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Vierter Artikel.
Allgemeine Erkenntnis des Menschen.

Diese beredte Auseinandersetzung beweist nichts anderes, als daß der Mensch nicht Gott ist. Er ist an seinem Platze, wie alles übrige in der Natur, unvollkommen, weil Gott allein vollkommen sein kann; oder um es besser zu sagen, der Mensch ist begrenzt, Gott ist es nicht.

1.

Das erste, was sich dem Menschen bei einer Selbstbetrachtung darbietet, ist sein Körper, d. h. eine gewisse Masse Materie, die ihm eigen ist. Um aber zu begreifen, was sie sei, muß er sie vergleichen mit allem was über, und mit allem was unter ihm ist, damit er seine rechten Grenzen erkenne.

Er bleibe doch nicht dabei stehen, einfach die Gegenstände zu betrachten, welche ihn umgeben; er betrachte die ganze Natur in ihrer ganzen erhabenen Majestät; er beschaue jenes glänzende Licht, welches gleich einer ewigen Fackel das Universum erleuchtet; die Erde erscheine ihm wie ein Punkt, gegenüber dem weiten Umkreis, den dieses Gestirn beschreibt; Accomodation P's an die alte Anschauung. und er möge darüber erstaunen, daß dieser weite Umkreis selbst nur ein verschwindender Punkt ist gegenüber dem, den die Sterne, die im Firmamente dahinrollen, umfassen. Wenn aber hier unser Denken stillsteht, so möge die Phantasie weiter schweifen. Sie wird weit eher ermüden auszumalen, als die Natur Farben darzureichen. Alles was wir von der Welt sehen, ist nur eine unmerkliche Spur in dem weiten Busen der Natur. Keine Idee reicht an die Ausdehnung ihrer Räume. Wir haben unsere Begriffe gut aufblasen, wir schaffen doch nur Atome gegenüber den wirklichen Dingen. Es ist eine unendliche Sphäre, deren Centrum überall, deren Peripherie nirgends ist. Dieser schöne Ausspruch ist von Timaeus von Locris: Pascal war würdig, ihn zu erfinden: aber man muß jedem das Seine geben. Endlich ist es eins der größten deutlichen Kennzeichen der Allmacht Gottes, daß unsere Phantasie sich in diesem Gedanken verliert.

In sich zurückgekehrt, betrachte der Mensch, was er ist im Verhältnis zu dem, was ist; er erkenne sich als verirrt in diesem abgelegenen Bezirk der Natur; und darnach wie ihm dieser kleine Kerker, in welchem er wohnt, d. h. diese sichtbare Welt erscheint, lerne er die Erde, die Königreiche, die Städte, sich selbst, seinen wahren Werth schätzen.

Was ist der Mensch im Unendlichen? Wer kann es begreifen? Aber um ihm ein anderes ebenso erstaunliches Wunder zu zeigen, forsche er in den kleinsten Dingen, die er kennt. Ein Milbe z. B. biete ihm in der Winzigkeit ihres Körpers Theile unvergleichlich viel winziger, Beine mit Bändern, Adern in diesen Beinen, Blut in diesen Adern, Feuchtigkeit in diesem Blut, Tropfen in dieser Feuchtigkeit, Dämpfe in diesen Tropfen; er erschöpfe, indem er auch diese letzten Dinge noch theilt, all' seine Begriffskräfte, und der letzte Gegenstand, zu dem er gelangen kann, sei jetzt der unserer Betrachtung. Er denkt vielleicht, dies sei die äußerste Kleinheit der Natur. Ich will ihn darin einen neuen Abgrund sehen lassen. Ich will ihm nicht nur das sichtbare Universum, sondern auch alles, was er von der Unendlichkeit der Natur zu begreifen fähig ist, in dem Umkreis dieses unsichtbaren Atoms ausmalen. Er erblicke darin eine Unendlichkeit von Welten, deren jede ihr Firmament, ihre Planeten, ihre Erde hat in demselben Verhältnis, wie die sichtbare Welt; auf dieser Erde Thiere, schließlich auch wieder Milben, an denen er wieder findet, was er an den ersten gesehen, und noch an diesen anderen findet er wieder dasselbe, ohne Ende und Ruhe. Er verliere sich in diesen Wundern, die vermöge ihrer Kleinheit eben so erstaunlich, als die andern vermöge ihrer Größe. Denn wer wird nicht bewundern, daß unser Körper eben noch nicht wahrnehmbar im Universum, das seinerseits nicht wahrnehmbar im Busen des All, jetzt ein Koloß, eine Welt, ja vielmehr ein All ist gegenüber der äußersten Kleinheit, zu der man nicht gelangen kann?

