Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI.

Nach langem Schweigen ließ Polani endlich wieder etwas von sich hören. Ein Brief aus Annenbad forderte Gerland auf, sich doch einmal sehen zu lassen; wenn möglich zu Tisch. Der Amtsbruder bezeichnete einen bestimmten Tag, der ihm besonders angenehm sein würde; Grüße von seiten der Frau Pastorin waren beigefügt, der Bote wartete auf Antwort.

Polani – die schöne Frau Pastorin – Annenbad! – Das war für ihn wie eine versunkene Welt. Gerland schwankte; sollte er von neuem mit den Leuten anknüpfen; sie waren ihm so unendlich weit gerückt.

Zweierlei bewog ihn schließlich, zuzusagen: einmal der Wunsch, Fröschels Grab in Annenbad zu besuchen, dann eine Art Neugier, sich selbst der Pastorin gegenüber zu beobachten – vielleicht auch der geheime Reiz, ihr zu beweisen, wie gleichgiltig ihre Person ihm geworden sei. –

Er fuhr mit einem Bauernwagen hinüber.

Polani empfing ihn im Studierzimmer. Sie hatten sich nicht gesehen seit Fröschels Beerdigung. Nicht viel mehr als ein viertel Jahr war seitdem verflossen, und doch – beide Männer fühlten es gleichzeitig bei der Begrüßung – sie waren einander fremd geworden. Niemals konnte das alte vertraute Verhältnis wieder hergestellt werden. – Die Erinnerung an den Toten stand zwischen ihnen.

Es hätte nahe gelegen für die beiden, Erfahrungen und Erlebnisse der letzten Zeit auszutauschen; sie vermieden das, wie auf Verabredung. Seit jenen Verhandlungen über den Fröschelschen Nachlaß mißtraute Gerland dem Amtsbruder – und in Polanis Seele war der Stachel der Beleidigung stecken geblieben. Sie näherten sich einander mit verbindlichem Lächeln auf den Gesichtern, aber jeder für sich mit dem Entschlusse, vor dem anderen auf der Hut zu sein.

Willkommenen Anlaß zu einem Gespräche, das keine Tiefen aufrührte, bot da ein Buch, welches aufgeschlagen auf dem Tische lag: »Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage«, von einem Kathedertheologen. Man vertiefte sich mit scheinbarem Eifer in das Thema, und beide suchten einander in Entwicklung theologischer Kenntnisse zu überbieten.

Draußen ertönten Schritte. Polani unterbrach sich in einer schwer gelehrten Auseinandersetzung. »Sie werden meinen neuen Diakonus heute kennen lernen, lieber Gerland.« –

Weß Geistes Kind würde Fröschels Nachfolger wohl sein? – Gerland blickte dem Neuling mit Spannung entgegen.

Der Eintretende war ein schlanker, gut gewachsener junger Mann, von gesunder Hautfarbe und blondem Schnurrbart. Polani stellte ihn als Diakonus Schwenker vor. Er war noch nicht allzulange von der Universität fort, und hatte kürzlich sein Jahr abgedient. Der Bart vermochte eine Narbe nicht ganz zu verdecken, die sich vom linken Nasenflügel nach dem Ohre hinzog. Seine Kleidung war sorgfältig gehalten.

Also, die Laune des Schicksals, die sich oft in Kontrasten gefällt, hatte ein Weltkind zu Fröschels Nachfolger ausersehen. –

Der Diakonus war ganz und gar erfüllt von Landpartieen, Konzerts und Tanzereien, die kürzlich innerhalb der Badegesellschaft stattgefunden hatten; er erzählte den beiden älteren Geistlichen voll Wichtigkeit davon.

Nach einiger Zeit erschien die Dame des Hauses.

Sie zeigte sich nicht ohne Verlegenheit beim Wiedersehn mit Gerland. Hinter lebhaften Vorwürfen, daß er sich so lange nicht habe blicken lassen, suchte sich ihre Unsicherheit zu verstecken.

Man ging gleich darauf zu Tisch; Gerland saß zwischen den Wirten. Während sie die Suppe austeilte, streifte sein Blick forschend ihre Erscheinung. – War es Voreingenommenheit? Aber es kam ihm vor, als habe sie verloren. – Die Züge schienen vergröbert. – Er konnte nicht begreifen, daß diese Frau jemals auch nur einen flüchtigen Eindruck auf ihn gemacht habe.

Sie machte ein paar Versuche, ihn aus seiner Zurückhaltung hervorzulocken; mit voller Absicht blieb er einsilbig. Sie rümpfte die Nase und meinte, daß er sich sehr verändert habe.

