Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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VI.

Zwei Tage später zu früher Stunde befand sich Gerland wieder auf dem Wege nach Annenbad.

Wie groß doch das Anpassungsvermögen des Menschen selbst dem Herbsten gegenüber ist! Das Ende seines Freundes Fröschel, der heute beerdigt werden sollte, hatte für Gerland schon nichts Außergewöhnliches mehr; er hatte sich an die Thatsache gewöhnt. Wie die Muschel den hineingeworfenen Splitter sofort mit einem Überzuge bedeckt, so umkleidete sein Geist die schmerzliche Erfahrung eifrig mit allerhand subjektivem Empfinden. –

Wie sie wohl das Begräbnis eingerichtet, wie weit sie bei der Beerdigung des Selbstmörders die kirchlichen Ehren gewähren würden? – Ob nicht wenigstens Polani ein paar Worte über dem Grabe sprechen, oder ob man ihn ganz ohne Sang und Klang einscharren würde? –

Viel beschäftigten sich seine Gedanken auch mit der unglücklichen Mutter. Ob sie wohl bei der Bestattung zugegen sein werde? – Welcher Art mochte ihre Gemütsverfassung sein? Zwei Tage war es bereits her, daß sie das Schreckliche aus seinem Munde erfahren – und zwei Tage sind eine lange Zeit im Seelenleben des Menschen.

Auf alle Fälle wollte er die alte Frau aufsuchen; aus diesem Grunde war er so zeitig aufgebrochen. –

Kurz vor Annenbad kam ihm ein offener Zweispänner entgegen; Graf Mahdem saß mit einem anderen, Gerland unbekannten Herrn darin. Der Geistliche grüßte, und bemerkte, als er bereits einige Schritte vorbei war, am Aussetzen des Hufgeklappers, daß der Wagen halte; er hörte seinen Namen rufen und sah, als er sich daraufhin umwandte, den Grafen absteigen.

»Auf ein Wort, Herr Pastor! Es ist mir sehr lieb, daß ich Ihnen begegne!« rief der Graf. Er gab dem Kutscher noch einen Befehl, wechselte halblaut ein paar Worte mit dem Herrn im Wagen und kam dann auf den Geistlichen zu: »Nur ein paar Worte, Herr Pastor!« Es fiel Gerland auf, daß sein Patron diesmal bei der Begrüßung den üblichen Händedruck wegließ.

Sie gingen auf dem sandbestreuten Sommerwege zur Seite der Straße entlang, von dem Wagen, der halten geblieben war, langsam sich entfernend. Der Graf hatte die Hände in den Taschen seines Überziehers versenkt und räusperte sich mehrfach, ehe er zu sprechen begann.

»Sie gehen wohl zum Begräbnisse dieses Diakonus – – mir ist der Name entfallen.«

»Fröschel,« ergänzte Gerland. – »Jawohl, Herr Graf!«

»Hm, – ja – eine böse Sache – eine sehr böse Sache! – Wenn unter den Geistlichen so etwas vorkommt, was soll dann eigentlich mit dem Volke werden? – Das führt mich gleich auf das, weshalb ich mit Ihnen zu sprechen wünschte, Herr Pastor. – Durch den Superintendenten erfahre ich, daß dieser Fröschel Papiere hinterlassen hat – Manuskripte und dergleichen – atheistischen Inhalts –«

»Herr Graf, ich glaube –«

»Ich weiß schon« – fiel ihm der Graf ungeduldig ins Wort – »atheistisch – auf alle Fälle antireligiös – freigeistig – auf das Wort kommt es gar nicht an. Der Superintendent hat die Schriften so bezeichnet.«

»Der Herr Superintendent kennt den schriftlichen Nachlaß des Verstorbenen gar nicht, Herr Graf.«

Der Graf nahm eine hochfahrende Miene an und meinte in ärgerlichem Tone: »Der Superintendent wird wohl wissen, was er sagt, Herr Pastor! Nach dem Vorleben und der ganzen – wie soll man sagen – nach der ganzen geistigen Richtung dieses Diakonus Fröschel, ist man wohl berechtigt, von antireligiöser, atheistischer Gesinnung zu sprechen. Ein gutgesinnter Mann erschießt sich nicht. – Also, ich will mich auf weitere Erörterungen gar nicht einlassen – dazu habe ich weder Zeit noch Lust! Der Superintendent hat Ihnen gegenüber den Wunsch ausgesprochen, Herr Pastor, von den besagten Schriftstücken Einsicht zu nehmen – wozu er als Vorgesetzter vollständig berechtigt ist! Und Sie haben sich geweigert, diesem Wunsche Ihres Oberen nachzukommen, Herr Pastor! Ich weiß nicht, was Sie sich dabei denken? Ich muß sagen, daß ich mich sehr gewundert habe, als der Superintendent mir diese Mitteilung machte, Herr Pastor; die Sache hat mich äußerst peinlich berührt. Als ich Sie auf die Breitendorfer Stelle berief, nahm ich als selbstverständlich an, daß Sie mein Vertrauen rechtfertigen würden; nun erfahre ich nicht nur diese Sache über Sie, sondern auch, daß Sie überhaupt einer freien Richtung huldigen! – Nein – versuchen Sie sich nur gar nicht erst reinzuwaschen – die Thatsache, daß Sie mit diesem Fröschel so eng liiert waren, allein schon genügt, um die Vermutung zu bestätigen.« –

Gerland hatte wiederholt den Versuch gemacht, den Grafen zu unterbrechen, – erfolglos. Der Magnat hatte seinen roten Kopf bekommen, und schnitt jede Einrede kurzer Hand ab.

