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1. Kapitel

Der schöne Sommertag ging zur Rüste und die Dämmerung wob ihre feinen, silbergrauen Schleier um die beiden gotischen Kirchtürme und die spitzen Giebeldächer der tief in den Talgrund eingebetteten alten Stadt, als Doktor Walter Relling von seinen gewohnten Krankenbesuchen nach Hause zurückkehrte.

Die nachlässige Haltung seiner mehr als mittelgroßen, eckigen und hageren Gestalt wie der ernste, fast düstere Ausdruck seines klugen aber unschönen Gesichts ließen den vielbeschäftigten Arzt um ein beträchtliches älter erscheinen, als seine einunddreißig Jahre es rechtfertigten. Die tief unter stark gewölbten Jochbogen liegenden Augen hatten jenen scharfen, eigentümlich durchdringenden Blick, der den meisten Menschen so unbequem ist, und sie namentlich bei einem Arzte schüchtern und befangen zu machen pflegt. Walter Relling konnte sich denn auch kaum zweifelhaft darüber sein, daß er von der Mehrzahl seiner Patienten mehr gefürchtet als geliebt sei. Aber er war vollkommen damit zufrieden und hatte niemals den Versuch gemacht, etwas daran zu ändern, da er auf solche Weise ihres Gehorsams gegen seine Vorschriften jedenfalls ebenso sicher war, als wenn er sich bemüht hätte, durch geschmeidiges und einschmeichelndes Wesen ihr Vertrauen zu gewinnen. Erst seit kaum zwei Jahren in dem alten süddeutschen Städtchen ansässig und mit keinerlei einflußreichen Verbindungen ausgerüstet, hatte er doch in dieser kurzen Zeit die Praxis seiner beiden älteren Kollegen weit überflügelt und namentlich in der ärmeren Bevölkerung den Ruf eines beinahe unfehlbaren Heilkünstlers erworben. Der bejahrte Medizinalrat Roland und der nicht viel jüngere Doktor Hellwig waren dem neuen Kollegen anfangs begreiflicherweise mit wenig Wohlwollen und mißtrauischer Zurückhaltung begegnet. Und er hatte seinerseits durchaus nichts getan, sich ihre Freundschaft zu gewinnen und ein angenehmes kollegiales Verhältnis herzustellen.

Aber die beiden Herren waren bald inne geworden, daß Doktor Relling andererseits auch alle jene kleinen unlauteren Künste verschmähte, mit denen mancher junge Arzt in die Praxis eines älteren Kollegen einzudringen versucht. Er verhielt sich in allen Stücken streng korrekt, und wenn diese oder jene Familie ihm dennoch vor dem bisherigen Hausarzte den Vorzug gab, so hatte er sicherlich nicht das geringste dazu beigetragen, und der Verdrängte konnte keinen anderen Vorwurf gegen ihn erheben als den, daß er sich durch seine Leistungen den Ruf der größeren Tüchtigkeit errungen.

So war es nach und nach zu einem, wenn auch nicht herzlichen, so doch ganz erträglichen Verhältnis der drei Ärzte gekommen. Und da die beiden anderen allmählich zu der Einsicht gelangt waren, daß Relling in der Tat auf manchen Gebieten scharfblickender und geschickter war, als sie, so geschah es gar nicht selten, daß sie ihn in schwierigen Fällen zur Konsultation heranzogen oder ihm wohl gar da, wo sie selbst die alleinige Verantwortlichkeit fürchteten, willig die weitere Behandlung überließen.

Auch heute fand Dr. Relling bei seiner Heimkehr eine derartige Aufforderung vor. Ein sehr hübsches und zierliches Dienstmädchen, das sich schon durch seine beinahe kokette Kleidung angenehm von der Durchschnittserscheinung der hiesigen Mägde unterschied, hatte auf der Diele des uralten Hauses, dessen unteres Stockwerk Doktor Relling bewohnte, die Heimkehr des Arztes erwartet. Und auf seine kurze Frage nach ihrem Begehr sagte sie:

»Ich bin das Hausmädchen aus der Villa Carla und ich komme auf Weisung des Herrn Medizinalrats Roland, der den Herrn Doktor bitten läßt, sich möglichst schnell zu einem Konsilium nach der Villa hinaufzubemühen.«

