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21. Kapitel

So lange die Vorbereitungen für ihre Flucht sie in Atem gehalten hatten, war Herta kaum zum klaren Bewußtsein ihrer Lage gelangt. Und der Gedanke an den Toten in ihrem Hause war durch die hundert kleinen und großen Sorgen, denen sich in jeder Minute neue zugesellten, fast ganz zurückgedrängt worden. Seitdem sie nach ihrem letzten Besuch im Sterbezimmer die Tür desselben hinter sich verschlossen hatte, war es von niemand mehr betreten worden. Die Geheimrätin hatte sich unter dem Vorwande einer heftigen Migräne nicht aus ihrer Stube gerührt, und Lisette, deren scharfem Spürsinn die Wahrheit natürlich nicht lange verborgen geblieben war, hatte die Nähe des unheimlichen Gemaches ängstlich gemieden. Am Nachmittag hatte sie sich, ohne um Erlaubnis zu fragen, auf länger als eine Stunde entfernt. Und ihr Benehmen nach der Rückkehr ließ Herta nicht daran zweifeln, daß sie diesen eigenmächtigen Ausgang zu einem Stelldichein mit Wöhlert benutzt habe. Denn sie sah sehr keck und herausfordernd aus, und gewisse Bemerkungen, die sie hier und da fallen ließ, deuteten darauf hin, wie vollkommen sie sich ihrer Macht über die junge Herrin bewußt sei.

Schon um die Mittagszeit war durch einen Hotelbediensteten ein Brief für Randolf Stounton in der Villa abgegeben worden. Herta hatte davon erst nach ihrer Rückkehr erfahren, und sie zweifelte nicht, daß er von Ruth herrührte. Etwas beklommen, trat sie deshalb in Randolfs Zimmer. Sie bereute, daß sie sich der opferwilligen Nebenbuhlerin gegenüber von ihrem Temperament so weit hatte hinreißen lassen; denn sie mußte ja fürchten, daß jene daraufhin dennoch ihre hochherzige Absicht geändert und sie vielleicht bei Randolf verklagt habe. Aber schon die ersten Worte des jungen Mannes beseitigten ihre Besorgnisse. Er sah traurig und niedergeschlagen aus, wie denn auch sein körperliches Befinden sich seit gestern keineswegs gebessert zu haben schien. Aber er hatte keinen Vorwurf für Herta, sondern bemühte sich vielmehr, sie durch ein erzwungenes Lächeln über seinen Gemütszustand zu täuschen und küßte ihr mit einem zärtlichen Liebeswort die zum Gruße dargebotene Hand.

Der Brief, vor dem Herta sich so sehr gefürchtet hatte, lag neben ihm auf dem Tische, und es war ihr nicht entgangen, daß er ihn erst bei ihrem Eintritt aus der Hand gelegt hatte. Da er ihn schon vor mehreren Stunden erhalten, mußte sein Inhalt ihn also sehr lebhaft beschäftigt haben, wenn er sich veranlaßt sah, ihn so oft zu lesen. Und doch war es nur ein ganz kurzer Brief, ein Billett von kaum einem Dutzend Zeilen. Schweigend reichte er Herta das Blatt, und es wollte sich aufs neue etwas wie Bewunderung für die unscheinbare junge Engländerin in ihrem Herzen regen, als sie gelesen hatte, was sie geschrieben. Wie sie es ihr verheißen hatte, erklärte sie ihrem Verlobten, daß sie ihn freigebe, nicht im Groll oder in verletzter Eigenliebe, sondern in demütiger Unterwerfung unter den Willen des Schicksals, das nun einmal anders über seine und ihre Zukunft entschieden habe. Nicht ein Wort des Vorwurfs stand in dem Briefe, und nicht die leiseste Anklage war zwischen den Zeilen zu lesen.