»Das will ich gar nicht untersuchen – ich will gar nichts weiter hören, Herr Pastor!« –

Sie waren inzwischen umgekehrt und gingen auf ihren Fußtapfen zurück, dem Wagen zu.

»Ich bin orientiert – vollständig orientiert, Herr Pastor. Die Sache gehört zwar nicht in mein Ressort – aber – immerhin, als Ihr Patron, denke ich, steht mir das Recht zu, Ihnen meine Ansicht auszusprechen. Ich habe gar keine Zeit – wie gesagt – – Adieu!« –

Damit bestieg der Graf den Wagen und rief dem Kutscher zu: »Weiterfahren!«

* * *

In der Parentationshalle begann sich die Geistlichkeit zu versammeln. Der Sarg war in der Mitte des kahlen Raumes aufgestellt – aller Blumenschmuck weggelassen, auch die Kerzen fehlten. Kalt fiel das Mittagslicht über den kleinen, braunen Kasten, gleichgiltig blickten die vier weißgetünchten Wände des nüchternen Raumes drein.

Als einer der ersten betrat Gerland die Parentationshalle. Nach und nach kamen die Amtsbrüder. Es schien, als würde die Ephorie ziemlich vollzählig vertreten sein.

In allen Gesichtern malte sich erwartungsvolle Neugier. Es war bekannt geworden, daß der Superintendent selbst sprechen werde; man war gespannt, wie er sich der Aufgabe entledigen werde. »Eine heikle Sache – eine sehr heikle Sache!« hörte Gerland hinter sich äußern.

Es wurde viel mit gedämpften Stimmen durcheinandergetuschelt. Außerordentliche Gerüchte waren im Umlaufe. Einer der Amtsbrüder hatte ein Zeitungsblatt mitgebracht, in welchem der Fall Fröschel erörtert und in liberalem Sinn ausgebeutet wurde. Das Blatt ging von Hand zu Hand. Pfarrer Roßbach, der es liebte, sich das Ansehen des Gut-unterrichtet-seins zu geben, behauptete, von maßgebender Seite erfahren zuhaben, die Affäre habe höchsten Ortes äußerst peinlich berührt, und von seiten des hohen Kirchenregiments sei bereits eine eingehende Untersuchung der ganzen Angelegenheit angeordnet worden.

»Die Sache kann dem Superintendenten höllisch ans Bein laufen,« meinte jemand.

»Er wird sich schon zu helfen wissen, unser Alter,« erklärte ein anderer.

Gerlands Aufmerksamkeit wurde von diesen Gesprächen abgelenkt, als jetzt die ehrwürdige Patriarchenerscheinung Pfarrer Valentins eintrat. Der Alte hatte in seinem entlegenen Gebirgsdörfchen von dem außerordentlichen Ereignisse vernommen und es sich nicht nehmen lassen, den weiten Weg von Göhdaberg nach Annenbad zurückzulegen; zu Fuß – trotz seiner siebzig. Ein Wagen hätte die Kräfte seines Geldbeutels überstiegen.

Gerland eilte sofort auf Pfarrer Valentin zu, um ihm die Hand zu schütteln. Der alte Mann kannte nur das Faktum, die näheren Umstände von Fröschels That waren ihm unbekannt. Gerland lag daran, daß sein verehrter Freund die Nachricht möglichst ungefärbt und frei von dem, was der Klatsch bereits hinzugedichtet, erfahren solle. Er gab dem Amtsbruder in aller Eile einen kurzen Bericht.

Pfarrer Valentin war tief erschüttert. Er drückte Gerlands Arm mit seinen zitternden alten Händen: »Gott sei uns gnädig – Gott sei uns allen gnädig!« war sein stereotyper Ausruf. Das gute Greisengesicht drückte in allen Zügen Ergriffenheit aus. – Hier ist wirkliches Mitgefühl, sagte sich Gerland.

Die Seelenverfassung Fröschels, die Tragik seines Daseins zu begreifen – den Zustand eines Menschen, der den Gottverlust nicht zu ertragen vermochte – zu verstehen, dazu war dieser Alte, der den Zweifel nur von Hörensagen kannte, wohl außer Stande. Aber Trauer, tiefe herzliche Trauer um die Vernichtung eines Menschendaseins, wehmütigen Kummer um einen Bruder, der vom rechten Wege abgeirrt und in der Nacht der Verzweiflung geendet, die empfand dieses mitleidige, freundliche Gemüt. Ihm trübte theologische Voreingenommenheit sicherlich nicht die Lauterkeit des echt menschlichen Schmerzes. Neid, Eifersucht, Gehässigkeit waren an diesem milden Charakter gnädig vorübergegangen. Er hatte seine schlichte Frömmigkeit nicht herabgewürdigt zu Ketzer richtendem Fanatismus. Thun und Denken dieses Alten war durchtränkt von evangelischem Geiste; sein gesunder Sinn und sein vortreffliches Herz hatten ihn bewahrt vor beschränkt gehässiger Selbstgerechtigkeit. –

Während Gerland noch mit dem Alten sprach, entstand plötzlich ein Flüstern und Zusammenstecken der Köpfe unter den Amtsbrüdern. Durch die halbgeöffnete Thür sah man den Superintendenten und Polani herankommen, beide im Ornat.

