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Sechster Artikel.
Schwäche des Menschen; Unsicherheit seiner natürlichen Erkenntnis.

1.

Auf das höchste setzt mich in Erstaunen, daß niemand in der Welt über seine Schwäche erstaunt ist. Man handelt mit Ernst und jeder richtet sich nach seiner Lage, nicht etwa weil es in der That gut ist zu thun, weil es so Mode ist, sondern als wenn jeder ganz genau wüßte, wo die Vernunft und Gerechtigkeit sich findet. Man sieht sich stündlich getäuscht, und in spaßhafter Demuth hält man das für seinen eigenen Fehler und nicht für den der Kunst, deren man sich stets rühmt. Es ist gut, daß es viel derartige Leute in der Welt giebt, um zu zeigen, daß der Mensch recht gut der ausschweifendsten Meinungen fähig ist, denn er ist fähig zu glauben, er sei nicht mit natürlicher, unvermeidlicher Schwäche, sondern vielmehr mit natürlicher Weisheit begabt.

2.

Die Schwäche der menschlichen Vernunft erscheint viel mehr in denen, die sie nicht kennen, als in denen, die sie kennen.

Wenn man zu jung ist, urtheilt man nicht richtig. Wenn man zu alt ist, ebenso. Wenn man zu wenig daran denkt, wenn man zuviel daran denkt, bläht man sich auf und kann die Wahrheit nicht finden. Wenn man sein Werk sofort nach seiner Vollendung betrachtet, ist man noch ganz davon eingenommen. Wenn zu lange Zeit nachher, versteht man es nicht mehr. Es giebt nur einen unverrückbaren Punkt, welcher der richtige Platz ist, Gemälde zu betrachten: die andern sind zu nah, zu fern, zu hoch, zu niedrig. Die Perspektive lehrt ihn in der Kunst der Malerei. Aber in der Wahrheit und in der Moral, wer lehrt ihn da?

3.

Diese Gebieterin des Irrthums, die Einbildung und Meinung, ist um so betrüglicher, als sie es nicht immer ist; denn sie wäre eine unfehlbare Regel der Wahrheit, wäre sie eine unfehlbare der Lüge. Aber obwohl sie meistens falsch ist, giebt sie doch über ihr Wesen keine Andeutung, da sie mit gleichem Merkmal das Wahre und das Falsche bezeichnet.

Diese stolze Macht, die Feindin der Vernunft, die sich darin gefällt sie zu überwachen und zu beherrschen, hat, um zu zeigen wie viel sie überall vermag, im Menschen eine zweite Natur erschaffen. Sie hat ihre Glücklichen und Unglücklichen; ihre Gesunden und Kranken; ihre Reichen und Armen; ihre Narren und Weisen: und nichts verdrießt uns mehr als die Bemerkung, daß sie ihre Gäste mit einer ganz anderen, viel völligeren Befriedigung erfüllt, als die Vernunft: denn Leute von lebhafter Einbildungskraft gefallen sich selbst ganz anders, als kluge es vernünftiger Weise jemals können. Sie betrachten die Leute mit Herrscherstolz; sie streiten mit Keckheit und Selbstvertrauen; die andern mit Furcht und Zaghaftigkeit: und dieser Ausdruck freudiger Zuversicht giebt ihnen oft in der Meinung der Hörer den Sieg; so sehr stehen die Weisen an Einbildung in Gunst bei ihren Richtern derselben Gattung! Sie kann nicht Narren zu Weisen machen; aber sie macht sie zufrieden trotz der Vernunft, die ihre Freunde nur elend machen kann. Die eine überhäuft sie mit Ruhm, die andere bedeckt sie mit Schande.

Wer wägt guten Ruf zu? wer vertheilt Achtung und Ehrfurcht an Personen, Werke und Große, wenn nicht die Meinung? Wie sind doch alle Reichthümer der Welt ungenügend ohne ihren Beifall?

Die Meinung verfügt über alles: sie macht schön, gerecht, glücklich, und das ist alles in der Welt. Ich möchte sehr gern das italienische Buch lesen, von dem ich nur den Titel, der aber allein schon viele Bücher aufwiegt, kenne: Della opinione regina del mondo. Ich unterschreibe es ohne es zu kennen, ausgenommen das Schlechte, was etwa darin ist.

4.

