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Siebenter Artikel.
Bild eines Menschen, der, überdrüssig Gott durch die bloße Vernunft zu suchen, anfängt die heilige Schrift zu lesen.

1.

Wenn ich die Verblendung und das Elend des Menschen und jene erstaunlichen Widersprüche, die in seinem Wesen hervortreten, betrachte; wenn ich sehe, daß das ganze Universum schweigt, und der Mensch, ohne Licht, sich selbst überlassen ist, gleichsam verirrt in diesem Winkel des Universums, ohne zu wissen, wer ihn dahin gesetzt hat, noch wozu er da ist, noch was aus ihm nach dem Tode wird: so überfällt mich ein Schrecken gleich dem eines Menschen, den man im Schlafe auf eine wüste und schreckliche Insel ausgesetzt hat, und der nun bei seinem Erwachen nicht weiß wo er ist, und kein Mittel hat, von da fortzukommen. Und bei alledem wundere ich mich, daß man über einen so elenden Zustand nicht in Verzweiflung geräth. Ich sehe neben mir andere Menschen von ähnlicher Beschaffenheit: ich frage sie, ob sie besser unterrichtet sind, als ich, und sie sagen mir nein; und trotzdem haben diese unglücklichen Verirrten bei ihrer Umschau einige angenehme, verlockende Gegenstände erspäht und sich ihnen ergeben und ihr Herz an sie gehängt.

Ich für meine Person habe mich in der Gesellschaft solcher Menschen nicht verweilen, noch ruhig fühlen können, Menschen die mir in allem ähnlich sind: elend wie ich, ohnmächtig wie ich. Ich sehe, daß sie mir nicht helfen werden, wenn ich sterbe: ich werde allein sterben; ich muß also thun, als wäre ich allein: nun, wenn ich allein wäre, würde ich sicher keine Häuser bauen, noch mich in aufregende Geschäfte stürzen, noch nach Ehre für meine Person geizen: mein einziges Streben würde darauf gerichtet sein, die Wahrheit zu entdecken.

Wenn ich nun erwäge, wie groß die Wahrscheinlichkeit dafür ist, daß noch etwas anderes existirt, als was ich sehe, so untersuche ich zuerst, ob dieser Gott, von dem alle Welt redet, nicht etwa einige Spuren von sich gelassen hat. Überall sehe ich mich um, und sehe überall nur Dunkelheit. Die Natur bietet mir nichts, was nicht Zweifel und Unruhe erregte. Fände ich in ihr gar keine Spur von einer Gottheit, so würde ich entschieden nichts davon glauben. Fände ich überall die Spuren eines Schöpfers, so würde ich mich ruhig und ungestört dem Glauben in die Arme werfen. Da ich aber für völlige Läugnung zu viel, für eine sichere Überzeugung zu wenig finde, bin ich in einem beklagenswerthen Zustande, der mich schon hundert Mal hat wünschen lassen, die Natur möchte, wenn ein Gott sie trägt, diesen unzweideutig erkennen lassen; sie möchte, wenn die vorhandenen Spuren trüglich sind, sie allzumal unterdrücken; sie möchte alles oder gar nichts sagen, damit ich wüßte, auf welche Seite ich mich schlagen soll. Statt dessen weiß ich in meinem jetzigen Zustande weder was ich bin, noch was ich thun soll; ich kenne weder meinen Zustand, noch meine Pflicht. Von Grund meines Herzens sehne ich mich darnach, das wahre Glück zu finden, um es zu ergreifen. Nichts würde mir dafür zu theuer sein.

Ich sehe eine Menge von Religionen in verschiedenen Gegenden der Erde und in allen Zeiten. Aber sie haben weder eine Moral, die mir gefallen könnte, noch Beweise, die mich anziehen könnten. Die Moral ist überall dieselbe, beim Kaiser Marc Aurel, beim Kaiser Julian, beim Sclaven Epictet, die ihr selbst bewundert in St. Ludwig und in Bondebar, seinem Überwinder, beim Kaiser von China Kien-Long, und beim König von Marocco. Ich würde also in gleicher Weise die Religion Muhameds, die der Chinesen, die der alten Römer und die der alten Egypter verschmäht haben und zwar aus dem einzigen Grunde, weil, da die eine nicht mehr Spuren der Wahrheit enthält als die andere, noch etwas Entscheidendes voraus hat, die Vernunft zu der einen sich nicht mehr hinneigen kann, als zu der anderen.

