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Achter Artikel.
Bedeutung einiger Volksmeinungen.

1.

Ich werde hier meine Gedanken ohne Ordnung schreiben, doch nicht etwa in zweckloser Verwirrung: das ist die wahre Ordnung und sie wird eben gerade durch die Unordnung stets meinen Gegenstand kennzeichnen.

Wir wollen betrachten, daß alle Volksmeinungen sehr gesund sind; daß das Volk nicht so eitel ist, als man es macht; und folglich wird die Meinung, welche die des Volkes umstößt, selbst umgestoßen werden.

2.

In einem Sinne ist es wahr zu sagen: alle Welt befindet sich im Wahn; denn, obwohl die Meinungen des Volkes gesund sind, so sind sie es doch nicht in seinem Kopfe, weil es glaubt, die Wahrheit sei, wo sie nicht ist. Die Wahrheit ist allerdings in ihren Meinungen, aber nicht an der Stelle, wo sie sie sich denken.

3.

Das Volk ehrt Personen von hoher Geburt. Die Halbgebildeten verachten sie, indem sie sagen: Geburt sei kein Vorzug der Personen, sondern des Zufalls. Die Gebildeten ehren sie, nicht mit dem Gedanken des Volkes, sondern mit edleren Gedanken. Gewisse Eiferer, die nicht allzuviel Einsicht haben, verachten sie trotz der Betrachtung, die sie bei Gebildeten verehrt macht, weil sie vermöge eines neuen Lichtes, das ihnen die Frömmigkeit giebt, darüber urtheilen. Die vollkommenen Christen aber ehren vermöge einer anderen höheren Erkenntnis. So folgen die Meinungen aufeinander wechselnd zwischen Für und Wider je nachdem man Erkenntnis hat.

4.

Das größte Übel sind die Bürgerkriege. Sie sind unvermeidlich, wenn man das Verdienst belohnen will; denn alle würden sagen, daß sie Verdienst hätten. Das verdient eine Erklärung. Bürgerkrieg, wenn der Prinz von Conti sagt: Ich habe ebensoviel Verdienst wie der große Conde. wenn Retz sagt: Ich gelte mehr als Mazarin; wenn Beaufort sagt: Ich übertreffe Turenne; und wenn niemand da ist, sie an ihren richtigen Platz zu stellen. Aber wenn Ludwig XIV. kommt und sagt: Ich werde nur das Verdienst belohnen; dann kein Bürgerkrieg mehr. Das Übel, welches man von einem Narren zu fürchten hat, der nach dem Recht der Geburt erbfolgt, ist weder so groß noch so sicher.

5. Diese Artikel bedürfen der Erklärung und scheinen sie nicht zu verdienen.

Weshalb folgt man der Mehrheit? etwa weil sie mehr Vernunft hat? nein, aber mehr Gewalt. Weshalb folgt man den alten Gesetzen und den alten Meinungen? etwa weil sie gesunder sind? nein, aber sie sind einzig und schneiden der Verschiedenheit die Wurzel ab.

6. Diese Artikel bedürfen der Erklärung und scheinen sie nicht zu verdienen.

Die Herrschaft, welche sich auf die Meinung und Einbildung stützt, regiert einige Zeit und es ist eine milde und freie Herrschaft: die der Gewalt herrscht immer. So gleicht die Meinung der Königin der Welt, aber die Gewalt ist ihr Tyrann.

7.

Man hat wohl daran gethan, die Menschen eher nach dem Äußern als nach inneren Eigenschaften zu unterscheiden. Wer wird von uns beiden weichen? wer wird dem andern die Stelle concediren? der weniger geschickte? Aber ich bin ebenso geschickt wie er. Man muß sich darum schlagen. Er hat vier Bediente, und ich nur einen: das ist klar; man braucht nur zu zählen; ich muß nachgeben, Nein. Turenne mit einem Diener wird respectirt werden von einem Pachter, der deren vier hat. und ich bin ein Narr, wenn ich streite. Durch dies Mittel bleiben wir in Frieden; das ist das größte Gut.

8.