Der Umstand, der für das Leben die größte Bedeutung hat, ist die Wahl eines Berufes. Der Zufall verfügt darüber. Die Gewohnheit macht zu Maurern, Soldaten, Dachdeckern. Er ist ein vorzüglicher Dachdecker, sagt man; und von den Soldaten sagt man, sie sind rechte Narren; die andern dagegen umgekehrt: nur der Krieg ist etwas Großes; die übrigen Menschen sind Schurken. Je nachdem man in seiner Jugend diese Berufsarten hat loben hören, und alle andern geringschätzen, trifft man seine Wahl; denn natürlich liebt man die Tugend und haßt die Unklugheit. Diese Worte erregen uns: man sündigt nur mit Hingebung; und die Kraft der Gewohnheit ist so groß, daß in ganzen Landstrichen alle Maurer, in andern alle Soldaten sind. Ohne Zweifel ist die Natur nicht so gleichförmig. Also bewirkt das die Gewohnheit, die die Natur mit sich fortreißt; zuweilen aber überwindet auch die Natur jene, und hält den Menschen, aller Gewohnheit zum Trotz, auf dem Wege seines Instinktes zurück, sei er gut oder schlecht.

5.

Wir halten uns nie an die Gegenwart. Wir greifen der Zukunft vor als zu langsam und gleichsam um sie zu beschleunigen; wir erinnern uns der Vergangenheit, um sie als zu eilig aufzuhalten: so unklug, schweifen wir in Zeiten, die uns nicht gehören und denken nicht an die einzige, die uns angeht; und so eitel, denken wir an die, welche nicht sind, und lassen unbeachtet die einzige entschwinden, die existirt. Die Gegenwart verletzt uns fast immer. Wir verbergen sie unsern Blicken, weil sie uns betrübt; und wenn sie uns angenehm ist, beklagen wir, sie enteilen zu sehen. Wir versuchen sie mittelst der Zukunft zu ertragen und wir denken daran über Dinge zu verfügen, die nicht in unserer Macht stehen, für eine Zeit, welche zu erreichen wir durchaus nicht sicher sind.

Jeder prüfe seine Gedanken: er wird sie stets mit der Vergangenheit und der Zukunft beschäftigt finden. Wir denken fast gar nicht an die Gegenwart; und wenn wir daran denken, so doch nur um nach ihrer Erfahrung über die Zukunft zu bestimmen. Die Gegenwart ist niemals unser Ziel: die Vergangenheit und Gegenwart sind uns nur Mittel; die Zukunft allein ist unser Zweck. Es ist falsch, daß wir gar nicht an die Gegenwart dächten; wir denken daran, wenn wir die Natur studiren, wenn wir all' die Functionen des Lebens ausüben; wir denken auch viel an das Zukünftige. Danken wir doch dem Schöpfer der Natur dafür, daß er uns diesen Trieb giebt, der uns unablässig für die Zukunft thätig macht. Der kostbarste Schatz des Menschen ist diese Hoffnung, welche unsern Kummer besänftigt, und uns im Besitz gegenwärtiger Freuden zukünftige Freuden ausmalt. Wenn die Menschen unglücklich genug wären, sich stets nur mit der Gegenwart zu beschäftigen, man würde nicht mehr säen, man würde nicht mehr bauen, man würde nicht mehr pflanzen, man würde für nichts mehr sorgen, man würde es inmitten dieses falschen Genusses an allem fehlen lassen. Konnte ein Geist wie Pascal so etwas öffentlich aussprechen? Die Natur hat bestimmt, daß jeder Mensch der Gegenwart genieße, indem er sich nähre, indem er Kinder erzeuge, indem er angenehme Töne vernehme, indem er seine Fähigkeit zu denken und zu fühlen beschäftigt, und daß er, diese Zustände verlassend, oft mitten aus ihnen heraus, an den morgigen Tag denke, ohne daß er heute vor Elend verginge. Nur Kinder und Schwächlinge denken nur an die Gegenwart; muß man ihnen gleichen?
(Man kennt jenen Vers von M. de Voltaire:
»Wir leben nie, wir warten drauf zu leben«.
Und den des Manilius:
» Victuri semper agimus, nec vivimus unquam.«
So leben wir nie; aber wir hoffen zu leben; und indem wir uns stets darauf vorbereiten glücklich zu sein, ist es unzweifelhaft, daß wir es niemals sein werden, wenn wir nicht eine andere Glückseligkeit ersehnen, als die, welche uns in diesem Leben erfreuen kann.

6.