»Das habe ich, in der That!« konnte er sich nicht enthalten, zu bemerken.

Ob er denn etwas Besonderes erlebt habe, fragte sie und sah ihm scharf in die Augen.

Er schüttelte den Kopf.

Sie wandte sich von da ab nur noch dem jungen Manne an ihrer anderen Seite zu, welcher ihre Zuvorkommenheit besser zu würdigen verstand.

Diakonus Schwenker blieb in einem Lachen; bei eignen wie fremden Worten, oft auch, wenn gar kein Grund abzusehen war, verzog er den Mund und zeigte dabei prächtige Zahnreihen.

Im Laufe des Gespräches stellte es sich heraus, daß auch die Frau Pastorin an jenen Festlichkeiten teilgenommen, von denen der Diakonus vorhin geschwärmt. Sie sprachen mit intimen Wendungen von gemeinsamen Bekannten und Erlebnissen, die für den Fremden unverständlich blieben.

Gerland blickte gespannt auf Polani; der nahm das Verhalten seiner Frau mit der üblichen Kühle hin. Nur einmal als sie von einem Feste sprach, wo man nachträglich getanzt hatte, hielt er es für notwendig, dem Amtsbruder zu erklären, daß es sich um eine Veranstaltung zu Wohlthätigkeitszwecken gehandelt habe. –

Polani schlug vor, den Kaffee nach Tisch im Pfarrgarten einzunehmen; aber sie wollte davon nichts wissen. Dort waren so viel Mücken, meinte sie, und dann, der Blick nach dem Kirchhof hinüber sei ihr fatal.

Der Diakonus schien die letztere Bemerkung für einen gelungenen Witz zu halten; er lachte aus vollem Halse los. –

Als nach Tisch Gerland und Polani im Studierzimmer allein waren, kam man nach einigen Präliminarien nun doch auf das Thema, das all die Zeit über unsichtbar zwischen den beiden geschwebt.

»Ist Frau Oberlehrer Fröschel noch in Annenbad?« fragte Gerland.

»Allerdings ist sie noch hier; und wie es scheint, will sie ihre Tage hier beschließen. Aus dem Diakonat mußte sie ja natürlich heraus, nach dem Tode des Sohnes. Sie hat sich anderwärts eingemietet.«

»Ich hatte daran gedacht, sie heute aufzusuchen.«

»Hm – thun Sie das lieber nicht, Gerland!«

»Ist sie nicht in der Verfassung, Besuch zu empfangen?«

»Das schon! – Aber ich kann Ihnen, aufrichtig gesprochen, nicht dazu raten.«

»Um sie nicht an ihren Verlust zu erinnern, meinen Sie?« –

»Das ist es nicht!« –

»Ist sie etwa – ich meine – wie steht es mit dem Geisteszustand?« –

»Anfangs – gleich nach dem Tode – muß ich Ihnen offen gestehen, hegte ich dieselbe Befürchtung, die Sie eben andeuten. – Es ist eine eigene Sache. – In den Augen des Psychiaters würde sie vielleicht nicht völlig normal erscheinen in allen ihren geistigen Funktionen. Eine merkwürdige Wandlung hat thatsächlich mit ihr stattgefunden. Auch äußerlich hat sie sich sehr verändert. Sie würden die Frau kaum wieder erkennen, Gerland. – Dem oberflächlichen, gedankenlosen Urteile mag es – als Wahn – als fixe Idee – erscheinen, aber wenn man tiefer blickt, versteht man solche Erscheinungen anders zu deuten. –

»Es ist etwas mehr als ein physiologischer Prozeß. – Schütteln Sie nicht den Kopf, Gerland! Wenn Sie diese Frau kennten, wie ich sie kenne, wenn Sie die Kraft, die Wucht – ich kann es nicht anders nennen – die verzehrende Glut erlebten, mit der sie ringt – wie sie ihre Seele ausschickt – wie sie kämpft mit Gott – wenn sie das mit ansehen, mit anhören! – Es ist außerordentlich, dieser Wandel! Denken Sie doch nur, wie die Frau früher war: die Ruhe, Nüchternheit, Gemessenheit in Person. Und so auch im Religiösen – klar und positiv durch und durch – und jetzt droht sie, sich ganz in Mystik zu verlieren. So hat das furchtbare Ereignis bei ihr alles um und um gewendet. – Es ist wunderbar, sage ich Ihnen – es gehört zu den Dingen im Leben, vor denen unser Verstand Halt machen muß. – Wo das andere Bereich beginnt, können wir hier eben nur ahnen.« –

»Ich möchte sehen, ob sie sich mir gegenüber auch so zeigen wird.«

»Wie Sie wollen, Gerland!«

Sie wurden durch die Pastorin gestört, die vom Nebenzimmer herüberkam und einen gemeinsamen Spaziergang auf die Brunnenpromenade vorschlug.

