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Fünfter Artikel.
Die Widersprüche im Menschen und die Erbsünde als Beweise für die wahre Religion.

1.

Die Größe und das Elend des Menschen sind so augenfällig, daß die wahre Religion uns nothwendig die Lehre geben muß, daß im Menschen eine bedeutende Anlage zur Größe mit einer bedeutenden Anlage zum Elend gleichzeitig verbunden sind. Denn die wahre Religion muß unsere Natur von Grund aus kennen; das heißt, sie muß ihre ganze Größe und ihr ganzes Elend kennen, und den Grund von Beidem. Ferner muß sie uns die erstaunlichen Widersprüche in unserem Inneren erklären können. Diese Art zu folgern scheint falsch und gefährlich: denn die Fabel von Prometheus und Pandora, die Androgynen des Plato, die Dogmen der alten Egypter, die Zoroasters gaben ebenso gut den Grund jener auffallenden Gegensätze an. Die christliche Religion wird nicht weniger wahr bleiben, wenn man auch aus ihr nicht jene geistreichen Folgerungen entnehmen könnte, die nur dazu dienen können, den Verstand glänzen zu lassen. Daß eine Religion wahr sei, dazu nöthigt, daß sie offenbart ist, und ganz und gar nicht, daß sie jene angeblichen Gegensätze erkläre; sie ist ebenso wenig dazu da, euch Metaphysik und Astronomie zu lehren. Wenn alles auf einem einzigen Prinzipe beruht, und einem einzigen Ziele zustrebt, so muß die wahre Religion uns lehren, nur dies anzubeten, nur dies zu lieben. Da wir aber zu schwach sind, etwas anzubeten, was wir nicht kennen, und etwas anderes zu lieben, als uns selbst, so muß die Religion, die Lehrmeisterin dieser Pflichten, uns auch unsere Schwachheit erkennen und Heilung dafür finden lassen.

Um Menschen glücklich zu machen, braucht man ihnen nur zu zeigen, daß ein Gott ist; daß wir verpflichtet sind, ihn zu lieben; daß unser wahres Glück Gottgemeinschaft, und unser einziges Unglück Gottentfremdung; man braucht uns nur zu zeigen, daß die heillose Finsternis unseres Innern uns verhindert, ihn zu erkennen und zu lieben; daß wir also, da unsere Pflicht uns gebietet Gott zu lieben, unsere Sündhaftigkeit aber uns davon abhält, die höchste Ungerechtigkeit begehen. Sie muß uns erklären, weshalb wir uns Gott und unserem eigenen Glück widersetzen. Ihre Lehren müssen Heilmittel darbieten und die Möglichkeit sie zu erlangen. Darauf hin prüfe man alle Religionen der Welt, und sehe zu, ob irgend eine außer der christlichen diesen Ansprüchen genügt.

Ist es vielleicht die Religion der Philosophen, Die Philosophen haben keine Religion gelehrt: nicht darum handelt es sich, ihre Philosophie zu bekämpfen. Nie hat ein Philosoph vorgegeben von Gott inspirirt zu sein; denn dann hätte er aufgehört ein Philosoph zu sein und wäre ein Prophet geworden. Es handelt sich nicht darum zu wissen, ob Jesus Christus über Aristoteles siegen muß; es handelt sich darum zu beweisen, daß die Religion Jesu Christi die wahre, die Mahomeds, Zoroasters, des Confucius und Hermes und alle andern aber falsch seien. Es ist nicht wahr, daß die Philosophen uns als einziges Gut ein Gut, das in uns sei, gelehrt haben. Leset Plato, Marc Aurel, Epictet; sie wollen, daß man ersehne, würdig zu sein, mit der Gottheit, der wir emanirt sind, vereinigt zu werden. die uns als höchstes Gut ein Gut unseres Inneren predigen? Ist das wohl das wahre Gut? Haben sie Heilung gefunden für unsere Gebrechen? Heilt man die Anmaßung des Menschen etwa dadurch, daß man ihn mit Gott auf eine Stufe stellt? Und diejenigen, welche uns den Thieren zugesellt und die Freuden der Erde als höchstes Gut dargeboten haben, haben sie uns etwa von unserer Sündhaftigkeit geheilt? »Hebet eure Augen auf zu Gott,« sagen die einen: »sehet er ist es, dem ihr gleicht, der euch geschaffen, ihn anzubeten; ihr könnt euch ihm gleich machen; die Weisheit wird euch ihm gleich machen, wenn ihr derselben folgen wollt.« Und die andern sagen: »Senket eure Augen auf die Erde, die ihr seid wie schnellwelkendes Gras, und gesellt euch den Thieren bei, wozu ihr gehört.« –