Unsere Einbildung vergrößert den Augenblick durch beständig darüber angestellte Betrachtungen, so sehr, und verkleinert die Ewigkeit, aus mangelnder Betrachtung, derart, daß wir aus der Ewigkeit ein Nichts und aus dem Nichts eine Ewigkeit machen; und all' das hat so kräftige Wurzeln in uns, daß all' unsere Vernunft uns nicht dagegen vertheidigen kann.

7.

Cromwell wollte die ganze Christenheit verwüsten: die königliche Familie war verloren, die seinige auf immer mächtig, wenn sich nicht ein kleines Sandkorn in seine Harnröhre gesetzt hätte. Selbst Rom begann vor ihm zu zittern; aber dieses kleine Stäubchen, sonst nichts, an diese Stelle versetzt: er ist todt, seine Familie erniedrigt, der König wiederhergestellt.

8.

Es giebt fast nichts rechtes oder unrechtes, das nicht mit dem Wechsel der Himmelsgegend seine Natur wechselte. Drei Grad Polhöhe stürzen die ganze Jurisprudenz um. Ein Meridian entscheidet über die Wahrheit. Nach wenig Jahren des Besitzes ändern sich grundlegende Gesetze. Das Recht hat seine Epochen. Eine spaßhafte Justiz, die ein Fluß oder ein Berg begrenzt. Wahrheit diesseits der Pyrenäen, Irrthum jenseits. Es ist gar nicht lächerlich, daß die Gesetze Frankreichs und Spaniens verschieden sind; aber es ist sehr ungehörig, daß das, was in Romorantin recht, zu Corbeil unrecht ist; daß es in ein und demselben Königthum vierhundert verschiedene Jurisprudenzen giebt, und besonders, daß man innerhalb des nämlichen Parlamentes in einer Instanz den Proceß verlieren kann, den man in der andern Instanz gewinnt.

9.

Diebstahl, Blutschande, Kinds- und Vatermord, alles hat schon zu den tugendhaften Handlungen gehört. Giebt es wohl etwas lächerlicheres, als daß ein Mensch das Recht hat mich zu tödten, weil er jenseits des Wassers wohnt, und weil sein Fürst eine Klage hat gegen den meinigen, obgleich ich durchaus keine gegen ihn habe? »Lächerlich« ist nicht das rechte Wort; richtiger wäre »abscheulicher Wahnsinn«.

Es giebt ohne Zweifel natürliche Gesetze, aber die schöne verderbte Vernunft hat alles verderbt: »Nichts ist mehr unser; was wir unser nennen, gehört der Kunst; nach Senats- und Volksbeschlüssen werden Verbrechen begangen; wie einst unter Lastern, so leiden wir jetzt unter Gesetzen«.

Aus dieser Verwirrung folgt, daß der eine sagt, das Wesen der Gerechtigkeit sei die Autorität des Gesetzgebers; der andere, die Bequemlichkeit des Souveräns; der dritte, die gegenwärtige Gewohnheit, und das ist das sicherste: nichts ist, wenn man allein der Vernunft folgt, an sich gerecht; alles schwankt mit der Zeit; die Gewohnheit thut nach Billigkeit, allein deshalb, weil sie angenommen ist; das ist der mystische Grund ihres Ansehens. Wer sie auf ihr Princip zurückführt vernichtet es; nichts ist fehlerhafter, als jene Gesetze, welche Fehler verbessern wollen; wer ihnen gehorcht, weil sie gerecht sind, gehorcht der Gerechtigkeit seiner Einbildung, nicht aber dem Wesen des Gesetzes: es ist durchaus an sich stark; es ist Gesetz und nichts mehr. Wer sein Motiv prüfen wollte, würde es so schwach und oberflächlich finden, daß, wenn er nicht gewohnt ist, die Wunder der menschlichen Einbildung zu betrachten, er sich wundern wird, daß ein Jahrhundert ihm soviel Ansehn und Ehrfurcht verschafft hat. Die Kunst Staaten umzustürzen, besteht darin, geltende Gewohnheiten zu erschüttern, indem man ihre Quelle untersucht und daran ihren Mangel an Autorität und Gerechtigkeit zeigt. Man muß, sagt man, auf die grundlegenden, ersten Gesetze des Staates zurückgehen, die eine ungerechte Gewohnheit abgeschafft hat; das ist ein sicheres Mittel, alles zu verlieren: nichts wird gerecht sein auf dieser Wage. Dennoch leiht das Volk solchen Reden willig Gehör: es schüttelt das Joch ab, sobald es dasselbe erkennt; und die Großen benutzen das zu seinem Untergang, und zu dem der neugierigen Untersucher geltender Gewohnheiten. Aber mittelst eines entgegengesetzten Fehlers glauben die Menschen oft alles das mit Gerechtigkeit thun zu können, was nicht ohne Beispiel dasteht. Deshalb sagte der weiseste der Gesetzgeber, zum Besten der Menschen sei es oft nöthig sie zu locken; und ein anderer guter Politiker: cum veritatem qua liberetur ignoret, expedit quod fallatur. Es ist nicht nöthig, daß er die Wahrheit der Usurpation fühle: ehedem wurde sie ohne Grund eingeführt; man muß sie als authentisch, ewig hinstellen und ihren Anfang verbergen, wenn man nicht will, daß sie bald ein Ende nehme.

