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Zwölfter Artikel.
Über die Stellung der Großen.

1.

Um euch zu einer wahrhaftigen Erkenntnis eurer Stellung zu führen, betrachtet sie in folgendem Bilde. Der Art. ist gerichtet an den Herzog von Reannes.

Ein Mensch wurde vom Sturme an eine unbekannte Insel geworfen, deren Bewohner ängstlich bemüht waren, ihren König wiederzufinden, der sich verloren hatte: und da er zufällig an Gestalt und Antlitz viel Ähnlichkeit mit diesem Könige hatte, so wurde er für ihn gehalten und in dieser Würde von allem Volke anerkannt. Zuerst wußte er nicht, wie er sich verhalten solle; schließlich aber beschloß er sich seinem guten Glücke zu überlassen. Er empfing also alle Ehrenbezeigungen, die man ihm darbringen mochte, und ließ sich als König behandeln.

Da er aber seine natürliche Stellung nicht vergessen konnte, so dachte er, in demselben Augenblicke, wo er jene Ehrenbezeigungen empfing, er sei nicht der König, den das Volk suche, und dieses Königthum gehöre ihm nicht. So waren seine Gedanken zwiefach, nach den einen handelte er als König, nach den andern erkannte er seinen wahren Stand, und daß nur der Zufall ihn dahin gestellt, wo er sich befinde. Diese letzteren Gedanken verbarg er, und that die anderen kund. Nach ersteren handelte er mit dem Volke, nach letzteren handelte er mit sich selbst.

Glaubt nicht etwa, daß es ein geringerer Zufall sei, wonach ihr die Reichthümer, über die ihr gebietet, besitzet, als der, wonach jener Mensch sich als König fand. Ihr habt euretwegen und wegen eurer Natur kein Recht darauf, ebenso wenig wie er; und ihr findet euch nicht nur als Sohn eines Herzogs, sondern auch überhaupt auf der Welt nur vermöge einer Unendlichkeit von Zufällen. Eure Geburt hängt ab von einer Heirath, oder vielmehr von allen Heirathen derjenigen, von denen ihr abstammt. Aber wovon hängen diese Heirathen ab? von einem zufälligen Besuche, von einer Unterhaltung im Freien, von tausend unvorhergesehenen Gelegenheiten.

Ihr habt, sagt ihr, eure Reichthümer von euren Vorfahren; aber haben eure Vorfahren sie nicht durch tausend Zufälle erworben und euch erhalten? Tausend andere, die ebenso geschickt waren wie sie, haben sie nicht erwerben können oder haben sie verloren, nachdem sie sie erworben hatten. Ihr glaubt auch, daß diese Güter auf irgend einem natürlichen Wege von euren Vorfahren auf euch gekommen sind? Das ist nicht der Wahrheit gemäß. Diese Anordnung ist nur gegründet auf den alleinigen Willen der Gesetzgeber, die ihre guten Gründe gehabt haben mögen sie aufzustellen, von denen indeß sicherlich keiner einem Naturrecht, das ihr auf jene Dinge hättet, entnommen ist. Wenn es ihnen gefallen hätte, zu bestimmen, daß diese Güter, nachdem die Väter sie Zeit ihres Lebens besessen, nach ihrem Tode dem Staate wieder zufielen, ihr hättet keinen Grund euch darüber zu beklagen.

Aller Rechtsgrund also, nach dem ihr euer Vermögen besitzet, ist nicht etwa begründet auf die Natur, sondern auf eine menschliche Einrichtung. Eine andere Gedankenreihe in den Gesetzgebern hätte euch arm machen können; und nur das zufällige Zusammentreffen, das euch mit der Laune der Gesetze zugleich hat geboren werden lassen, die sich rücksichtlich eurer günstig gestaltet, setzt euch in Besitz aller jener Güter.

Ich will nicht sagen, daß sie euch nicht von Rechtswegen gehören und daß es einem andern erlaubt sei, sie euch zu nehmen; denn Gott, der Herr über sie ist, hat den Gesellschaften gestattet, Gesetze zu ihrer Vertheilung zu machen: und wenn diese Gesetze einmal gelten, so ist es unrecht, sie zu verletzen. Dieser Umstand unterscheidet euch in etwas von dem Menschen, wovon wir gesprochen und welcher sein Königthum nur in Folge des Volksirrthums besaß, denn Gott würde jenen Besitz nicht billigen und würde ihn zwingen darauf zu verzichten, während er den eurigen billigt. Aber was euch mit ihm vollkommen gemein ist, das ist der Umstand, daß jenes euer Recht daran ebenso wenig wie das seinige auf irgend eine Eigenschaft und auf irgend ein Verdienst, das ihr hättet und das euch dessen würdig machte, begründet ist. Eure Seele und euer Körper sind an sich indifferent gegen den Stand eines Schiffsmannes oder den eines Herzogs: und es giebt kein natürliches Band, was sie mehr mit diesem Stande als mit einem andern verbinde.