Die Gespräche setzten aus, als der Oberhirte eintrat; er grüßte die Versammlung mit stummem Neigen des Kopfes.

Nach ein paar halblauten mit Polani gewechselten Worten nahm der Superintendent am Fußende des Sarges Aufstellung, dem Toten zugewendet. Er faltete die Hände über dem Gesichte und verharrte so während Minuten – man hörte jeden Atemzug. Dann erhob der Prälat die Hände vom Angesicht, wandte sich der Versammlung zu und begann zu sprechen.

Einen biblischen Text legte er seiner Rede nicht zu Grunde. Er sprach von den unerforschlichen Ratschlüssen Gottes, an denen wir nicht zu deuten, die wir hinzunehmen hätten in demutsvoller Ergebenheit. Unerforschlich seien die Wege der göttlichen Vorsehung, und die Wege, die er die Menschen führe, unserem Auge in Dunkel gehüllt. Ratlos, erschreckt, betäubt, stünden wir armen Menschenkinder an diesem Sarge – niemand, als Gott allein wisse, was in der Seele dieses Unglücklichen vor sich gegangen sei. –

»Dieser Tote, den wir heute der Erde übergeben wollen, war einer der Unseren, geliebte Amtsbrüder – ein verordneter Diener unserer Kirche, ordiniert zu dem heiligen Berufe, eingewiesen in sein Amt – ein Verwalter des Wortes und der Sakramente – ein Hirt der Gemeinde – der sein Gelübde abgelegt hat, wie jeder von uns auf das heilige Evangelium von Christo und die Bekenntnisschriften unserer Konfession – der auf dieses Gelübde das heilige Abendmahl genommen, vor einer christlichen Gemeinde – ein eingeschworener Diener Gottes und seiner Sache – – Und nun sehet, Geliebte, – sehet: hier liegt er, der Amtsbruder – der Diener der Kirche, der Haushalter über Gottes Geheimnisse, der das Evangelium lauter und rein verkündigen, die Verlorenen suchen, die Verirrten wiederbringen, die Schwachen stärken, und alle, die seines Amtes bedurften, auf den rechten Himmelsweg führen sollte. – Hier liegt er, der Hirte, der die Lämmer weiden, der die Herde schützen sollte vor dem Wolfe – hier liegt er, selbst eine Beute des bösen Feindes! – Der Haushalter erschlagen, aber nicht auf seinem Posten, nicht mit dem Gesicht gegen den Feind. Nein, zu unserem großen Schmerze, zu unserer tiefen Bekümmernis – wir müssen es aussprechen – dürfen mit der Wahrheit nicht zurückhalten – der Hirt war geflohen – der Haushalter hatte seinen Posten verlassen – der Krieger ist fahnenflüchtig geworden – der Schild des Glaubens, der Panzer der Gerechtigkeit, der Helm des Heils und das Schwert des Geistes, all die herrliche Rüstung, mit der Gott seinen Diener ausgestattet, sie ist befleckt, zerbrochen, geschändet. Der Knecht hat seinen Herrn, dem er Treue zugeschworen, verraten – zwar nicht um Mammons willen, aber doch um anderen schnöden Judassold – um jenes gleisnerischen Truggoldes willen, um dieser unechten Scheidemünze willen, die in unserer Zeit so oft für das echte Gold der Wahrheit ausgegeben wird. – Und wie jener Jünger ist er hingegangen in seiner Verzweiflung und hat seinen Leib, den Tempel Gottes, zerstört; hat dieses Leben, ein Geschenk des Ewigen, von sich geworfen in entsetzlicher Verblendung, weil er sich selbst zur Qual und zum Ekel geworden war. –

»Geliebte Brüder, meint ihr vielleicht, ich sollte nicht also streng ins Gericht gehen mit einem Toten? Glaubt mir, ich weiß es, dieser unser Bruder steht jetzt vor dem Antlitz dessen, der die Nieren prüfet und in das Herz siehet – ich weiß es! Aber meine Freunde, im Angesichte dieses Falles, eines Falles, der von nicht geringer Bedeutung ist der weit hinaus Aufsehen erregen und die Gemüter bewegen wird – im Angesichte eines solchen Falles, der den Widersachern unsrer Kirche neuen Stoff zur Lästerung und Anfeindung und Verdächtigung der Rechtgläubigen geben wird – im Angesichte eines solchen Falles, muß es ausgesprochen werden – offen und ohne Furcht: nicht ein Diener des Wortes, nicht ein Mitglied unserer Kirche war er, der die grauenvolle That begangen – nein! Mit diesem Manne hatte die Kirche, hatten wir nichts mehr zu schaffen; er war abgefallen, er hatte sich selbst losgesagt von unserer Gemeinschaft, er hatte sich ausgestoßen in seinem Herzen; er war nicht mehr der Unsere – und darum fällt auch uns die Schuld nicht zu, als hätten wir nicht gewacht, und nicht um ihn gesorgt. Heimlich, hinter unserem Rücken, hat er sich von uns gestohlen, ist übergelaufen in das Lager des Antichrists. Uns kann die Verantwortung für solches Thun, welches das Licht scheut, nicht aufgebürdet werden. Auf ihn allein, und auf das Haupt derer, die etwa um sein heimliches Denken und Sinnen gewußt haben – fällt die Verantwortung dieser That. –

