Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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VIII.

Am nächsten Morgen erschien ein Mann im Pfarrhause, dessen Physiognomie Gerland nicht unbekannt war, doch wußte er nicht sofort, mit welchem seiner Parochianen er diese ausgemergelte Gestalt, das hohlwangige, bartlose Webergesicht identifizieren sollte. Der Mann mußte ihm erst seinen Namen nennen: Karl Heinze aus Eiba. – Richtig! der Sohn der alten Märzliebs-Hanne.

»Nun was bringen Sie mir, Heinze? – Vor allem, wie geht es Ihrer Mutter?«

»Ich wollt ack, Herr Paster – und de Mutter is och gastern gesturba.« –

Die Nachricht kam niederschmetternd und, obgleich die Alte in der letzten Zeit sichtbar dem Ende entgegengegangen war, überraschend für Gerland.

»Warum haben Sie mich denn nicht rufen lassen?«

»Mer wullten – und mer hoan och nach Se geschickt, Herr Paster. De Mutter that gor su sihre batteln – nee, wenn 'ch ack und 'ch kinnt an Pfarrn nuch a engstes Mal sahn, bevur 's alle werd. – Gih ak und ruf den Herrn Paster, sagte de Frue über mich. Und ich bin och und ha och. – Aber mir sagt's dar Küster schun uf'n halben Wage, Se wiern ne derhema, Se wiern salber uf ne Leicha – sagte der Küster. Nu do bin 'ch umgekahrt, uf heme zu.« –

»Wann war denn das, Heinze?«

»Gastern ei dar Fruh, und uf'n Mittch is se gesturba.« –

Gerland war es leid um die alte Frau; die Ereignisse der letzten Tage hatten es ihm unmöglich gemacht, sie aufzusuchen. Und nun war sie gestorben, ohne seinen Zuspruch, ohne daß er ihr die letzte schwere Stunde hätte erleichtern können. Nun war sie tot, seine alte Freundin, an deren Frömmigkeit und naiver Gottesfurcht er sich so oft erfreut und erbaut hatte. –

Er fragte den Sohn nach den näheren Umständen ihres Todes, aber aus dem schwachköpfigen Menschen war nicht viel herauszubekommen; er mochte auf dem Wege zum Pfarrhause bereits eingekehrt sein, wenigstens sprach verdächtiger Branntweingeruch, den er verbreitete, dafür. Es fiel dem Geistlichen schwer, mit ihm das zum Begräbnis Nötige zu verabreden. –

Gerland eilte schnurstracks nach Eiba hinauf.

Der äußeren Erscheinung des Hauses merkte man nicht an, daß hier das älteste und würdigste Familienmitglied am Tage zuvor verschieden war und noch unbeerdigt liege; alles ging seinen gewohnten Gang. Das älteste Mädchen hockte barfuß und in Hemdsärmeln hinter dem Webstuhle, wie gewöhnlich, wenn der Geistliche kam, sich mit halb verlegenem, halb dreistem Lächeln hinter der Lade verkriechend. Eines ihrer Kinder saß am Spulrad und spulte. Die Hausfrau bereitete das Essen zu. An sie wandte sich Gerland mit seinen Fragen.

Aus dem ungeschminkten Berichte dieser derben Frau erfuhr er ungefähr folgendes: Die Kranke war während der letzten Tage nicht mehr imstande gewesen, die dargereichte Nahrung bei sich zu behalten. Immer schwächer war sie infolgedessen geworden und hatte oft stundenlang bewußtlos gelegen. Einige Male schon hatten sie geglaubt, die Mutter sei tot, aber sie habe sich doch wieder »gerappelt«. Die Tonchen sei dagewesen und habe ihr einen Thee gekocht, und als sie den auch nicht bei sich behalten, habe die Kräuterfrau erklärt, das sei ein sicheres Zeichen, daß es alle mit ihr werde. In der Nacht hätte die Mutter viel »Traume gesahn vun lieben Gutt und vun Herrn Christus, und dan Engeln« – auch mit der verstorbenen Enkelin schien sie wieder Verkehr gehabt zu haben – und mit dem Herrn Pastor hätte sie ebenfalls lebhafte Zwiesprache gehalten. Am Morgen sei sie dann zu sich gekommen und habe nach dem Geistlichen verlangt. Auch die Tonchen hatte geraten, nach dem Pfarrer zu schicken, denn den Abend würde sie nicht überleben. Um ihr noch eine Freude zu bereiten, habe man ihr ihre Lieblingsspeise »Wuchteln« zubereitet, aber sie habe das Essen zurückgewiesen und erklärt, daß sie nur noch den heiligen Leib ihres Erlösers genießen wolle. Daraufhin habe man nach dem Pfarrer geschickt; aber die Antwort war gekommen, der sei auswärts. Nachher habe es geschienen, als ob es der Mutter angst würde. Immer wieder hatte sie nach dem Verbleib des Geistlichen geforscht und dann auf einmal gefragt, ob denn Gertrud Haußner noch nicht zurück sei und ob die nicht wenigstens zu ihr kommen wolle? Man hätte nach Eichwald geschickt, um der Mutter den Gefallen zu thun, und Gertrud sei auch gekommen. –