10.

Der größte Philosoph der Welt, auf ein Brett gestellt breiter als er gebraucht um wie gewöhnlich zu gehen, darunter ein Abgrund – wenn ihn auch seine Vernunft von seiner Sicherheit überführte, seine Einbildung würde stärker sein. Manche könnten nicht einmal den Gedanken ertragen, ohne zu erblassen und zu schwitzen. Ich will nicht alle Wirkungen aufzählen, die es hervorbringen könnte. Wer weiß nicht, daß es Menschen giebt, bei denen der Anblick von Katzen und Ratten, das Zerquetschen einer Kohle die Vernunft aus den Angeln hebt?

11.

Würdet ihr nicht glauben, daß jener Beamte, dessen ehrwürdiges Alter allem Volk Achtung gebietet, sich durch reine und erhabene Vernunft leiten läßt, die Dinge nach ihrem Wesen beurtheilt, ohne die nichtigen Äußerlichkeiten, welche nur die Einbildung Schwacher verletzen, zu beachten? Seht ihn den Platz einnehmen, wo er Recht sprechen muß. Er ist bereit zu hören mit musterhafter Würde. Nun tritt der Advocat auf – gesetzt die Natur hat ihm eine heisere Stimme und eine seltsame Gesichtsbildung gegeben, sein Barbier hat ihn schlecht rasirt und der Zufall hat ihn noch dazu beschmutzt: ich wette, der Beamte verliert seine würdige Haltung.

12.

Der Geist des größten Mannes in der Welt ist nicht so unabhängig, daß er dem nicht unterworfen wäre, daß er durch das geringste Geräusch in seiner Nähe gestört würde. Es braucht nicht des Lärms einer Kanone, um seine Gedanken zu hemmen; es braucht nur des Knarrens einer Wetterfahne oder einer Winde. Wundert euch nicht, daß er augenblicklich schlecht denkt; eine Mücke summt vor seinen Ohren: das genügt, um ihn guten Rathes unfähig zu machen. Wenn ihr wollt, daß er die Wahrheit finden kann, vertreibt dies Thierchen, das seine Vernunft in Schach hält und jene mächtige Intelligenz verwirrt, die Städte und Königreiche regiert.

13.

Der Wille ist ein Hauptorgan des Glaubens: nicht weil er den Glauben formt, sondern weil die Dinge wahr oder falsch erscheinen, je nach der Seite, von der man sie betrachtet. Der Wille, der an dem einen mehr Gefallen findet, als an dem andern, hält den Geist davon ab die Eigenschaften von der Seite zu betrachten, die ihm nicht lieb ist: und also zieht der Geist mit dem Willen an einem Strange und verweilt nur bei der Betrachtung der Seite die diesem genehm ist; und indem er urtheilt nach dem, was er sieht, regelt er unmerklich seinen Glauben nach der Neigung seines Willens.

14.

Es giebt für uns noch einen andern Ursprung des Irrthums, nämlich die Krankheiten. Sie verderben uns Urtheil und Sinn. Und wenn die heftigen ihn sichtlich alteriren, so zweifle ich nicht, daß die schwächeren ihn nach Verhältnis beeinflussen.

Unser Eigennutz ist auch ein vorzügliches Instrument uns auf angenehme Weise die Augen auszustechen. Liebe oder Haß ändern die Gerechtigkeit. In der That, wie oft hält ein Advocat die Sache, die er führt, für gerechter, wenn er vorher gut bezahlt ist? Ich würde mich lieber auf den Eifer eines Mannes verlassen, der eine große Belohnung hofft, als auf den eines Mannes, der sie bereits empfangen. Aber ich kenne Leute, die, um dieser Eigenliebe auszuweichen, vermöge einer anderen Seltsamkeit des menschlichen Geistes verkehrter Weise die ungerechtesten von der Welt gewesen sind. Das sichere Mittel, eine durchaus gerechte Sache zu verlieren, war, sie ihnen durch ihre nächsten Verwandten empfehlen zu lassen.