»Und nun laßt mich einer Persönlichkeit gedenken, Geliebte, die zu schwach, zu gebeugt, zu tief im Innersten getroffen ist durch den Schmerz, um an diesem Orte erscheinen zu können, die aber im Geiste mit uns ist: der Mutter, der unglücklichen, beklagenswerten Mutter des Toten laßt mich gedenken.

»Auch sie, die seinem Herzen am nächsten gestanden, seine Mutter, die ihn geboren, die ihn geliebt und erzogen, die ihn der Kirche zugeführt hat, diese echte Christin, die wir kennen als eine treue Magd des Herrn und erprobte Anhängerin unserer Lehre, auch diese Frau steht ratlos vor solchem Ereignisse. Ihr Sohn, ihr geliebter Sohn, die Stütze ihres Alters, ihr Liebling, ihr Stolz, ihr einziges Kind – ihr Moritz – das Ebenbild ihres frühverstorbenen geliebten Gatten – er, der ihren Herzenswunsch, ihr erträumtes hohes Ideal erfüllen sollte, ein Diener des Herrn und seiner Kirche zu werden – dieser ihr Sohn liegt vor ihr, abtrünnig – gottlos dahingefahren – selbstentleibt. – Sie kann es nicht fassen; dieser junge, vielverheißende Stamm, an den sich ihr dem Grabe zureifendes Leben anlehnen wollte, dieser Stamm ist umgemäht – und noch schlimmer, sie muß erkennen, daß der, den sie für fromm und gut gehalten, daß der innerlich angefressen war von dem Wurme des Zweifels. – Ihr Sohn ist gottlos gewesen, und jetzt wo die Hülle gefallen, gähnt sie die entsetzliche Leere dieser Seele an – ausgebrannt, verzehrt bis aufs innerste Mark durch den Unglauben.

»Und so hat diese Mutter die inhaltschwere Frage an mich gerichtet: Wie ist es möglich! Wie hat er mir das anthun können? – Ich habe ihr keine Antwort darauf geben wollen, der unglücklichen, schwer geprüften Mutter. Sie bedarf der Schonung; für ihr Ohr ist nicht alles bestimmt, was wir, seine Amtsbrüder, seine Vorgesetzten, von ihm urteilen. Aber wir – unter uns – wollen uns die Wahrheit offen gestehen, wir wollen nicht beschönigen und nichts verschweigen, wir wollen dieser Sache, die mancherlei Rätselhaftes enthält, bis auf den tiefsten Grund gehen.

»Der Tote war mir anvertraut, er war einer meiner Diözesanen. Der Fall ist mir tief ans Herz gegangen, glaubt mir das, meine Brüder. Mir ist es gewesen wie einem Vater, dem der Blitz einen Sohn vor den Augen erschlägt, – wie der Henne, der ein heimtückischer Raubvogel eines ihrer Küchlein raubt. Ich darf es sagen: im Laufe eines Lebens, das ich im Dienste unserer geliebten Kirche zugebracht, in meiner gesamten, langjährigen und an Sorgen nicht armen Amtsthätigkeit ist das die schmerzlichste Heimsuchung, die der Herr über mich geschickt hat. Viel und angestrengt habe ich nachgedacht, in den letzten Tagen; habe es nicht an Fleiß und Bemühen fehlen lassen, habe mit heiligem Ernste nachgeforscht, habe die Gewohnheiten des Toten, seine Lebensweise, sein körperliches und geistiges Wesen erkundet, habe mich vor allem auch mit Leuten besprochen, die den Toten gekannt, um eine Erklärung seiner rätselhaften That zu finden – eine Entschuldigung, wenn ihr so wollt, seiner Sünde – eine Antwort vor allem auf die Frage, die uns alle beschäftigt, und die noch oft an uns gestellt werden wird: welcher Art war der Seelenzustand, die geistige Verfassung eines Menschen, der eine solche That zu begehen vermochte? –

»Nun – und da hat sich mir denn unwillkürlich ein Gedanke aufgedrängt – ein Gedanke, zunächst außergewöhnlich, vor dem wir zurückbeben – aber der doch mehr und mehr unsere Seele erobert, ja der uns schließlich beruhigt, weil er das Schrecklichste doch mildert und erklärlicher macht. – Vielleicht ist einem von euch, liebe Amtsbrüder, dieser Gedanke auch schon gekommen – er liegt nahe – und je mehr ich ihm nachsinne, desto mehr nimmt er mich ein.

