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Neunzehnter Artikel.
Gebet, von Gott den rechten Gebrauch der Krankheiten zu erbitten.

1.

Herr, dessen Geist so gütig und gnädig in allen Dingen, der Du so barmherzig, daß nicht nur die Förderungen, sondern selbst die Unfälle, die Deine Erwählten betreffen, Wirkungen Deiner Barmherzigkeit sind: sei mir gnädig, daß ich in dem Zustande, in den mich Deine Gerechtigkeit versetzt, nicht heidnisch handle; daß ich wie ein wahrer Christ Dich als Vater und Gott erkenne, in welchem Zustande ich mich auch befinde, denn die Veränderung meiner Lage reicht nicht an die Deinige; denn Du bleibst stets derselbe, während ich der Veränderung unterworfen bin, und Du bist nicht weniger Gott, wenn Du mit Trübsal schlägst und wenn Du strafest, als wenn Du tröstest und Barmherzigkeit übest.

2.

Du hattest mir Gesundheit gegeben Dir zu dienen, ich aber habe sie in unheiliger Weise angewendet. Du sendest mir nun zu meiner Besserung Krankheit; laß nicht zu, daß ich sie gebrauche, Dich zu erzürnen durch meine Ungeduld. Meine Gesundheit habe ich schlecht angewendet, und Du hast mich mit Gerechtigkeit bestraft. Dulde nicht, daß ich Deine Züchtigung mißbrauche. Und da die Verderbtheit meiner Natur so mächtig ist, daß sie Deine Gnaden mir verderblich macht, gieb, o mein Gott!, daß durch Deine allmächtige Gnade mir Deine Züchtigungen heilsam sein mögen. War mein Herz voll von Liebe zur Welt so lange es einige Lebenskraft hatte, so vernichte diese Lebenskraft zu meinem Heile, und mach' mich unfähig der Welt zu genießen, sei es durch Schwäche des Körpers, oder durch Eifer der Liebe, daß ich Deiner allein mich erfreue.

3.

O Gott, vor dem ich am Ende meines Lebens und am Ende der Welt Rechenschaft ablegen muß von allen meinen Thaten! O Gott, der Du die Welt und alles was darinnen ist nur bestehen läßt, um Deine Auserwählten zu prüfen oder um die Sünder zu bestrafen! O Gott, der Du die verhärteten Sünder dem süßen und verbrecherischen Genusse der Welt überlassest! O Gott, der Du unsere Leiber sterben lassest und in der Todesstunde unsere Seele von allem, was sie auf Erden liebte, reinigest! O Gott, der Du an diesem Endpunkte meines Lebens mich losreißest von allem, dem ich ergeben war und woran ich mein Herz gehängt! O Gott, der Du am jüngsten Tage Himmel und Erde und alle Creaturen darinnen vernichten wirst, um allen Menschen kund zu thun, daß nur Du es bist, der existirt, daß deshalb nur Du der Liebe werth bist, da nur Du ewiglich bestehest! O Gott, der Du zerstören wirst all' jene eitlen Götzen und all' jene traurigen Gegenstände unserer Leidenschaften! Ich preise Dich, mein Gott, und ich benedeie Dich alle Tage meines Lebens, daß es Dir gefallen zu meinen Gunsten jenem entsetzlichen Tage vorzukommen, indem Du für mich alles vernichtetest in der Schwachheit, die Du mir auferlegt. Ich preise Dich, mein Gott, und benedeie Dich alle Tage meines Lebens, daß es Dir gefallen mich unfähig zu machen, der Süßigkeiten der Gesundheit und der Freuden der Welt zu genießen; daß Du in gewisser Weise zu meinem Besten vernichtet hast die trügerischen Wahnbilder, die Du in der That zerstören wirst zur Bestürzung der Bösen am Tage Deines Zornes. Gieb, Herr, daß ich mich selbst richte nach jener Zerstörung, die Du für mich gethan, auf daß Du mich nicht selber richtest nach der völligen Zerstörung meines Lebens und der Welt. Denn wie ich, o Herr, im Augenblicke des Todes getrennt sein werde von der Welt, von allen Dingen entblößt, allein in Deiner Gegenwart, um Deiner Gerechtigkeit mit allen Regungen meines Herzens Rede zu stehen; so gieb, daß ich mich in dieser Krankheit betrachte wie in einer Art von Tod, getrennt von der Welt, entblößt von allen Gegenständen meiner Anhänglichkeit, allein in Deiner Gegenwart, um von Deiner Barmherzigkeit Bekehrung meines Herzens zu erflehen; und daß das mein größester Trost sei, daß du mir jetzt eine Art von Tod sendest, um Barmherzigkeit zu üben, bevor Du mir in Wahrheit den Tod sendest, um Gerechtigkeit zu üben. Gieb doch, o mein Gott, daß wie Du meinem Tode zuvorgekommen, so ich der Strenge Deines Richterspruches zuvorkomme; daß ich mich selbst prüfe vor Deinem Gerichte, um vor Dir Barmherzigkeit zu finden.

4.