15.

Die Einbildung vergrößert oft die kleinsten Gegenstände vermöge einer phantastischen Schätzung soweit, bis sie unsere ganze Seele erfüllen; und sie verkleinert in leichtsinnigem Übermuth die größesten, bis sie uns gleich sind.

16.

Die Gerechtigkeit und die Wahrheit sind zwei so subtile Punkte, daß unsere Instrumente viel zu stumpf sind, um sie genau zu treffen. Wenn sie sie treffen, so zerdrücken sie den eigentlichen Punkt und stützen sich ringsumher mehr auf das Falsche als auf das Wahre.

17.

Nicht allein die alten Eindrücke erfreuen uns: die Reize der Neuheit haben dieselbe Kraft. Daher kommt aller Streit unter den Menschen, die sich vorwerfen entweder falschen Eindrücken ihrer Kindheit zu folgen oder leichtsinnig neuen nachzujagen.

Wer geht den goldenen Mittelweg? Er trete auf und beweise es. Es giebt kein Princip, so natürlich es sein möge, selbst seit der Kindheit, was man nicht für einen falschen Eindruck des Unterrichts oder der Sinneswahrnehmung gelten läßt. Weil ihr, sagt man, seit eurer Kindheit geglaubt habt, ein Koffer sei leer, wenn nichts darin zu sehen ist, habt ihr den leeren Raum für möglich gehalten; das ist eine Täuschung eurer Sinne, verstärkt durch Gewohnheit, welche die Wissenschaft verbessern muß. Die andern sagen umgekehrt: Wenn man euch in der Schule gesagt hat es existire kein leerer Raum, so hat man euren gesunden Menschenverstand verdorben, der ihn so klar begriff vor diesem falschen Eindruck, den ihr wieder gut machen müßt durch Rückkehr zu eurer früheren Natur. Wer also täuscht, die Sinneswahrnehmung oder die Belehrung?

18.

Alle Beschäftigungen der Menschen laufen darauf hinaus, das Glück zu haben; und die Urkunde, wonach sie es besitzen, ist im Grunde nur die Phantasie derjenigen, die die Gesetze gemacht haben. Sie haben auch nicht die Kraft seinen Besitz zu sichern: tausend Zufälle entreißen es ihnen. Ebenso ist es mit der Wissenschaft: Krankheit raubt sie uns.

19. Diese Ideen sind von Locke angenommen. Er behauptet, daß es kein eingebornes Princip gäbe; gleichwohl scheint es sicher, daß die Kinder einen Trieb haben, den der Nacheiferung, den der Pietät; den Trieb, ihre Hände, sobald sie es können, vor ihr Gesicht zu halten, wenn ihm Gefahr droht; den zurückzutreten, um besser springen zu können, sobald sie springen.

Was sind unsere natürlichen Principien anders als Gewohnheitsprincipien? Bei den Kindern diejenigen, die sie aus der Gewohnheit ihrer Väter empfangen haben, wie bei den Thieren die Jagd.

Eine veränderte Gewohnheit giebt andere natürliche Principien. Das beweist die Erfahrung; und wenn es solche giebt, der Gewohnheit unvertilgbar, so giebt es auch Gewohnheitsprincipien unvertilgbar für die Natur. Das hängt von der Anlage ab.

Die Väter fürchten, daß die natürliche Liebe der Kinder erlösche. Was ist das also für eine Natur, die ausgelöscht werden kann? Die Gewohnheit ist eine zweite Natur, welche die erste vernichtet. Weshalb ist die Gewohnheit nicht natürlich? Ich fürchte sogar, daß diese Natur selbst nur eine erste Gewohnheit ist, wie die Gewohnheit eine zweite Natur.

20.

