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Zweite Abtheilung.
Gedanken unmittelbar die Religion betreffend.

Erster Artikel.

Erstaunliche Widersprüche in der menschlichen Natur betreffs der Wahrheit, des Glückes und mehrerer anderer Dinge. –

Beobachtet man die Natur des Menschen, so bemerkt man in derselben nichts befremdenderes, als die Widersprüche betreffs aller möglichen Dinge. Geschaffen die Wahrheit zu erkennen, begehrt er sie glühend, er sucht sie; und dennoch, so oft er sie zu ergreifen wähnt, täuscht und verwirrt er sich dermaßen, daß man ihm ihren Besitz abstreiten kann. Diese Thatsache schuf die beiden Schulen der Pyrrhonianer und der Dogmatisten: erstere wollten dem Menschen jegliche Erkenntnis der Wahrheit absprechen, letztere ihm dieselbe in vollem Umfange zuerkennen; beide indessen mit so wenig überzeugenden Gründen, daß sie die Verwirrung und Rathlosigkeit des Menschen, dessen einzige Aufklärungsquelle sein eigenes Wesen ist, nur vermehren.

Die Hauptsätze der Pyrrhonianer sind: über die Richtigkeit unserer Principien, außer Glauben und Offenbarung, haben wir keine andere Sicherheit, als daß wir sie von Natur in uns bilden. Absolute Pyrrhonianer verdienten nicht, daß Pascal sie erwähnte. Das ist indeß kein zwingender Beweis von ihrer Richtigkeit; denn haben wir außer im Glauben keine Sicherheit darüber, ob der Mensch von einem guten Gott, oder von einem böswilligen Dämon geschaffen sei, Der Glaube ist eine übernatürliche Gnade. Er besteht darin, die Vernunft, welche Gott uns gegeben, zu bekämpfen und zu besiegen; fest und blindlings einem Menschen zu glauben, der im Namen Gottes zu sprechen wagt, statt selbst zu Gott seine Zuflucht zu nehmen. Es ist glauben was man nicht glaubt. Ein fremder Philosoph, der vom Glauben sprechen hörte, sagte das hieße sich selbst belügen. Dabei ist keine Gewißheit; es ist Vernichtung. Es ist der Triumph der Theologie über die menschliche Schwäche. oder ob er von Ewigkeit existirt, oder zufällig sich gebildet hat, so bleibt es unserem Ursprunge gemäß zweifelhaft, ob diese Principien uns als wahre, falsche oder ungewisse gegeben sind. Mehr noch: niemand weiß außer auf gut Glauben bestimmt ob er wacht oder schläft, zumal man ja im Schlaf häufig nicht minder fest zu wachen meint, als wenn man wirklich wacht. Man glaubt Räume, Gestalten, Bewegungen zu sehen; man verspürt das Entschwinden der Zeit und ihre Dauer, ja man handelt gerade so wie im Wachen. Da wir also mit unserer Zustimmung unser halbes Leben im Schlafe zubringen, wo wir von allen Erscheinungen uns keine zutreffende Vorstellung bilden, all' unsere Empfindungen vielmehr nur Täuschungen sind; wer weiß ob die andere Hälfte des Lebens, wo wir zu wachen vermeinen, nicht ein vom ersten nur etwas verschiedener Schlaf ist, aus dem wir aufwachen, wenn wir zu schlafen glauben, wie man oft träumt, daß man träumt Träume über Träume anhäufend. Zu dem ganzen Passus cf. Montaigne's Dictum: »Wir glauben mit der Katze zu spielen: vielleicht spielt die Katze mit uns«. –

Die Reden der Pyrrhonianer gegen die Eindrücke der Gewohnheit, der Erziehung, der Sitten, des Landes und drgl., welche die meisten Menschen, die nur auf diesen nichtigen Grundlagen Glaubensartikel aufbauen, mit sich fortziehen, will ich hier übergehen.