»Ich meine, ist es nicht möglich, ja, ist es nicht wahrscheinlich und geradezu notwendig, anzunehmen, daß der Verstorbene in der letzten Zeit seines Lebens und vor allem, als er die schreckliche That vollführte, die seinem Dasein ein Ende bereitete, daß er da nicht im Vollbesitze seiner geistigen Kräfte – seines Verstandes war? – Spricht nicht sein scheues, verstecktes Wesen dafür? – das Mißtrauen, die Schroffheit seines Gebarens, die Art und Weise, wie er sich zurückzog von allem Verkehr – seine abweisende Stellung den Amtsbrüdern gegenüber? – Ist das natürlich bei einem jungen Menschen, frage ich – eine solche menschenfeindliche Weltflucht? – Und dann die Art, wie er seine Studien betrieb – nicht theologische – was ja näher für ihn gelegen hätte – nein, Studien auf den abgelegensten Gebieten. – Studien, die keinerlei absehbaren Zweck für ihn hatten, die ihm von keinerlei Nutzen waren – nein, die nur dazu führen konnten, seinen Geist zu verwirren, sein Gemüt zu beunruhigen, seine Seele abzulenken von dem Heilswege und ihn selbst untauglich zu machen, für seinen heiligen Beruf. Ist das natürlich? – frage ich.

»Meine Lieben, dürfen wir angesichts solcher Thatsachen nicht mit Recht die Vermutung aussprechen: dieser unglückselige Mensch war, als er sich selbst entleibte, nicht bei klaren Sinnen – er hat nicht mit vollem Bewußtsein dessen, was er that, gehandelt.

»Und ist es so nicht auch viel besser – hat diese Annahme nicht viel Beruhigendes – entlastet sie nicht ihn, und wendet sie nicht das Odium von uns ab, als seien wir Mitschuldige an seinem Tode? – Dieser Vorwurf ist verkehrt und falsch, und doch wird er uns entgegengeschleudert werden – ich weiß es!

»Schon haben sich vermessene Stimmen erhoben, die behaupten, unsere Kirche und ihre Verfassung sei schuld an diesem Tode. Die Unfreiheit, der Glaubenszwang, der bei uns herrsche, sagen die einen, habe dieses Menschenleben auf dem Gewissen, Denen sei erwidert: unsere Kirche ist frei – wir zwingen, wir vergewaltigen niemanden – wer seine Ansichten mit den unseren nicht glaubt bereinigen zu können, der trete aus, wir halten keinen wider seinen Willen. –

»Aber da höre ich andere Stimmen, aus einem anderen Lager, die uns zurufen: die übergroße Freiheit, die bei euch herrscht, der Mangel an Disziplin in eurer Kirche, die Lehr- und Denkfreiheit in Glaubenssachen – die verhängnisvolle Nachwirkung der Reformation – das ist der Geist, aus dem heraus solche Thaten geschehen, das ist der Boden, auf dem der Unglaube gedeiht.

»Denen antworte ich: Es ist wahr, daß unsere evangelische Kirche nach Wahrheit und Erkenntnis forscht, aber sie lockert nicht die Bande göttlicher Lehre und Ordnung, sondern sie festigt und stärkt sie in den Herzen ihrer Anhänger durch Verständnis und Liebe. Nicht aber kann unsere Kirche verantwortlich gemacht werden für die That eines unglückseligen, beklagenswerten Menschen, dessen Geist umnachtet war.

»Meine Lieben, ich will euer Urteil nicht beeinflussen – für mich jedoch ist es klar, und steht als unumstößliche Thatsache fest: der Verstand des Beklagenswerten war verwirrt, er mußte verwirrt sein. – Der Unglückliche wußte nicht, was er that, als er seinem Leben mit eigner Hand ein Ende bereitete. In Wahnsinn ist er dahingefahren. –

»Stehen wir hier nicht vor einer erschütternden Tragödie, liebe Amtsbrüder? – So endet der, welcher abfällt vom Glauben. ›Die Thoren sprechen, es ist kein Gott‹ – aber Gott läßt sich nicht spotten. ›Der im Himmel wohnet, lachet ihrer, und der Herr spottet ihrer.‹ Ist das nicht ein Menetekel in unserer übermütigen, hoffärtigen Zeit die da meint, Gott sei bereits abgesetzt? – Der alte Gott lebt noch! Hier sehen wir seinen Finger!

»Und eine Warnung für uns ist es, liebe Amtsbrüder! Dahin gelangen wir, wenn wir die Überlieferung verachten, wenn wir der Autorität spottend, unsere eignen selbsterwählten Wege gehen. Mit kleinem fängt es an, mit kleinen Zweifeln; da wird dieses oder jenes in Frage gestellt, in diesem oder jenem einer freieren Ansicht gehuldigt – bis eine Schranke nach der andern fällt, bis schließlich der Glauben verscherzt ist – bis man im Gestrüpp der Irrlehre und des Zweifels nicht mehr weiß, wo aus wo ein – den Weg zum wahren Heil nicht wiederfindet. – Immer unlöslicher verwickelt sich der Unglückliche in die Schlingen des Unglaubens – der Fuß strauchelt – das Licht des Himmels verdüstert sich, und umgarnt, verstrickt, hoffnungslos verirrt, verzagt er – sinkt die Nacht der Verzweiflung über ihn – und sein Ende ist Selbstmord.