Die für einen Dienstboten ungewöhnlich gewählte Ausdrucksweise und der norddeutsche Dialekt des Mädchens fielen Relling auf. Er kannte weder die Villa Carla noch ihre Bewohner. Aber er glaubte sich dunkel zu erinnern, daß er das Mädchen schon einmal als Begleiterin einer Dame gesehen habe, die durch ihre Schönheit seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

»Wie heißt Ihre Herrschaft?« fragte er. »Und können Sie mir etwas Näheres über den Krankheitsfall sagen?«

»Das gnädige Fräulein heißt von Lindow. Ich dachte, daß der Herr Doktor es schon wüßten. Aber wer der Kranke ist, wegen dessen der Herr Doktor kommen sollen, kann ich nicht sagen. Der Herr ist ganz nahe bei unserem Haus mit seinem Automobil verunglückt. Das gnädige Fräulein ließ zunächst den Herrn Medizinalrat holen; aber nachdem er länger als eine Stunde da war, wurde ich fortgeschickt, um den Herrn Doktor zu benachrichtigen.«

»Es ist gut. Warten Sie noch einen Augenblick. Ich werde sogleich mit Ihnen gehen.«

Er trat in sein Arbeitszimmer, um einen raschen Blick auf die inzwischen eingelaufenen Briefe und Drucksachen zu werfen. Dann öffnete er die Tür des anstoßenden Gemachs, das in seiner einfachen und pedantisch nüchternen Ausstattung den Charakter einer kleinbürgerlichen Wohnstube zeigte.

»Guten Abend, Elisabeth«, sagte er, ohne daß auch nur ein leiser Beiklang von Wärme und Herzlichkeit in seiner trockenen Stimme gewesen wäre. »Ich muß noch einmal fort, und da es sich allem Anschein nach um etwas Chirurgisches handelt, kann ich nicht voraussagen, wann ich zurückkommen werde. Ich bitte dich also, mit dem Abendessen nicht auf mich zu warten.«

Von einem Nähtisch auf dem etwas erhöhten Tritt am Fenster, wo sie eifrig bemüht gewesen war, noch den letzten schwachen Tagesschimmer für ihre Handarbeit auszunützen, hatte sich bei Rellings Eintritt die Gestalt eines dunkel gekleideten Mädchens erhoben, das auffallend groß und schlank erschien in der ungewissen Beleuchtung. Ihr von kunstlos aufgestecktem, blondem Haar umrahmtes Gesicht schimmerte merkwürdig weiß. Es hatte beinahe klassisch regelmäßige, aber etwas strenge Züge, denen der zu große Mund und das stark ausgebildete Kinn überdies alle Anmut nahmen. Von wunderbarer Schönheit aber war der metallische Klang ihrer Stimme, als sie erwiderte:

»Du willst in die Villa Carla hinaufgehen, Walter? Das Mädchen sagte mir, von wem sie geschickt wurde.«

»Allerdings. Sind dir die Leute vielleicht bekannt?«

»Nur dem Ansehen nach und vom Hörensagen. Man spricht in der Stadt nicht sehr günstig über das Fräulein von Lindow und ihre Tante.«

Relling machte eine ungeduldig abwehrende Bewegung.

»Um Gottes willen, keine Klatschgeschichten, Elisabeth! Du weißt, daß sie mir in den Tod verhaßt sind. Was kümmert es mich, was man über meine Patienten spricht. Und außerdem handelt es sich, wenn ich nicht irre, gar nicht um die Bewohner der Villa Carla, sondern um jemand, der in ihrer Nähe verunglückt ist, und den sie wahrscheinlich aus christlichem Mitleid in ihr Haus genommen haben. Mir scheint, eine solche Handlungsweise spricht keinesfalls zu ihren Ungunsten.«

Das junge Mädchen, das unbeweglich neben dem Nähtischchen stehen geblieben war, hätte sich durch den schroffen Ton der Zurechtweisung wohl verletzt fühlen können. Aber ihre volle, dunkle Stimme war ebenso mild und freundlich wie zuvor, da sie sagte:

»Man müßte die näheren Umstände kennen, um ein Urteil darüber zu haben. Übrigens war es selbstverständlich nicht meine Absicht, diesen Damen etwas Übles nachzusagen. Du wirst ja selbst sehen, wie es um sie bestellt ist.«

Mit einem Achselzucken kehrte Relling in sein Ordinationszimmer zurück, wusch sich eilig die Hände und entnahm seinem Instrumentenschrank das Kästchen, welches sein großes chirurgisches Besteck enthielt. Dann trat er zu dem harrenden Dienstmädchen auf die Diele hinaus.