»Nun?« fragte Randolf, als sie das Blatt zurückgab, ohne etwas zu sprechen. »Was sagst du zu diesem Briefe?«

»Du würdest mir zürnen, Randolf, wenn ich dir meine Ansicht offen aussprechen wollte.«

»Nicht doch – ich bitte dich vielmehr von Herzen darum. Ich bin ja so voller Zweifel und Ungewißheit.«

»Wenn du es denn hören willst, meine Ansicht ist, daß ein Mädchen den Mann, den es so leicht und kampflos aufgibt, niemals wahrhaft geliebt haben kann.«

Randolf schüttelte den Kopf.

»Du tust ihr Unrecht mit solcher Auslegung«, sagte er traurig. »Sie ist keiner Unwahrhaftigkeit fähig, so wenig in dem einen wie in dem anderen Sinne. Hätte sie keine Zuneigung für mich empfunden, so würde sie mich nicht eine Stunde lang daran haben glauben lassen.«

»Nun, so war ihre Zuneigung eben von einer Art, für die ich kein Verständnis habe. Und weshalb, wenn sie dich liebte, mußte sie dann deiner Erklärung zuvorkommen?«

»Das eben ist es, was mich quält und worüber ich mir seit Stunden vergebens den Kopf zerbreche. Ich hatte gehofft, von dir eine Aufklärung darüber zu erhalten. Denn ich vermochte mir den seltsamen Schritt, den Ruth da getan hat, nicht anders zu deuten, als damit, daß vielleicht schon eine Aussprache zwischen euch stattgefunden, oder daß sie doch aus einer deiner Äußerungen erraten hatte, wie es zwischen uns steht.«

Eine Sekunde lang war Herta im Ungewissen gewesen, ob sie ihm nicht wenigstens einen Teil der Wahrheit gestehen solle. Aber sie hatte die Versuchung rasch überwunden. Und mit einer entschieden verneinenden Bewegung erwiderte sie:

»Ich bin mir keiner derartigen Äußerung bewußt. Und, wenn sie nicht von deiner Mutter irgendwelche Andeutungen erhalten hat, so gibt es für diesen Brief eben keine andere Erklärung als die, daß sie selbst die Lösung wünschte. Vielleicht ist sie schon mit einer solchen Absicht hierhergekommen.«

»Wollte Gott, daß es so wäre! Denn es wird mir nicht leicht, ihr wehe zu tun. Aber du bist doch auch der Meinung, daß ich mich nicht einfach mit diesem Briefe begnügen kann? So wie ich bisher mit Ruth gestanden habe, und wie ich noch heute für sie empfinde, kann dies nicht die Form sein, in der ich mich für immer von ihr verabschiede.«

»Und was beabsichtigst du zu tun?«

»Sie schreibt, daß sie mir vorläufig nicht mehr zu begegnen wünsche. Aber ich glaube nicht daran, daß es ihr ernst damit ist. Und jedenfalls habe ich selbst das Bedürfnis, mich mit ihr auszusprechen.«

»Doch nicht hier und vor deiner Abreise? Nur wenn du mich tödlich kränken willst, kannst du im Ernst eine derartige Absicht hegen.«

»Und warum müßte ich dich damit kränken, Herta? Du weißt sehr gut, daß ich dir mit Leib und Seele gehöre, und daß nichts mehr mich von dir trennen kann. Was also hättest du von dieser letzten Unterredung zu fürchten?«

Sie warf mit einer stolzen Gebärde den Kopf zurück, und es zuckte geringschätzig um ihre Mundwinkel.

»Fürchten? Nein, wenn ich argwöhnte, daß dich dein Versprechen gereut, und daß trotz all deiner Versicherungen noch ein Rest von Liebe für deine ehemalige Verlobte in deinem Herzen ist, so würde ich dir unbedenklich dein Wort zurückgeben. Ich fürchte nichts, aber ich würde es für einen Mangel an Rücksicht gegen mich ansehen, wenn du nach allem diesem noch eine Aussprache mit deiner Kusine suchen könntest. Und was wolltest du denn auch mit ihr sprechen? Willst du sie vielleicht um Verzeihung bitten dafür, daß du dich dahin verirrtest, mich zu lieben?«

»Wie ungerecht du bist, Herta! Denkst du denn gar nicht daran, von welcher Art bis zu dem Eintritt dieser entscheidenden Wendung mein Verhältnis zu Ruth gewesen ist? Sie war mir seit den Tagen der Kindheit eine vertraute Freundin und ein guter Kamerad. Einen Freund und Kameraden aber verliert man nicht ohne Schmerz, und es würde immer wie ein Schatten auf unserem Glücke liegen, wenn ich mir vorwerfen müßte, sie undankbar und herzlos behandelt zu haben.«

Herta stand auf.