Wenn wir jede Nacht dasselbe träumten, es würde vielleicht eben so viel Wirkung auf uns üben, als die Gegenstände, die wir täglich sehen; und wenn ein Handwerker sicher wäre jede Nacht zwölf Stunden lang zu träumen, er sei König, ich glaube, er würde fast ebenso glücklich sein, wie ein König, Glücklich sein wie ein König, sagt das dumme Volk. der jede Nacht zwölf Stunden lang träumte, er sei ein Handwerker. Wenn wir jede Nacht träumten, daß wir von Feinden verfolgt, von ängstlichen Phantomen gequält würden, und daß man die Tage mit verschiedenen Beschäftigungen hinbrächte, wie wenn man eine Reise macht, man würde fast eben soviel leiden, als wenn das in Wirklichkeit so wäre, und man würde sich fürchten zu schlafen, wie man das Erwachen fürchtet, wenn man besorgt in der That zu solchen Leiden aufzustehen. In der That, diese Träume würden nahezu dieselben Übel bewirken, wie die Wirklichkeit. Weil aber die Träume alle verschieden und veränderlich sind, berührt, was man in ihnen sieht, viel weniger als was man wachend sieht, und zwar wegen der Beständigkeit, obwohl sie nicht so beständig und gleichmäßig ist, daß sie nicht auch wechsele, aber weniger schroff, wenn es nicht wirklich ist, wie wenn man reist; und dann sagt man: mir ist, als ob ich träume; denn das Leben ist ein etwas gleichmäßigerer Traum.

21.

Wir setzen voraus, daß alle Menschen die Gegenstände, welche sich ihnen darstellen, auf eben dieselbe Weise auffassen und wahrnehmen: aber wir setzen es sehr aufs Gerathewohl voraus, denn wir haben keinen Beweis davon. Ich sehe wohl, daß man bei gleichen Gelegenheiten die gleichen Worte anwendet, und daß allemal, wenn zwei Menschen z. B. Schnee sehen, sie alle beide das Aussehn desselben Gegenstandes mit denselben Worten Es giebt stets unmerkliche Verschiedenheiten bei den ähnlichsten Dingen; es hat vielleicht nie zwei vollständig gleiche Hühnereier gegeben, aber was thut das? Mußte Leibnitz aus dieser trivialen Beobachtung ein philosophisches Princip machen? bezeichnen, indem der eine wie der andere sagt, er sei weiß; und dieser Gleichförmigkeit der Auffassung entnimmt man die gewaltige Vermuthung einer Gleichförmigkeit der Vorstellung: aber das ist durchaus nicht zwingend, obgleich man wohl mit einigem Fug dafür stimmen kann.

22.

Wenn wir eine Wirkung stets von selbst eintreffen sehen, so schließen wir daraus auf eine Naturnothwendigkeit, wie, daß es morgen Tag sein wird etc.; aber oft widerlegt uns die Natur und unterwirft sich ihren eigenen Regeln nicht.

23.

Manchen sicheren Dingen wird widersprochen; manche falsche gehen ohne Widerspruch hin: so ist der Widerspruch ebenso wenig ein Merkmal der Falschheit, als das Fehlen des Widerspruchs ein Merkmal der Wahrheit.

24.

Wenn man unterrichtet ist, so begreift man, daß, da die Natur das allen Dingen aufgedrückte Gepräge ihres Schöpfers trägt, sie fast alle an seiner doppelten Unendlichkeit theilnehmen. So erkennen wir, daß alle Wissenschaften in Ausbreitung ihrer Forschungen unendlich sind. Denn wer zweifelt, daß z. B. die Geometrie unendliche über unendliche Behauptungen auseinander zu setzen hat? Ebenso unendlich wird sie sein in der Menge und Feinheit ihrer Principien; denn wer erkennt nicht, daß diejenigen, welche man als die letzten annimmt, sich nicht von selbst halten, sondern auf andere gestützt sind, welche wiederum sich auf andere stützen und niemals letzte zulassen?

Man sieht auf einen Blick, daß die Arithmetik allein zahllose Principien darbietet, und ebenso jede andere Wissenschaft.

Aber wenn auch die Unendlichkeit im Kleinen viel weniger ersichtlich ist, so haben doch die Philosophen viel eher den Anspruch gemacht, sie zu erreichen; und eben dabei sind alle gestolpert. Das hat Gelegenheit gegeben zu so gewöhnlichen Titeln wie »Principien der Dinge«, »Principien der Philosophie« und andere ähnliche, ebenso prahlerisch in Wirklichkeit, obgleich eben nicht in ihrer Äußeren Erscheinung, wie jener andere, der die Augen blendet: » de omni scibili«. » Qui crève les yeux« bedeutet hier nicht »der sich mit Deutlichkeit erweist«: es bezeichnet gerade das Gegentheil.

