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Fünfter Artikel.
Eitelkeit des Menschen; Wirkungen der Eigenliebe.

1.

Wir begnügen uns nicht mit dem Leben, welches wir in uns und in unserem eigenen Dasein haben: wir wollen in der Vorstellung anderer ein imaginaires Leben führen und wir bemühen uns deshalb, Aufsehen zu machen. Wir arbeiten unablässig daran, dieses imaginaire Dasein zu verschönern und zu bewahren, und wir vernachlässigen das Wahre; und wenn wir Ruhe, Großmuth, Treue besitzen, so befleißigen wir uns es wissen zu lassen, um diese Tugenden mit jenem imaginairen Dasein zu verknüpfen: wir würden sie von uns lieber trennen, um sie nur damit zu verbinden und wir würden gern Feiglinge sein, um in den Ruf zu kommen tapfer zu sein. Ein bedeutsames Zeichen der Nichtigkeit unseres eigenen Daseins, von dem einen nicht befriedigt zu sein, ohne das andere, und häufig auf das eine um des andern willen zu verzichten! Denn wer nicht sterben wollte um seine Ehre zu retten, der wäre ehrlos. Die Süßigkeit des Ruhmes ist so groß, daß man ihn liebt, mag man ihn knüpfen woran man will, selbst an den Tod.

2.

Der Stolz wiegt all' unsere Leiden auf; denn entweder verbirgt er sie, oder wenn er sie aufdeckt, rühmt er sich dessen, sie zu erkennen. Er hat uns mitten unter unsern Leiden und unseren Irrthümern in so natürlichem Besitz, daß wir selbst das Leben mit Freuden verlieren, wenn man nur davon spricht.

3.

Die Eitelkeit ist so tief gewurzelt im menschlichen Herzen, daß ein Troßknecht, ein Küchenjunge, ein Lastträger sich rühmt und seine Bewunderer haben will: und selbst die Philosophen wollen desgleichen. Die, welche wider den Ruhm schreiben, erstreben den Ruhm, gut geschrieben zu haben; und die, welche es lesen, suchen den Ruhm, es gelesen zu haben: und ich, der ich dies schreibe, hege vielleicht denselben Wunsch; und vielleicht, daß auch die ihn haben, die es lesen werden. Ja, ihr jagt dem Ruhme nach, eines Tages als die Geißel der Jesuiten, der Vertheidiger von Port-Royal, der Apostel des Jansenismus, der Reformator der Christen zu gelten.

4.

Trotz der Erkenntnis aller unserer Leiden, die uns ergreifen und an der Kehle halten, haben wir einen Instinkt, den wir nicht zurückdrängen können und der uns emporträgt.

5.

Wir sind so dünkelhaft, daß wir von aller Welt gekannt sein möchten, selbst von Leuten, die erst kommen, wenn wir nicht mehr sind; und wir sind so eitel, daß die Achtung von fünf oder sechs Personen unserer Umgebung uns erfreut und befriedigt.

6.

Die Neugier ist nur Eitelkeit. Sehr häufig will man nur wissen, um davon zu sprechen. Man würde nicht über das Meer fahren, wenn man niemals davon sprechen könnte, und nur wegen des Vergnügens zu sehen, ohne die Aussicht sich einmal mit jemanden darüber zu unterhalten.

7.

Man sorgt nicht darum, daß man in den Städten, wo man nur vorübergehend verweilt, geachtet ist; aber wenn man in ihnen eine kurze Zeit wohnen muß, so sorgt man darum. Wie viel Zeit ist dazu nöthig? Eine Zeit, die im Verhältnis steht zu unserer nichtigen und hinfälligen Lebensspanne.

8.

Die Natur der Eigenliebe und des menschlichen Ich ist, nur sich selbst zu lieben, und nur an sich selbst zu denken. Aber was hilft es? Er kann nicht verhindern, daß dieser Gegenstand seiner Liebe sei voller Fehler und Elend: er will groß sein und sieht sich klein; er will glücklich sein und sieht sich elend; er will vollkommen sein und sieht sich voller Unvollkommenheiten; er will der Gegenstand der Liebe und Achtung der Menschen sein, und sieht, daß seine Fehler nur ihren Abscheu und ihre Verachtung verdienen.

Dies Wirrsal, in dem er sich befindet, erzeugt in ihm die ungerechteste und strafbarste Leidenschaft, der man sich hingeben kann, denn er faßt einen tödtlichen Haß gegen diese Wahrheit, die ihn straft und seiner Fehler überführt. Er möchte sie gern vernichten, da er sie aber an sich selbst nicht zerstören kann, so zerstört er sie, soweit möglich, in seiner Erkenntnis und in der anderer, d. h. er setzt seinen ganzen Fleiß daran, seine Fehler anderen und sich selbst zu offenbaren ( découvrir) und kann nicht leiden, daß man sie ihm zeigt oder daß man sie sieht.

Es ist ohne Zweifel ein Übel voller Fehler zu sein; aber ein noch weit größeres Übel ist es, davon voll zu sein, und sie nicht erkennen zu wollen, denn auf diese Weise fügt man noch das einer absichtlichen Täuschung hinzu. Wir wollen nicht, daß andere uns täuschen; wir finden es unbillig, daß sie von uns höher geschätzt sein wollen, als sie verdienen: es ist also doch auch nicht recht, daß wir sie täuschen und verlangen, sie sollen uns höher schätzen als wir verdienen.