»So tu', wozu dein Empfinden dich drängt«, erklärte sie kalt. »Ich habe dir gesagt, wie ich es ansehen würde, und du kannst ja nun nach deinem Belieben wählen.«

Randolf senkte den Kopf wie jemand, der sich in schmerzlicher Resignation unter einen stärkeren Willen beugt.

»So werde ich mich denn damit begnügen, ihr zu schreiben, wie schwer es mir auch fällt – und bei meiner morgigen Abreise soll es also sein Bewenden haben?«

»Du bist der Herr deiner Entschlüsse, Randolf! Wenn dir inzwischen neue Bedenken gekommen sind – –«

»Nein, nein«, fiel er ihr ins Wort. »Ich bin mit allem einverstanden und zu allem bereit. Ja, ich wünsche sogar nichts sehnlicher, als so schnell wie möglich von hier fortzukommen. In Paris also werden wir uns treffen?«

»Ja. Aber wir werden dort nicht länger bleiben, als es die Rücksicht auf dein Befinden notwendig macht. Denn eine Trauung ist in Italien leichter zu erreichen als in Frankreich.«

»Und warum gehen wir dann nicht unverzüglich nach Italien? Ich werde jedenfalls nicht eher Ruhe finden, als bis ich dich offen und vor aller Wett die Meine nennen darf.«

»Der Umweg über Paris ist unerläßlich, denn ich habe dort Wichtiges zu tun. Aber hast du deinen Entschluß auch wohl und reiflich überlegt, Randolf? Noch wäre es Zeit zurückzutreten. Denn noch ist meine Ehre nicht kompromittiert, wie es der Fall sein wird, wenn man von unserer Abreise erfahren hat.«

»Wie magst du so sprechen, Herta? Fühlst du denn nicht, welches Unrecht du mir damit zufügst, und wie weh du mir damit tust? Wodurch habe ich dir einen Anlaß gegeben, an meiner Liebe zu zweifeln?«

Sie hätte ihm antworten dürfen, daß die Wirkung, welche der Abschiedsbrief seiner bisherigen Verlobten so offenkundig auf ihn hervorgebracht, recht wohl solchen Zweifel in ihr hätte wachrufen können. Aber sie trug aus Gründen der Klugheit Bedenken, diese Auseinandersetzung noch weiter zu treiben. Wenn ihre Befürchtungen begründet waren, so war es jedenfalls besser, daß sie sich jetzt an seinen Versicherungen genügen ließ, als daß sie ihn selbst auf den gefährlichsten Zwiespalt hinwies, dessen er sich bisher vielleicht noch nicht einmal klar bewußt geworden war. Sie ließ es also geschehen, daß er sie zärtlich an sich zog, und sie gab ihm nach einem kleinen, scheinbaren Sträuben, das ihn nur noch mehr hatte entflammen sollen, seine Küsse zurück, obwohl ihr diese Liebkosungen minder heiß und leidenschaftlich scheinen wollten als früher. Dann bat sie ihn, sich jetzt Ruhe zu gönnen, weil ja die Anstrengungen des nächsten Tages ohnehin seinen Kräften so viel zumuten würden. Es wurden noch einige Einzelheiten bezüglich der Abreise zwischen ihnen besprochen, dann zog Herta sich zurück.

Als sie, auf der Schwelle stehend, und eben im Begriff, die Tür zu schließen, noch einen Blick hinter sich warf, gewahrte sie, wie Randolf schon wieder nach dem Brief seiner Kusine griff, und die Furcht, daß ihr die freiwillige Entsagung dieses Mädchens gefährlicher sein könnte, als es ein trotziges Beharren auf ihrem Rechte gewesen wäre, stieg noch einmal heiß in ihrem Herzen auf.