Gieb, o mein Gott, daß ich die Ordnung Deiner anbetungswürdigen Vorsehung betreffs der Führung meines Lebens schweigend anbete; daß Deine Ruthe mich tröstet; und daß ich, nachdem ich in der Bitterkeit meiner Sünden während des Friedens gelebt, die himmlische Süße Deiner Gnade koste in den heilsamen Leiden, mit denen Du mich heimsuchst. Aber ich erkenne, mein Gott, daß mein Herz dermaßen verstockt und so voll ist von Gedanken, Sorgen, Unruhe und weltlicher Hingebung, daß Krankheit so wenig wie Gesundheit, noch Reden, noch Bücher, noch Deine heiligen Schriften, noch Dein Evangelium, noch Deine heiligsten Mysterien, noch Almosen, noch Fasten, noch Kasteiung, noch Wunder, noch Genuß der Sacramente, noch das Opfer Deines Leibes, noch all' meine Anstrengungen, noch die der ganzen Welt zusammen durchaus gar meine Bekehrung nicht anheben können, wenn Du nicht all' diesen Dingen ganz ungewöhnlichen Beistand Deiner Gnade zu Theil werden lässest. Deshalb, mein Gott, wende ich mich an Dich, allmächtiger Gott, von Dir ein Geschenk zu erflehen, was alle Creaturen zumal mir nicht zu geben vermögen. Ich würde zu Dir zu schreien mich nicht unterfangen, wenn jemand anders mein Schreien erhören könnte. Aber, mein Gott, da die Bekehrung meines Herzens, um die ich flehe, ein Werk ist, das über alle Kräfte der Natur geht, kann ich mich nur an den Schöpfer und allmächtigen Herrn der Natur und meines Herzens wenden. Zu wem sollte ich schreien, Herr, zu wem meine Zuflucht nehmen, wenn nicht zu Dir? Alles was nicht Gott ist, kann mein Verlangen nicht stillen. Gott selbst ist es, den ich erflehe, den ich suche: an Dich allein, mein Gott, wende ich mich, Dich zu erlangen. Öffne, Herr, mein Herz; ziehe ein in diesen aufrührerischen Ort, den Laster beherrschen. Sie haben ihn unterworfen. Ziehe ein wie in das Haus des Starken; aber bändige zuvor den starken und mächtigen Feind, der es bemeistert; und nimm an Dich seine Schätze. Herr, nimm an Dich meine Hingebung, welche die Welt geraubt hatte; raube selbst diesen Schatz, oder nimm ihn vielmehr wieder an Dich, da er Dir gehört, als ein Tribut den ich Dir schulde dafür, daß Dein Bild ihm eingeprägt. Du, Herr, hast es ihm eingebildet bei meiner Taufe, meiner zweiten Geburt; aber es ist gänzlich ausgelöscht. Das Bild der Welt ist ihm derart eingegraben, daß das Betrüge nicht mehr kenntlich. Du allein hast meine Seele schaffen können; Du allein kannst sie neu schaffen; Du allein hast ihr Dein Bild einprägen können, Du allein kannst es Herstellen, und ihm Dein ausgelöschtes Abbild wieder einprägen, d. h. Jesum Christum meinen Heiland, welcher ist Dein Bild und das Gepräge Deines Wesens.

5.

O mein Gott, wie glücklich ist ein Herz, welches einen so bezaubernden Gegenstand zu lieben vermag, der es nicht entehrt, welchem sich hinzugeben ihm vielmehr so heilsam ist! Ich fühle, daß ich die Welt nicht lieben kann, ohne Dir zu mißfallen, ohne mir zu schaden und mich zu entehren, und doch ist die Welt noch der Gegenstand meiner Lust. O mein Gott, wie glücklich ist eine Seele, deren Wonne Du bist, da sie sich der Liebe zu Dir hingeben kann nicht nur ohne Scrupel, sondern sogar mit Verdienst! Wie ist ihr Glück fest und dauernd, denn ihre Sehnsucht wird nicht vereitelt werden, da Du nimmer aufhören wirst und weder Leben noch Tod sie von dem Gegenstände ihrer Wünsche trennen werden; da derselbe Augenblick, welcher die Bösen sammt ihren Trugbildern in gemeinsamen Sturz hineinziehen wird, die Gerechten mit Dir in gemeinsamer Herrlichkeit vereinigen wird; da, wie jene vergehen werden mit den vergänglichen Dingen, an die sie sich gehängt, so diese ewiglich bestehen werden in dem ewigen, durch sich selbst bestehenden Wesen, mit dem sie sich innigst verbunden haben! O, wie glücklich sind diejenigen, welche mit voller Freiheit und mit unbesieglicher Willensneigung vollkommen und aus freien Stücken dasjenige lieben, was sie zu lieben nothwendig verpflichtet sind.

6.

Vollende, o mein Gott, die guten Regungen, die Du mir gegeben. Sei Du ihr Ende wie Du warst ihr Anfang. Kröne Deine eigenen Gaben, denn ich erkenne, daß es Deine Gaben sind. Ja, mein Gott, und weit entfernt zu fordern, daß meine Gebete verdienstlich seien und Dich verpflichten sie nothwendig zu erhören, erkenne ich in tiefster Demuth, daß ich, da ich mein Herz den Creaturen zugewandt, das Du nur für Dich geschaffen, und nicht für die Welt noch für mich, nicht anders Gnade als von Deiner Barmherzigkeit erwarten kann; denn ich habe in mir nichts, was Dich dazu anhalten könnte, zumal alle natürlichen Regungen meines Herzens sich auf die Creaturen oder mich selbst erstrecken und Dich nur erzürnen können. Ich sage Dir also Dank, mein Gott, für die guten Regungen, die Du mir verliehen, und auch dafür, daß Du mir gegeben, Dir dafür zu danken.

7.

Errege mein Herz zur Reue über meine Fehler, denn ohne diesen inneren Schmerz würden die äußeren Leiden, womit Du meinen Körper triffst, mir nur eine neue Veranlassung zur Sünde sein. Laß mich recht erkennen, daß die Leiden des Körpers nichts anderes als die Züchtigung und allzumal das Abbild der Leiden der Seele sind. Aber gieb auch, o Herr, daß sie dieselbe heilen, indem Du mich in den Schmerzen, die ich fühle, betrachten lassest, diejenigen die ich nicht fühlte in meiner Seele, ob sie auch ganz krank und mit Schwären bedeckt. Denn, o Herr, die größte ihrer Krankheiten ist jene Fühllosigkeit und übergroße Schwäche, welche ihr jede Empfindung ihres eigenen Elendes nimmt. Laß mich sie lebhaft fühlen; und möge der Rest meines Lebens sein eine beständige Buße, abzuwaschen die Vergehungen, die ich begangen.

