich die Bezeichnung ›orthodox‹ beilegen konnte. Auf das Was des Glaubens kommt es nicht so sehr an, als auf das Wie! – In der Kraft des Glaubens habe ich zugenommen; und was die Hauptsache ist, in der Liebe zu Gott fühle ich mich wachsen. – Also, ängstigen Sie sich nicht so sehr um meinetwillen. Ich habe das Gefühl, als sei ich nicht auf schlechten Wegen.« –

»Nun, Gott sei Dank! Das klingt doch anders – das ist mir wirklich eine Beruhigung.«

Die Unterhaltung wurde durch das Läuten der Glocke vom Hause her unterbrochen.

»Tischzeit, Trudel!«

»Ja, Tante, wir müssen ganz schnell machen.«

Sie waren aufgesprungen, die Nähterei wurde zusammengepackt. Man eilte dem Hause zu.

»Wollen Sie nicht lieber durch den oberen Ausgang gehen?« fragte Martha halblaut, mit ängstlicher Miene.

»Warum?«

»Er wird Sie sehen, wenn Sie mit uns kommen.«

»Ich habe keinen Grund, mich vor Doktor Haußner zu verbergen.«

Der Arzt stand wartend vor der Hausthür. Gertrud sprang ihm entgegen. Der Vater legte einen Arm um ihren Nacken. Sie schmiegte sich an den stämmigen Mann, lächelnd zu seinem bärtigen Gesichte aufblickend.

Gerland wollte grüßend vorübergehen, Haußer blickte ihm mit einem eigentümlichen Lächeln nach; dann fragte er die Tochter halblaut etwas. Das Mädchen klatschte vor Vergnügen in die Hände.

»He, Pastor Gerland!« rief Haußner, als der Geistliche eben das Thor öffnen wollte. Gerland machte halt, die Klinke in der Hand.

»Haben Sie schon zu Mittag gegessen?«

»Nein!«

»Na – dann kommen Sie doch zu uns herein!«

Gerland ließ sich das nicht zweimal sagen. –



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