*

Nie in ihrem Leben waren Herta die Viertelstunden so langsam dahingegangen, als an diesem Abend. Immer wieder blickte sie auf die Uhr, deren Zeiger ihr stille zu stehen schienen. Eine von Minute zu Minute wachsende Unruhe harte sich ihrer bemächtigt, und eine Angst, gegen die sie vergebens mit der ganzen Kraft ihres Willens anzukämpfen suchte, preßte ihr das Herz zusammen. Sie sehnte sich nach menschlicher Gesellschaft; da aber die Rätin beharrlich in ihrem verschlossenen Zimmer blieb und auf Hertas wiederholtes Klopfen nur mit der wimmernd hervorgestoßenen Erklärung antwortete, daß sie viel zu krank sei, um sich von der Stelle zu rühren, war ihr nur Lisette geblieben, und gegen dieses Mädchen empfand sie heute eine tiefere Abneigung wie je zuvor.

Trotzdem litt es sie, als der Abend völlig hereingebrochen war und ihr bei dem Blick durch das Fenster nur tiefe, nächtliche Finsternis entgegengähnte, nicht länger in der Einsamkeit ihres Zimmers. Und nach einem letzten Kampf entschloß sie sich, in das Zimmer des Mädchens hinüberzugehen, um unter irgendeinem Vorwande so lange bei ihr zu bleiben, bis sich Wöhlert zur Ausführung seines schauerlichen Auftrages einfinden würde.

Aber schon auf dem Gang kam ihr Lisette in Hut und Jacke entgegen.

»Wohin wollen Sie?« fragte Herta. »Sie können doch nicht jetzt bei Anbruch der Nacht noch ausgehen wollen?«

»Gewiß will ich das«, erwiderte das Mädchen frech. »Nicht eine Minute länger bleibe ich hier, das ist ja, um den Verstand zu verlieren.«

In Herta stieg der Zorn empor. Aber sie mußte sich ja beherrschen, denn sie durfte nicht zweifeln, daß sie sich ganz in den Händen ihrer Dienerin befand.

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte sie. »Was ist Ihnen denn widerfahren?«

»Na, das wissen das gnädige Fräulein doch ebensogut wie ich selbst. Glauben Sie denn, ich ließe mir etwas vormachen? Und ich will nicht eine ganze Nacht in demselben Hause mit einem Toten bleiben, von dem man noch nicht einmal weiß, ob er auch wirklich tot ist.«

»Sie reden törichtes Zeug, Lisette! Da Sie es doch schon wissen, will ich Ihnen ja nicht länger verhehlen, daß unser armer Kranker gestern verschieden ist. Aber Sie brauchen sich darum nicht zu fürchten. Es verlangt doch niemand von Ihnen, daß Sie zu ihm hineingehen sollen.«

»Das wäre auch noch schöner. Dazu würden Sie mich nicht bringen, und wenn Sie mir hunderttausend Mark versprechen wollten. Ich bin vorhin an der Tür vorbeigegangen, und ich weiß bestimmt, daß sich darin etwas geregt hat. Soll ich vielleicht warten, bis er herauskommt?«

Herta fühlte ihre Knie wanken. Über ihren Rücken lief es hinab, wie wenn man sie mit einem Eimer eiskalten Wassers überschüttet hätte.

»Ihre Furcht hat Ihnen einen Streich gespielt, Lisette! Was Sie da gehört haben wollen, war nichts als Einbildung, denn er ist tot, darauf können Sie sich verlassen. Ich selbst habe ihm die Augen zugedrückt.«

»Das mag schon sein. Aber es wäre doch nicht das erstemal, daß man einen Scheintoten für einen Toten gehalten hat. Und der Doktor war doch nicht dabei, als er starb.«

»Sie wollen also wirklich fort, wollen mich hier allein lassen, und wohin wollen Sie denn gehen?«

»Ich habe eine Freundin unten in der Stadt, bei der ich schon eine Nacht bleiben kann. Und morgen wird er ja nicht mehr im Hause sein.«

»Woher wissen Sie das? Wer hat es Ihnen gesagt?«

Das Mädchen sah ihr mit einem dreisten Blick in die Augen.