Der Hauptgrundsatz der Dogmatisten ist: ehrlich und aufrichtig gesprochen, kann man die natürlichen Principien nicht bezweifeln. Wir erkennen, sagen sie, die Wahrheit nicht allein durch Vernunftschlüsse, sondern auch durch das Gefühl und durch eine lebendig erleuchtende, anschauende Einsicht; und gerade auf letztere Weise erkennen wir die Grundprincipien. Vergeblich sucht die folgernde Vernunft, die soweit nicht reicht, sie zu bekämpfen. Die Pyrrhonianer, die nur dies erstreben, mühen sich vergeblich daran ab. Um nicht im Traume zu sprechen, bekennen wir, nicht im Stande zu sein, einen Vernunftbeweis zu liefern. Daraus folgt indeß nur die Schwäche unserer Vernunft, nicht aber, wie jene behaupten, die Unsicherheit aller unserer Erkenntnisse: denn die Erkenntnis der Grundprincipien, wie z. B., daß es Raum, Zeit, Bewegung, Zahl, Materie giebt, ist eben so sicher als irgend eine aus Vernunftschlüssen gewonnene, und eben auf diese Erkenntnisse der Anschauung und des Gefühls muß sich die Vernunft stützen und auf sie ihre Folgerungen aufbauen. Ich fühle, daß es im Raume dreifache Ausdehnung giebt, und daß die Zahlenreihe unendlich ist; die Vernunft beweist dann weiter, daß es keine zwei Zahlen giebt, von denen ins Quadrat erhoben die eine doppelt so groß ist wie die andere Nicht vernünftige Überlegung, sondern greifbare Erfahrung beweist diese Besonderheit und so viel andere.. Die Principien fühlt man; die Folgerungen schließt man; dies alles mit Sicherheit, obwohl auf verschiedenen Wegen. Und es ist eben so lächerlich, wenn die Vernunft von dem Gefühl und von der Anschauung Beweise der Grundprincipien fordert, um ihnen beistimmen zu können, als es lächerlich wäre, wollte die Anschauung von der Vernunft ein Gefühl aller von ihr abgeleiteten Folgerungen fordern. Diese Schwäche kann zwar dazu dienen, die Vernunft, welche über alles richten möchte, zu demüthigen, nicht aber unsere Gewißheit zu erschüttern, gerade als ob nur die Vernunft uns belehren könnte. Wollte Gott, wir hätten sie gar nicht nöthig, und könnten alles durch Instinkt und Gefühl erkennen! Aber diese Wohlthat hat uns die Natur verweigert, nur wenige derartige Erkenntnisse sind uns zu Theil geworden: alle anderen können nur durch Vernunftschlüsse erworben werden.

Da haben wir offenen Krieg zwischen den Menschen! Nothwendigerweise muß ein jeder Partei nehmen, und sich entweder zum Dogmatismus, oder zum Pyrrhonismus halten: wollte er neutral bleiben, wäre er gerade ein Pyrrhonianer, denn Neutralität ist das Wesen des Pyrrhonismus; cf. dazu den Wahlspruch Montaigne's, der als consequenter Skeptiker weder bejahen noch verneinen darf: »Que sais-je?« – cf. I, art. XI, § 2. wer nicht gegen sie ist, der ist gerade für sie. Was soll der Mensch dabei thun? an allem zweifeln? Soll er zweifeln ob er wacht, ob man ihn kneift, ob man ihn brennt? Soll er zweifeln, ob er zweifelt? Soll er zweifeln ob er existirt? Das ist unmöglich: und ich behaupte, es hat nie einen vollendeten, consequenten Pyrrhonianer gegeben. Die Natur erhält die Vernunft ohnmächtig, und hindert sie soweit sich zu verirren. Soll er im Gegentheil behaupten, er besäße die Wahrheit unverkürzt, er der, so wenig man ihn drängt, dennoch kein Titelchen von ihr aufzuweisen vermag und die Beute fahren lassen muß?

Wer löst diese Verwirrung? Die Natur verwirrt die Pyrrhonianer, die Vernunft die Dogmatisten. Was soll aus dir werden, o Mensch, der du die Wahrheit suchst mit deiner natürlichen Vernunft? Du kannst weder eine dieser Schulen umgehen, noch in einer bleiben. – Das ist das Bild des Menschen gegenüber der Wahrheit! –