8.

Herr, obwohl mein vergangenes Leben frei gewesen von schweren Verbrechen, da Du Verführung dazu von mir fern gehalten hast, so ist es Dir gleichwohl sehr verhaßt gewesen wegen seiner beständigen Nachlässigkeit, wegen des schlechten Gebrauches Deiner heiligsten Sacramente, wegen der Mißachtung Deines Wortes und Deiner Eingebungen, wegen der Mäßigkeit und gänzlichen Nutzlosigkeit meiner Handlungen und meiner Gedanken, wegen des gänzlichen Verlustes der Zeit, die Du mir gegeben, Dich anzubeten, in all' meinen Beschäftigungen die Mittel Dir zu gefallen zu suchen, Buße zu thun wegen der Fehler, die täglich begangen werden, und die selbst bei den Gerechtesten gewöhnlich sind; so daß ihr Leben eine beständige Buße sein muß, da sie sonst m Gefahr sind an Gerechtigkeit zu verlieren: also, mein Gott, bin ich Dir stets zuwider gewesen.

9.

Ja, Herr, bis auf diese Stunde bin ich stets taub gewesen gegen Deine Eingebungen, und habe Deine Aussprüche mißachtet; habe anders geurtheilt als Du urtheilst; habe den heiligen Lehren, die Du der Welt aus dem Schooße Deines ewigen Vaters gebracht und nach denen Du die Welt richten wirst, widersprochen. Du sagst: »Glücklich die, welche weinen, und unglücklich die, welche getröstet sind«. Ich aber sagte: Unglücklich die, welche seufzen und sehr glücklich die, welche getröstet sind. Ich sagte: Glücklich die, welche gutes Glückes genießen, ruhmreiches Ansehens und kräftiger Gesundheit. Und weshalb habe ich sie wohl anders für glücklich gehalten, als weil all' diese Vorzüge es ihnen gestatteten mit größester Leichtigkeit der Creatur zu genießen, d. h. Dich zu beleidigen. Ja, Herr, ich bekenne, daß ich die Gesundheit für ein Gut gehalten, nicht weil sie ein bequemes Mittel Dir mit Nutzen zu dienen, in Deinem Dienste mehr zu sorgen und mehr zu wachen, dem Nächsten beizustehen; sondern weil ich dank derselben mich mit weniger Zurückhaltung dem Überfluß der Wonnen des Lebens hätte hingeben und ihre traurigen Freuden besser hätte kosten können. Erweise mir, o Herr, die Gnade, meine verderbte Vernunft zu bessern, und meine Gedanken Deinen gleich zu machen. Daß ich mich glücklich schätze in der Trübsal, und daß Du, da ich ohnmächtig bin nach außen zu wirken, meine Gedanken derart reinigst, daß sie den Deinigen nicht mehr widerstreben; daß ich Dich also in meinem eigenen Inneren finde, da ich Dich außen nicht suchen kann wegen meiner Schwache. Denn, Herr, Dein Reich ist in denen, die an Dich glauben, und ich werde es in mir selbst finden, wenn ich darin finde Deinen Geist und Deine Gedanken.

10.

Aber, Herr, was soll ich thun, Dich zu vermögen, Deinen Geist über diese unselige Erde auszubreiten? Alles was ich bin ist Dir verhaßt, und ich finde nichts in mir, das Dir gefallen könnte. Ich sehe in mir, o Herr, nichts als allein meine Schmerzen, die in etwas den Deinigen gleichen. So sieh doch an die Leiden, die ich dulde, und die welche mich bedrohen. Sieh mit Barmherzigkeit auf die Striemen, die Deine Hand mir schlägt, o mein Heiland, der Du Deine Leiden im Tode geliebt hast! O Gott, der Du nur deshalb Mensch geworden um mehr zu leiden als irgend ein Mensch für das Heil der Menschen! O Gott, der Du Fleisch geworden wegen der Sünde der Menschen, und der Du Gestalt angenommen nur um darin all' die Leiden zu dulden, die unsere Sünden verdient haben! O Gott, der Du so sehr die Leidensgestalten liebst, daß Du für Dich die Gestalt erwählt, die von allen auf der Welt am meisten mit Leiden überhäuft war! sei gnädig meinem Körper, nicht seinetwegen, noch um alles, was er enthält, denn alles daran verdient Deinen Zorn, sondern wegen der Leiden, die er erträgt, und die allein Deiner Liebe werth sein können. Liebe, o Herr, meine Leiden, und möchten meine Übel Dich einladen mich zu besuchen. Aber um Deine Wohnung völlig einzurichten, gieb, o mein Heiland, daß, wenn mein Körper das mit dem Deinigen gemein hat, das er leidet für meine Sünden, dann auch meine Seele das mit der Deinen gemein habe, daß sie in Traurigkeit sei über meine Sünden; daß ich also mit Dir und wie Du in meinem Körper und in meiner Seele dulde für die Sünden, die ich begangen.

11.