Suchen wir doch keine Vergewisserung und Bestimmtheit. Unsere Vernunft wird stets durch die Unbeständigkeit der Erscheinungen getäuscht; nichts kann das Endliche an einem Punkte festhalten zwischen den beiden Unendlichen, die es in sich schließen und ihm entfliehen. Wenn dies richtig verstanden wird, so glaube ich, wird man sich ruhig verhalten jeder in dem Stande, wohin ihn die Natur gesetzt hat. Dieser ganze Artikel, zudem dunkel, scheint den Zweck zu haben, den Geschmack von speculativen Wissenschaften abzuwenden. In der That, ein guter Teppichweber, Uhrmacher und Feldmesser sind nützlicher als Plato. Da aber diese Mitte, die uns zugefallen ist, stets weit von den Extremen entfernt bleibt, was thut es, ob der Mensch ein wenig mehr Erkenntnis der Dinge hat? Wenn er sie hat, nimmt er sie von einem wenig höheren Standpunkte. Bleibt er nicht von den Extremen stets unendlich fern? und die Dauer unseres längsten Lebensalters bleibt sie nicht unendlich fern von der Ewigkeit?

Bei der Betrachtung dieser Unendlichkeiten sind alle endlichen Wesen gleich; und ich sehe nicht ein, weshalb unsere Einbildung sich mehr an das eine als an das andere anschließen soll. Allein schon der Vergleich zwischen uns und dem Endlichen macht uns Mühe.« Es hätte vielmehr heißen sollen »dem Unendlichen«. Aber erinnern wir uns, daß diese beiläufig hingeworfenen Gedanken Rohmaterialien waren, die so nie im Werke erschienen wären.

25. Dieser Gedanke scheint einen Sophismus zu enthalten, und der Fehler liegt in dem Worte »Unwissenheit«, was man in zwiefach verschiedenem Sinne nimmt. Wer weder lesen noch schreiben kann, ist ein Unwissender; aber wenn ein Mathematiker die verborgenen Principien der Natur nicht kennt, so steht er nicht mehr auf der Stufe der Unwissenheit, von der er ausging, als er anfing lesen zu lernen. Newton wußte nicht, wie der Mensch seinen Arm bewegen kann, wenn er will; aber er war deshalb in anderen Dingen nichts weniger weise. Der welcher kein Hebräisch kennt, aber Latein, ist im Vergleich zu dem, der nur französisch kann, weise.

Die Wissenschaften haben zwei Endpunkte, die sich berühren: der eine ist die rein natürliche Unwissenheit, in der sich alle Menschen bei der Geburt befinden. Der andere Endpunkt ist der, wohin die großen Geister kommen, die, wenn sie alles was die Menschen wissen können auf sich zusammengerafft, erkennen, daß sie nichts wissen, und sich in derselben Unwissenheit wiederfinden, von der sie ausgegangen sind. Aber es ist dies eine weise Unwissenheit, die sich selbst kennt. Diejenigen, welche sich zwischen beiden befinden, die von der natürlichen Unwissenheit ausgegangen nicht zu der zweiten haben gelangen können, haben eine oberflächliche Kenntnis dieser ausreichenden Wissenschaft und sind die, welche sich klug dünken. Diese sind es, welche die Welt in Unruhe bringen und über alles schlechter urtheilen als die andern. Das Volk und die Klugen machen für gewöhnlich den Lauf der Welt: die andern verachten sie und werden von ihr verachtet.

26.

Man glaubt in ganz natürlicher Weise weit eher im Stande zu sein, den Mittelpunkt der Dinge zu erreichen, als ihre Peripherie zu erfassen. Die sichtbare Ausdehnung der Welt geht sichtlich über uns hinaus; aber wie wir es sind, welche über die kleinen Dinge hinausgehen, so glauben wir auch sie zu besitzen eher fähig zu sein; und doch braucht es nicht geringerer Fassungskraft bis zum Nichts zu gelangen, als bis zum All. Es nöthigt in beiden Fällen einer unendlichen Fassungskraft; und mir scheint, wer die letzten Gründe der Dinge begriffen hat, könnte ebenso gut dahin gelangen das Unendliche zu erkennen. Das eine hängt vom andern ab und das eine führt zum andern. Die äußersten Endpunkte berühren sich und vereinigen sich mittelst ihrer Entfernung und finden sich zusammen in Gott und in Gott allein.