Wer sich so betrachtet, wird ohne Zweifel erschrecken, sich in der Masse, die ihm die Natur gegeben, gleichsam schweben zu sehen zwischen den beiden Abgründen der Unendlichkeit und des Nichts, von welchen beiden er gleichweit entfernt ist. Er wird erzittern in der Erkenntnis dieser Wunder; und ich glaube, seine Neugier wird sich in Bewunderung wandeln und er wird geneigter sein, sie mit Schweigen zu beschauen, als mit Anmaßung zu erforschen.

Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts gegenüber der Unendlichkeit, ein All gegenüber dem Nichts, ein Mittelding zwischen Nichts und Allem. Er ist von beiden Extremen unendlich entfernt, und sein Dasein ist nicht weniger weit vom Nichts, aus dem er hervorgegangen, als vom Unendlichen in das er verschlungen ist.

Seine Urtheilskraft nimmt in der Reihe der intelligiblen Dinge denselben Platz ein, wie sein Körper in der Ausdehnung der Natur; und alles, was er vermag, ist, einen gewissen Schein von der Mitte der Dinge zu begreifen, während er auf ewig daran verzweifeln muß, ihren Anfang und ihr Ende zu erkennen. Alle Dinge kommen aus dem Nichts und gehen zur Unendlichkeit. Wer vermag solchen erstaunlichen Schritten zu folgen? Der Schöpfer dieser Wunder begreift sie; kein anderer ist dessen fähig.

Dieser Zustand, der die Mitte hält zwischen den Extremen, kehrt in all' unsern Fähigkeiten wieder. Unsere Sinne empfinden kein Extrem. Zuviel Geräusch betäubt uns, zuviel Licht blendet uns, zu große Entfernung und zu große Nähe hindert das Sehen, zu große Länge und zu große Kürze verdunkeln eine Rede, zu viel Vergnügen belästigt, zu viel Gleichklang mißfällt. Wir spüren weder die äußerste Wärme noch die äußerste Kälte. Die extremen Eigenschaften sind unsere Feinde, und nicht empfindbar. Wir empfinden sie nicht mehr, wir erleiden sie. Zu große Jugend und zu großes Alter hindern den Geist; zu viel und zu wenig Nahrung bringt seine Thätigkeit in Unordnung; zu viel und zu wenig Unterricht verdummt ihn. Die extremen Dinge sind für uns als ob sie nicht wären, und wir sind nicht in ihrem Betracht. Sie entgehen uns oder wir ihnen.

Das ist unser wahrer Zustand. Das engt unser Erkennen ein in bestimmte Grenzen, die wir nicht überschreiten, unfähig alles zu wissen und alles absolut zu ignoriren. Wir befinden uns auf einer weiten Mitte; stets unsicher schwankend zwischen Unwissenheit und Erkenntnis; und wenn wir denken weiter vorwärts zu schreiten, so schwankt und entschlüpft unser Gegenstand unseren Händen; er verbirgt sich und flieht ewigliche Flucht: nichts kann ihn aushalten. Das ist unsere natürliche Lage und doch ist sie die unserer Neigung am meisten widersprechende. Wir brennen vor Begier, alles zu ergründen und einen Thurm zu erbauen, der bis in die Unendlichkeit reicht. Aber unser ganzes Gebäude kracht und die Erde öffnet sich bis in die Tiefen.

2.

Ich kann mir wohl einen Menschen ohne Hände, ohne Füße denken; ich könnte ihn sogar ohne Kopf denken, wenn mich nicht die Erfahrung gelehrt hätte, daß er mit ihm dächte. Also macht doch der Gedanke das Wesen des Menschen, und ohne dasselbe kann man ihn nicht begreifen. Was ist es, was in uns Freude empfindet? Die Hand? Der Arm? das Fleisch? das Blut? Man wird einsehen, daß es etwas Immaterielles sein muß.