Was folgt daraus? daß ihr, wie jener Mann, von dem wir sprachen, zwiefache Gedanken haben müßt; und daß, wenn ihr äußerlich mit den Menschen eurem Range gemäß verfahrt, ihr vermöge eines verborgeneren aber wahrhaftigeren Gedankens erkennen müßt, daß ihr von Natur durchaus nicht über ihnen steht. Wenn jener öffentliche Gedanke euch über Leute gewöhnlichen Schlages erhebt, so möge der andere euch erniedrigen und euch in vollkommen gleicher Höhe mit allen Menschen halten; denn das ist euer natürlicher Stand.

Das Volk, welches euch bewundert, kennt vielleicht dies Geheimnis nicht. Es glaubt, der Adel sei eine reelle Größe und es betrachtet die Großen fast, als seien sie aus anderem Holze als die andern. Nehmt ihm diesen Irrthum nicht, wenn ihr es so wollt; aber mißbraucht dieser Erhöhung nicht mit Übermuth und verkennt euch überhaupt nicht selbst, indem ihr wähnet, euer Wesen habe etwas erhabeneres an sich, als das anderer.

Was würdet ihr von jenem Manne sagen, wenn er, durch den Irrthum des Volkes zum König gemacht, seines natürlichen Standes sosehr vergäße, daß er sich einbildete, dieses Königthum komme ihm zu, er verdiene es, und es gehöre ihm von Rechtswegen? Ihr würdet über seine Thorheit und Narrheit staunen. Begehen denn aber Personen von Würde geringere, wenn sie in einer so sonderbaren Vergessenheit ihres natürlichen Standes leben?

Das ist von großer Bedeutung. Denn all' die Übereilungen, all' die Vergewaltigung und all' der Übermuth der Großen kommt nur daher, daß sie nicht erkennen, was sie sind: denn es ist nicht leicht, daß diejenigen, welche in ihrem Innern sich als allen Menschen gleichstehend betrachten, und die vollkommen davon überzeugt ist, daß sie nichts besitzen, weshalb sie jene kleinen Vortheile, die Gott ihnen vor andern gegeben, verdienen; daß diese andere mit Übermuth behandeln. Dazu müßte man sich selbst ganz vergessen und denken, man habe wirklich irgend welchen Vorzug vor ihnen: darin eben besteht jene falsche Meinung, die ich euch klarzulegen versuche.

2.

Es ist gut, daß ihr wißt, was man euch schuldig ist, damit ihr euch nicht anmaßt von Menschen zu verlangen, was man euch nicht schuldet; denn das wäre offenbare Ungerechtigkeit: und doch ist sie bei Leuten eures Standes sehr gewöhnlich, weil sie dessen Natur verkennen.

Es giebt in der Welt zwei Arten von Größen; denn es giebt gesetzliche Größen und natürliche Größen. Die gesetzlichen Größen hängen ab vom Willen der Menschen, welche mit Recht gewisse Stände ehren und mit ihnen gewisse Ehrfurchtserzeigungen verbinden zu müssen geglaubt haben. Ämter und Adel gehören zu dieser Art. In einem Lande ehrt man den Adel, in einem andern den Bürger: in diesem die ältesten, in jenem die jüngsten Söhne. Weshalb? weil es den Menschen so gefallen. Die Sache war gleichgiltig vor ihrer gesetzlichen Regelung: nach derselben wird sie gerecht, weil es ungerecht ist sie zu stören.

Die natürlichen Größen sind die, welche unabhängig sind von der Laune der Menschen, weil sie in wirklichen und wirksamen Eigenschaften der Seele oder des Körpers bestehen, welche jene oder diesen schätzenswerther machen, so z. B. Wissenschaft, Verstand, Geist, Tugend, Gesundheit, Kraft.

Beiden Arten von Größen schulden wir einen gewissen Tribut; aber wie sie von verschiedener Natur sind, so müssen wir sie auch in verschiedener Weise ehren. Den gesetzlichen Größen schulden wir gesetzliche Ehrfurcht, d. h. gewisse äußere Förmlichkeiten, die trotzdem, wie wir gezeigt haben, mit innerer Anerkennung der Gerechtigkeit dieser Anordnung verbunden sein können, die uns aber in denen, welche wir auf diese Weise ehren, durchaus noch keine wesentliche Eigenschaft erkennen lassen. Mit Königen spricht man auf den Knieen: im Zimmer der Fürsten muß man stehen. Nur ein thöricht und niedrig denkender Geist kann diese Schuldigkeit verweigern.

Aber natürliche Ehrenbezeigungen, die in der Achtung bestehen, schulden wir nur den natürlichen Größen; und umgekehrt schulden wir Verachtung und Abscheu den Eigenschaften, welche diesen natürlichen Größen entgegengesetzt sind. Weil ihr Herzog seid, brauche ich euch noch nicht zu achten; aber ich muß euch grüßen. Wenn ihr Herzog seid und ein Ehrenmann, so werde ich beiden Eigenschaften geben, was ich ihnen schulde. Ich werde euch weder die Förmlichkeiten verweigern, die eure Eigenschaft als Herzog beansprucht, noch die Achtung, welche die des Ehrenmannes verdient. Aber wenn ihr Herzog wäret ohne ein Ehrenmann zu sein, so werde ich euch dennoch Gerechtigkeit widerfahren lassen; denn wenn ich euch die äußerliche Schuldigkeit erwiese, welche Menschengesetz mit eurer Würde verknüpft, so würde ich daneben nicht verfehlen für euch die innere Verachtung zu hegen, welche die Niedrigkeit eures Geistes verdient.