»Wie denn!« fragte Gerland, der seinen Ohren kaum traute, »Doktor Haußners Tochter?«

»Ju, iu! Haußners sein duch wieder zurücke, a Tage a zahne.«

»Und Fräulein Haußner war hier?«

»Ju, ju! Glei is se gekumma, – de Gertrud – weil mer se rufa ließa.«

Gerland war aufs äußerste überrascht. Doktor Haußner und Gertrud wieder in der Gegend! – Und das erfuhr er so gelegentlich.

»Se is ju immer su sihre gutt zu dar Mutter gewast, woas de Gertrud is,« – hieß es.

Die letzten Stunden der alten Frau bekamen doppeltes Interesse für den Geistlichen, seit er wußte, daß Gertrud um sie gewesen war. Er suchte nun erst recht alles was auf ihr Abscheiden Bezug hatte in Erfahrung zu bringen.

Die Mutter hatte sich von Gertrud aus Bibel und Gesangbuch vorlesen lassen, wurde berichtet, manchen Vers habe sie anfangs mit klarer deutlicher Stimme nachgesprochen, dann seien die Worte immer undeutlicher geworden, bis sie ganz still gewesen. Sie hätten alle gedacht, sie schliefe nur. Gertrud habe es zuerst gemerkt, daß es der Tod sei. Sie hatten die Mutter angefühlt, und richtig, sie war kalt gewesen. –

Gerland verlangte die Leiche zu sehen. Sie lag nebenan in der Kammer. Der Ausdruck der Züge war schmerzlos und zufrieden.

Das war die zweite Leiche, an die Gerland im Laufe weniger Tage gestellt wurde.

Aber welch ein Unterschied! Er drängte sich von selbst auf.

Im felsenfesten Vertrauen auf ihren Gott und Heiland und in seliger Hoffnung auf ein ewiges Leben war diese Alte sanft entschlafen. – Und da drüben, der arme Freund! – er, der höher begabt und höher begnadet, alles vernichtet hatte, was die alte Bettlerin gestärkt und getröstet.

Wer von den beiden hatte recht?

Hatte jene Alte das gefunden, was ihr brechendes Auge in Verzückung gesehen? – Schwebte sie jetzt, ein seliger Geist, in Verklärung, lächelnd im blauen Äther der Ewigkeit? – Oder war das Lichtlein ausgeblasen, bis auf den Stumpf niedergebrannt – dieser verbrauchte, verfallende Körper, das letzte elende Überbleibsel eines siebzigjährigen Daseins voll Not und Sorge?

War dieses Leben mit all seinem Hoffen, Beten und Ringen eine große Thorheit gewesen von Anfang bis zum Ende – betrogen die Hoffnung – umsonst das Beten – und jener hatte doch recht, da er einer solchen sinnlosen Farce mit rascher Hand ein Ende machte?

Wieder stand der junge Mann vor dem großen Rätsel, das ihn kalt und versteinend ansah, mit dem unheimlichen Blicke der Sphinx.

* * *

Die alte Märzliebs-Hanne wurde zu Grabe getragen. Die Beteiligung an dem Begräbnisse war stark. Die Anverwandten hatten bei dieser Gelegenheit ein übriges gethan; Chorgesang und Rede am Grabe war erbeten worden.

Prächtiges Frühlingswetter hatte seinen Einzug gehalten. Die alten Linden auf dem Friedhofe leuchteten im Schmucke ihres frühen Blätterkleides.