Polani war anderer Ansicht.

Sie warf sich aufs Schmeicheln, streichelte die Hand des Gatten. – Auf Gerland machte es den Eindruck, als ertrage er ihre Liebkosungen wie etwas Lästiges.

Dann versuchte sie es mit dem Fremden; er sollte sie unterstützen gegen den Gatten. – Die Zeiten waren vorbei, wo Gerland ihr jeden Willen nur zu gerne gethan hätte.

Sie rümpfte die Nase über die Unliebenswürdigkeit der Männer, und ging mit gekränkter Miene. –

Gerland verabschiedete sich bald darauf von Polani und begab sich auf den Kirchhof.

Er fand Fröschels Grab frisch bepflanzt. Am Kopfende stand ein Kreuz von dunklem Diabas. Kein Name, kein Spruch war darauf eingegraben. – Gerland war es lieb so.

Der junge Geistliche suchte kein Zwiegespräch mit der Seele des Toten, wie damals an der Leiche. Er gedachte des Verstorbenen – versuchte es, sich sein Bild ins Gedächtnis zurückzurufen.

Mit erstaunlicher Deutlichkeit stand die kümmerliche Erscheinung vor seiner Erinnerung. Sein kleines, rundes, blasses Knabengesicht – die tiefliegenden, blinzelnden Augen – das matte Lächeln, der Zug von skeptischer Bitterkeit um den Mund. Sein hastig nervöses Wesen – sein nimmersatter Wahrheitsdrang – sein Glücksbedürfnis und seine Scheu vor der Kälte des Lebens – sein warmes, liebeheischendes, mißverstandenes Herz. – Wo war das alles jetzt? – – –

Was war von diesem eigenartigen Menschen, von dieser Welt voll unendlicher Wunder übrig, als die Erinnerung der wenigen, die den kleinen Mann gekannt, die ihn kaum verstanden in seinen Bedürfnissen und Wünschen, und in deren Gedächtnis sein Bild nun bereits zu verblassen begann.

Gerland selbst mußte sich unbegreifliche Gedankenlosigkeit vorwerfen. Wie spät war ihm eine Ahnung davon aufgegangen, was in der Seele seines Freundes vor sich gehe. – Es hatte der rohen Aufklärung durch Thatsachen bedurft, um ihn darüber zu belehren, wie wund die Seele des Unglücklichen gewesen, der neben ihm im Verzweiflungskampf gefochten, bis ihm in seiner Vereinsamung der Lebensmut ausging.

Wie leicht wird der Mensch zum Mörder, ohne es zu wissen! – Durch Worte, Blicke, Reden – durch Unterlassung – durch Kälte – Unduldsamkeit – ja durch bloße Gleichgiltigkeit – durch Nichtverstehen!

Sie alle waren schuldig an diesem Toten: Die Mutter – Polani – Gerland selbst.

Hier war ein Mensch im Lebensfroste erstarrt. Nach Licht hatte er gesucht – nach Erkennen – rücksichtslos hatte er all die wärmenden Hüllen und Schutzmittel der Illusion von sich geworfen – und war nun doch zu zart und schwach gewesen, die schneidende Kälte eines gottlosen Daseins zu ertragen. Und wenn er Menschen um sich gehabt, die ihn verstanden, die ihn geschützt und getragen hätten! – Wenn seine Vorgesetzten, statt ihn zu peitschen, ihn mit Freundschaft, Verständnis und Takt unterwiesen hätten; wenn seine Mutter, statt ihn mit dem kategorischen Imperativ der Pflicht, mit der unbarmherzigen Forderung kirchlicher Rechtgläubigkeit, zu foltern, ihn erwärmt hätte durch milde, schlichte, alles verstehende und alles verzeihende Weibesliebe – dann vielleicht würde er nicht in Verzweiflung geendet haben. –

Gerland hatte den Gedanken, Frau Oberlehrer Fröschel zu besuchen, nicht aufgegeben. Er traute der Beschreibung, die Polani von ihrem Seelenzustande gegeben, nicht recht.