Darin besteht die Gerechtigkeit jener Verpflichtungen. Die Ungerechtigkeit besteht darin, natürliche Ehrfurcht gesetzlichen Größen zu erweisen, oder gesetzliche Ehrfurcht für natürliche Größen zu verlangen. Herr N. ist ein größerer Geometer als ich; in dieser Eigenschaft will er mehr gelten als ich: ich sage ihm, er versteht nichts davon. Die Geometrie ist eine natürliche Größe; sie verlangt einen Vorrang an Achtung; aber die Menschen haben damit keinen äußeren Vorzug verbunden. Ich gelte also mehr als er, und werde ihn höher schätzen als mich in seiner Eigenschaft als Geometer. Ebenso, wenn ihr Herzog und Pair wäret und ließet euch nicht daran genügen, daß ich entblößten Hauptes vor euch stände, sondern verlangtet auch, daß ich euch achtete, so wurde ich euch bitten, mir die Eigenschaften zu zeigen, welche meine Achtung verdienten. Thätet ihr es, so würdet ihr sie erwerben, und ich könnte sie gerechter Weise euch nicht verweigern; thätet ihr es aber nicht, so wäre es Unrecht von euch, sie von mir zu verlangen; und sicherlich würde es euch damit nicht glücken und wäret ihr der größte Fürst der Welt.

3.

Ich will euch also euren wahren Stand erkennen lassen; denn gerade das ist es, was Leute eurer Art am wenigsten von allen kennen. Was bedeutet, nach eurer Meinung, ein großer Herr sein? Es bedeutet über mehrere Gegenstände menschlicher Begehrlichkeit Herr zu sein, also den Bedürfnissen und Wünschen mehrerer genügen zu können. Eben diese Bedürfnisse und Wünsche fesseln sie an euch und machen sie euch unterthan: sonst würden sie euch nicht einmal beachten; aber sie hoffen durch Dienste und Gefälligkeiten, die sie euch erweisen, einigen Antheil zu erlangen an den Gütern, die sie begehren und über die ihr, wie sie sehen, verfügt.

Gott ist umringt von Menschen, erfüllt von christlicher Liebe, die ihn um Güter der Liebe, die in seiner Macht stehen, bitten: so ist er recht eigentlich der König der Liebe.

Ihr seid ebenso umgeben von einer kleinen Anzahl von Personen, über die ihr in eurer Weise herrscht. Diese Menschen sind erfüllt von begehrlicher Lust. Die Begehrlichkeit fesselt sie an euch. Ihr seid also recht eigentlich ein König der Begehrlichkeit. Euer Königreich hat geringe Ausdehnung; aber ihr seid in der Art der königlichen Würde den größten Königen der Erde gleich. Sie sind wie ihr Könige der Begehrlichkeit. Die Begehrlichkeit bildet ihre Kraft; d. h. der Besitz der Dinge, welche die Begierde des Menschen erstrebt.

Aber wenn ihr eure natürliche Stellung kennt, so gebraucht die ihr eigenthümlichen Mittel, aber beansprucht nicht mittelst eines anderen Einflusses zu herrschen, als mittelst dessen, der euch zum Könige macht. Nicht eure natürliche Kraft und eure natürliche Macht machen euch all' jene Leute unterthan. Maßt euch also nicht an sie mit Gewalt zu beherrschen, noch mit Härte zu behandeln. Befriedigt ihre gerechten Wünsche; mildert ihre Noth; sucht eure Freude in der Wohlthätigkeit; fördert sie, so viel ihr könnt, und ihr handelt in Wahrheit wie ein König der Begehrlichkeit.

Das was ich euch sage reicht nicht weit; und wenn ihr dabei stehen bleibet, so werdet ihr nicht verfehlen euch zu verderben; aber wenigstens verderbt ihr euch zu einem ehrenhaften Manne. Es giebt Leute, die sich so thöricht verdammen durch Habsucht, Rohheit, Ausschweifung, Gewaltthätigkeit, Übereilungen, Blasphemien! Das Mittel, was ich euch zeige ist ohne Zweifel ehrenvoller; aber es ist stets eine große Thorheit sich zu verdammen: und deshalb muß man nicht dabei stehen bleiben. Man muß die Begehrlichkeit und ihr Königreich verachten, und nach dem Reiche der Liebe trachten, wo alles Liebe athmet und nur Güter der Liebe begehrt. Andere als ich werden euch den Weg zeigen; mir genügt es euch von jenem verderblichen Lebenswege abgelenkt zu haben, auf den, wie ich sehe, manche Personen von Würde sich verlocken lassen, weil sie dessen wahre Natur nicht recht erkennen.

 


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