»Und was bleibt uns nun zum Schlusse übrig? – Worauf weist uns dieses traurigste aller Erlebnisse? – Auf die Allmacht und Allweisheit unseres Gottes weist es uns hin. Wer hier Gottes Walten nicht erkennen will, wahrlich, der muß mit Blindheit geschlagen sein! – Sehet hier den Priester – den abgefallenen, durch die Mächte moderner Irrlehre an seinem Gotte irre gewordenen Priester – in Verzweiflung, in dunkler Nacht des Unglaubens, in Wahnsinn hat er geendet.

»Tief erschüttert stehen wir an diesem Sarge. Wehe ist uns um den Toten, wehe auch um seine Mutter, die mit diesem Sohne alles verliert – alles, außer ihrer Gottesfurcht, und die wird ihr ein Trost sein und ein Stab in ihrem schweren Leid.

»Auf Gott blicken auch wir, Geliebte. Laßt uns beten!

»Allmächtiger, barmherziger Gott, deine Wege sind eitel Weisheit und Güte und was du thuest, ist wohlgethan. Deiner Gnade und allgütigem Erbarmen empfehlen wir unsere Toten, – auch diesen Toten. Wir wissen, daß deine Gerichte recht sind, doch deine Gnade, o Vater, müsse unser Trost sein. Daß aber etliche nicht glauben, was liegt daran! Sollte ihr Unglaube deinen Glauben aufheben? Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden. Ewiger, starker Gott, du wollest uns im Glauben stärken, damit wir in deinem Gehorsam wandeln und dir zum Ruhme leben und dereinst, wenn unser Stündlein kommt, selig sterben. Amen!«

Eine Bewegung ging durch die Reihen, als der Superintendent geendet. Es gab Augen, in denen Thränen blinkten; einzelne aus der Versammlung näherten sich dem Ephorus und schüttelten ihm die Hand. Pfarrer Roßbach äußerte wiederholt und so laut, daß es sein Oberer wohl hören konnte: »Eine herrliche Ansprache, große – herrliche Worte!« –

In der Thür erschienen bereits die Träger. Ein Zug sollte nicht stattfinden.

Während die Träger den Sarg nach dem Grabe schafften, stand man in Gruppen zu zweien und dreien umher, in Unterhaltung. Die Rede des Superintendenten war das Thema, welches alle beschäftigte. Das allgemeine Urteil schien dahin zu gehen, daß er sich seiner schwierigen Aufgabe in bewunderungswerter Weise entledigt habe.

Gerland war es während der Rede zu Mute gewesen, als müsse er auftreten und seinem Oberen ins Wort fallen. Gab es denn noch Wahrheit und Gerechtigkeit im geistlichen Stande, wenn solche Worte geduldet wurden?! – Und niemand schien seine Empörung zu teilen. Im Gegenteil, man gab dem alten Manne recht; seine Worte schienen zu befriedigen, zu beruhigen. War das böser Wille, bewußte Heuchelei, oder war es nur Gedankenlosigkeit, die sich mit jeder Auslegung, auch der absurdesten, zufrieden giebt, wenn sie nur bequem ist – mundgerecht gemacht wird – und unangenehme Thatsachen verhüllt? –

Fröschel in Wahnsinn gestorben! Eine größere, plumpere Lüge war nie verbreitet worden. Gerland hatte der Atem gestockt, als er merkte, worauf der Superintendent mit all den phrasenreichen Vorbereitungen hinaus wollte. – Fröschel unzurechnungsfähig, in geistiger Umnachtung geendet! – Gerland hatte sich umgesehen; würde denn niemand dazwischen springen! – Aller Mienen blieben ruhig, alle hingen sie andächtig an den Lippen dieses Alten, der es verstand, in seinem salbungsvollen Redeflusse Logik, Wahrheit, Thatsächlichkeit zu ersäufen und in einer trüben Flut davonzuschwemmen.

Auf viele hatte er gewirkt. Waren denn diese Leute wirklich allesamt Heuchler; oder gehörten sie zu denen, die alles, was sie gern hören, imstande sind, in voller Aufrichtigkeit zu glauben, wenn es nur ihrer Sache, ihrer Anschauung, ihrem Vorteile angepaßt und förderlich ist? –

Die Träger schienen inzwischen mit ihrem Geschäfte fertig geworden zu sein. Unter den umherstehenden Amtsbrüdern gab's eine allgemeine Bewegung; nach einer entfernten Ecke des Friedhofes ging es – dort war das Grab ausgeworfen.

Ein sanfter Frühjahrsregen ging nieder, die Männer knöpften ihre Überzieher fester und wer einen Regenschirm mit sich führte, spannte ihn auf.

Am Grabe übernahm Polani, als Ortsgeistlicher, die Amtierung. Er sprach einen kurzen Segen und das Vaterunser. Weder Glockenläuten noch Gesang ertönten, während der Sarg hinabgelassen wurde. Auf das »Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staube«, wurde die übliche Handvoll Erde nachgeworfen.