3.

Der Mensch ist so groß, daß seine Größe sogar darin sich zeigt, daß er sich als elend erkennt. Ein Baum erkennt sich nicht als elend: es ist wahr sich als elend erkennen heißt elend sein; aber es heißt eben so gut groß sein, wenn man sich als elend erkennt. So beweist all' dies Elend seine Größe; es ist das Elend eines großen Herrn, das Elend eines entthronten Königs.

4.

Wer fühlt sich unglücklich nicht König zu sein, außer ein entthronter König? Fand man Emilius Paulus unglücklich nicht mehr Consul zu sein? Im Gegentheil, alle Welt fand ihn glücklich es gewesen zu sein, denn es war nicht seine Natur es immer zu sein. Perseus dagegen fand man so unglücklich, daß er nicht mehr König war, obwohl seine Natur war es immer zu sein, daß man sonderbar fand, wie er das Leben ertragen könne. Wer fühlt sich unglücklich, weil er nur einen Mund hat? und wer fühlt sich nicht unglücklich, nur ein Auge zu haben? Man hat vielleicht nie daran gedacht, traurig zu sein, weil man nicht drei Augen hat; aber man ist untröstlich nur eins zu haben.

5.

Wir haben eine so große Vorstellung von der Seele des Menschen, daß wir nicht ertragen können, von ihr mißachtet zu werden, und nicht in der Achtung einer Seele zu stehen; und das ganze Glück der Menschen besteht in dieser Achtung.

Wenn einerseits das Streben der Menschen nach diesem falschen Ruhme ein bedeutsames Zeichen ihres Elends und ihrer Niedrigkeit ist, so ist es doch auch ein Zeichen ihrer Vorzüglichkeit; denn, wie viel Besitzungen auch jemand auf Erden haben mag, welcher Gesundheit und wahrhaften Annehmlichkeit er sich auch erfreuen mag, er ist nicht zufrieden, wenn er nicht bei den Menschen in Achtung steht. Er achtet die Vernunft des Menschen so hoch, daß, welchen Vortheil er auch in der Welt hat, er sich doch für unglücklich hält, wenn er nicht eben so vortheilhaft in der Vernunft des Menschen placiert ist. Das ist der schönste Platz der Welt: nichts kann ihn von diesem Wunsche abbringen, und dies ist die unauslöschlichste Eigenschaft des menschlichen Herzens. Das geht so weit, daß selbst diejenigen, welche den Menschen am meisten verachten und ihn den Thieren gleichsetzen, doch noch von ihm bewundert sein wollen, und so vermöge ihres eigenen Gefühls mit sich selbst in Widerspruch kommen; denn die Natur, welche mächtiger ist als ihre Vernunft, überführt sie stärker von der Größe des Menschen, als ihre Vernunft sie von seiner Niedrigkeit überführt.

6.

Der Mensch ist nur ein sehr schwaches Rohr der Natur; aber er ist ein denkendes Rohr. Das ganze Universum braucht sich nicht zu waffnen, ihn zu zermalmen. Etwas Dampf, ein Tropfen Wasser genügt ihn zu tödten. Aber wenn das Universum ihn zermalmt, der Mensch ist doch viel edler, als das was ihn tödtet, Was bedeutet dies Wort »edel«? Es ist wohl wahr, daß mein Gedanke etwas anderes ist als z. B. der Sonnenball: aber steht es denn so vollkommen fest, daß ein Lebewesen, weil es einige Gedanken hat, edler ist als die Sonne, welche alles, was wir in der Natur kennen, belebt? Steht es dem Menschen zu darüber zu entscheiden? Er ist Richter und Partei. Man sagt, ein Werk sei vorzüglicher als ein anderes, wenn es zu schaffen mehr Mühe gekostet hat und wenn sein Gebrauch von größerem Nutzen ist; aber hat es dem Schöpfer weniger Mühe gekostet die Sonne zu schaffen, als ein kleines Lebewesen zu kneten, etwa fünf Fuß hoch, was gut oder schlecht denkt? Wer von beiden ist der Welt nützlicher, dieses Lebewesen oder jenes Gestirn, welches so viel Himmelskörper erleuchtet? Und warum sind einige Gedanken in einem Gehirn gefaßt vorzüglicher als das Universum der Materie? denn er weiß, daß er stirbt; welchen Vorzug das Universum auch vor ihm hat, das Universum weiß nichts davon. Also besteht all' unsere Würde in dem Gedanken. Daran müssen wir uns wieder aufrichten, nicht am Raume noch an der Dauer. Sorgen wir also dafür, gut zu denken: das ist das Princip der Moral.