Der Umstand, daß man die Könige gewöhnlich begleitet sieht von Wachen, Tambourn, Officieren und lauter solchen Dingen, welche Ehrfurcht und Schrecken hervorrufen, bewirkt, daß ihr Anblick, wenn sie manchmal allein und ohne Begleitung sind, ihren Unterthanen Ehrfurcht und Schrecken einflößt, weil man in Gedanken ihre Person nicht von ihrem Gefolge, welches man gewöhnlich mit ihnen sieht, trennt. Die Welt, welche nicht weiß, daß diese Wirkung in der Gewöhnung begründet ist, glaubt, sie käme von einer natürlichen Kraft; daher Worte wie: Das Zeichen der Gottheit ist seinem Antlitz eingeprägt, etc.

Die Macht der Könige ist gegründet auf Vernunft und Thorheit des Volkes, viel mehr aber auf die Thorheit. Die größte und wichtigste Sache von der Welt hat als Grundlage die Schwäche: und eben diese Grundlage ist bewunderungswürdig sicher; denn nichts ist sicherer, als daß das Volk schwach sein wird; was allein auf die Vernunft gegründet ist, ist schlecht gegründet, wie die Anerkennung der Weisheit.

9.

Unsere Behörden haben dies Geheimnis gar wohl verstanden. Ihre rothen Gewänder, ihre Hermelinpelze, in die sie sich einwickeln wie bepelzte Katzen, Die römischen Senatoren hatten die Ehrentoga. die Justizpaläste, die Lilienblüten; all' dieser ehrwürdige Schein war nothwendig: und wenn die Ärzte nicht Soutanen und Pantoffeln, die Doctoren nicht viereckige Mützen und um das vierfache zu weite Gewänder hätten, sie hätten die Welt nie düpiert, die jedoch diesem authentischen Anschein nicht widerstehen kann. Die Kriegsleute allein haben sich nicht so verkappt, Heutzutage ist es gerade umgekehrt, man würde über einen Arzt spotten, der den Puls fühlen und euren Nachtstuhl untersuchen wollte in der Soutane. Die Officiere dagegen erscheinen überall mit ihren Uniformen und Epauletten. weil in der That ihr Antheil wesenhafter ist. Sie stützen sich auf Gewalt, die andern auf Fratzen.

Ebenso haben unsere Könige solche Verkleidungen nicht begehrt. Sie haben sich nicht mit ungewöhnlichen Gewändern masquirt um als solche zu erscheinen; aber sie lassen sich begleiten von Garden und Hellebardieren, diesen wüsten Truppen, die nur für sie Hände und Kraft haben: Trompeter und Tambour, die vorauf gehen, und jenes unendliche Gefolge machen die Sichersten zittern. Man müßte eine sehr aufgeklärte Vernunft haben, um den Groß-Sultan in seinem stolzen Serail umgeben von vierzigtausend Janitscharen wie einen andern Menschen zu betrachten.

Wenn die Behörden die wahre Justiz hätten; wenn die Ärzte die rechte Heilkunst besäßen, sie brauchten keine viereckigen Mützen. Die Majestät ihrer Wissenschaft wäre an sich hinlänglich ehrwürdig. Da sie aber nur imaginäre Wissenschaft besitzen, haben sie solch' eitle Zierrathen nöthig, um die Einbildung, auf die sie wirken müssen, zu frappiren; und dadurch erwerben sie sich in der That Achtung.

Wir können nicht einmal einen Advocaten mit dem Talar und der Mütze sehen, ohne eine vortheilhafte Meinung von seinen Fähigkeiten zu bekommen.

Die Schweizer fühlen sich beleidigt, wenn sie Edelleute genannt werden, und sie beweisen ihre unadliche Abkunft, um würdig erachtet zu werden für die hohen Ämter. Pascal war schlecht unterrichtet. Es gab zu seiner Zeit und es giebt noch in dem Senat von Bern Leute von ebenso altem Adel als das Haus Östreich. Sie werden geehrt und bekleiden Ämter. Allerdings nicht nach dem Recht der Geburt, wie die Adligen in Venedig. Zu Basel muß man sogar, um in den Senat eintreten zu können, auf seinen Adel verzichten.