»Darüber bin ich dem gnädigen Fräulein wohl keine Auskunft schuldig. Und Sie brauchen auch nicht zu fürchten, daß ich es ausplaudern werde. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte sich Wöhlert nicht darauf einlassen dürfen. Aber ich habe ihm keine Vorschriften zu machen, und er muß selber wissen, was er zu tun und zu lassen hat.«

Um diese peinliche und für sie so demütigende Unterhaltung nicht fortsetzen zu müssen, fiel ihr Herta rasch in die Rede.

»So gehen Sie, wenn Ihre Furchtsamkeit es Ihnen verbietet zu bleiben. Aber ich rate Ihnen zu schweigen. Es würde gewiß nicht zu Ihrem Vorteil sein, wenn Sie über Dinge sprächen, von denen Sie im Grunde doch nur sehr wenig wissen können.«

»Na, was das betrifft – –« meinte die Zofe schnippisch. »Aber ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich den Mund halten werde. Wenn Sie tun, was Sie Wöhlert versprochen haben, brauchen Sie sich unsertwegen keine Sorge zu machen.«

Sie ging mit einem beinahe herablassenden Kopfnicken an ihr vorüber, und Herta hörte das Geräusch der Haustür, die sie hinter sich zugeschlagen hatte.

»Die Unverschämte!« murmelte sie, während sich ihre kleinen Hände unwillkürlich zu Fäusten ballten, »daß man von solchem Gesindel abhängig sein muß, wahrhaftig, es ist um zu verzweifeln.«

Aber dann fiel ihr wieder ein, was Lisette von dem Geräusch im Zimmer des Toten gesagt hatte. Und im Bewußtsein ihres Alleinseins kehrte ihr in hundertfach verstärktem Maße die entsetzliche Angst zurück, unter der sie während der letzten Stunden gelitten. Wenn es sich nun wirklich so verhielt, wie das Mädchen glaubte! Wenn hinter jener Tür nicht eine Leiche lag, sondern ein wieder zum Dasein erwachter, lebendiger Mensch, um den sich seit vierundzwanzig Stunden niemand mehr gekümmert hatte! Die Vorstellung war so grauenhaft, daß für einen Moment der Schlag ihres Herzens stockte, und daß kalte Schweißtropfen auf ihre Stirn traten. Ihr Verstand sagte ihr, daß es etwas Unmögliches sei, was sie sich da ausmalte. Sie hatte ja in die gebrochenen Augen des Toten gesehen, sie hatte mit Erschauern die Leichenkälte der erstarrenden Glieder gefühlt. Es war undenkbar, daß solche Anzeichen täuschen konnten. Und doch wollte der schreckliche Zweifel nicht mehr von ihr weichen. Eine Menge halbvergessener Geschichten wurden in ihrem Gedächtnis lebendig – schrecklicher Geschichten von Unglücklichen, die man im Starrkrampf für gestorben gehalten und die ihre Umgebung mit tödlichem Schrecken erfüllt hatten, als sie sich plötzlich im Sarge wieder aufrichteten. Und noch weiter führte sie ihre erregte Phantasie. Sie dachte daran, daß das Erwachen auch möglicherweise erst nach dem Begraben erfolgen könnte. Sie erinnerte sich an ein grausiges Bild, das diesen Gegenstand darstellte, und dessen Anblick ihr in ihrer Kindheit eine Reihe schlafloser Nächte verursacht hatte. Die Schwäche, von der sie sich plötzlich befallen fühlte, war so groß, daß sie sich an die Wand lehnen mußte, um nicht umzusinken. Sie wollte in ihr Zimmer zurückeilen und sich dort einschließen. Aber die Füße versagten ihr buchstäblich den Dienst. Und dann, als sie sich nach Verlauf weniger Minuten wieder imstande fühlte, sich von der Stelle zu bewegen, da zog es sie wie mit einer geheimnisvollen, unwiderstehlichen Gewalt nach jener Richtung hin, in der das Sterbezimmer lag.