Damit war die kurze Feier beendet. Die Trauergesellschaft lief schnell auseinander, denn jetzt fing der Regen an stärker niederzugehen.

Gerland hatte sich mit dem alten Pastor Valentin zusammengefunden, sie wollten den Regen abwarten und dann den Heimmarsch antreten – ein gutes Stück des Weges hatten sie ja gemeinsam.

Während sie den langen, cypressenbepflanzten Hauptweg des Kirchhofes hinabschritten, hörte Gerland seinen Namen hinter sich rufen. Sich umwendend, erkannte er Polani, der ihm nachgekommen war. »Auf ein paar Worte, lieber Gerland.«

Gerland erklärte dem alten Valentin, wo sie sich treffen wollten, ehe er sich Polani zur Verfügung stellte. Des starken Regens wegen traten sie unter ein Vordach, das den Eingang der Kirche schützte.

»Wollen Sie nicht zu uns ins Pfarrhaus kommen, lieber Gerland? – Meine Frau würde sich sehr freuen; Sie sind ein seltner Gast geworden bei uns!«

Gerland lehnte die Einladung mit deutlicher Kühle ab. Er war nicht gewillt, die Entfremdung, welche nach den letzten Vorgängen zwischen ihm und Polani Platz gegriffen hatte, irgendwie abzuschwächen.

»Schade!« meinte Polani. »Sie würden den Superintendenten bei uns getroffen haben.« –

Gerland zuckte die Achseln. Er habe genug von dem Superintendenten gesehen in der letzten Zeit und vor allem gehört, erklärte er bitter.

»Sie fürchten vielleicht, Gerland, der Superintendent könnte nochmals das Ansinnen an Sie stellen, die bewußten Manuskripte herauszugeben. Seien Sie ohne Besorgnis, das hat er sich aus dem Kopfe geschlagen – die Schriften des armen Fröschel sind ja schließlich auch belanglos.«

»Jawohl! Ihr habt es ja fertig gebracht, ihn auch ohne Einblick in seine Schriften für verrückt zu erklären!« rief Gerland, der die angestaute Entrüstung nicht länger zurückzuhalten vermochte.

Polani lächelte. »Lieber Gerland, an dieser Auffassung des Superintendenten sind Sie selbst zum guten Teil schuld.«

»Wieso – ich?«

»Wenn Sie ihm, wie er es wünschte, Einblick gewährt hätten in Fröschels schriftlichen Nachlaß, so möchte er sich vielleicht eine andere Ansicht über die geistige Verfassung des Toten gebildet haben.«

»Das ist wirklich ein starkes Stück!« rief Gerland außer sich. Die Erregung stieg ihm zu Halse. »Einfach Verdrehung aller Thatsachen! Die Manuskripte durfte ich nicht ausliefern, das wissen Sie sehr gut, Polani, der Sie Fröschels letzte Worte an mich gelesen haben. Ich lege Protest ein dagegen – hören Sie, Polani – ausdrücklichen Protest! Die Leichenrede war eine Schamlosigkeit – ein Theatercoup! Und ich will Ihnen ganz offen meine Ansicht sagen, Polani, was hinter diesem Theatercoup steckt: Angst! Lächerliche, feige Angst – weiter nichts! Angst vor der vorgesetzten Behörde, Angst vor der öffentlichen Meinung. Die nackte Thatsache, daß ein Geistlicher der evangelischen Kirche am Glauben irre geworden und in Verzweiflung seinem Leben ein Ende gemacht hat, soll vertuscht werden. Und da ist man auf den wundervollen Ausweg verfallen, auszusprengen: er sei nicht zurechnungsfähig – er sei nicht bei klarem Verstande gewesen, als er die That vollführte. – Gut, sehr gut! Aber ich kann diese Behauptung widerlegen – ich kann beweisen, daß alles, was der Superintendent vorgebracht hat, leere Erfindung ist. Ein Mensch, der wenige Stunden vor seinem Tode einen solchen Brief zu schreiben vermochte, wie ich ihn von Fröschel in Händen halte, gegen dessen Geistesklarheit kann nur böser Wille, oder bewußte Heuchelei, Zweifel erheben. – Und Fröschels nachgelassene Schriften! – Kirchenfreundlich sind sie allerdings nicht – das ist richtig! – aber ich wünschte manchem von uns die Logik und die Konsequenz des Denkens, die dort aus jeder Zeile spricht. – Ich brauchte diese Manuskripte nur zu veröffentlichen, ich brauchte nur eins von ihnen drucken zu lassen, und der Superintendent steht da gebrandmarkt als lächerlicher Lügner.« –

Polani hatte ein eigenartiges, überlegenes Lächeln. »Das können Sie ja nicht, lieber Gerland.«

»Warum nicht! Wenn es gilt, Fröschels Andenken gegen Infamie zu schützen! Dafür würde ich schließlich auch riskieren, den Zorn des gesamten Kirchenregiments auf mich zu laden!«

»Und Sie können es doch nicht!« meinte Polani mildspöttisch. »Sie vergessen in Ihrem Eifer, aus welchem Grunde Sie selbst dem Superintendenten Einblick in Fröschels Nachlaß verweigert haben. Sie erklärten sich für gebunden durch den Wunsch des Toten. Ich meine, das Hindernis, welches Sie Ihrem Oberen gegenüber geltend machten, muß doch wohl auch dem Publikum gegenüber Geltung haben.« –

Das Argument war unwiderleglich; Gerland sah das sofort ein. Er hatte sich verrannt und in argen Widerspruch gebracht. Es war noch sehr gnädig von Polani, daß er ihn in äußerlich schonender Weise auf den Fehler aufmerksam machte.