10.

Man wählt zum Lenker eines Schiffes nicht denjenigen von den Reisenden, der von bester Herkunft ist.

Alle Welt sieht, daß man zur See, in Schlachten etc. für Ungewisses arbeitet; aber alle Welt verkennt die Gesetzmäßigkeit der Entschlüsse, welche beweist, daß man es muß. Montaigne erkannte, daß man sich an einem hinkenden Geiste stößt und daß die Gewohnheit alles bewirkt; aber er hat nicht den Grund dieser Wirkung erkannt. Die, welche nur die Wirkungen, nicht aber die Ursachen sehen, sind gegenüber denen, welche die Ursachen aufdecken, gleich denen, die nur Augen haben gegenüber denen die Geist haben. Denn die Wirkungen sind gleichsam fühlbar, und die Ursachen sind nur dem Geiste sichtbar. Und obgleich man mittelst des Geistes jene Wirkungen bemerkt, so ist doch dieser Geist gegenüber dem, der die Ursachen bemerkt, wie die körperlichen Sinne gegenüber dem Geiste.

11.

Woher kommt es, daß ein Hinkender uns nicht irritirt, während es ein hinkender Geist thut? Die Ursache ist die: ein Hinkender erkennt, daß wir gerade gehen, ein hinkender Geist aber sagt, wir seien es, die da hinken; wenn das nicht wäre, würden wir eher Mitleid als Zorn für ihn haben.

Epictet fragt auch, weshalb wir uns nicht betrüben, wenn man sagt, wir hätten Kopfweh, und weshalb wir uns betrüben, wenn man sagt, wir dächten schlecht oder wir wählten schlecht. Die Ursache ist die: wir sind vollkommen sicher, daß wir kein Kopfweh haben und daß wir nicht hinken; aber wir wissen nicht ebenso sicher, daß wir das Wahre wählen. Deshalb werden wir, da wir keinen anderen Grund zur Überzeugung haben, als weil wir es nach unserer Auffassung sehen, sobald ein anderer nach seiner Auffassung das Gegentheil sieht, in Zweifel und Staunen versetzt, um so mehr, wenn tausend andere unsere Wahl mißbilligen; denn dann müssen wir unsere Erkenntnis der so vieler anderer vorziehen und das ist kühn und schwierig. Nie wird ein solcher Gegensatz sich in den Sinnen erheben, wenn es sich um einen Hinkenden handelt.

12.

Die Achtung gebietet, bemüht euch; das ist dem Anschein nach thöricht, aber sehr richtig; denn man muß sagen: Ich würde mich gern bemühen, falls ihr dessen bedürftet, denn ich thue es ohne daß es euch nützt: außer daß der Respect die Großen unterscheiden soll. Wenn nun aber der Respect darin bestände, in einem Sessel zu sitzen, man würde alle Welt respectiren, und folglich nicht unterscheiden; wird man aber bemüht, so unterscheidet man sehr gut.

13.

Geputzt zu sein, ist nicht gar zu eitel; man zeigt dadurch, daß eine große Anzahl Leute für einen arbeiten; man zeigt an seinen Haaren, daß man einen Kammerdiener, einen Parfumeur hat etc.; an seinem Kragen den Faden und die Verbrämung etc.

Es ist aber keine einfache Decke noch ein einfacher Harnisch, mehrere Arme zu seinem Dienst bereit zu haben.

14.

Das ist wunderbar: man will nicht, daß ich einen Menschen ehre, der in Brocat gekleidet und von sieben oder acht Bedienten gefolgt ist. Wie denn? Er wird mir die Peitsche geben lassen, wenn ich ihn nicht grüße. Dies Gewand, es ist eine Gewalt; ist es nicht ebenso mit einem wohlgeschirrten Pferde in Vergleich mit einem andern? Niedrig und unwürdig von Pascal.

Montaigne ist in dem Umstand lächerlich, daß er nicht den Unterschied bemerkt, der dazwischen obwaltet, solche Betrachtungen zu bewundern und nach ihrer Ursache zu forschen.