Sie wußte kaum, wie sie dahin gekommen war, aber plötzlich stand sie an der Tür und hatte ihr Ohr an das kalte Holz gelegt. Eine Minute lang hörte sie nichts als ein dumpfes, regelmäßiges Geräusch, wie wenn jemand mit der geballten Faust gegen eine Steinwand schlüge. Wieder schüttelte sie das Entsetzen. Aber nach einer kleinen Weile wurde sie plötzlich gewahr, daß es nichts anderes als das stürmische Klopfen ihres eigenen Herzens war, was sie da hörte. Diese Entdeckung würde ihr Mut gemacht haben, wenn es dabei geblieben wäre. Doch nun glaubte sie auch allerlei andere verdächtige Laute zu vernehmen – ein Scharren und Knistern, das irgendwoher aus ihrer Umgebung kommen mußte. Sie war in Versuchung, laut um Hilfe zu rufen, und es war nicht so sehr der Gedanke an das unsinnige und gefährliche eines solchen Beginnens, was sie daran hinderte, als vielmehr die physische Unmöglichkeit, einen Laut aus ihrer zusammengepreßten Kehle hervorzubringen. Aber die Sekunden, welche sie da vor der verschlossenen Tür durchlebte, dehnten sich ihr zu Ewigkeiten. Und zuletzt packte sie mit einemmal der wilde Mut der Verzweiflung. Sie griff in die Tasche und stieß den Schlüssel ins Schloß. Eine rasche Drehung, und mit lautem Knacken sprang der Riegel zurück. Bei dem ganz schwachen Dämmerschein, der durch das unverhängte offene Fenster eindrang, konnte sie die Gegenstände im Zimmer nur in ungewissen, verschwimmenden Umrissen wahrnehmen. Aber sie sah doch, daß der Vater nicht, wie sie es fast mit Bestimmtheit erwartet hatte, aufrecht auf seinem Lager saß. Sie hatte nur einen einzigen Schritt über die Schwelle zu machen gewagt, und nun blieb sie lauschend in dem dunklen Zimmer stehen. Das Scharren und Knistern war verstummt. Wie sie auch ihr Gehör anstrengte, sie konnte nichts Verdächtiges mehr erlauschen.

»Es ist alles Torheit,« sagte sie bei sich selbst, »ich wußte es ja auch ganz gewiß, daß er tot ist.«

Trotzdem zitterten ihre Hände heftig, während sie nach dem Feuerzeug auf dem Tische tasteten, und eine geraume Zeit verging, bevor sie den Leuchter gefunden hatte, und imstande gewesen war, die Kerze anzuzünden. Die schreckliche Empfindung des Grauens mit ihrer ganzen Energie bekämpfend, wandte sie ihr Gesicht gegen das Lager hin, auf welchem der Tote ruhte. Und da lag er wirklich noch immer genau so, wie sie selbst ihn zu seinem letzten Schlummer gebettet. Auch das essiggetränkte Tuch war noch über sein Antlitz gebreitet. All ihre törichten Befürchtungen waren also vollkommen überflüssig gewesen. Und sie hätte sich beruhigt wieder entfernen können, wenn nicht eine neue Anwandlung von Schwäche sie gezwungen hätte, zu rasten. Sie ließ sich auf einen Hocker neben der Tür nieder und lehnte den Kopf gegen die Wand. Wohl verursachte ihr das Bewußtsein von der unheimlichen Nähe des Toten ein unsägliches Grauen; aber ihre Energielosigkeit und Hinfälligkeit waren doch noch größer, so daß sie regungslos in ihrer Stellung verharrte, als ob sie mit Stricken festgebunden gewesen wäre. Dafür, wie lange sie so gesessen, fehlte ihr jeder Maßstab der Schätzung. Vielleicht war sie sogar eingeschlafen; denn als das schrille Anschlagen einer Klingel sie jäh emporfahren ließ, brauchte sie beinahe eine Minute, um sich in ihrer Lage zurechtzufinden.