»Ich bin bereit, lassen Sie uns also gehen!«

Der Weg führte durch einige ziemlich steil ansteigende Straßen zu jenem höher gelegenen vornehmen Stadtviertel hinauf, wo sich während der letzten zehn Jahre die wohlhabenderen Bürger und einige durch die schöne Lage der Stadt angezogene Fremde auf dem Gelände ehemaliger Weinberge schmucke Villen inmitten hübscher, sorgfältig gepflegter Gärten erbaut hatten. Eine neu angelegte breite Chaussee führte über den Hügelrücken hinweg quer durch den kleinen Villenvorort. Und ein schmuckes, schneeweiß schimmerndes Landhäuschen unmittelbar an dieser Chaussee war es, in dessen Vorgarten das zierliche Dienstmädchen den schweigsamen Doktor eintreten ließ. Er hatte auf dem ganzen Wege keine weitere Frage an sie gerichtet, und die hübsche Kleine hatte ihn wiederholt von der Seite mit einem Blick angesehen, der ziemlich deutlich sagte, daß sie ihn nichts weniger als liebenswürdig fände.

»Ich werde den Herrn Doktor sogleich anmelden«, sagte sie jetzt in einem etwas schnippischen Tone, indem sie leichtfüßig vor ihm her die wenigen Stufen zur Eingangstür der Villa emporeilte. »Wollen Sie sich nur gefälligst hier einen Augenblick gedulden.«

Relling folgte ihr langsam. Schon die Ausstattung des Treppenhauses, das er betrat, konnte ihm kaum einen Zweifel an der Wohlhabenheit der Bewohner lassen. Wenn es, wie er vermuten mußte, nur zwei alleinstehende Damen waren, so hatten sie augenscheinlich künstlerische Neigungen von einer Art, wie man sie gemeinhin nur bei Männern findet, denn die nach englischer Art angelegte Halle, in deren Hintergrunde eine reich geschnitzte Wendeltreppe zu dem ersten Stockwerk hinaufführte, war angefüllt mit einer verwirrenden Menge von Bildern, Skulpturen und anderen künstlerischen und kunstgewerblichen Gegenständen, die fast ausnahmslos einen sehr vornehmen und geläuterten Geschmack ihres Sammlers bekundeten.

Doktor Relling, der mit Leib und Seele seiner Wissenschaft gehörte, hatte sich bisher wenig um die freien Künste gekümmert, aber er hatte das halb instinktive Gefühl des harmonisch gebildeten Menschen für das wahrhaft Schöne. Und während er mit raschem Blick über seine Umgebung hinstreifte, war es ihm, als spräche aus diesen hier zusammengetragenen Dingen etwas wie eine starke und interessante Persönlichkeit zu ihm, ein Charakter, der, wenn es der Charakter einer Frau war, jedenfalls nicht zu den gewöhnlichen gehörte.

Zu eingehenden Betrachtungen allerdings blieb ihm keine Zeit. Denn schon nach Verlauf von kaum zwei Minuten öffnete sich eine der in die Halle ausmündenden Türen, und eine stattliche, ältere Dame mit leicht ergrautem Haar und einem Gesicht, dem man auf den ersten Blick die ehemalige Schönheit ansah, trat liebenswürdig lächelnd auf ihn zu.

»Herr Doktor Relling – nicht wahr? Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet, daß Sie der Bitte des Medizinalrates so schnell Folge geleistet haben.«

»O bitte, das war unter Kollegen ja ganz selbstverständlich. Habe ich die Ehre mit Frau von Lindow?«

Die Dame, die ihn inzwischen in ein großes, nur noch matt erhelltes Zimmer hatte eintreten lassen, machte eine verneinende Gebärde.

»Ich habe keinen Anspruch auf diesen Namen, den Sie vielleicht als denjenigen meiner Nichte gehört haben. Ich bin die verwitwete Geheimrätin Bergner und vertrete hier gewissermaßen Mutterstelle an meiner Nichte, der das Haus gehört.«

Doktor Relling verbeugte sich leicht. Die Auskunft war ausführlicher, als er es für nötig hielt, denn die Damen der Villa Carla interessierten ihn durchaus nicht, und nicht ihretwegen war er gekommen.