Erweise mir, o Herr, die Gnade, meinen Leiden Deine Tröstungen zu Theil werden zu lassen, damit ich christlich dulde. Ich bitte nicht darum, frei zu sein von Schmerzen, denn das ist die Belohnung der Heiligen; aber ich bitte darum, den Schmerzen der Natur nicht preisgegeben zu sein, ohne die Tröstungen Deines Geistes, denn das ist der Fluch der Juden und Heiden. Ich bitte nicht, in einer Fülle der Tröstungen ohne irgend welche Duldung zu sein, denn das ist das Leben der Herrlichkeit. Ich bitte auch nicht, in einer Fülle von Leiden ohne Trost zu sein, denn das ist die Lage des Judenthums. Aber ich bitte, o Herr, alles zumal zu empfinden, die Schmerzen der Natur um meine Sünden und die Tröstungen Deines Geistes durch Deine Gnade; denn das ist die echte Lage des Christenthums. Möge ich nicht fühlen Schmerzen ohne Trost; aber möge ich fühlen Schmerzen und Trost, zumal, um endlich dahin zu gelangen, nur Deine Tröstungen zu empfinden ohne irgend welchen Schmerz. Denn Du hast, o Herr, die Welt in natürlichen Duldungen ohne Trost schmachten lassen vor der Ankunft Deines eingeborenen Sohnes: Du tröstest jetzt und milderst die Leiden Deiner Gläubigen durch die Gnade Deines eingeborenen Sohnes: und Du krönst mit völlig ungetrübter Glückseligkeit Deine Heiligen in der Herrlichkeit Deines eingeborenen Sohnes. Das sind die Stufen, auf denen Du so wunderbar Deine Werke führst. Du hast mich der ersten enthoben: laß mich die zweite überschreiten, um zur dritten zu gelangen. Das, Herr, ist die Gnade um die ich flehe.

12.

Laß mich nicht so ferne von Dir sein, daß ich sehen könnte Deine Seele betrübt bis in den Tod und Deinen Leib im Tode erblaßt um meiner Sünden willen, ohne daß ich mich freue meiner Leiden an meinem Körper und meiner Seele. Denn was giebt es schmählicheres und gleichwohl gewöhnlicheres bei Christen und bei mir selbst, als daß, während Du Dein Blut vergießt zur Sühne unserer Schuld, wir in Lüsten dahinleben; als daß Christen, welche Dir anzugehören bekennen; daß die, welche in der Taufe der Welt entsagt, um Dir nachzufolgen; daß die, welche feierlich im Angesichte der Kirche geschworen mit Dir zu leben und zu sterben; daß die, welche zu glauben bekennen, daß die Welt Dich verfolgt und gekreuzigt; daß die, welche glauben, Du habest Dich dem Zorne Gottes und der Grausamkeit der Menschen geopfert, um sie von ihren Sünden zu erlösen; daß die, sage ich, welche all' diese Wahrheiten glauben, die Deinen Leib betrachten als das Opfer, das sich selbst dargegeben zu ihrem Heile, welche die Freuden und Sünden der Welt als einzige Veranlassung Deiner Leiden betrachten, und die Welt selbst als Deinen Henker: daß sie mit eben den Freuden ihren Leibern gütlich zu thun suchen, und in eben der nämlichen Welt; und daß die, welche ohne vor Abscheu zu beben nicht zusehen könnten, wie ein Mensch den Mörder seines Vaters, der sich geopfert um ihm das Leben zu geben, liebkost und werth hält, gleichwohl, wie ich es gethan, in reinster Freude mitten in dieser Welt leben können, die, wie ich weiß, in Wahrheit der Mörder desjenigen gewesen, den ich als meinen Gott und Vater erkenne, der sich dargegeben für mein eigenes Heil, und auf sich genommen die Strafe für meine Ungerechtigkeit? Es ist gerecht, Herr, daß Du gestört hast eine so verbrecherische Freude als die war, in welcher ich ausruhte im Schatten des Todes.

13.

Nimm von mir, Herr, die Traurigkeit, welche die Eigenliebe mir wegen meiner Leiden und wegen der weltlichen Angelegenheiten, die nicht nach dem Willen meiner Herzensneigungen gehen und die nicht Deine Ehre im Auge haben, einflößen könnte; leg' aber in mich eine Traurigkeit ähnlich der Deinigen. Mögen meine Leiden dazu dienen, Deinen Zorn zu besänftigen. Laß sie Veranlassung sein zu meinem Heil und meiner Bekehrung. Möchte ich künftighin Gesundheit und Leben nur wünschen, um es zu benutzen und zu beenden für Dich, mit Dir und in Dir. Ich bitte Dich weder um Gesundheit, noch Krankheit, noch Leben, noch Tod; aber ich bitte, verfüge über meine Gesundheit und Krankheit, über mein Leben und meinen Tod zu Deiner Ehre, zu meinem Heile, zum Nutzen der Kirche und Deiner Heiligen, deren einer ich durch Deine Gnade zu werden hoffe. Du allein weißt, was mir dient: Du bist der allmächtige Herr, thue nach Deinem Willen. Gieb mir, nimm mir; aber mach' meinen Willen dem Deinen gleich, und gieb, daß ich in demüthiger und völliger Unterwerfung, in heiligem Vertrauen mich bereite die Befehle Deiner ewigen Vorsehung zu empfangen, und daß ich alles, was von Dir kommt, in gleicher Weise anbete.

14.

Gieb, mein Gott, daß ich mit stets gleicher Seelenruhe alle möglichen Ereignisse hinnehme, denn wir wissen nicht was wir bitten müssen, und ich kann das eine nicht mehr begehren als das andere, ohne Anmaßung, und ohne mich zum Richter zu machen verantwortlich für die Folgen, die Deine Weisheit mir gerade hat verbergen wollen. Herr, ich weiß, daß ich nur eins weiß; nämlich, daß es gut ist, Dir nachzufolgen, und daß es böse ist, Dich zu beleidigen. Außerdem weiß ich nicht, was das bessere oder das schlechtere in allen Dingen ist, ich weiß nicht was mir nützlich ist, weder von Gesundheit noch von Krankheit, von Reichthum oder Armuth, noch von allen Dingen der Welt. Das zu entscheiden übersteigt die Kraft der Menschen und der Engel und es ist verborgen in den Geheimnissen Deiner Vorsehung, die ich anbete und nicht ergründen will.