Es war ihr, als sei sie aus einem schrecklichen Traum geweckt worden, auf dessen Einzelheiten sie sich nicht mehr zu besinnen vermochte. Aber es konnte doch nicht bloß ein Traum gewesen sein, denn nun hörte sie wieder das scharfe Klingeln, und sie sagte sich, daß dies die Glocke der Haustür sei. Die Kerze, von der nur noch ein kleines Stümpfchen vorhanden gewesen war, als sie sie vorhin angezündet, war beinahe herabgebrannt und warf ein unsicheres Flackerlicht über den Kopf des Toten und sein von dem weißen Tuch verhülltes Gesicht. Diese zitternde Beleuchtung, die der Leiche bei flüchtigem Hinsehen etwas von dem trügerischen Anschein von Leben und Bewegung gab, wurde die Ursache, daß sie sich wieder in die Wirklichkeit zurückfand. Denn der Schrecken, der sie bei dem Anblick durchfuhr, rief die Erinnerung an die grauenhafte Viertelstunde vor ihrem Eintritt in das Sterbezimmer in ihrem Gedächtnis wach. Und nun wußte sie mit einemmal alles. Nun wußte sie, daß es Wöhlert war, der da Einlaß begehrte, da sie versäumt hatte, ihm die Tür offen zu halten, wie es heute zwischen ihnen verabredet worden war.

Aber sie zauderte noch, sich zu erheben. Das Gräßliche ihres Vorhabens fiel ihr mit Zentnerschwere auf die Seele. Irgendwo in ihrem Herzen mußte doch noch ein Rest kindlicher Pietät gewesen sein, der sich jetzt gegen die verbrecherische Lieblosigkeit des Planes auflehnte, den sie ersonnen, um ihr Glück und ihre Zukunft zu retten.

»Wenn er jetzt fortgeht, ohne noch einmal zu klingeln,« sagte sie zu sich selbst, »so will ich es für ein Zeichen nehmen, daß es nicht sein soll.«

Und zwischen Furcht und Hoffnung lauschte sie in die nächtliche Stille hinaus. Es schien, als ob das Schicksal ihr wirklich das erwartete Zeichen geben wollte, denn mehrere Minuten lang regte sich nichts mehr. Dann aber schlug die Türklingel doch noch einmal an, schriller und länger anhaltend wie zuvor. Jetzt wußte Herta, was sie zu tun hatte. Und mit der Erkenntnis, daß es kein Zurück mehr für sie gebe, war ihr auch die alte Entschlossenheit wiedergekommen.

Sie stand auf, um dem Einlaßbegehrenden zu öffnen. Aber es war der Schrecknisse noch nicht genug. Bei dem ersten Schritt, den sie auf den Gang hinaus tat, prallte sie mit einem halberstickten Aufschrei des Entsetzens zurück, denn sie hatte am Ende des Korridors eine weiße Gestalt gesehen, die mit einem Lichte in der Hand auf sie zukam.

»Herta – um Gottes willen, was soll dies schreckliche Klingeln bedeuten? Es ist doch nicht etwa die Polizei?«

Der zitternde Klang der wohlbekannten Stimme verscheuchte Hertas Bestürzung. Die gespenstische Erscheinung, die sie so furchtbar erschreckt hatte, war ja nur die aus dem Schlummer aufgescheuchte Rätin. Und die Ärmste, die vor Angst am ganzen Körper bebte, mußte es entgelten, daß sie durch die geisterhafte Weiße ihres Nachtkleides solche Täuschung hervorgerufen.

»Nein, es ist nicht die Polizei«, herrschte Herta sie halblaut an. »Und wenn du während des ganzen Tages nicht aus deinem Zimmer herauszubringen warst, hättest du recht wohl auch jetzt darin bleiben können. Ich bitte dich dringend, lege dich nieder und kümmere dich nicht um das, was hier geschieht. Ich verbürge mich dafür, daß dir kein Leid widerfährt.«

Sie nahm der Verstummten den Leuchter aus der Hand, und ging an ihr vorüber in die Halle, um den draußen Harrenden endlich einzulassen.

