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Sechster Artikel.
Unterordnung und Gebrauch der Vernunft.

1.

Der letzte Schritt der Vernunft ist, anzuerkennen, daß unendlich viel über sie hinausgeht. Sie ist sehr schwach, wenn sie dahin nicht gelangt. Man muß zweifeln, wo es noth thut, behaupten, wo es noth thut, sich unterwerfen, wo es noth thut. Wer anders handelt kennt nicht die Kraft der Vernunft. Gegen diese drei Principien sündigen viele: entweder stellen sie alles als beweisbar hin, weil sie sich nicht auf Beweise verstehen, oder sie zweifeln an allem, weil sie nicht wissen, wo man sich unterordnen muß; oder sie ordnen sich in allem unter, weil sie nicht wissen, wo ein Urtheil am Platze ist.

2.

Wenn man alles der Vernunft unterordnet, dann hat unsere Religion nichts Geheimnisvolles und nichts Übernatürliches. Verstößt man gegen die Gesetze der Vernunft, so wird unsere Religion ungereimt und lächerlich.

Die Vernunft, sagt der heilige Augustin, würde sich nie unterordnen, wenn sie nicht selbst einsähe, daß sie es stellenweise thun muß. Es ist also recht, daß sie sich unterordnet, wenn sie es als nothwendig erkennt; und daß sie sich nicht unterordnet, wenn sie mit Grund annimmt, daß es nicht nothwendig: aber man muß sich in Acht nehmen, daß man sich nicht täusche.

3.

Die Frömmigkeit unterscheidet sich vom Aberglauben. Die Frömmigkeit bis zum Aberglauben treiben heißt sie zerstören. Die Ketzer werfen uns eine solche abergläubische Unterwerfung vor. Wir würden diesen Vorwurf rechtfertigen, wenn wir eine solche Unterwerfung forderten in Sachen, wo sie nicht am Platze ist.

Nichts steht so sehr mit der Vernunft im Einklange, als die Verläugnung der Vernunft in Glaubenssachen. Nichts steht so sehr mit der Vernunft im Widerspruch als die Verläugnung derselben in Dingen, die nicht Glaubenssachen sind. Die Vernunft gar nicht gelten lassen, und nichts gelten lassen, als die Vernunft: das sind zwei gleich gefährliche Verkehrtheiten.

4.

Der Glaube lehrt wohl etwas, was die Sinne nicht lehren, aber nie das Gegentheil. Er steht über ihnen, nicht gegen sie.

5.

Hätte ich ein Wunder gesehen, sagen gewisse Leute, so würde ich mich bekehren. Sie würden nicht also sprechen, wenn sie wüßten, was Bekehrung heißt. Dazu, wähnen sie, brauche man nur die Existenz eines Gottes zu erkennen, und um ihn anzubeten gewisse Reden an ihn zu halten, etwa wie die Heiden solche ihren Götzen hielten. Die wahrhafte Bekehrung aber besteht darin, daß man sich als ein Nichts fühle vor jenem erhabenen Wesen, welches man so manchmal erzürnt, und welches uns von Rechts wegen stündlich vernichten kann; daß man erkenne, ohne Gott nichts zu vermögen, und von ihm nichts als Ungnade verdient zu haben. Sie besteht in der Erkenntnis des unversöhnlichen Gegensatzes zwischen Gott und uns, und der Unmöglichkeit einer Bereinigung mit ihm, ohne einen Mittler.

6.

Wundert euch nicht, wenn einfältige Leute glauben ohne viel nachzudenken. Es ist eine Gnade von Gott, seine Gerechtigkeit zu lieben und sich selbst zu hassen. Er neigt ihr Herz zum Glauben. Niemals kann man mit wahrhaft heilsamer und gläubiger Zuversicht glauben, wenn nicht Gott das Herz dazu neigt; man wird aber also glauben, von dem Augenblicke an, wo Gott das Herz dazu neigt. Und das wußte David recht gut, als er sprach: Inclina cor meum, Deus, in testimonia tua. (Ps. 118, 36.)

7.

Diejenigen welche glauben, ohne die Beweise für die Religion geprüft zu haben, glauben, weil ein heiliger Zug ihres Innern sie dazu antreibt, und weil alles, was sie über unsere Religion hören, damit stimmt. Sie fühlen, daß ein Gott sie geschaffen. Sie wollen ihn allein lieben. Sie wollen sich allein hassen. Sie fühlen, daß ihnen die Kraft dazu fehlt; daß sie unfähig sind zu Gott zu gelangen; und daß, wenn Gott nicht zu ihnen kommt, sie keine Gemeinschaft mit ihm haben können. Dann vernehmen sie in unserer Religion: man soll Gott allein lieben, und sich allein hassen: da aber alle verderbt und Gottes unfähig sind, so ist Gott Mensch geworden, um sich mit uns zu vereinigen. Weiter braucht es nichts um Menschen von dieser Herzensneigung zu überzeugen: jene Erkenntnis ihrer Pflicht und ihres Unvermögens genügt.

8.

Diejenigen Christen, welche weder Prophetieen, noch Beweise kennen, vermögen darüber ebenso gut zu urtheilen, wie diejenigen, welche dieselben kennen. Sie urtheilen darüber mit dem Herzen, wie die anderen mit dem Verstande. Gott selbst ist es, der ihre Herzen zum Glauben neigt; und also sind sie am wirksamsten überzeugt.

Ich gestehe gern zu, daß der eine oder der andere dieser Christen, welche ohne Beweise glauben, nichts zur Hand haben mag, um einen Ungläubigen zu bekehren, der darüber manches aus sich selbst weiß. Diejenigen aber, welche die Beweise für die Religion kennen, vermögen ohne Schwierigkeit zu beweisen, daß dieser Gläubige in Wahrheit von Gott inspirirt ist, obgleich er es selbst nicht zu beweisen vermag.


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