15.

Gieb doch, o Herr, daß ich, so wie ich bin, mich Deinem Willen füge; daß ich, krank wie ich bin, Dich in meinen Leiden rühme. Ohne sie kann ich nicht zur Herrlichkeit eingehen; und Du selbst, mein Heiland, hast zu ihr nur durch sie gelangen wollen. An Deinen Leiden haben Dich Deine Jünger erkannt; an ihren Leiden erkennst auch Du, die Deine Jünger sind. Erkenne mich doch als Deinen Jünger in den Leiden, die ich ertrage an Leib und Seele für die Sünden, die ich begangen: und da Gott nichts wohlgefällig ist, als was ihm durch Dich dargebracht, so einige meinen Willen mit dem Deinen und meine Schmerzen mit denen, die Du getragen. Gieb, daß die meinigen die Deinigen werden: vereinige mich mit Dir; erfülle mich mit Dir und Deinem heiligen Geiste. Zieh' ein in mein Herz und in meine Seele, um dort meine Leiden zu tragen, und in mir weiter zu erdulden, was zu ertragen von Deiner Passion Dir übrig bleibt, die Du vollbringst in Deinen Gliedern bis zur völligen Vollendung Deines Körpers; damit, wenn ich voll bin von Dir, nicht ich es mehr bin der lebt und leidet, sondern Du es seist, der lebt und leidet in mir, o mein Heiland! und daß Du, da ich also geringen Antheil an Deinen Leiden habe, mich gänzlich erfüllst mit der Herrlichkeit, die Du erworben, in welcher Du lebst mit dem Vater und dem heiligen Geiste von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Vergleich der alten Christen und der heutigen.

Man erblickte in der Geburtszeit der Kirche nur Christen völlig unterrichtet in allen zum Heil nothwendigen Punkten: während man heutzutage eine so grobe Unwissenheit erblickt, daß sie denen Seufzer auspreßt, die für die Kirche das Gefühl der Anhänglichkeit haben. Man trat ehemals in die Kirche ein nur nach langen Arbeiten und heftigen Wünschen: man befindet sich jetzt in ihr ohne Mühe, Sorge und Arbeit. Man wurde früher nur nach einer strengen Prüfung zugelassen: jetzt ist man in sie aufgenommen, ehe man überhaupt geprüft werden kann. Man wurde ehemals nur aufgenommen, nachdem man sein früheres Leben abgeschworen, nachdem man der Welt, dem Fleische und dem Teufel entsagt: jetzt tritt man in sie ein, ehe man fähig ist irgend etwas von dem zu thun. Schließlich mußte man ehemals die Welt verlassen um in die Kirche aufgenommen zu werden, während man heutzutage in die Kirche eintritt zur selben Zeit wie in die Welt. Man kannte damals vermöge dieses Verfahrens einen wesentlichen Unterschied zwischen Welt und Kirche; man betrachtete sie als einander entgegengesetzt, als zwei unversöhnliche Feinde, von denen der eine den andern unaufhörlich verfolgt, und von denen der Schwächste, dem Anschein nach, dereinst über den Stärksten triumphiren soll; von diesen beiden feindlichen Theilen verließ man den einen, um zum andern überzutreten; man gab die Gesetze des einen auf, um denen des andern zu folgen; man entkleidete sich der Gedanken des einen, um sich zu kleiden in die Gedanken des andern; kurz man verließ, man entsagte, man schwor ab der Welt, in der man zum ersten Mal geboren war, um sich gänzlich der Kirche zu geloben, in der man gleichsam zum zweiten Mal geboren wurde; und also machte man eine sehr große Unterscheidung zwischen jener und dieser: heutzutage befindet man sich fast zur nämlichen Zeit in dieser wie in jener; derselbe Augenblick der uns für die Welt geboren sein läßt, läßt uns in der Kirche wiedergeboren werden; so daß die ahnungslose Vernunft keinen Unterschied mehr zwischen diesen einander so entgegengesetzten Welten macht; sie lebt auf und bildet sich in beiden zumal; man besucht die Sacramente und man genießt die Freuden dieser Welt; und während man also ehemals zwischen beiden einen wesentlichen Unterschied bemerkte, sieht man sie jetzt verwirrt und vermischt, so daß man sie fast gar nicht mehr unterscheidet.

Daher kommt es, daß man ehemals unter den Christen nur genau unterrichtete Personen fand; während sie jetzt von erschrecklicher Unwissenheit sind; daher kommt es, daß ehemals diejenigen, welche durch die Taufe Christen geworden waren und welche die Laster der Welt verlassen hatten, um einzutreten in die Frömmigkeit der Kirche, so selten von der Kirche in die Welt zurückfielen; während man jetzt nichts häufiger sieht als die Laster der Welt im Herzen der Christen. Die Kirche der Heiligen ist ganz besudelt von der Beimischung der Bösen; und ihre Kinder, die sie empfangen und seit ihrer Kindheit unter ihrem Herzen getragen, sind eben die, welche bis in ihr Herz, d. h. bis in die Theilnahme an ihren heiligsten Mysterien, den größesten ihrer Feinde hineintragen, den Geist der Welt, den Geist der Ehrsucht, den Geist der Rachsucht, den Geist der Unreinheit, den Geist der bösen Lust: und die Liebe, welche sie für ihre Kinder hegt, verpflichtet sie bis in ihr Herz den grausamsten ihrer Verfolger zuzulassen. Nicht aber der Kirche darf man das Unheil zumessen, was einer so unglücklichen Änderung gefolgt ist; denn da sie erkannte, daß der Aufschub der Taufe eine große Anzahl Kinder dem Fluche Adams überlieferte, hat sie sie von diesem großen Verderben befreien wollen durch Beschleunigung der ihnen dargebotenen Hilfe; und diese gute Mutter sieht es nur mit großem Kummer, daß das, was sie zum Heile ihrer Kinder vorgesehen, Veranlassung wird, daß die Erwachsenen verloren gehen.