Er stolperte so ungestüm über die Schwelle, daß er sie fast umgerissen hätte.

»Was, zum Henker, fällt Ihnen ein«, polterte er. »Wenn ich gewußt hätte, daß Sie mich eine Viertelstunde draußen stehen lassen wollen, würde ich mich dafür bedankt haben, Ihnen zu Willen zu sein.«

Wenn nicht schon der Fuselduft, der von ihm ausging, es ihr verraten hätte, so würde Herta aus der schwerfälligen Sprechweise und der Unsicherheit seiner Bewegungen erkannt haben, in welchem Zustande er sich befand. Und sie hatte ihn doch so inständig gebeten, sich nicht zu betrinken. Aber es war jetzt nicht an der Zeit, ihm Vorwürfe zu machen. Viel eher mußte sie darauf bedacht sein, diesen Menschen, auf dem ja gewissermaßen alle ihre Hoffnung ruhte, bei guter Laune zu erhalten.

»Ich war vor übergroßer Ermüdung eingeschlafen«, sagte sie beschwichtigend. »Und es hat Sie doch wohl auch niemand gesehen. Haben Sie alles Erforderliche mitgebracht?«

»Da!« und er warf ein zusammengerolltes Bündel vor ihren Füßen auf den Boden. »Das ist der größte Sack, den ich auftreiben konnte. Ich denke wohl, daß er ausreichen wird. Eine Hacke und eine Schaufel haben wir ja hier im Hause. Aber nun kommen Sie, mir zu helfen. Denn allein werde ich schwerlich damit fertig. Und es wird viel zu früh Tag, als daß wir noch mehr Zeit nutzlos verschwenden dürften.«

Herta sah ihn betroffen an.

»Ich soll Ihnen helfen? Nein, das können Sie unmöglich von mir erwarten. Und Sie sagten mir doch auf meine Frage ausdrücklich, daß Sie stark genug seien, es zu vollbringen.«

»Meinetwegen, will ich's versuchen,« brummte er, »aber Sie müssen wenigstens mit hineinkommen. Ich mag nicht allein sein mit ihm. Und etwas zu trinken müssen Sie auch mitnehmen. Der Teufel mag solche Arbeit nüchtern verrichten.«

Es hätte unter den obwaltenden Umständen wenig Zweck gehabt und sicherlich nur seinen Zorn gereizt, wenn Herta ihn darauf aufmerksam gemacht hätte, wie weit er schon jetzt vom Zustande der Nüchternheit entfernt war. Jedenfalls war es das beste, alles zu tun, was er verlangte. Darum hieß sie ihn, sie zu begleiten und entnahm einem in der Speisekammer aufgestellten Schranke eine Flasche alten Portweins, die nach ärztlicher Vorschrift für Randolf Stounton bestimmt gewesen war.

»Das wird Ihnen Mut für Ihre Aufgabe machen«, sagte sie. »Aber Sie werden vorsichtig sein – – nicht wahr? – – Damit Sie nicht die Herrschaft über sich verlieren und Ihre Geistesgegenwart nicht einbüßen?«

Er knurrte als Erwiderung nur etwas Unverständliches in sich hinein und ging mit schwankenden Schritten neben ihr her bis in das Zimmer, das sie soeben verlassen hatte und dessen Tür noch immer halbgeöffnet stand.

Wöhlert trat ein, aber nachdem er einen Blick auf das Bett mit der Leiche geworfen hatte, blieb er anscheinend unschlüssig stehen.

»Ein verwünschtes Stück Arbeit!« murmelte er. »Lisette hat recht – ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen. Aber nun ist schon alles einerlei. Und den Hals kann es ja nicht kosten. Sie sind doch sicher, daß er wirklich ganz tot ist?«

Herta versicherte es ihm, wie sie es vorhin Lisette versichert hatte. Und nachdem er auf einen Zug die Flasche, die er ohne viel Umstände an die Lippen gesetzt hatte, mehr als zur Hälfte leer getrunken, ging Wöhlert wirklich an seine grausige Verrichtung.


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