Wenn ich nun diese wechselnde und wunderliche Verschiedenheit von Sitte und Glauben in den verschiedensten Zeiten beobachte, so finde ich in einem kleinen Theile der Welt ein eigenthümliches Volk, abgeschlossen von allen anderen Völkern der Erde, dessen Geschichte um mehrere Jahrhunderte älter ist, als die älteste uns bekannte. Ich bemerke ferner, daß dies Volk groß und zahlreich ist, daß es einen einigen Gott anbetet, daß es nach einem Gesetz wandelt, welches es aus seinen Händen erhalten zu haben behauptet. Sie halten dafür, daß sie die Einzigen sind in der Welt, denen Gott seine Mysterien offenbart hat; daß alle Menschen verderbt sind und vor Gott keine Gnade finden; daß alle ihren Sinnen und eigenen Geisteskräften überlassen sind; daß daher die sonderbaren Verirrungen und beständigen Veränderungen in Religion und Sitte unter ihnen abzuleiten sind; daß sie dagegen unentwegt bei ihrem Wandel verharren: daß Gott aber die anderen Völker nicht ewiglich dieser Finsternis überlassen wird; daß ein Erlöser kommen wird für alle; daß ihr Zweck in der Welt, ihn zu verkündigen; Kann man in dieser Beziehung so verblendet und so fanatisch sein, daß man seinen Geist nur dazu gebraucht, die übrigen Menschen verblenden zu wollen! Großer Gott! ein Rest diebischer, blutgieriger, abergläubischer und wucherischer Araber sollen die Verwalter deiner Geheimnisse sein! diese barbarische Horde wäre älter als die weisen Chinesen, als die Brahmanen, welche die Welt unterrichtet, als die Egypter, die sie durch ihre unsterblichen Monumente in Staunen gesetzt! diese erbärmliche Nation wäre unserer Beachtung werth, weil sie einige lächerliche und rohe Fabeln, einige absurde, unendlich tief unter den indischen und närrischen Fabeln stehende Erzählungen aufbewahrt haben! und diese Bande fanatischer Wucherer ist es, die euch damit belasten! o Pascal, und du giebst deinem Geiste die Folter, du fälschest die Geschichte, und du läßt dies elende Volk ganz das Gegentheil von dem sagen, was seine Bücher sagen! Du schreibst ihm ganz das Gegentheil zu von dem, was es gethan hat! und alles um einigen Jansenisten zu gefallen, deine glühende Einbildungskraft unterjocht, und deinen überlegenen Verstand verderbt haben. daß sie eigens dazu da sind, die Herolde dieses großen Ereignisses zu sein, und alle Völker aufzurufen sich mit ihnen in der Erwartung dieses Erlösers zu vereinigen.

Es setzt mich in Erstaunen, ein solches Volk anzutreffen, und es scheint mir, wegen einer Menge von wunderbaren und eigenartigen Dingen, die in ihm zur Erscheinung kommen, einer ganz besonderen Aufmerksamkeit würdig.

Es ist ein Volk von lauter Brüdern: während alle anderen Völker durch Vereinigung einer Unzahl von Familien sich gebildet haben; dieses aber stammt, trotz seiner auffallend großen Anzahl, in seiner Gesammtheit von einem einzigen Menschen ab, Es ist nicht sonderlich fruchtbar. Man hat berechnet, daß heute nicht mehr als sechshunderttausend Juden existirten und da sie also von einer Abstammung und alle Glieder eines Leibes sind, erreichen sie die außerordentliche Macht einer einzigen Familie. Das ist einzig in seiner Art.

Dies Volk ist das älteste, welches Menschen kennen; Sicher sind sie nicht älter als die Egypter, als die Chaldäer, als die Perser, ihre Herren; als die Indier, die Erfinder der Theologie. Man kann seine Genealogie machen wie man will. Diese impertinenten Eitelkeiten sind ebenso verächtlich wie gemein: aber wagt ein Volk zu behaupten es sei älter als Völker, welche zwei Jahrtausende vor ihm Städte und Tempel besessen? ich glaube, deshalb ist man ihm eine besondere Verehrung schuldig, zumal in vorliegender Untersuchung; denn, wenn Gott von Alters her sich den Menschen offenbart hat, so muß man zu diesem Volke seine Zuflucht nehmen, um zu erfahren, was die Tradition noch davon weiß.