Was ist denn eigentlich der Mensch? Gleicht er Gott oder den Thieren? Welch' furchtbarer Zwischenraum! Was sind wir? Welche Religion lehrt uns, den Stolz zu heilen und die Sünde? Welche Religion lehrt uns unser Glück, unsere Pflichten, unsere Schwachheiten und Irrthümer, Mittel zur Heilung und den Weg, sie zu erlangen? Lasset uns sehen, was Gottes Weisheit in der christlichen Religion uns hierüber sagt.

Vergebens suchst du, o Mensch, in dir selbst nach Heilung für dein Elend. All' deine Fähigkeiten bringen dich nur zu der Erkenntnis, dass du in dir selbst weder Wahrheit noch Glück finden kannst. Die Philosophen versprachen es zwar, doch haben sie ihr Versprechen nicht halten können. Sie kennen weder euer wahres Glück, noch euren wahren Zustand. Wie hatten sie auch eure Gebrechen heilen können, da sie dieselben kaum kannten? Eure Hauptkrankheiten sind der Stolz, der euch Gott entfremdet, und die Sündhaftigkeit, die euch an die Erde fesselt; sie aber haben weiter nichts gethan, als wenigstens eine dieser Krankheiten zu erhalten. Lenkten sie euer Streben auf Gott, so geschah es nur, euren Stolz zu mehren. Sie machten euch glauben, ihr wäret ihm eurer natürlichen Beschaffenheit nach ähnlich. Und diejenigen, welche die Nichtigkeit dieser Behauptung erkannten, sie stürzten euch durch den Beweis, eure Natur gleiche der der Thiere, in den anderen Abgrund und verleiteten euch dazu, in niedrigen Begierden, dem Antheil der Thiere, euer Glück zu suchen. Auf diese Weise kann man euch eure Ungerechtigkeit nicht zeigen. Erwartet doch von Menschen weder Wahrheit noch Trost. Ich bin es, der euch gebildet, und ich allein kann euch über euer Wesen Ausschluß geben. Aber ihr seid nicht mehr in dem Zustand, in welchem ich euch geschaffen habe. Ich habe den Menschen heilig, unschuldig, vollkommen geschaffen. Ich habe ihm Erkenntnis und Einsicht gegeben. Er hat geschaut meine Glorie und meine Wunder. Das Auge des Menschen sah einstmals die Majestät Gottes. Ihn verblendete weder Finsternis, noch beugte ihn Sterblichkeit und Elend. Aber auf solcher Höhe konnte er nicht leben, ohne der Anmaßung zu verfallen. Die ersten Brahmanen waren es, die den theologischen Roman vom Fall des Menschen oder vielmehr der Engel erfanden: und diese Cosmogonie, ebenso geistreich wie märchenhaft, war die Quelle aller heiligen Mythen, die die Welt überschwemmt haben. Die Wilden des Occident, die so spät in gesittete Verhältnisse gebracht wurden und erst nach so manchen Revolutionen und so manchen ausgeübten Barbareien, haben erst in unserer letzten Zeit jene Lehren angenommen. Aber man muß bemerken, daß zwanzig Nationen des Orients die alten Brahmanen copirt haben, ehe eine jener schlechten Copieen, ich wage zu sagen die schlechteste von allen, auf uns gekommen ist. Er begehrte, sich selbst zum Mittelpunkt und von meiner Hilfe unabhängig zu machen. Er entzog sich meiner Herrschaft; er stellte sich mir gleich, weil er in sich selbst sein Glück zu finden wünschte, und ich habe ihn gewähren lassen; ich wiegelte alle Creaturen, die ihm unterthan waren, gegen ihn auf und machte sie ihm zu Feinden: daher gleicht der Mensch jetzt den Thieren, und ist von mir so weit entfernt, daß ihm kaum eine dunkelahnende Erkenntnis seines Schöpfers geblieben ist: So sehr sind all' seine Anlagen verwischt oder verwirrt! Die Sinne, unabhängig von der Vernunft, und oft Herren derselben, haben ihn zur Vergnügungssucht fortgerissen. Entweder betrüben ihn die Creaturen, oder sie reizen ihn; sie herrschen über ihn, indem sie ihn entweder durch Gewalt unterwerfen, oder durch ihre Verlockungen entzücken: und das ist eine weit schrecklichere, unumschränktere Herrschaft.