Der junge Geistliche stand im Ornate und wartete. Von dem oberen Teile des sanft lehnan gelegenen Friedhofes genoß man eine gute Aussicht über die ganze Thalmulde. Hinter Breitendorf in einer Wegkrümmung erblickte Gerland jetzt den Leichenzug – eine schwarze, sich windende Schlange, die von Eiba herab zu Thale vorrückte. Ein leichter Windzug trug ihm ein paar verlorene Klänge des Gesanges zu: »Jesus meine Zuversicht und mein Heiland ist im Leben!« – Ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken, trotz des hellen Sonnenscheines, der rings um die Gräber spielte. – »Dieses weiß ich, sollt ich nicht darum mich zufrieden geben? Was die bange Todesnacht mir auch für Gedanken macht.« – Er war voll Wehmut – voll melancholischen Mitleids mit der Welt und der eignen Person. Ein Zeichen sich vorbereitender Heilung; die Wunde wollte sich schließen.

Sein Auge ruhte auf Grabsteinen, Holzkreuzen, Glaskugeln und eingerahmten Sinnsprüchen. Da hing manch ein verwelkter Kranz um Gedenktafeln, manch kindlich thörichtes Wort war da niedergeschrieben – unter mannigfachen Zeichen echter Trauer und Liebe standen unnatürliche, geschmacklose Bildnisse. Denn das Landvolk, von Natur derb und nüchtern, zeigt doch in allem, was es erheben und erschüttern soll, einen Zug zur Sentimentalität.

Ein paar Schritte noch stieg Gerland höher. Der Leichenzug war seinen Augen entschwunden. Der Blick des jungen Mannes schweifte hinaus nach den Höhen – klar umrissen lagen sie da. – Ringsum auf den Lehnen grünten die Saaten, die Obstbäume standen umhüllt vom duftigen Brautschleier ihrer jungen Blüte. – Der zweite Frühling war das nun, den er in diesem Thale heraufkommen sah. –

Der Leichenzug kam jetzt die Dorfstraße langsam herab, näher ertönte der Gesang der Schulkinder.

In Eile überlegte der Geistliche noch einmal die Worte, die er am Grabe seiner alten Freundin sprechen wollte. Seiner Rede hatte er den Text aus dem Hebräerbriefe unterlegt: Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes; denn wer zu seiner Ruhe gekommen ist, der ruhet auch von seinen Werken, gleichwie Gott von seinen. So lasset uns nun Fleiß thun, einzukommen zu dieser Ruhe. –

Jetzt war der Zug nicht mehr fern; er sah die Spitze mit dem Kruzifix bereits um die Ecke am Schulhause biegen. Der Geistliche stieg herab, dem Zuge entgegenzugehen.

Das Grab war in einer der tiefergelegenen Reihen ausgeworfen. Dort sah er zu seinem Befremden ein paar weibliche Wesen stehen, städtisch gekleidet – Damen ihrer Erscheinung nach – die eine von ihnen hielt einen Kranz in der Hand.

»Sollte das etwa gar – –?« Er musterte näher kommend in höchster Spannung die jüngere der beiden Frauen mit schärferem Blicke.

Ja, sie war es! – Er erkannte das weiße Gesicht und die guten Augen wieder, deren Anblick er so lange entbehrt. –

Sie hatten ihn auch bemerkt; er sah, wie Gertrud der anderen in Hast etwas zuflüsterte. Aber jetzt war keine Zeit, sie anzureden; er grüßte im Vorbeigehen zu den Damen hinüber und schritt der Leiche bis zum Eingange des Friedhofes entgegen.

Die Feier ging ihren gewohnten Gang. Der Geistliche brauchte keine besonderen Hebel anzusetzen, um sich in die dem Vorgange entsprechende Stimmung zu erheben. Was er sagte, kam ihm von Herzen. Eines der ältesten und würdigsten Gemeindeglieder wurde mit der alten Hanne in die Grube gesenkt, und er wußte gar wohl, was er an der Greisin verloren.

»Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes.« – Die Worte waren wie geschaffen für dieses Grab.

Viel Weinen und Schluchzen war zu vernehmen ringsum von Jung und Alt. In die menschlichen Klagelaute mischte sich wunderlich genug das muntere Gezwitscher übermütiger Vögel über ihnen, in den Baumkronen. –

Als alles vorüber war, trat Gerland zu den beiden Damen; die ältere war ihm unbekannt, er bat darum, vorgestellt zu werden. »O, das ist gar nicht von nöten!« rief ein zartes Stimmchen. »Ich kenne Sie sehr gut, Herr Pfarrer Gerland!« Der Geistliche blickte verwundert auf die kleine, ältliche Person mit dem spitzen Naschen und den dunklen, runden Äuglein. Diese Physiognomie war ihm seines Wissens doch noch nicht im Leben begegnet. »O ja, ich kenne Sie, Herr Pfarrer! Ich bin Martha Herberge.«

Den Namen hatte Gerland allerdings schon gehört. Von dieser Jugendfreundin pflegte seine verstorbene Mutter oft zu sprechen.