Die Überlegenheit dieses aalglatten Gegners hätte einen zur Verzweiflung bringen mögen! Diese kühle, zielbewußte, temperamentlose Ruhe war empörender noch als der geschwätzige Eifer des senilen Superintendenten.

»Ich habe den jungen Menschen mit tiefem Interesse beobachtet vom ersten Tage an, wo er hierher kam,« sagte jetzt Polani. »Er war mir – ich sage es offen heraus – ein Problem. Ich habe meine Augen nicht von ihm gelassen. Und sehr bald hat sich mir die Überzeugung aufgedrängt, daß dieses Gehirn anders organisiert sein müsse, als das anderer Menschen.«

»Darüber haben Sie mir gegenüber nie ein Wort fallen lassen? Ich entsinne mich noch sehr genau der Worte, die Sie gebrauchten, als Sie mir zum ersten Male von Ihrem Diakonus sprachen.« –

»Ich auch, Gerland! – Ich entsinne mich gerade dieser Worte sehr gut. Ein außergewöhnlicher, hochbegabter junger Mensch – so ähnlich beschrieb ich ihn wohl; dasselbe sage ich noch jetzt. Er war ein außergewöhnlich von Gott mit Gaben ausgestatteter Mensch – um so größer der Jammer um so viel vergeudete edle Kräfte. Aber sehen Sie, Gerland, das war es ja gerade – wie soll ich es ausdrücken – überbildet, überreizt – überspannt war dieser Geist. Es war eine Art Höhenwahn, der ihn beseelte. Das Einfache, das Rationelle, womit andere Menschen auskommen, genügte ihm nicht – er war ein geistiger Nimmersatt – unzufrieden, skeptisch – ein unruhiger Kopf; – über die Linie, wo dem gesunden Denken Schranken gesetzt sind, wollte er hinaus – und so verflog er sich ins Leere, wo die Luft zu dünn wird für menschliche Lungen. Ich habe dem Vorgange mit geheimer Sorge zugesehen.« –

»Und warum, wenn Sie darüber wirklich so klar sahen, sind Sie denn nicht eingesprungen – beizeiten?«

»Die Frage ist durchaus berechtigt, Gerland. Als erstem Geistlichen lag mir die Pflicht ob, den jungen Menschen zu überwachen und ihm mit brüderlicher Liebe bei Seite zu stehen. Ich war mir dieser Pflicht bewußt, und ich habe es auch versucht, ihr nachzukommen. Freilich, wenn man eine Hand anbietet, so gehört eben dazu, daß der andere einschlägt. – Fröschel war mißtrauisch von Natur; er hegte, ich weiß nicht welchen Argwohn gegen mich – den Verdacht wohl, ich könnte ihn geistig bevormunden und überwachen. Es war eine krankhafte Furcht vor Beeinflussung, eine Art Verfolgungswahn, wenn man will. Glauben Sie mir, Gerland, alle Funktionen seines Geistes waren übertrieben, überreizt. – Unnatürlich war auch sein Verhältnis zur Mutter. Er liebte sie – gewiß – aber selbst die Liebe zur Mutter wurde vergiftet durch die argwöhnische Furcht vor Beeinflussung. – Die Frau steht mir sehr nahe. – Ich habe oft und ernst mit ihr über den Sohn gesprochen, seine religiösen Zweifel waren ihr ja kein Geheimnis. Sie hoffte auf den Einfluß der Zeit. – Ich ließ sie bei ihrem Hoffen, aber teilen konnte ich es nicht. Mir ahnte Schlimmes für diesen Geist. Und meine Befürchtungen haben sich ja bestätigt.«

»Und teilt denn die Mutter Ihre Ansichten – zweifelt sie etwa auch an dem Verstande des Sohnes?«

»Das ist eine Frage, Gerland, auf die ich Ihnen die Antwort schuldig bleiben muß. – Die Frau kannte ihren Sohn besser, als irgend jemand. Und ich weiß, daß ihr heißestes Gebet gewesen ist, der Herr möge den im Dunklen Irrenden zurückführen zum Lichte.« –

Gerland war still geworden; des anderen Worte gaben ihm zu denken.

Polani entging es nicht, daß er Eindruck gemacht hatte. »Wir sprechen darüber noch ein andermal ausführlicher, lieber Gerland,« sagte er. »Ich habe es wohl gemerkt, daß Sie Vorwürfe gegen mich auf dem Herzen hatten, in den letzten Tagen – und das schmerzte mich aufrichtig. – Wie gesagt, wir sprechen noch hierüber; vielleicht wird das ein Anlaß für Sie, mich aufzusuchen. Das sollte mich von Herzen freuen. – Ich muß jetzt heim. Auf Wiedersehen!« –



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