Dies Volk ist nicht nur seines Alters wegen beachtenswerth; es ist auch einzig in seiner Dauer, denn es hat von seinem Ursprung bis auf die Jetztzeit stets bestanden. Während nämlich die Völker Griechenlands und Italiens, Lacedämons, Athens und Roms, auch andere die weit später entstanden sind, schon längst untergegangen sind, besteht dieses noch immer; und obgleich so viele mächtige Könige Hunderte von Malen ihre Vernichtung ins Werk zu setzen suchten, wie es die Geschichtsschreiber bezeugen, und wie es der Natur der Dinge nach leicht denkbar ist, so haben sie sich doch während einer so langen Reihe von Jahren immer erhalten; und da sie von den ersten Zeiten bis zu den letzten reichen, schließt ihre Geschichte in ihre Dauer die aller unserer Geschichten ein.

Das Gesetz, durch welches dieses Volk regiert ward, ist in jeder Beziehung das älteste von der Welt, Es ist sehr falsch, daß das Gesetz der Juden das älteste sei, denn vor Moses, ihrem Gesetzgeber, wohnten sie in Egypten, dem Lande der Welt, das durch seine weisen Gesetze, nach denen die Könige nach ihrem Tode gerichtet wurden, am berühmtesten war. Es ist völlig falsch, daß das Wort »Gesetz« erst nach Homer bekannt worden; er spricht in der Odyssee von den Gesetzen des Minos. Das Wort »Gesetz« findet sich in Hesiod; und wenn es sich weder in Hesiod noch im Homer fände, so bewiese das gar nichts. Es gab alte Königreiche, Könige und Richter: also gab es besetze. Die der Chinesen sind älter als Moses.
Es ist auch ganz falsch, daß Griechen, und Römer Gesetze von den Juden entnommen. Unmöglich bei Beginn ihrer Staatswesen; denn damals konnten sie die Juden nicht kennen. Unmöglich in den Zeiten ihrer Größe; denn damals hatten sie für diese Barbaren eine Verachtung, die aller Welt bekannt ist. Seht wie Cicero sie behandelt, wo er von der Eroberung Jerusalems durch Pompeius spricht. Philo gesteht, daß vor der Übersetzung der Siebzig kein Volk ihre Bücher gekannt habe.
das vollkommenste und das einzige, welches in einem Staate stets und ohne Unterbrechung befolgt ist. Das ist es, was der Jude Philo an verschiedenen Stellen, und was Josephus in treffendster Weise gegen Apion ausführt, wo er darauf hinweist, daß es so alt ist, daß selbst der Name »Gesetz« den ältesten Völkern erst mehrere tausend Jahre später bekannt geworden ist; daß also Homer, der von so vielen Völkern erzählt, es niemals gebraucht. Die Vollkommenheit dieses Gesetzes wird man mit Leichtigkeit durch einfache Lectüre erkennen, zumal man dabei bemerken wird, daß darin alle Fälle mit so viel Weisheit, Billigkeit und Verständnis vorgesehen sind, daß die ältesten griechischen und römischen Gesetzgeber, welche eine schwache Kenntnis davon hatten, ihm ihre Hauptgesetze entlehnt haben; das sieht man an dem, welches »die zwölf Tafeln« heißt und aus anderen Beispielen des Josephus.

Dies Gesetz ist aber gleichzeitig das strengste und genaueste von allen; es verpflichtet jenes Volk, um es bei seiner Pflicht zu erhalten, bei Lebensstrafe zu tausend kleinlichen und schwierigen Beobachtungen. Darum ist es um so erstaunlicher, daß es sich während so vieler Jahrhunderte in einem aufrührerischen und störrischen Volke, wie jenes ist, stets erhalten hat; während alle anderen Staaten ihre Gesetze von Zeit zu Zeit abgeändert haben, obwohl ihre Erfüllung weit leichter war.