So sind die Menschen heutigen Tages. Zwar ist die Erinnerung an das Glück, dessen sie in ihrer ersten Natur genossen, noch mächtig in ihnen; aber sie sind untergegangen in dem Elend ihrer Verblendung und ihrer Begierden, welche ihnen zur zweiten Natur geworden sind.

2.

In diesen Grundannahmen, die ich euch eröffne, könnt ihr die Ursache so vieler Widersprüche erkennen, welche die Menschen in Erstaunen und Zwiespalt setzen. Nun beobachtet einmal all' die Regungen von Größe und Hoheit, welche kein Gefühl noch so großen Elends ersticken kann, und dann überlegt, ob der Grund davon nicht eine andere Natur sein muß.

3.

Erkennst du denn nicht, du Stolzer, daß du für dich selbst ein Paradoxon bist? Demüthige dich', ohnmächtige Vernunft; schweige, hinfällige Natur; lerne, daß der Mensch unendlich mehr ist als der Mensch; und erfahre von deinem Herrn deinen wahren Zustand, über den du im Dunkel bist.

Denn wäre der Mensch niemals verderbt worden, er erfreute sich sicherlich noch jetzt der Wahrheit und des Glückes. Ebenso: wäre der Mensch niemals verderbt worden, er hätte weder von Wahrheit noch von Glück eine Vorstellung. Nach dem Glauben und unserer Offenbarung, wenn es über die Einsichten der Menschen hinausgeht, ist es sicher, daß wir gefallen sind; aber nichts ist weniger offenbar vermöge der Vernunft. Denn ich möchte wohl wissen, ob Gott, ohne seiner Gerechtigkeit zu vergeben, den Menschen nicht so schaffen konnte, wie er dermalen ist; und hat er ihn nicht sogar geschaffen um zu werden, was er ist? Ist der gegenwärtige Zustand des Menschen nicht eine Wohlthat des Schöpfers? Wer hat euch gesagt, daß Gott euch noch mehr schulde? Wer hat euch gesagt, daß eure Existenz mehr Erkenntnis und mehr Glück erfordere? Wer hat euch gesagt, daß er noch mehr gestatte? Ihr staunt darüber, daß Gott den Menschen so beschränkt, so unwissend, so wenig glücklich gemacht; weshalb wundert ihr euch nicht, daß er ihn nicht noch beschränkter, unwissender, unglücklicher gemacht hat? Ihr beklagt euch über ein so kurzes und unglückliches Leben; danket Gott, daß es nicht noch kürzer und unglücklicher ist. Wie denn? nach euch müßten ja wohl, wollte man consequent denken, alle Menschen die Vorsehung anklagen, außer den Metaphysikern, welche über die Erbsünde vernünftig denken. Aber unglücklich wie wir sind, und um so mehr als in uns ein Funken von Größe ist, haben wir eine Vorstellung von Glück, ohne es erlangen zu können; wir kennen ein Bild der Wahrheit, besitzen aber nur den Wahn: gleich unfähig absolut unwissend zu sein, und sichere Kenntnisse zu haben, ist soviel klar, daß wir einst auf einer Stufe der Vollkommenheit gestanden haben, von welcher wir heilloser Weise heruntergestürzt sind.

Was ist es denn, was diese Begier und diese Ohnmacht uns zuruft, wenn nicht dies: einst gab es im Menschen ein wahrhaftes Glück, von dem ihm jetzt nur noch ein wesenloser Schein und ein hohles Trugbild geblieben ist; vergebens sucht er ihm durch alles, was ihn umgiebt, einen Inhalt zu geben, er sucht in der Ferne die Hilfe, welche ihm die Nähe nicht gewährt, während doch beide ihm nicht helfen können, da diese unendliche Sehnsucht nur durch einen unendlichen und unveränderlichen Gegenstand befriedigt werden kann.

4.