Betrachten wir ihn nun in seinem Verhältnis zum Glücke, dem er in all' seinen Handlungen so rastlos nachjagt. Denn alle Menschen, ohne Ausnahme, wünschen glücklich zu sein. So verschieden die Mittel sind, welche sie anwenden, alle streben sie nach diesem Ziele. Was den einen in den Krieg treibt und den andern zurückhält: es ist derselbe Wunsch, der in beiden verschieden wirkt. Der Wille thut nicht den geringsten Schritt, außer auf dies Ziel. Es ist das Triebrad in allen Handlungen der Menschen, selbst bei denen die sich erschießen oder hängen. Und nie, seit unendlich vielen Jahren, ist jemand, ohne den Glauben dahin gelangt, wohin alle unausgesetzt streben. Alle klagen: Fürsten, Unterthanen; Adel, Bürger; Greise, Jünglinge; Starke, Schwache; Weise, Thoren; Gesunde, Kranke, aus allen Ländern, in allen Zeiten, von jedem Alter und von jedem Stande. Ich weiß, wie süß es ist, sich zu beklagen; daß man von Alters her die Vergangenheit auf Kosten der Gegenwart gepriesen hat; daß jedes Volk sich ein goldenes Zeitalter erdacht, eine Zeit der Unschuld, kräftiger Gesundheit, der Ruhe und Freude, die nicht mehr besteht. Indeß, ich komme aus meiner Provinz nach Paris; man führt mich in einen sehr schönen Saal, wo zwölfhundert Personen eine wonnige Musik anhören; nachdem theilt sich diese ganze Versammlung in kleine Gesellschaften, die ein sehr gutes Abendessen einnehmen, und nach demselben sind sie mit dem Abend durchaus nicht unzufrieden. Ich sehe in dieser Stadt alle schönen Künste in Ehren, die niedrigsten Hantirungen wohl belohnt, die Schwachen wohl getröstet; den Unfällen vorgebeugt; alle Welt genießt oder hofft zu genießen, oder arbeitet um einst zu genießen, welch' letzteres Loos nicht das schlechteste ist. Ich sage also zu Pascal: »Mein großer Herr, seid Ihr ein Narr?«
Ich läugne nicht, daß die Erde oft von Unglück und Verbrechen überflutet ist, und wir haben davon unser gutes Theil gehabt. Aber als Pascal schrieb, waren wir sicherlich nicht so sehr zu beklagen. Wir sind ebenso wenig heute so elend.
»Laßt uns ruhig nehmen, was Gott uns gerade schickt, wir werden nicht immer solchen Zeitvertreib haben«.

Ein so alter, stets fortlaufender und allgemeiner Beweis müßte uns eigentlich von unserer Unfähigkeit, durch eigene Kraft das Glück zu erreichen, überzeugen: indeß Beispiele machen uns nicht klüger. Nie sind zwei Fälle so vollkommen gleich, daß nicht irgend ein feiner Unterschied stattfände; und eben daraus schöpfen wir die Hoffnung, in diesem Falle nicht wieder, wie in anderen, getäuscht zu werden. Da so die Gegenwart uns nie befriedigt, folgen wir den Lockungen der Hoffnung, und sie führt uns von Unglück zu Unglück bis zum Tode, dem ewigen Endpunkte. An einer anderen Stelle sagt Pascal: »Wir leben in der Zukunft; wir bereiten uns stets darauf vor zu leben und leben nie«. Cf. damit das Alte: » Victuros agimus semper nec vivimus unquam«. Manil. Astr. IV, 5.

Sonderbarer Weise existirt in der Natur nichts was nicht schon den Endzweck und das Glück des Menschen ausgemacht hätte, Sterne, Elemente, Pflanzen, Thiere, Insekten, Krankheiten, Kriege, Laster, Verbrechen etc. Aus seinem Naturzustande herabgesunken, giebt es nichts, dem der Mensch sich nicht schon gewidmet hätte. Seit er das wahre Glück verloren, kann ihm alles als solches erscheinen, selbst seine eigene Vernichtung, so sehr sie seiner Vernunft und seinem ganzen Wesen widerspricht.

Die einen suchen das Glück in weltlichem Ansehen, andere in Raritätensammlungen und Gelehrsamkeit, andere in sinnlichen Genüssen. Diesen drei Neigungen entsprechen drei Parteien, und die sogenannten Philosophen haben thatsächlich nur einer von diesen dreien sich hingegeben. Die diesen am nächsten stehen haben erkannt, daß das allgemeine Gut, welches alle Menschen begehren, und woran alle Theil haben sollen, unmöglich in einzelnen Dingen bestehen kann, die nur einzelne besitzen können; denn hat jemand nur einen Theil davon, so macht das, was ihm fehlt, ihm mehr Kummer, als das, was er hat, ihm Befriedigung und Genuß gewährt. Sie haben begriffen, daß das höchste Gut derart sein muß, daß es alle zugleich ungeschmälert und unbeneidet besitzen können, und daß es niemand gegen seinen Willen verlieren kann. Begriffen haben sie es; aber nicht gefunden: und statt eines wirklichen, greifbaren Gutes haben sie nur das Phantom phantastischer Tugend umarmt.

