Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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VII.

Das erste, was Gerland that, als er am Abende dieses Tages vor seinem Schreibtische stand, war, die hinterlassenen Schriften seines toten Freundes hervorzuholen. Er wollte doch sehen, wer recht habe: die Behauptungen derer, die Fröschel zum Irren stempeln wollten, oder seine eigne innerste Überzeugung, wonach dieser Geist klar und gesund gewesen war und sein Denken folgerichtig bis zum letzten Augenblicke. –

Und so blätterte er denn in den Manuskripten. Als ihm diese kleine, steile, eigensinnige Handschrift vor die Augen kam, wurde ihm die ganze Eigenart des Toten wie mit einem Schlage lebendig. Er sah das runde, blasse Knabengesicht mit den matten, hinter den Brillengläsern versunkenen Augen – sah das spöttisch-melancholische Lächeln um die schmalen Lippen zucken – sah ihn die Fingerspitzen in nervöser Hast gegeneinander reiben.

»Krankhaft, anormal, überreizt, überspannt« – all die Worte, die der beredte Polani auf den Toten angewandt hatte, schwirrten Gerland im Kopfe. Dazwischen ertönte das ölige Organ des Superintendenten: »Der Verstand des Beklagenswerten war verwirrt; er mußte verwirrt sein!« –

Und das Gesicht des Toten lächelte dazu, bitter ironisch, als wolle er sagen: Hatte ich sie nicht erkannt, die Welt, aus der ich ging? –

Gerland las noch einmal die Titel der einzelnen Aufsätze, sich ihren Inhalt vergegenwärtigend: »Göttliche Vorsehung und menschliche Freiheit.« – »Der Mensch ein Geschöpf oder ein Schöpfer Gottes?« – »Über den jüdischen Kern der christlichen Ethik.« – »Warum wir einen sogenannten christlichen Staat haben.« – »Vom Lachen der Auguren.« –

Ein kleines Heftchen, nur wenige Seiten stark, fiel, ihm in die Hand, das er bisher übersehen hatte; jede Überschrift fehlte.

Er las da folgendes:

»Neulich kam mir ein interessantes Dokument zur Hand: meine erste Predigt. – Ich hatte sie fein säuberlich ausgeschrieben; denn ich wollte sie bei mir tragen, im Falle ich stecken bleiben sollte. Ich nehme die Blätter vor und lese da unter anderem:

›Denn daß man weiß, daß Gott sei, ist ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen geoffenbaret, damit daß Gottes unsichtbares Wesen, das ist, seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen, so man das wahrnimmt, an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt; also, daß sie keine Entschuldigung haben.‹ –

»Wir nehmen Gottes Geist wahr an seinen Werken, und diese Werke sind die Welt und die Menschheit, Damit ist nicht nur gemeint die äußere Erscheinung dieser Welt, sondern der Geist, der in ihr lebt und webt, die ewigen Gesetze, die sich uns in der Natur offenbaren – vor allem aber auch das ewige Gesetz, das wir in uns selbst tragen. Gott wird uns offenbar nicht nur im Ursprung der Welt, in ihrer Erhaltung und weisen Regierung, sondern auch in uns selbst, in unserer Vernunft, die nach einem ewigen Grunde alles Seins verlangt, in unserem Gewissen, dessen Mahnung auf ein überirdisches, diese Welt regierendes Gesetz hinweist, in unserem Heilsbedürfnis, das nach einer Erlösung verlangt, in unserem gesamten Geistes- und Seelenleben, das die Unsterblichkeit zur Bedingung hat.« u. s. w. – Glaube ich das? – Nein! – Habe ich das damals geglaubt, als ich es niederschrieb, um es ein paar Tage darauf der Gemeinde zum besten zu geben? – Nein! Habe ich irgend einen dieser leichtfertig hingeworfenen Sätze bewiesen? – Nein! – Konnte ich sie überhaupt beweisen? Dreimal nein!

»Das führt mich mit einem Schritte auf den Grundirrtum, den wir alle begehen, Freunde wie Feinde des Christentums, daß wir die Berechtigung, oder Nichtberechtigung der Religion beweisen wollen. Als ob hier etwas zu beweisen möglich, oder auch nur notwendig wäre. Jeder Versuch einer Glaubensrettung oder einer Glaubensverneinung scheint mir ein Schlag in die Luft. Religion ist eine innere Thatsache des menschlichen Geistes, sie ist eine Eigenschaft, eine Fähigkeit; dadurch, daß sie in Wirksamkeit tritt, beweist sie sich selbst.