Es ist doch etwas Sonderbares, daß dasjenige Mysterium, welches für unsere Erkenntnis am weitesten abliegt, nämlich das der Erbsünde, etwas ist, ohne welches wir absolut keine Selbsterkenntnis erlangen können. Denn ohne Zweifel verstößt nichts mehr gegen die Vernunft, als die Behauptung, die Sünde des ersten Menschen habe diejenigen, welche, so weit von dieser Quelle entfernt, unmöglich daran Theil haben zu können scheinen, zu Mitschuldigen gemacht. Diese Fortpflanzung scheint uns nicht nur unmöglich, sondern sogar ungerecht. Denn was ist wohl den Grundsätzen unserer jämmerlichen Justiz mehr entgegen, als ein willenloses Kind ewig zu verdammen, und zwar für eine Sünde, an der es um so weniger scheint Theil haben zu können, als sie sechstausend Jahre vor seinem Lebensanfange begangen ist. Gewiß, nichts verletzt uns gröblicher, als diese Lehre. Und doch, ohne dies Mysterium, das unbegreiflichste von allen, sind wir uns selbst unbegreiflich. Unsere Lage ist wie ein Knoten, dessen Verknüpfungen und Verschlingungen bis in diesen Abgrund zurücklaufen. So ist der Mensch ohne dies Mysterium weit unbegreiflicher, als es dies Mysterium selbst für den Menschen ist. –

Die Erbsünde ist den Menschen eine Thorheit; aber man giebt sie auch als solche. Man darf sich wahrlich nicht über die Widervernünftigkeit dieser Lehre beklagen, da man gar nicht den Anspruch macht, daß die Vernunft an sie heranreichen könne. Aber diese Thorheit ist weiser, als die Weisheit der Menschen: Quod stultum est Dei, sapientius est hominibus. 1. Cor. 1, 25. Denn ohne dies, was ist dann der Mensch? Sein ganzer Zustand hängt von diesem unerkennbaren Punkte ab. Und wie sollte er es wohl durch seine Vernunft einsehen, da diese Sache über seine Vernunft hinausgeht; und da seine Vernunft, weit entfernt sie von selbst zu finden, sich davon abwendet, wenn man ihn damit bekannt macht!

5.

Offenbar sind die beiden Zustände der Unschuld und der Verderbtheit vorhanden, und es ist unmöglich, daß wir sie nicht erkennen. Folgen wir einmal den Regungen unserer Gedanken, beobachten wir uns selbst, und wir werden in uns diese beiden Naturen bald in lebendigen Schriftzügen bemerken. So große Widersprüche sollten sich in einem einfachen Subjecte befinden?

Diese Doppelwesenheit des Menschen ist so ersichtlich, daß einzelne geglaubt haben, wir hätten zwei Seelen: Dieser Gedanke ist ganz aus Montaigne entnommen, so wie viele andere. Er findet sich im Kapitel von der Unbeständigkeit unserer Handlungen. Aber Montaigne erklärt sich wie ein Mensch der zweifelt. Unsere verschiedenen Willensrichtungen sind durchaus nicht Naturgegensätze, und der Mensch ist durchaus kein einfaches Wesen. Er besteht aus einer unzähligen Anzahl von Organen. Wenn ein einziges dieser Organe ein wenig alterirt wird, so ändert es nothwendig alle Eindrücke des Gehirns und das Thier hat neue Gedanken und neue Willensrichtungen. Es ist sehr wahr, daß wir bald von Traurigkeit tief gebeugt, bald aufgeblasen sind von Anmaßung; und das muß so sein, wenn wir uns in entgegengesetzten Situationen befinden. Ein Thier, das sein Herr liebkost und nährt, und ein anderes, das man langsam und listig erdrosselt, um es zu seciren, erweisen sehr entgegengesetzte Empfindungen. So wir; und die Verschiedenheiten in uns sind so wenig widersprechend, daß es widersprechend wäre, wenn sie nicht existirten. Die Thoren welche gesagt, wir hätten zwei Seelen, hätten uns aus demselben Grunde dreißig oder vierzig geben können. Denn ein Mensch hat bei heftiger Leidenschaft oft dreißig bis vierzig verschiedene Vorstellungen von derselben Sache, und muß sie nothwendig haben, je nachdem dieser Gegenstand ihm unter verschiedenen Gesichtspunkten erscheint. Diese angebliche Zweiheit des Menschen ist eine ebenso absurde wie metaphysische Vorstellung: ich könnte ebenso gut sagen, daß der Hund, der beißt und schmeichelt, zwiefach ist; daß die Henne, die soviel Sorglichkeit hat für ihre Jungen, und sie sodann soweit verläßt, daß sie sie nicht mehr kennt, zwiefach sei; daß der Spiegel, der verschiedene Gegenstände wiedergiebt, zwiefach sei; daß der Baum, welcher bald belaubt, bald entblättert ist, zwiefach sei. Ich bekenne, daß der Mensch in einem Sinne unbegreiflich ist; aber alles Übrige in der Natur ist es auch: es giebt im Menschen nicht mehr offenkundige Gegensätze als in allem Übrigen. so wenig schien ihnen ein einfaches Wesen so großer und so plötzlicher Veränderungen, einer maßlosen Anmaßung bei einer schrecklichen Niedergeschlagenheit des Herzens fähig.