Fröschels Mutter in trübem Mysticismus untergegangen! – Diese einstmals stolze Natur so herabgeschraubt in ihrer Würde, daß sie aus der Religion ein Beruhigungsmittelchen machte – ein Opiat gegen den Schmerz! – Sich tröstend und hinweglügend über schwere Vorwürfe! Das wollte er selbst sehen, ehe er es glaubte!

Der junge Mann wurde aus seinem Nachsinnen aufgeschreckt durch Stimmen aus dem nahen Pfarrgarten.

Der Kirchhof lag um einige Fuß erhöht, man konnte von hier aus das schmale Pfarrgärtchen gut übersehen.

Ein helles Kleid und ein bunter Schirm – die Pastorin kam vom Hause her den Mittelgang hinab, begleitet von Diakonus Schwenker. Ihr Kichern und sein breites Gelächter klangen durcheinander.

Unwillkürlich war Gerlands Neugier rege geworden; er lugte scharf hinüber. Die beiden kamen langsam nach vorn. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, da sie sich nach seiner Seite gegen die Sonne deckte. War es Voreingenommenheit? Aber er bildete sich ein, aus ihrem Gange, aus der Art, wie sie schwänzelnd die Röcke warf – Koketterie zu lesen.

Jetzt blieben sie vor einem Rosenstocke stehen; der junge Mann schien ihr mit dem Messer behilflich zu sein, einige Blüten abzuschneiden. Jedenfalls wurde viel dabei gelacht. – Dann schrie sie plötzlich auf, als habe sie sich gestochen.

Gerland sah noch mit an, wie sie dem Menschen eigenhändig eine Knospe ins Knopfloch steckte. Hastig pflückte er ein paar Epheublätter von dem Grabe und eilte von dannen. –

* * *

Es fiel ziemlich schwer, die Wohnung von Frau Oberlehrer Fröschel ausfindig zu machen. Sie war in einen entlegenen Teil des Städtchens Annenbad gezogen, dorthin, wo die ärmere Bevölkerung wohnte. Gerland wunderte sich, daß sie so weit entfernt lebte von dem Teuersten, was es jetzt noch für sie gab: dem Grabe ihres Sohnes.

In einem kahlen Hause wohnte sie nach hinten hinaus, mit dem Blick auf einen engen, schmutzigen Hof. Er wollte sich melden lassen, erfuhr aber von den Hausleuten, daß Frau Oberlehrer kein Mädchen halte.

Sie öffnete ihm selbst die Thür auf sein Klingeln. Er vermochte in der verfallenen, gebeugten Gestalt und in dem zusammengeschrumpften welken Gesicht, das er plötzlich vor sich hatte, kaum die Mutter seines Freundes mit ihrer ehemals straffen, selbstbewußten Haltung wiederzufinden.

Einen Augenblick zweifelte er, ob die Frau ihn erkenne. Mit leerem Blicke, wie einen Fremden, starrte sie ihn an. Er nannte seinen Namen. Sie nickte. Kein Lächeln der Begrüßung erhellte die maskenhaft starren Züge. Schleppenden Schrittes, das Haupt gesenkt, schritt sie durch den Korridor und öffnete die Thür zur Stube. Ein nüchterner, kahler Raum, der nichts von der Wohlgepflegtheit ihres ehemaligen Heimes an sich hatte.

Die Frau setzte sich, Gerland mit einer stummen Bewegung zum Niedersitzen einladend.

Er war gespannt gewesen, wie er Fröschels Mutter wiederfinden würde. Daß ein Schicksalsschlag, wie er sie betroffen, selbst an ihrem granitenen Charakter nicht spurlos vorübergegangen sein konnte, schien von vornherein klar. Würde der Schmerz ihren Stolz gebeugt, ihre Schroffheiten gemildert haben? Sah sie nun endlich ein, daß sie den Sohn in ihrem Eifern um das Heil seiner Seele nicht zum Guten geleitet hatte? Empfand sie Reue? Verstand sie das Kind jetzt vielleicht besser? Und worin suchte sie Trost?

In ihrem Gesichte war auf solche Fragen keine Antwort zu lesen. Was ruhte auf diesen fest auf einander gepreßten schmalen Lippen, hinter dieser bleichen, wie aus Erz gemeißelten Stirn? Wie Reue sah es nicht aus. Eher sprach aus diesen geschlossenen, undurchdringlichen Mienen ein unabänderlicher Entschluß. Ihre Augen blickten den vor ihr Sitzenden fest an, aber Gerland hatte nicht das Gefühl, daß sie ihn sähe. Der Blick ging an einem vorbei, schien in Fernen gerichtet, die nur sie allein sah und sehen wollte.