»Ja, ja, ich habe Sie gesehen, Herr Pastor, als Sie nicht größer waren als so – bei Ihrer lieben, seligen Mutter. – Jawohl, nicht größer als so waren Sie, ein feines Knäbchen mit langem Lockenhaar.« Die letzte Bemerkung war wohl für Gertrud berechnet, die zuhörend daneben stand.

Wie kam diese Martha Herberge mit Haußners zusammen? –

Gerland ließ die Frage einstweilen auf sich beruhen; ihm war es noch wichtiger, von Gertrud zu erfahren, wie sie den Winter verbracht.

Während er langsam mit den beiden Damen dem Ausgange des Kirchhofs zuschritt, brachte er es über sich, die Frage an das Mädchen selbst zu richten.

Wie Musik klang ihm die weiche Frauenstimme ins Ohr. Sie waren in Zürich gewesen, während des Winters, ihr Vater und sie, und hatten in den letzten Wochen noch einen Ausflug nach den norditalienischen Seen unternommen.

Er erkundigte sich, wie ihr die Reise gefallen, was für Wetter sie gehabt. Auf ihre Antworten achtete er kaum. – Von der Seite schielte er neugierig nach ihrer Erscheinung – sie hatte sich entwickelt, war nicht mehr der Backfisch vom vorigen Sommer. Wirklich, etwas erschreckend Damenhaftes hatte sie an sich in ihrem anliegenden Jackett und dem schwarzen Filzhute mit Schleier.

Sofort überfiel ihn eine Art von Neid – von Ärger – von eifersüchtigem Unbehagen – und er wußte nicht einmal recht weshalb und gegen wen. Wie sie so von der Reise sprach, so selbständig, von so vielen Dingen, die er nicht gesehen. – Wer weiß, was sie erlebt hatte in der langen Zeit! –

Das ältere Mädchen trippelte munter neben den beiden jungen Leuten her; sie schien keine Freundin von langem Schweigen zu sein. Ziemlich unmotiviert mischte sie sich plötzlich in die Unterhaltung, erzählte über Gertruds Reise – von der sie eigentlich nichts wissen konnte – als sei sie selbst dabei gewesen; berichtete dann ungefragt, daß sie eine Cousine von Doktor Haußners verstorbener Frau sei. »Cousine – eigentlich noch mehr Freundin. Die Cousine war nur die Brücke zur Freundin.« – Und nun war sie im Fahrwasser harmloser Geschwätzigkeit. Eigentlich lebte sie in Gnadenthal, im Schwesternhause, aber einmal hätte sie doch die Tochter ihrer lieben Bertha wiedersehen wollen. Und da habe es jetzt gerade gepaßt – und nun sei sie da – und nicht sagen könne sie, wie sie sich gefreut habe, daß der Sohn ihrer lieben Agnes hier Geistlicher sei, Willy Gerland, von dem sie soviel gehört – Und so ging es weiter. Ein Persönchen wie Quecksilber; das junge Mädchen erschien geradezu gesetzt neben der lebhaften, alten Jungfer.

»Das ist also die Kirche!« zwitscherte Martha Herberge. »Und das da wohl das Pfarrhaus? – Nein, die Schule – ach, dort ist das Pfarrhaus. Lieber Gott, wie reizend! Rosen zieht der Herr Pfarrer auch – ach richtig, das erzähltest du mir ja schon, Trudel! – Und die Kirche – kann man mal reingucken? Aber, wir müssen ja zurück; der Papa wird sonst böse. – Also bis zum Sonntage. Herrlich haben Sie gesprochen, Herr Pfarrer, vorhin am Grabe – so trostreich und ergreifend. Sie predigen doch am Sonntag – nicht wahr? Was für eine dumme Frage. Nein, den Sohn meiner lieben Agnes so im Talar zu sehen. Es ist zu schön!«

Gerland bekam einen warmen Händedruck.

»Komm, Trudel! Adieu, Herr Pfarrer! Wir kommen am Sonntag in die Kirche!« –

Gerland ging dem Pfarrhause zu. Am Gartenthore stehen bleibend, blickte er noch einmal verstohlen nach den beiden Frauen aus. Eben sah er noch Gertruds schlanke Gestalt um die Ecke biegen.

Sie war zurück – Gertrud war zurück! – Nun schien ihm erst wahrhaftig das Frühjahr angebrochen. –



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