»Darf ich also bitten, mich dem Herrn Kollegen zuzuführen?«

Durch zwei Zimmer, denen er beim flüchtigen Durchschreiten dieselbe Schönheitsliebe und denselben individuell ausgeprägten Geschmack anzusehen glaubte, die ihm vorhin draußen in der Treppenhalle aufgefallen waren, gelangte Relling unter der Führung der Geheimrätin in einen Raum, der offenbar bis zu diesem Tage das Schlafzimmer einer Dame gewesen war.

Zartfarbige Seidentapeten, ein prächtiges, französisches Bett, und eine Menge von schön drapierten, spitzenbesetzten Stoffen überall, ließen daran keinen Zweifel. In diesem Augenblick freilich, wo ein durchdringender Lysolgeruch die sonst vielleicht von irgendwelchen süßen Düften durchsättigte Atmosphäre erfüllte, wo auf den unordentlich durcheinander geschobenen Sesseln und zierlichen vergoldeten Stühlchen allerlei ärztliches Handwerksgerät, blutgetränkte Linnenstreifen und Verbandwatte, sowie hastig hingeworfene männliche Kleidungsstücke herumlagen, glich das lauschige Boudoir zum guten Teil dem Operationszimmer eines Krankenhauses. Der Medizinalrat Roland, ein behäbiger und sehr bequemer alter Herr von nahezu siebzig Jahren, stand im leisen eifrigen Gespräch mit Schwester Monika, einer der in dem Städtchen stationierten Diakonissinnen, neben dem Bette, auf dessen Kissen Relling den bleichen, verbundenen Kopf eines auffallend hübschen, jungen Mannes ruhen sah.

»Ah, vortrefflich, daß Sie da sind, lieber Kollege!« begrüßte der alte Herr in sichtlicher Erleichterung den Eintretenden. »Ein etwas komplizierter Fall. Ich glaube ja schon das meinige getan zu haben, aber mir scheint, daß da noch eine kleine Operation kaum zu umgehen sein wird. Und wenn Sie meine Ansicht teilen, wäre es mir recht lieb, den Eingriff Ihrer jüngeren und sichereren Hand überlassen zu können.«

Er brauchte seine Stimme nicht allzu ängstlich zu dämpfen, denn der Patient befand sich unverkennbar im Zustande einer tiefen Bewußtlosigkeit. Die geschlossenen Augen, die kaum merklichen Atemzüge und die Erschlaffung der schönen, jugendlichen Züge hatten den erfahrenen Arzt auf den ersten Blick davon überzeugt. Er warf einen Blick zurück, um sich zu vergewissern, daß die Geheimrätin, die ihn bis an die Schwelle des Gemachs geleitet, sich wieder zurückgezogen hatte. Dann ersuchte er den Medizinalrat um die Erlaubnis, sich unter seinem Beistande durch den Augenschein über den Zustand des Verletzten unterrichten zu dürfen. Während er die Untersuchung vornahm, so weit die bereits angelegten Verbände es noch gestatteten, gab ihm der ältere Kollege Auskunft über die näheren Umstände des Unglücksfalles. An dem Mechanismus des Automobils, auf welchem der junge Mann in Begleitung eines Dieners die gerade an dieser Stelle ziemlich steil abfallende Chaussee heruntergefahren war, mußte plötzlich irgend etwas schadhaft geworden sein, denn Augenzeugen hatten gesehen, daß das Gefährt trotz aller Bemühungen der Insassen, es zum Stillstand zu bringen, oder ihm eine andere Richtung zu geben, mit rasender Geschwindigkeit gegen einen Baum gesaust war, wo der heftige Anprall es zum Umschlagen gebracht hatte. Der Diener, den der Stoß in großem Bogen von seinem Sitz herabgeschleudert hatte, war mit einigen ganz leichten Beschädigungen davongekommen. Seinem jungen Herrn aber war es desto übler ergangen. Man hatte Mühe gehabt, ihn unter dem schweren Wagen hervorzuziehen, und es war für die Bewohner der Villa Carla als des zunächst gelegenen Hauses in der Tat eine fast unabweisbare Pflicht der Barmherzigkeit gewesen, dem anscheinend sehr schwer Verletzten für den Augenblick Aufnahme zu gewähren. Der Medizinalrat, der glücklicherweise rasch zur Stelle geschafft werden konnte, hatte neben mehreren Quetschungen auch eine Gehirnerschütterung konstatiert, und gewisse Anzeichen ließen ihn darauf schließen, daß daneben auch innere Verletzungen vorhanden sein müßten. Ein so schwieriger Fall gehörte für ihn zu den glücklicherweise sehr seltenen Ausnahmen in seiner Praxis. Hätte es sich um einen armen Fabrikarbeiter gehandelt, so würde er es ja in Gottes Namen auf sich genommen haben, dem Manne nach dem Maß seines Könnens die letzten Lebensstunden zu erleichtern. Hier aber hatte man ihm gesagt, daß der Verletzte, über dessen Persönlichkeit der Diener natürlich sogleich Auskunft gegeben hatte, ein sehr vornehmer junger Herr, der Sohn eines englischen Lords und Sekretär bei der britischen Botschaft in Berlin sei. Mit einem Patienten von solcher Art mußte man doch etwas umständlicher und gewissenhafter verfahren. Die Verantwortlichkeit war zu groß, und gerade weil er sehr geringe Hoffnung auf die Möglichkeit einer Wiederherstellung hegte, war es dem Medizinalrat nach einiger Überlegung als das Klügste und Zweckmäßigste erschienen, die undankbare Aufgabe der Behandlung auf die Schultern seines jüngeren Kollegen abzuwälzen.