Er begann vorsichtig von dem, was zu sagen er sich vorgenommen hatte, sprach von ihrem großen Schmerz und wie er ihr nachfühlen könne, daß dieser Schmerz noch ungemindert sei, wie am ersten Tage.

Die üblichen Worte geistlicher Tröstung, die Gerland hunderte von Malen den Hinterbliebenen Entschlafener gegenüber angewendet hatte, wollten ihm vor diesem Gesichte, mit seinem tragischen Ausdruck, nicht auf die Lippen.

Und doch wollte er trösten und Hoffnung geben.

Er sagte der Mutter, Gottes Herz sei so groß wie die Welt. Sein Verzeihen gehe über Menschenbegriffe. Gewiß sei der Verstorbene irre geworden am Christentum, aber wer sage uns, daß darum Christus irre geworden sei an ihm! Aus seinen Aufzeichnungen spreche ein so tiefes Heilsbedürfnis, eine solche Verzweiflung über den Abfall und ein solcher Durst nach Erkennen, daß es heiße, klein denken vom allgütigen Gott, wenn man annehmen wollte, solch ehrliches Streben solle sein Vaterherz nicht rühren.

Die Frau schüttelte den Kopf mit einer Energie, die Gerland verstummen machte.

»Er hat mir einen Brief hinterlassen,« begann sie leise aber fest im Ton. »Der Brief ist geschrieben, mich zu beruhigen, mir Sand in die Augen zu streuen. Ich soll auf Gottes Güte hoffen, soll beten. Mein Sohn verweist mich auf die Gnade des Herrn, ebenso wie Sie, Herr Pfarrer! Wie kann man andere auf den verweisen, an den man nicht glaubt? Wie kann Gott Gebete annehmen für einen, der selbst nicht gebetet? Ich hoffe nichts für ihn.«

Dieses »Ich hoffe nichts für ihn!« klang furchtbar. Was mußte eine Christin erlebt haben, um das Fundament des Glaubens: die Hoffnung, zu verlieren! Was mußte eine Mutter durchgemacht haben, bis sie dahin kam, von ihrem geliebten Kind zu sagen: sie gebe seine Seele verloren!

Nun begriff er die verfallene Gestalt, den leeren Blick, den Zug bitterer Entschlossenheit um die schmalen Lippen, die nicht lächeln konnten. Diese Frau hatte mit vollem, klarem Bewußtsein resigniert. Nichts ließ sie mehr an sich heran von Tröstung.

»Ich habe alles verbrannt!« fuhr sie fort. »Alles, was an ihn erinnert: seine Briefe, seine Bücher. Er hat Gott gekränkt, darum soll sein Andenken ausgelöscht werden.«

»Aber sein Grab?« rief Gerland. »Sie pflegen doch sein Grab?«

Sie schüttelte das Haupt. »Das thun andere. Pfarrer Polani hat ihm ein Kreuz setzen lassen, gegen meinen Willen. Dem, der vom Erlöser abgefallen, gebührt kein Kreuz!«

Bei diesen Worten leuchtete etwas auf in ihrem erloschenen Auge, wie Haß.

Gerland blickte entsetzt auf die Frau. War es dahin mit ihr gekommen? Sie haßte ihr Kind! – Weil der Sohn abgefallen vom Glauben, hatte sie sein Andenken aus ihrem Herzen gerissen. Der Fanatismus der Rechtgläubigen hatte die menschlichste aller Tugenden: die Mutterliebe, ertötet. War dem Gott der Liebe jemals ein schrecklicheres Opfer gebracht worden? – War das noch Christentum? War hier nicht vielmehr das Gegenteil von Christi Lehre der unergründlichen Sünderliebe? War ein Mensch, der so handeln konnte, nicht da angelangt in seinem religiösen Empfinden, wo Religion zum Götzendienst wird, Glaube in Wahnsinn, Liebe in mörderische Wollust umschlägt? –

Es graute dem jungen Manne vor diesem Zerrbild alles Menschlichen, Weiblichen, Mütterlichen.

Hier war jedes Wort der Teilnahme verschwendet, das sah er wohl. Denn der Trost, der jedem Schmerz auf dem Grunde schlummert: das Vergeben-können und Vergessen-wollen, diesen göttlichen Balsam, der alles menschliche Verfehlen ausgleicht und sühnt, den hatte diese Frau sich selbst in eine Schale bitteren Wermuts verwandelt, die sie nun leeren mußte, ihrem stolzen, verhärteten, selbstgerechten Herzen zur furchtbaren Strafe.



 << zurück weiter >>