So sind es gerade diese Gegensätze, welche die Menschen scheinbar von jeder Religionserkenntnis weit entfernen, welche sie vielmehr zu der wahren Religion geleiten.

Ich für meine Person bekenne, daß, sobald die christliche Religion es als Princip hinstellt, daß die menschliche Natur verderbt und von Gott ab gefallen ist, sie den Augen die Kraft giebt, überall die Schriftzüge dieser Wahrheit zu erkennen. Denn die Natur weist überall auf einen verlorenen Gott hin, sowohl im Menschen, wie außer ihm.

Ohne diese göttliche Erkenntnis, was blieb den Menschen anderes über, als sich entweder auszurichten durch ein gewisses Kraftbewußtsein, den Rest ihrer einstigen Größe, oder sich zu beugen in dem Anblick ihrer jetzigen Schwäche? Denn da sie die Wahrheit nicht völlig erkannten, konnten sie auch nicht zu einer vollkommenen Tugend gelangen. Denn da die einen die Natur als unverdorben, die anderen als unheilbar betrachteten, haben sie weder Stolz, noch Trägheit, die beiden Quellen aller Laster, vermeiden können; zumal sie nicht umhin konnten, sich ihnen entweder hinzugeben durch Trägheit, oder ihnen entgegenzugehen durch Stolz. Denn wenn sie die Vorzüglichkeit des Menschen erkannten, so vergaßen sie seine Verderbtheit: so vermieden sie zwar die Trägheit, aber sie verloren sich in Stolz. Andererseits wenn sie die Schwachheit der Natur erkannten, vergaßen sie ihre Würde: so konnten sie zwar den eitlen Stolz vermeiden, aber nur indem sie träger Verzweiflung anheimfielen.

Daher kommen die verschiedenen Schulen der Stoiker, der Epikuräer, der Dogmatisten, der Akademiker u. s. w. Die christliche Religion allein hat diese beiden Laster zu heilen vermocht: nicht etwa so, daß sie mit irdischer Weisheit das eine durch das andere vertrieb, sondern indem sie das eine wie das andere vertrieb durch die Einfachheit des Evangeliums. Denn die Gerechten, welche sie bis zur Gottgemeinschaft erhebt, lehrt sie, daß sie selbst in diesem erhabenen Zustande die Quelle aller Verderbnis in sich tragen, welche sie Zeit ihres Lebens dem Irrthum, dem Elend, dem Tode, der Sünde unterwirft; und sie ruft den Ungläubigen zu, daß auch sie der Gnade ihres Erlösers theilhaftig werden können. Indem sie so denen, welche sie rechtfertigt, zu fürchten giebt und diejenigen tröstet, welche sie verdammt, verbindet sie mildernd in großer Gerechtigkeit Furcht mit Hoffnung und zwar vermöge dieser, allen gemeinsamen, zwiefachen Anlage, zur Gnade und zur Sünde; und dadurch demüthigt sie die Menschen unendlich viel mehr, als es die Vernunft allein vermag, ohne indeß zur Verzweiflung zu treiben; andererseits erhebt sie sie unendlich weit mehr, als der natürliche Stolz, ohne indeß aufzublähen: denn sie läßt genau genug erkennen, daß sie allein ohne Irrung und Laster, daß also auch ihr allein zusteht, die Menschen zu bessern und zu belehren.

6.

Wir verstehen weder den herrlichen Zustand Adams, noch die Beschaffenheit seiner Sünde, noch deren Fortpflanzung in uns. Diese Sachen sind in einem ganz anderen Naturzustande geschehen, als der unsere ist, sie übersteigen daher unsere jetzige Fassungskraft. Auch nützt uns alles das gar nichts dazu, uns von unserem Elend zu befreien; was wir wissen müssen, ist, daß wir durch Adam elend, verderbt, von Gott getrennt sind: aber wir sind durch Jesus Christus wiedererworben und davon haben wir auf Erden herrliche Beweise.

7.

Das Christenthum ist sonderbar! Es befiehlt dem Menschen sich selbst als nichtig, ja abscheulich zu erkennen; und zugleich befiehlt es ihm nach Gottähnlichkeit zu streben. Ohne ein solches Gegengewicht würde die Erhebung ihn unerträglich stolz, diese Erniedrigung unerträglich verächtlich machen.