Unser Instinkt lehrt uns, daß wir unser Glück in uns suchen müssen. Unsere Leidenschaften treiben uns nach außen, selbst wenn es an äußeren Reizmitteln fehlt. Die Außenwelt reizt und lockt uns, selbst wenn wir nicht an sie denken. Da haben die Philosophen gut sprechen: »Greift in euer Inneres, dort findet ihr das Glück«: man glaubt ihnen nicht; und die, welche ihnen glauben, sind die größten Thoren. Denn was ist lächerlicher und thörichter als die Lehren der Stoiker, und was ist falscher, als all' ihre Vernunftschlüsse? Es ist wahr, es ist das große unter den kleinen Häusern. Aber er ist sehr respektabel. (Zeno.) Ihr Schluß lautet: man kann immer, was man einmal kann; und da ehrgeizige Männer große Thaten vollbracht, meinen sie, müssen es andere ebensogut können. Das sind Fiebererscheinungen, welche die Gesundheit nicht nachahmen kann.

2.

Der innere Kampf der Vernunft mit der Leidenschaft hat diejenigen, welche Frieden erstreben, in zwei Parteien getheilt. Die einen wollten die Leidenschaften von sich abstreifen und Götter werden; die anderen wollten der Vernunft entsagen und Thiere werden. Aber weder die einen, noch die anderen haben ihre Absicht ausführen können, denn die Vernunft läßt nicht ab, die Niedrigkeit und Ungerechtigkeit der Leidenschaften anzuklagen und die Ruhe derer zu stören, welche sich von ihr lossagen; und die Leidenschaften bleiben stets auch in denen mächtig, welche sich von ihnen lösen möchten.

3.

Da sehen wir was der Mensch aus sich selbst und aus eigenen Kräften vermag, die Wahrheit und das Glück zu erreichen. Wir sind schwach im Beweisen: das kann kein Dogmatismus läugnen: wir tragen in uns die Idee der Wahrheit: das kann kein Pyrrhonismus läugnen. Die Wahrheit ersehnen wir und finden in uns nur Ungewißheit. Das Glück suchen wir und finden nur Elend. Es ist uns unmöglich Glück und Wahrheit nicht zu ersehnen, und es ist uns gleich unmöglich Gewißheit und Glück zu erlangen. Dies Verlangen ist uns gelassen, so um uns zu bestrafen, wie um uns fühlen zu lassen, wie tief wir gesunken sind. Wie kann man sagen, daß die Sehnsucht nach Glück, dies große Geschenk Gottes, diese erste Triebkraft der moralischen Welt nur eine gerechte Strafe ist? O fanatische Beredtsamkeit!

4.

Ist der Mensch nicht zu Gott geschaffen, warum ist er nur glücklich in Gott? Ist der Mensch zu Gott geschaffen, warum ist er wider Gott? –

5.

Der Mensch weiß nicht, welchen Platz er einnehmen soll. Er wandelt offenbar in der Irre und fühlt in sich Überreste eines glücklichen Zustandes, von dem er herabgesunken und den er nicht wieder finden kann. Rastlos und erfolglos durchforscht er undurchdringliche Finsternis.

Hier ist der Quellpunkt des Streites unter den Philosophen, von denen die einen daran arbeiteten den Menschen zu erhöhen durch Klarlegung seiner großartigen Anlagen, während die anderen ihn durch Hinweis auf sein Elend zu erniedrigen suchten. Sonderbar dabei ist, daß jede Partei an Grundsätze der anderen anknüpft, um ihre Meinung zu entwickeln. Denn das Elend des Menschen folgt aus seiner Größe, und seine Größe aus seinem Elend. Die einen folgern also mit um so mehr Recht sein Elend, als sie seine Größe als Beweis heranziehen. Die anderen folgern seine Größe mit um so mehr Sicherheit, als sie gerade vom Elend aus darauf schließen. Alles was die einen anführen können, um die Größe zu beweisen, dient den anderen nur als ein Argument, um daraus das Elend zu folgern, denn man ist um so elender, je tiefer man gesunken ist: und die anderen machen es umgekehrt. So erheben sich die einen über die anderen in unendlichem Kreislauf; denn sicherlich wird man, in demselben Maße, wie die Aufklärung der Menschen zunimmt, im Menschen mehr und mehr Größe und Elend entdecken. Kurz: der Mensch weiß, daß er elend ist. Er ist elend, weil er es weiß; aber er ist groß, weil er weiß, daß er elend ist.

Welch' eine Chimäre ist der Mensch! Echtes Krankengerede. Welch' ein Wunder, welch' ein Chaos, welch' ein Sclav des Widerspruches! Ein Richter über alles; ein schwächlicher Erdenwurm; ein Schatzhaus der Wahrheit; eine Vorrathskammer der Ungewißheit. Stolz und Schmach des Weltalls: wenn er sich rühmt, demüthige ich ihn; wenn er sich beugt, erhebe ich ihn; und so fort, bis er begreift, daß er ein unbegreifliches Unding. –


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