Ihre wahre Absicht ist, daß die, welche sie in einem so zarten Alter von der Befleckung der Welt bewahrt, sich recht weit von den Gesinnungen der Welt entfernen sollen. Sie kommt dem Vernunftgebrauch zuvor, um den Lastern, wozu die verderbte Vernunft sie verleitete, zuvorzukommen; und ehe noch ihr Geist handeln kann, füllt sie sie mit ihrem Geiste, auf daß sie in Unkenntnis der Welt leben möchten und in einem Zustande, um so weiter entfernt von Lastern als sie es nicht einmal erkannt haben würden. Das wird klar durch die Ceremonieen der Taufe; denn sie gewährt die Taufe den Kindern nur, wenn sie durch den Mund der Pathen erklärt haben, daß sie dieselbe wünschen, daß sie glauben, daß sie der Welt und dem Satan entsagen: und da sie will, daß sie diese Neigungen in der ganzen Folge ihres Lebens bewahren, befiehlt sie ihnen ausdrücklich, sie unverletzt zu behalten; und durch unwiderruflichen Befehl verpflichtet sie die Pathen, die Kinder in allen Dingen zu unterweisen; denn sie wünscht nicht, daß die, welche sie in ihrem Schoos von Kindheit an genährt, heutzutage weniger unterrichtet und weniger eifrig seien, als die, welche sie ehemals zu der Zahl der Ihrigen zuließ; sie wünscht keine geringere Vollkommenheit bei denen, die sie nährt, als bei denen, die sie aufnimmt.

Indeß benutzt man das auf eine der Intention der Kirche so entgegengesetzte Art, daß man nur mit Schrecken daran denken kann. Man denkt so gut wie gar nicht mehr an eine so große Wohlthat, weil man sie nie begehrt, weil man sich nicht einmal mehr erinnert sie empfangen zu haben. Da aber klärlich die Kirche bei denen, die als Sclaven des Glaubens auferzogen sind, nicht weniger Eifer verlangt, als bei denen, die es zu werden sich sehnen, so muß man sich das Beispiel der Catechumenen vor Augen halten, ihre Glut betrachten, ihre Hingebung, ihren Abscheu vor der Welt, ihren großmüthigen Verzicht auf die Welt; und wenn man sie ohne diese Gesinnungen nicht für würdig fand, die Taufe zu empfangen, so müssen doch die, welche sie nicht in sich vorfinden, sich der Belehrung unterwerfen, die sie gehabt haben würden, wenn sie begonnen hätten in die Gemeinschaft der Kirche einzutreten: sie müssen sich sogar einer solchen Buße unterwerfen, daß sie keine Neigung mehr haben sie zu verwerfen, und daß sie weniger Abscheu vor der Strenge der Sinnestödtung haben, als sie Entzücken finden in den lasterhaften Lüsten der Sünde.

Um sie auf ihre Belehrung vorzubereiten, muß man ihnen die Verschiedenheit der in der Kirche ausgeübten Gebräuche zufolge der Verschiedenheit der Zeiten verständlich machen. In der beginnenden Kirche unterrichtete man die Catechumenen, d. h. die, welche die Taufe begehrten, ehe sie ihnen ertheilt wurde; und man ließ sie erst nach vollständiger Belehrung über die Geheimnisse der Religion zu, nach einer Abbüßung ihres früheren Lebens, nach eingehender Erkenntnis von der Größe und Vorzüglichkeit des Glaubensbekenntnisses und der christlichen Lehren, in die sie für immer eintreten wollten, nach bedeutsamen Anzeichen einer wahren Herzensbekehrung und nach äußerst heftiger Sehnsucht nach der Taufe. Wenn die ganze Kirche das alles wußte, ertheilte man ihnen das Sacrament der Inkorporation, wodurch sie Glieder der Kirche wurden. Heutzutage, da die Taufe aus sehr gewichtigen Erwägungen den Kindern vor dem Gebrauche der Vernunft gegeben wird, kommt es vor, daß die Nachlässigkeit der Eltern die Christen alt werden läßt, ohne daß sie irgend welche Erkenntnis unserer Religion haben.

Als der Unterricht der Taufe vorherging, waren alle unterrichtet; jetzt aber, da die Taufe dem Unterricht vorhergeht, ist die Unterweisung, die für das Sacrament nöthig war, freiwillig geworden, und folglich vernachlässigt und endlich fast abgekommen. Die Vernunft überzeugte von der Nothwendigkeit des Unterrichts, so daß, als der Unterricht der Taufe vorherging, die Nothwendigkeit der einen bewirkte, daß man zu dem andern nothwendig seine Zuflucht nahm: während man heutzutage, da die Taufe dem Unterricht vorhergeht, glaubt, man könne, wie man Christ geworden ohne Unterricht, auch Christ bleiben ohne Unterricht; und während die ersten Christen so viel Erkenntlichkeit bezeugten für eine Gnade, die die Kirche ihnen nur nach langen Bitten ertheilte, beweisen die Christen von heute nur Undankbarkeit für dieselbe Gnade, die sie ihnen ertheilt, ehe sie auch nur im Stande sind darum zu bitten. Wenn sie so sehr den Fall der ersten Christen, der doch so selten war, verabscheute, welches Grauen muß sie haben vor dem beständigen Fallen und wieder Fallen der letzten, obgleich diese ihr vielmehr zu Dank verpflichtet, da sie sie viel eher und viel leichter der Verdammnis enthoben, der sie durch ihre erste Geburt verfallen waren! Ohne Seufzen kann sie den Mißbrauch ihrer größten Gnade nicht ansehen; und daß das, was sie thut um ihr Heil zu sichern, fast eine sichere Veranlassung zu ihrem Verderben wird; denn sie hat ihren Geist nicht verändert, obwohl sie ihre Gewohnheit verändert.