7.

Es ist gefährlich dem Menschen zu oft zu zeigen, wie sehr er den Thieren gleich ist, ohne ihm seine Größe zu zeigen. Es ist noch gefährlicher ihn seine Größe zu oft ohne seine Niedrigkeit sehn zu lassen. Es ist noch weit mehr gefährlich, ihn das eine wie das andere nicht wissen zu lassen; aber es ist sehr vortheilhaft, ihm das eine wie das andere vorzustellen.

8.

Der Mensch schätze sich doch nach seinem Werthe. Er liebe sich, denn er trägt in sich eine Natur des Guten fähig; aber er liebe deshalb nicht die Niedrigkeit in derselben. Er verachte sich, weil diese Fähigkeit leer ist; aber er verachte deshalb nicht diese natürliche Fähigkeit. Er hasse sich, er liebe sich; er hat in sich die Fähigkeit die Wahrheit zu erkennen und glücklich zu sein; aber er hat weder beständige noch befriedigende Wahrheit. Ich möchte deshalb den Menschen dahin bringen, zu wünschen sie zu finden, bereit zu sein und frei von Leidenschaft, um sie zu verfolgen wo er sie findet; und da ich weiß, wie sehr sein Erkennen von der Leidenschaft verdunkelt wird, so möchte ich, er haßte in sich die Concupiscenz, welche es aus sich selbst bestimmt, damit sie ihn nicht bei seiner Wahl verblende, und ihn nicht hindere, wenn er gewählt.

9.

Ich tadle gleicherweise die, welche sich entschließen den Menschen zu loben, als die, welche sich entschließen ihn zu tadeln, als die, welche sich entschließen, ihn zu zerstreuen; Fürwahr! wenn ihr die Zerstreuung geduldet, ihr hättet länger gelebt. ich kann nur die loben, welche unter Seufzen suchen.

Die Stoiker sagen: kehrt ein in euch selbst, dort werdet ihr eure Ruhe finden: das ist nicht wahr. Die andern sagen: Geht nach außen und sucht das Glück in eurer Zerstreuung: das ist auch nicht wahr. In der Zerstreuung würdet ihr Freude gefunden haben; und das ist sehr wahr. Wir haben Krankheiten: Gott hat Blattern und Vapeurs in die Welt geschickt. Ach nochmal! ach Pascal! man sieht wohl, daß ihr krank seid. Die Krankheiten kommen: das Glück ist weder in uns, noch außer uns: es ist in Gott und in uns.

10.

Die Natur des Menschen läßt sich auf zweierlei Art betrachten: einmal nach seinem Zweck, und dann ist er groß und unbegreiflich; zweitens nach seiner Lebensgewohnheit, wie man über ein Pferd und einen Hund urtheilt nach ihrer Gewohnheit zu laufen et animum arcendi; und dann ist der Mensch verworfen und nichtig. Das sind die beiden Arten, die zu so verschiedenen Urtheilen führen und in Folge deren die Philosophen so viel streiten; denn der eine läugnet die Voraussetzung des andern; der eine sagt: er ist nicht zu diesem Zweck geboren, dem widersprechen alle seine Handlungen; der andere sagt: er entfernt sich von seinem Zweck, wenn er diese niedrigen Handlungen begeht. Zwei Dinge belehren den Menschen über seine ganze Natur: Instinkt und Erfahrung.

11.

Ich fühle, daß es möglich ist, gar nicht existirt zu haben: denn mein Ich besteht in meinem Gedanken; ich also, der denkt, würde nicht existirt haben, wenn meine Mutter getödtet wäre, ehe ich zum Leben gekommen. Ich bin also kein nothwendiges Wesen ... Ich bin auch weder ewig noch unendlich; und doch erkenne ich sehr wohl, daß es in der Natur ein nothwendiges, ewiges, unendliches Wesen giebt.


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