Das Elend führt zur Verzweiflung: die Größe flößt Überhebung ein.

8.

Die Menschwerdung zeigt dem Menschen die Größe seines Elends durch die Größe des Heilmittels, welches jenes erforderte.

9.

In der christlichen Religion giebt es weder eine Erniedrigung, die uns unfähig zum Guten machte, noch eine Heiligkeit frei von Sünde. Keine Lehre paßt für den Menschen besser, als gerade diese, denn, da er täglich der zwiefachen Gefahr, der Verzweiflung und der Überhebung, ausgesetzt ist, so zeigt sie ihm seine zwiefache Anlage, die Gnade zu erlangen und zu verlieren.

10.

Die Gefühlsregungen, welche die Philosophen erweckten, entsprachen durchaus nicht diesen beiden Zuständen. Sie flößten das Bewußtsein seiner Größe ein: das paßt nicht für den Zustand des Menschen. Sie flößten das Bewußtsein seiner Niedrigkeit ein: und das paßt auch nicht auf den Zustand des Menschen. Man muß seine Niedrigkeit empfinden, nicht aber als eine Erniedrigung der Natur, sondern als Demüthigung der Reue; nicht um darin zu verharren, sondern um zur Größe fortzuschreiten. Man muß seine Größe empfinden, aber nur als eine solche, die durch die Vorstufe der Erniedrigung, der Gnade entnommen ist, nicht dem Verdienste.

11.

Kein Mensch ist so glücklich, so verständig, so tugendhaft, so liebenswürdig, wie ein wahrer Christ. Mit wie wenig Stolz fühlt sich ein Christ eins mit Gott? mit wie wenig Widerwillen vergleicht er sich dem Erdenwurme?

Wer könnte wohl diesen himmlischen Erkenntnissen Glauben und Anbetung verweigern? Ist es denn nicht so klar wie der Tag, daß wir in uns unauslöschliche Schriftzüge unserer Vorzüglichkeit finden? Und ist es nicht ebenso richtig, daß wir täglich die Folgen unseres beklagenswerthen Zustandes erfahren müssen? Was, ruft uns dies Chaos und diese ungeheuerliche Verwirrung mit mächtiger, unwiderleglich überzeugender Stimme anderes zu, als die Wahrheit dieser beiden Zustände.

12.

Nichts anderes läßt die Menschen an ihrer Fähigkeit, sich mit Gott vereinigen zu können, zweifeln, als der Anblick ihrer Niedrigkeit. Wenn sie aber darin vollkommen aufrichtig sind, so mögen sie noch weiter gehen und mir folgen zu dem Geständnis, daß in der That diese Niedrigkeit so groß ist, daß wir gar nicht im Stande sind darüber zu urtheilen, ob seine Barmherzigkeit uns nicht jene Fähigkeit gewähren kann. Denn ich möchte wahrlich wohl wissen, wer dieser Creatur, die ihre Schwachheit eingesteht, das Recht giebt die Barmherzigkeit Gottes zu messen und ihr nach den Eingebungen ihrer Phantasie Grenzen zu setzen. Der Mensch weiß so wenig von Gott, als von sich selbst: und doch, obgleich ihn der Anblick seines eigenen Zustandes vollkommen verwirrt, wagt er zu behaupten, Gott könne ihn seiner Gemeinschaft nicht fähig machen!

Nur darüber möchte ich ihn befragen: fordert Gott etwas anderes von ihm, als Liebe und Erkenntnis? und weshalb meint er denn, Gott könne sich von ihm nicht erkennen und lieben lassen, da er doch von Natur sowohl der Liebe, wie der Erkenntnis fähig ist. Denn ohne Zweifel erkennt er wenigstens, daß er existirt, und daß er etwas liebt. Wenn er also in der Finsternis um ihn her doch etwas sieht, wenn er unter den Erdendingen einen Gegenstand für seine Liebe findet, weshalb sollte er, wenn Gott ihm einige Einblicke in sein Wesen gewährt, nicht im Stande sein ihn so zu erkennen und zu lieben, daß es Gott gefällt sich mit ihm zu vereinigen? In derartigen Überlegungen liegt ohne Zweifel ein unerträglicher Hochmuth, obgleich sie gegründet zu sein scheinen auf scheinbare Demuth: doch ist diese weder aufrichtig noch vernünftig, wenn sie uns, die wir von unserem Wesen nichts wissen, nicht bekennen läßt, daß wir darüber nur von Gott Belehrung erhalten können.


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