15.

Das Volk hat sehr gesunde Ansichten, z. B. eher Zerstreuung und Jagd gewählt zu haben, als Poesie: Man scheint dem Volke vorgeschlagen zu haben Ball zu spielen oder Verse zu machen. Nein, aber die, welche gröbere Organe haben, suchen Freuden, denen sich die Seele nicht umsonst hingiebt; die welche ein zarteres Gefühl haben, wollen feinere Freuden: alle Welt muß eben leben. die Halbweisen ärgern sich darüber und triumphiren darin seine Thorheit zu zeigen; aber aus einem Grunde, den sie nicht erkennen, hat es Grund. Es ist ebenso gut, die Menschen nach ihrem Äußern zu unterscheiden, wie nach Geburt oder Vermögen; die Welt triumphirt zwar mit dem Beweise, wie unvernünftig das sei; aber es ist sehr vernünftig.

16.

Die Eigenschaft ist ein großer Vorzug, welche einem Menschen von achtzehn oder zwanzig Jahren Aussichten eröffnet, ihn bekannt und geachtet macht, wie es ein anderer mit fünfzig Jahren verdient haben könnte: das sind dreißig Jahr gewonnenes Spiel ohne Mühe.

17.

Gewisse Leute verfehlen, um zu zeigen, daß man Unrecht thut sie nicht zu schätzen, niemals das Beispiel von Männern von Rang anzuführen, die viel auf sie halten. Ich möchte ihnen antworten: Zeigt uns das Verdienst, wodurch ihr die Achtung jener Männer erworben habt, und wir werden euch ebenso achten.

18.

Ein Mensch, der sich ans Fenster setzt, um die Vorübergehenden zu sehen – wenn ich nun vorbei gehe, kann ich behaupten, er habe sich dort hingesetzt, um mich zu sehen? Nein; denn er denkt an mich besonders gar nicht. Derjenige aber, der eine Person wegen ihrer Schönheit liebt, liebt er sie? Nein; denn die Blattern, die ihr die Schönheit nehmen ohne sie selbst zu tödten, beendigen seine Liebe: und wenn man mich liebt meines Urtheils und meines Gedächtnisses wegen, liebt man dann mich selbst? Nein; denn ich kann diese Eigenschaften verlieren, ohne zu sterben. Wo ist also dies Ich, wenn es weder im Körper noch in der Seele ist? und wie soll man Leib oder Seele lieben außer wegen jener Eigenschaften, die indeß durchaus nicht dies Ich ausmachen, da sie ja vergänglich sind? Denn würde man wohl ganz abstract die Seelensubstanz einer Person lieben, und einige ihr anhaftende Eigenschaften? Das ist nicht möglich und wäre ungerecht. Man liebt also nie die Person, sondern allein die Eigenschaften; oder wenn man die Person liebt, so muß man sagen, die Vereinigung der Eigenschaften macht die Person.

19.

Die Dinge, welche uns am meisten am Herzen liegen, sind meistens nichts; wie z. B. zu verbergen, daß man wenig Vermögen hat. Es ist ein Nichts, welches unsere Einbildung zum Berge vergrößert. Eine andere Gedankenreihe läßt es uns ohne Mühe eingestehen.

20.

Diejenigen, welche fähig sind zu erfinden, sind selten; die, welche nichts erfinden, sind in großer Zahl vorhanden und sind folglich die stärksten; und man sieht, daß sie für gewöhnlich den Erfindern den Ruhm, den sie für ihre Erfindungen verdienen und suchen, verweigern. Wenn sie nun darauf bestehen ihn zu erlangen, und mit Verachtung die zu behandeln, die nicht erfinden, so ist alles, was sie damit gewinnen, daß man ihnen Spitznamen giebt und sie als Visionäre behandelt. Man muß sich also hüten, sich auf diesen Vorzug, so groß er ist, etwas einzubilden; und man muß sich damit begnügen, von einer kleinen Zahl derer geschätzt zu werden, die die Sache nach ihrem Werthe zu beurtheilen vermögen.


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