Fragment einer Abhandlung über die Bekehrung des Sünders.

Das erste, was Gott einer Seele, die er in Wahrheit bekehren will, einflößt, ist eine ganz außergewöhnliche Erkenntnis und Betrachtungsweise, vermöge deren die Seele die Dinge und sich selbst in ganz neuer Weise betrachtet.

Dies neue Licht macht ihr Furcht und verursacht ihr eine Unruhe, welche die Befriedigung an den Dingen, die ihre Lust waren, durchkreuzt.

Sie kann die Gegenstände, welche sie entzückten, nicht mehr ruhig genießen. Beständiger Zweifel beunruhigt sie bei diesem Genuß, und diese innere Betrachtung läßt sie nicht mehr jene gewohnte Süßigkeit finden bei den Dingen, denen sie sich mit vollster Hingabe des Herzens überließ.

Aber sie empfindet in den Übungen der Frömmigkeit noch mehr Bitterkeit als in den Eitelkeiten der Welt. Die Eitelkeit der sichtbaren Dinge berührt sie einerseits mehr als die Hoffnung auf unsichtbare; und andererseits berührt sie die Sicherheit der Unsichtbaren mehr als die Eitelkeit der Sichtbaren. Und also erregt die Gegenwart dieser und die Abwesenheit jener ihre Abneigung derart, daß in ihr ein Durcheinander und eine Verwirrung entsteht, die sie kaum entwirren kann, die aber die Folge alter längst gefühlter und der neuerfahrenen Eindrücke ist. Sie betrachtet die vergänglichen Dinge als vergänglich und sogar schon vergangen; und wenn sie klar erkennt, daß alles was sie liebt der Vernichtung anheimfällt, so sieht sie bei dieser Betrachtung mit tiefem Schrecken, daß jeder Augenblick ihr den Genuß ihres Glückes entreißt, daß das, was ihr das theuerste ist, in jeder Minute dahinschwindet, daß schließlich ein bestimmter Tag kommen wird, an dem sie sich von allem, worauf sie gehofft, entblößt finden wird. Und nun begreift sie vollkommen, daß, da ihr Herz sich nur an hinfällige und nichtige Dinge gehängt, ihre Seele sich am Ausgange dieses Lebens allein und verlassen finden muß, daß sie nicht Sorge getragen sich einem wahrhaften und durch sich selbst bestehenden Gute zu verbinden, das sie während und nach diesem Leben aufrecht erhalten könnte.

In Folge dessen beginnt sie alles das gleichsam als ein Nichts zu betrachten, was in das Nichts zurückkehren muß: Himmel und Erde, ihren Körper, ihre Eltern, Freunde, Feinde, Schätze, Armuth, Unglück, Glück, Ehre, Schande, Achtung, Verachtung, Ansehen, Entbehrung, Gesundheit, Krankheit und sogar das Leben. So ist schließlich alles, was von geringerer Dauer ist als ihre Seele, nicht im Stande dem Wunsche dieser Seele, mit dem sie ernstlich ein Glück zu erreichen sucht, das ebenso dauerhaft als sie selbst, zu genügen.

Sie beginnt sich der Verblendung, der sie verfallen, zu wundern; und wenn sie einerseits die lange Zeit betrachtet, die sie gelebt, ohne solche Betrachtungen anzustellen, und die große Anzahl von Menschen die ebenso leben; und andererseits wie gewiß es ist, daß die unsterbliche Seele nicht in vergänglichen Dingen ihr Glück finden kann, die ihr noch dazu wenigstens beim Tode geraubt werden: so geräth sie in heilige Verwirrung und in eine Bestürzung, die ihr sehr heilsame Unruhe verursacht.

Denn sie erwägt, wie groß auch die Zahl derer sein mag, die in den Ansichten der Welt alt werden, und welche Kraft auch eine solche Menge Beispiele von Menschen, die in der Welt ihre Beglückung finden, haben mag; so ist es gleichwohl sicher, daß selbst wenn die Dinge der Welt irgend welche bleibende Freude zu geben vermöchten – was aus einer unendlich langen unglücklichen und stets gleichmäßigen Erfahrung als falsch erkannt ist – der Verlust derselben doch unvermeidlich ist, im Moment, wo der Tod uns ihrer endlich berauben muß.

Und so ist es unumgänglich, daß die Seele, welche sich Schätze zeitlicher Güter, welcher Art – Gold, Wissenschaft, Ehre – sie auch sein mögen, gesammelt hat, sich aller Gegenstände ihrer Glückseligkeit beraubt sehen muß; und wenn sie sie also auch einmal befriedigen konnten, so werden sie doch sie nicht stets befriedigen können, und wenn man sich mit ihnen auch ein wahres Glück verschaffen kann, so doch kein dauerhaftes Glück, da es in dem Laufe dieses Lebens seine Grenze finden muß.

So beginnt sie vermöge einer heiligen Demuth, welche Gott über den Stolz erhebt, sich über die gewöhnlichen Menschen hinwegzuheben. Sie verurtheilt ihren Lebenswandel; sie verabscheut ihre Grundsätze; sie beklagt ihre Verblendung; sie widmet sich der Erforschung des wahren Gutes; sie begreift, daß es diese beiden Eigenschaften haben muß: erstens, daß es ebenso dauerhaft wie sie selbst; zweitens, daß es nichts Liebenswertheres gebe.