Wenn der Mensch anfinge sich selbst zu studiren, so würde er bald merken, wie sehr er außer Stande ist vorwärts zu kommen. Wie ginge es wohl an, daß ein Theil das Ganze begriffe? Er hofft vielleicht wenigstens die Theile zu erkennen, zu denen er in Verhältnis steht. Aber die Theile der Welt stehen alle in solcher Beziehung und solcher Verkettung mit einander, daß ich es für unmöglich halte, den einen ohne den andern und ohne das Ganze zu erkennen.

Der Mensch z. B. hat Beziehung zu allem was er kennt. Er bedarf des Raumes zum Aufenthalt, der Zeit zur Dauer, der Bewegung zum Leben, der Elemente zur Arbeit, der Wärme und Speise zur Nahrung, der Luft zum Athmen. Er sieht das Licht, er fühlt die Körper, kurz alles steht mit ihm in Verbindung.

Man muß also, um den Menschen zu erkennen, wissen, weshalb er der Luft zum Leben bedarf; und um die Luft zu erkennen, muß man wissen weshalb sie in Beziehung steht zum Leben des Menschen.

Die Flamme kann nicht ohne Luft sein: also muß man, um das eine zu erkennen, das andere kennen.

Da also alle Dinge verursacht und verursachend, gestützt und stützend, vermittelt und unvermittelt sind und sich alle mittelst eines natürlichen und sichtbaren Bandes zusammenhalten, das die entferntesten und verschiedensten verbindet; so halte ich für unmöglich die Theile zu erkennen ohne das Ganze zu erkennen, ebenso gut wie das Ganze zu erkennen, ohne die Theile im Einzelnen zu erkennen.

Und vielleicht vollendet unsere Ohnmacht die Dinge zu erkennen, der Umstand, daß sie an sich einfach sind, während wir aus zwei entgegengesetzten und verschiedenartigen Naturen zusammengesetzt sind: aus Seele und Leib; denn unmöglich kann der Theil in uns, der denkt, anders sein als geistig; und wenn man behaupten wollte, wir seien rein körperlich, so würde uns das um somehr von der Erkenntnis der Dinge ausschließen, denn es giebt doch nichts unbegreiflicheres als die Behauptung, die Materie könne sich selbst erkennen.

Eben diese Zusammensetzung von Geist und Körper hat bewirkt, daß fast alle Philosophen die Ideen der Dinge verwirrt und Körpern zugeschrieben haben, was nur auf Geister paßt, und Geistern was nur bei Körpern zutrifft; denn sie behaupten frischweg, daß die Körper nach unten streben, daß sie nach ihrem Centrum trachten, daß sie ihre Vernichtung fliehen, daß sie den leeren Raum fürchten, daß sie Zuneigungen, Sympathien und Antipathien haben, lauter Dinge die nur von Geistern gelten. Und wenn sie von Geistern sprechen betrachten sie dieselben gleichsam wie im Raum und schreiben ihnen Bewegung von einem Platz zum andern zu, Dinge die nur von Körpern gelten, etc.

Statt die Ideen der Dinge in uns aufzunehmen, färben wir alle einfachen Dinge, die wir beschauen, mit den Eigenschaften unsers zusammengesetzten Wesens.

Wer würde nun wohl nicht glauben, wenn er uns alle Dinge aus Geist und Körper zusammensetzen sieht, daß eben diese Mischung uns sehr begreiflich wäre? Und doch ist es gerade das, was man am wenigsten begreift. Der Mensch ist sich selbst der wunderbarste Gegenstand der Natur; denn er kann nicht begreifen, was Körper ist, noch weniger was Geist ist und nichts weniger als wie ein Körper mit einem Geiste verbunden sein kann. Das ist der Gipfel der ihm entgegenstehenden Schwierigkeiten, und doch ist es sein eignes Wesen: Modus quo corporibus adhaeret spiritus comprehendi ab hominibus non potest; et hoc tamen homo est.

27.

Der Mensch ist also nichts anderes als ein Wesen voller Irrthümer, die nur die Gnade aufzuheben vermag. Nichts zeigt ihm die Wahrheit: alles führt ihn irre. Die beiden Principien der Wahrheit, die Vernunft und die Sinne, abgesehen davon, daß ihnen oft die Aufrichtigkeit fehlt, betrügen sich einander wechselweise. Die Sinne betrügen die Vernunft durch falsche Vorstellungen; und diesen selben Betrug, den sie ihr zufügen, müssen sie ihrerseits von ihr hinnehmen: sie rächt sich an ihnen. Die Leidenschaften der Seele verwirren die Sinne, und machen auf sie beschwerliche Eindrücke: sie lügen und betrügen sich um die Wette.


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