2.

Dies Volk ist ferner ausgezeichnet durch bewunderungswürdige Aufrichtigkeit. Sie bewahren mit liebender Treue das Buch, in welchem Moses erklärt: sie seien stets gegen Gott undankbar gewesen, und er wisse, nach seinem Tode würden sie es noch mehr sein; er aber rufe Himmel und Erde wider sie zu Zeugen, daß er es ihnen oft genug gesagt habe; ferner werde Gott, in seinem Zorn wider sie, sie unter alle Völker der Welt zerstreuen, und wie sie ihn erzürnt durch Anrufung von Göttern, die nicht die ihrigen gewesen, so werde er sie erzürnen durch Berufung eines Volkes, das nicht das seinige gewesen. Und dennoch dies Buch, welches sie in mannigfachster Weise entehrt, gerade dies bewahren sie mit Gefahr ihres Lebens. Das ist eine Aufrichtigkeit, welche kein weiteres Beispiel in der Welt, aber auch keine Wurzeln in der Natur hat. Diese Aufrichtigkeit hat überall Beispiele und hat seine Wurzeln nur in der Natur. Der Stolz jedes Juden ist dabei interessirt zu glauben, daß nicht seine abscheuliche Politik, seine Unkenntnis der Künste, seine Rohheit ihn verderbt; sondern daß es der Zorn Gottes ist, der ihn straft: er denkt mit Genugthuung, daß es der Wunder bedurfte ihn zu demüthigen, und daß seine Nation immer die best geliebte Gottes ist, der sie züchtigt. Steige doch ein Prediger auf die Kanzel und sage den Franzosen: »Ihr seid Elende, die weder Muth noch Haltung haben; ihr seid bei Hochstädt und Ramillies geschlagen, weil ihr nicht verstandet euch zu verteidigen«, er wird machen, daß man ihn steinigt. Aber wenn er sagt: »Ihr seid Katholiken, von Gott geliebt. Eure greulichen Sünden hatten den Ewigen erzürnt, und er überlieferte euch bei Hochstädt und Ramillies den Ketzern: als ihr aber zum Herrn umkehrtet, da hat er euren Muth gesegnet bei Denain. Diese Worte machen ihn bei den Zuhörern beliebt.

Schließlich habe ich durchaus keinen Grund an der Echtheit des Buches, welches alles das enthält, zu zweifeln. Denn es ist ein großer Unterschied zwischen einem Buche, welches ein einzelner verfaßt und unter ein Volk wirft, und einem Buche, dessen Verfasser ein Volk selbst ist. Man kann nicht daran zweifeln, daß das Buch ebenso alt sei als das Volk.

Es ist ein Buch verfaßt von einem zeitgenössischen Schriftsteller. Jede Geschichte, die nicht aus zeitgenössischen Aufzeichnungen stammt, ist verdächtig, wie z. B. die Bücher der Sibyllen und des Trismegistus, und manche andere, welche in der Welt gegolten haben und in der Folgezeit als unecht erfunden sind. Ganz anders verhält es sich aber mit zeitgenössischen Schriftstellern.

3.

Welch' ein Unterschied zwischen einem Buche und einem anderen! Ich wundere mich nicht, daß die Griechen die Iliade, die Egypter und Chinesen ihre Geschichten geschaffen haben. Man muß nur ihre Entstehungsweise kennen.

Diese Aufzeichner fabelhafter Geschichten schreiben ihre Sachen nicht als Zeitgenossen. Homer macht einen Roman, und giebt ihn für solchen aus; denn jeder wußte, daß Troja und Agamemnon ebensowenig existirt wie die goldenen Äpfel. Er wollte auch gar nicht Geschichte daraus machen, sondern lediglich ein Unterhaltungswerk. Sein Buch ist das einzige seiner Zeit: die Schönheit der Form machte den Inhalt ewig: alle Welt lernt es und spricht davon: man muß es kennen; jeder weiß es auswendig. Vierhundert Jahre später leben keine Augenzeugen für diese Sachen mehr; kein Mensch weiß aus eigener Erfahrung ob es Fabel oder Geschichte: man hat es von seinen Vorfahren überkommen, und das genügt, es als wahr anzunehmen.


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