Sie erkennt, daß sie bei der Liebe, die sie für die Welt gehabt, an ihr in ihrer Verblendung diese zweite Eigenschaft entdeckt habe; denn sie kannte nichts Liebenswertheres. Da sie aber an ihr jene erste Eigenschaft nicht bemerkt, so erkennt sie, daß sie nicht das höchste Gut ist. Sie sucht es also anderswo und indem sie vermöge ganz reiner Erleuchtung erkennt, daß es nichts von dem was in ihr, noch von dem was außer oder unter ihr ist, so beginnt sie es zu suchen über sich.

Diese Erhebung ist so außerordentlich und transcendent, daß sie nicht beim Himmel, der sie nicht befriedigen kann, stehen bleibt, noch über dem Himmel, noch bei den Engeln oder den vollkommensten Wesen. Sie durchmißt alle Creatur und kann ihr Herz nicht aufhalten ehe es nicht vor dem Throne Gottes angelangt, wo sie ihre Ruhe zu finden anfängt und jenes Gut, das so beschaffen, daß es nichts Liebenswertheres giebt, und welches ihr nur mit ihrer eigenen Einstimmung entrissen werden kann.

Denn obwohl sie nicht jenes Entzücken fühlt, womit Gott die Gewohnheit der Frömmigkeit belohnt, so begreift sie gleichwohl, daß die Creaturen nicht liebenswerther sein können als der Schöpfer; und ihre Vernunft, gefördert vom Lichte der Gnade, läßt sie erkennen, daß es nichts Liebenswertheres giebt als Gott, und daß er nur denen entrissen werden kann, die ihn verwerfen, denn ihn begehren heißt ihn besitzen, ihn verschmähen heißt ihn verlieren.

Und also freut sie sich ein Gut gefunden zu haben, das ihr nicht entrissen werden kann so lange sie es für sich wünscht, und das nichts über sich hat.

Und durch diese neuen Einsichten gelangt sie zu der Betrachtung der Größen ihres Schöpfers und beugt sich in Demuth und tiefer Verehrung. Sie macht sich vor ihm zu nichte; und da sie von sich selbst keine Vorstellung bilden kann die niedrig genug wäre, noch eine solche begreifen die erhaben genug wäre für dies höchste Gut, so macht sie erneute Anstrengungen sich bis in die tiefsten Abgründe des Nichts zu erniedrigen, indem sie zugleich Gott in den vervielfältigten Unermeßlichkeiten betrachtet. Schließlich fehlt ihr die Kraft zu diesen Begriffen und sie betet ihn nun in Schweigen an, betrachtet sich als sein unwerthes und unnützes Geschöpf und betet ihn in immer erneuter Ehrfurcht an und segnet ihn, und möchte ihn ewig segnen und anbeten.

Sodann erkennt sie die Gnade, die er ihr erzeigt, indem er seine unendliche Majestät einem so erbärmlichen Wurme offenbarte; mit Scham bemerkt sie, daß sie so viel Eitelkeiten diesem göttlichen Herrn vorgezogen; und ergriffen von Zerknirschung und Buße flüchtet sie zu seinem Erbarmen, um seinen Zorn aufzuhalten, dessen Wirkung ihr bei der Betrachtung seiner Unermeßlichkeit entsetzlich erscheint.

Sie sendet inbrünstige Gebete zu Gott empor, von seiner Barmherzigkeit zu erflehen, daß, wie es ihm gefallen sich ihr zu offenbaren, es so ihm auch gefallen möge sie zu sich zu führen und ihr die Mittel zu geben dahin zu gelangen. Denn nach Gott sehnt sie sich: noch sehnt sie sich nur zu ihm zu gelangen durch Mittel, die von Gott selbst kommen, weil er selbst ihr Weg, Gegenstand und letztes Ziel sein soll. Nach diesen Gebeten begreift sie, daß sie in Übereinstimmung mit ihrer neuen Erkenntnis handeln muß.

Sie beginnt Gott zu erkennen und wünscht zu ihm zu gelangen; da sie aber die Mittel dahin zu gelangen nicht kennt, so wird sie es, wenn ihr Wunsch ehrlich und wahr ist, machen wie jemand, der einen Ort erreichen will und den Weg verloren hat und nun, da er weiß, daß er verirrt ist, sich an die wendet, welche den Weg genau kennen: auch sie fragt die um Rath, welche ihr den Weg, der zu Gott führt und den sie so lange verlassen, zeigen können. Aber wenn sie nach ihm fragt, so beschließt sie den Rest ihres Lebens mit der erkannten Wahrheit in Einklang zu bringen; und da ihre natürliche Schwäche verbunden mit der Sündengewohnheit, in der sie gelebt, sie ohnmächtig gemacht haben, die ersehnte Glückseligkeit zu erlangen, so erfleht sie von seiner Barmherzigkeit die Kraft, zu ihm zu gelangen, sich ihm anzuschließen und ihm ewiglich anzuhangen. Ganz beschäftigt mit dieser so alten und ihr so neuen Schönheit, fühlt sie, daß alle ihre Regungen sich auf dies Ziel richten müssen; sie begreift, daß sie hier unten nichts weiter zu thun, denn als Geschöpf zu ihm zu beten, als Schuldner ihm Dank zu sagen, als Schuldiger ihm genug zu thun; als Bedürftiger ihn zu bitten, bis zu der Zeit wo sie ihn nur sieht, liebt und in Ewigkeit lobt.

Ende.

Anhang.
Voltaire's Bemerkungen zu den Gedanken Pascals.
[In den Text als Fußnoten eingearbeitet. joe_ebc für Projekt Gutenberg-DE]


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