»Der Glaube ist etwas eminent Praktisches. Er ist eine Thätigkeit und hat, wie jede menschliche Thätigkeit, ihren Zweck.

»Die Entwickelung des Religionsbedürfnisses liegt in der prähistorischen Zeit. Wir sehen die Menschheit als eine religiös begabte Gruppe in die Geschichte eintreten. Der Fromme wird sich über das Woher des Religionsbedürfnisses nicht den Kopf zerbrechen; für ihn ist der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen und darum von Natur religiös. Der, welcher nicht an Wunder glaubt, muß hier seine Zuflucht zur Hypothese nehmen. Durch Analogie wird er darauf geführt, daß die Mutter der Religion die Not ist. Wann fühlen wir am stärksten das Bedürfnis, in die Spuren unserer Ahnen zurückzufallen – religiös zu werden? – In Zeiten der Not; und das trifft für den Einzelnen, wie für ganze Völker. Religion ist der Balken, nach dem der Arm sich suchend streckt, wenn die Wogen hochgehen. Oder anders ausgedrückt: der Glaube fängt da an, wo die Macht des Menschen aufhört. Glaube ist also ein Produkt menschlicher Schwäche.

»Vor allem will der Mensch Hilfe gegen das Leben selbst. Von dem Augenblicke an, wo er über sich und die Welt nachzudenken begann, scheint er das Leben als eine Bürde empfunden zu haben. Da nun aber neben diesem Lebensekel eine merkwürdige Lebenslust und ein eingefleischtes Glücksbedürfnis in der menschlichen Brust wohnen, so hat der anschlägige Kopf des Menschen mancherlei erfunden, um sich über die Lebensqual hinweg zu helfen. Die beliebteste Medizin aber bleibt immer die Betäubung durch Illusion.

»Das menschliche Hirn ist ungemein erfindungs- und phantasiereich, besonders wo es gilt, sich selbst zu täuschen. Nirgends hat es sich anschlägiger erwiesen, als im Aufstellen religiöser Systeme.

Alle entspringen sie der einen Wurzel: Glücksbedürfnis des Menschen.

Neu, genial und epochemachend war die Art und Weise, wie der Nazarener das Erlösungsbedürfnis der Menschen befriedigen wollte. Gott, ein liebender Vater; die Menschen seine Kinder und unter sich Brüder. Dieses Leben unwert und nur eine Prüfung für ein besseres Jenseits. Das Reich Gottes schon auf dieser Welt: in der Gotteskindschaft, der Bruderliebe, in Herzensreinheit, Verachtung der Welt und ihrer Güter und im Streben nach Gottannäherung.

Diese Lehre übertraf alles bisher an religiösen Erfindungen Dagewesene in zwei Punkten, durch offenes Eingestehen ihres wahren Grundes: Lebensnot, Gefühl der Endlichkeit, Unzulässigkeit aller anderen Hilfsmittel, Furcht vor dem Nichtsein; zweitens durch Veredelung, Verfeinerung der in dieser Not angebotenen Hilfe. Die Hilfe war nicht mehr eine materielle, sondern eine geistige. Sie sollte nicht mehr in einem sinnenfälligen Eingreifen der Gottheit in das Einzelleben bestehen, sondern in gegenseitiger Liebe. – Hingabe von seiten des Menschen, Hinneigung von seiten Gottes. Der himmlische Vater bot seine Gnade an. Und nun kam der feinste Zug des Systems: dem Menschen war es überlassen, ob er die dargebotene Hand annehmen oder ausschlagen wolle. Die Freiheit des Individuums wurde gewahrt, freilich nicht ohne daß die Lehre sich dadurch in Widersprüche verwickelt hätte; die göttliche Vorsehung und Vorausbestimmung widerspricht der menschlichen Freiheit.

Die ideale Lehre Christi von der Gotteskindschaft aller Menschen wurde aber sehr bald vergröbert, verfinstert und verfälscht. Schon seine Jünger und seine Biographen begannen damit. Aus dem Menschensohne, dem Knechte Gottes, wurde eine Gottheit gemacht. Sein Reich der Brüderlichkeit ward eng eingegrenzt, und nur die, welche an Jehovah, den Vater, und ihn, den Sohn, glaubten, sollten darin Platz haben, Paulus trat auf mit seiner Theorie von der Sündhaftigkeit und der Sühne. Den Wundergarten Christi verwandelte der praktische, in jüdischer Gesetzesherrlichkeit aufgewachsene Römer in nützliches Ackerland. Und Johannes giebt dem ganzen, damals schon in seinen größten und freiesten Gedanken vergröberten Systeme einen besonderen, übersinnlich metaphysischen Anstrich durch die Idee vom fleischgewordenen Logos.