Wenn sie uns also nur Unvollkommenheiten und Laster, die wir in der That haben, aufdecken, so ist ersichtlich, daß sie uns durchaus kein Unrecht thun, da sie doch gewiß nicht daran schuld sind; sondern daß sie uns Gutes thun, da sie uns helfen uns eines Übels, der Unkenntnis dieser Unvollkommenheiten, zu entledigen. Wir dürfen also, wenn wir gerecht sein wollen, nicht traurig darüber sein, daß sie dieselben kennen, daß sie uns kennen als die, die wir sind, und daß sie uns verachten, wenn wir verachtungswürdig sind.

So würde ein Herz empfinden, welches voll wäre von Billigkeit und Gerechtigkeit. Was müssen wir also von dem unsrigen sagen, welches, wie wir sehen, ganz entgegengesetzter Neigung ist? Denn ist es nicht also, daß wir die Wahrheit hassen, und die, welche sie uns sagen, und daß wir es gern sehen, wenn sie sich zu unserem Vortheil täuschen, und daß wir von ihnen anders geschätzt sein wollen, als wir in Wirklichkeit sind?

Dazu einen Beweis, der mich erschreckt. Die katholische Religion verpflichtet niemanden dazu, seine Sünden ohne Unterschied aller Welt zu offenbaren: sie erlaubt, daß man allen anderen Menschen verborgen bleibe; aber sie nimmt einen aus, und befiehlt, daß man ihm sein Herz von Grund aus offenbare und sich ihm so zeige, wie man ist. Nur diesem einzigen Menschen in der Welt befiehlt sie uns seinen Irrthum zu nehmen und verpflichtet ihn zugleich zu unverbrüchlichem Schweigen, in Folge dessen diese Kenntnis in ihm ist, als ob sie nicht in ihm wäre. Kann man sich etwas liebevolleres und zarteres denken? Trotzdem ist die Verderbtheit der Menschen so groß, daß sie selbst in diesem Gebot noch eine Härte findet; und es ist dies einer der Hauptgründe, weshalb ein großer Theil Europas gegen die Kirche sich empört hat.

Wie ist doch das Herz des Menschen so ungerecht und unvernünftig, um für schlecht zu halten, daß man ihn verpflichtet bei einem Menschen zu thun, was auf irgend eine Weise bei allen Menschen zu thun nur gerecht sein würde! Denn ist es gerecht, daß wir sie täuschen?

Es giebt verschiedene Stufen in dieser Abneigung gegen die Wahrheit: aber man kann sagen, sie ist in allen auf irgend einer Stufe, denn sie ist untrennbar von der Eigenliebe. Und eben diese falsche Rücksicht nöthigt diejenigen, welche gezwungen sind andere zu tadeln, so viel Umwege zu nehmen und Milderungen hinzuzufügen, um sie nur nicht zu verletzen. Sie müssen ihre Fehler kleiner machen, sie scheinbar entschuldigen, Lobeserhebungen und Zeichen der Zuneigung und der Achtung hinzufügen. Und trotz alle dem hört diese Medicin nie auf der Eigenliebe eine bittre Pille zu sein. Sie nimmt davon so wenig wie möglich, und stets mit Widerwillen, häufig sogar mit geheimem Verdruß gegen die, welche sie ihr darreichen.

Daher kommt es, daß derjenige, dem an unserer Liebe gelegen ist, sich wohl hütet uns einen Dienst zu leisten, der, wie er weiß, uns unangenehm ist; man behandelt uns, wie wir behandelt sein wollen: wir hassen die Wahrheit, man verbirgt sie uns; wir wollen geschmeichelt sein, man schmeichelt uns; wir wünschen getäuscht zu werden, man täuscht uns.

Dies bewirkt, daß jedes Maß von Glück, welches uns in der Welt erhöht, uns von der Wahrheit mehr entfernt, denn man fürchtet mehr diejenigen zu verletzen, deren Zuneigung mehr Nutzen, deren Abneigung mehr Schaden bringt. Ein Fürst kann das Märchen von ganz Europa sein, und er allein weiß nichts davon. Ich wundere mich darüber nicht: die Wahrheit sagen ist nützlich für den, dem man sie sagt, aber nachtheilig für die, welche sie sagen, denn sie machen sich verhaßt. Diejenigen aber, welche mit den Fürsten leben, ziehen ihre Interessen denen des Fürsten, ihres Herrn, vor; so denken sie nicht daran, ihm zu nützen, indem sie sich selbst schaden.

Dieses Unglück ist ohne Zweifel größer und gewöhnlicher in hohen Kreisen; aber die niedrigen sind nicht davon frei, da man doch immer einiges Interesse daran hat, von den Menschen geliebt zu werden. So ist das menschliche Leben nur eine beständige Täuschung; man thut nichts, als sich gegenseitig täuschen und schmeicheln. Niemand spricht von uns in unserer Gegenwart so, wie er von uns in unserer Abwesenheit spricht. Die Einigkeit unter den Menschen stützt sich nur auf diese gegenseitige Täuschung; und wenig Freundschaften würden bestehen, wenn jeder wüßte, was sein Freund von ihm sagt, wenn er nicht dabei ist, und doch spricht er dann ehrlich und ohne Leidenschaft.

Der Mensch ist also weiter nichts als Verstellung, Lüge und Heuchelei sowohl gegen sich selbst als gegen andere. Er will nicht, daß man ihm die Wahrheit sagt, er vermeidet sie anderen zu sagen; und all' diese Neigungen, so grundverschieden von Gerechtigkeit und Vernunft, haben ihre natürlichen Wurzeln in seinem Herzen.


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