Taufe, Abendmahl und andere Symbole werden festgelegt; zu Gott dem Vater und Gott dem Sohne noch eine dritte göttliche Person hinzugedichtet – und die christliche Mythologie ist fertig. Der Gott, von dem Christus selbst gesagt: ›Gott ist ein Geist; die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten‹, war unter ihren groben Händen zu einer anthropomorphen Figur geworden mit einem Metathronos, dem Sohne, und einem Diener, dem heiligen Geiste.

Und an dieser Trinitätslehre setzen jene widerlichsten, geistlosesten aller Religionsstreitigkeiten ein, welche die an Aberwitz so reiche Geschichte der Theologie aufzuweisen hat. Ob Apologeten, ob Monarchianer – ob ebjonitisch, ob patripassianisch, ob modalistisch – ob Arianer, ob Athanasianer – den so einfachen Sinn der Gottessohnschaft Christi wollte und konnte keiner dieser eifernden Silbenstecher verstehen. Nur eins ist an der ödesten aller religiösen Zänkereien interessant: wie weltliche Macht, verquickt mit kirchlicher Hierarchie, auf Konzilen und Synoden die Frage, wieviel Götter, wie geartet und in welcher Rangordnung künftig existieren sollten, durch Mehrheitsbeschlüsse und Machtsprüche entschieden und damit die Grundlage des offiziellen Christenglaubens festgelegt hat.

Und der Rest ist nur noch Ausbauen, Verbauen, Abbrechen, Stützen, Wiederaufrichten, neues Einreißen und Restaurieren.

Das Christentum war unter theologischer Führung glücklich am entgegengesetzten Ende der Lehre seines Begründers angelangt: ›Mein Reich ist nicht von dieser Welt.‹ –

Gewiß muß die Auflehnung der Reformatoren gegen diese Veräußerlichung und Geistesknechtung eine Läuterung genannt werden; aber der Protestantismus war eine halbe Reform, er that das Reinigungswerk nicht gründlich. Nicht den einigen, von Christus gepredigten Gott stellte er her, vor der Trinitätslehre machte er schonend Halt; die Wunder, die Inspiration, die Symbole und andere Mythen, nahm er mit hinüber aus dem Pseudochristentum des Mittelalters. So blieb auch diese religiöse Revolution in den Kinderschuhen stecken, sie versandete und verflachte, und der Grundsatz: Rechtfertigung allein durch den Glauben, verknöcherte, da eben dieser Glaube von neuem an den Buchstaben gebunden wurde. Und nicht einmal das gelang den Reformatoren, die Religion auf eigne Füße zu stellen, sie aus der verderblichen Verquickung mit anderen Mächten zu befreien. Sie bedurften des weltlichen Armes zum Schutze der Religion, und so verrieten sie unbewußt den Reformationsgedanken. In der widernatürlichen Umarmung von Kirche und Staat mußte der Geist erdrückt werden. Der Staat thut nichts umsonst; für den Schutz, den er gewährt, verlangt er eine Gegenleistung, und diese heißt: Stützen seiner Autorität. Und so entstand das widersinnige Gebilde der Landeskirche; die Religion erniedrigt zur Magd der Politik – benutzt als Damm gegen allerhand gesellschaftsfeindliche, staatsgefährliche Regungen – recht eigentlich eine Ausgeburt der Angst.

Nach wie vor wird eine rein geistige, innere, private Angelegenheit des Menschen, sein Glaube, zu einer offiziellen, der Einmischung weltlicher Mächte preisgegebenen Frage gemacht. Aller Kirchlichkeit, ob katholisch, ob lutherisch, ob reformiert, ist eines gemein: Bindung des Geistes an die Lehrautorität.

Wieder der große Grundirrtum: als ob sich der Glaube binden ließe – als ob man ihn einbläuen oder künstlich erzeugen könnte. Allerdings das Lippenbekenntnis – das Namenchristentum, die lassen sich wecken und durch künstliche Mittel am Leben erhalten.

Auf diesem faulen, lügnerischen Grunde ruht unsere jetzige Kirche. Darum glaube ich nicht an ihren Bestand. An dem Widerspruche gegen ihr eigenstes Wesen, an der Veräußerlichung und Verweltlichung, an der Lüge wird sie zu Grunde gehen. Die Füße derer, die sie begraben werden, sind vor der Thür.« –



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