In kurzen lateinischen Worten hatten sich die beiden Ärzte über den Befund verständigt. Doktor Relling teilte die Ansicht des Medizinalrats über die Notwendigkeit eines operativen Eingriffs vollkommen und erklärte sich bereit, denselben auf der Stelle vorzunehmen.

»Wäre der junge Mann nicht von einem so wundervollen Körperbau, wie er nur den vorzüglichsten Konstitutionen eigen ist, so würde ich allerdings Bedenken tragen, die Operation zu wagen«, sagte er. »Aber ich bin in diesem Falle meiner Sache ziemlich sicher. Wenn er nicht an den anderen Verletzungen zugrunde geht, unser Eingriff wird sicherlich nicht schuld sein an seinem Tode.«

Unter der geschickten Assistenz der Diakonissin und unter dem wenn auch nur scheinbaren, Beistande des Medizinalrats vollzog Doktor Relling die ziemlich schwierigen chirurgischen Manipulationen, welche die Situation erheischte. Man brauchte nicht zur Anwendung eines Betäubungsmittels zu greifen, denn die durch die Gehirnerschütterung bedingte Bewußtlosigkeit des Unglücklichen machte jede künstliche Narkose überflüssig. Ein paarmal wohl zuckte es schmerzlich um seinen Mund und die schön geschwungenen Lippen preßten sich zusammen, als wollten sie ein Stöhnen oder einen Aufschrei zurückhalten. Aber das waren wohl nur unbewußte Reflexbewegungen der gereizten Nerven. Denn die herrliche Apollogestalt des höchstens fünfundzwanzigjährigen jungen Mannes blieb ganz regungslos, und er setzte dem grausamen Messer, das in seinem Fleische wühlte, keinen Widerstand entgegen.

Nach Verlauf einer halben Stunde war alles vorüber. Die Verbände waren angelegt und die behandelnden Ärzte mußten dem Willen der Vorsehung den Erfolg ihres Bemühens anheimstellen.

»Ich hoffe, lieber Kollege, daß Sie dem jungen Mann Ihre weitere Fürsorge angedeihen lassen werden,« sagte der Medizinalrat. »Sie werden doch ohnedies den Wunsch haben, den Heilungsverlauf des von Ihnen vorgenommenen Eingriffs selbst zu beobachten. Und der Fall liegt Ihnen überhaupt viel besser als mir. Sie gestatten also, daß ich in diesem Sinne mit den Damen des Hauses rede?«

»In der Annahme, daß es sich nur um ein Provisorium handelt, ja! Man wird doch, wie ich denke, die Angehörigen des Verunglückten benachrichtigt haben, und ihnen allein steht es zu, entscheidende Dispositionen hinsichtlich der ärztlichen Behandlung zu treffen.«

»Die sie natürlich keinen besseren Händen überlassen könnten, als den Ihrigen,« sagte der Medizinalrat artig. »Ich habe aufs neue Ihre Geschicklichkeit bewundert, lieber Kollege! Wenn der arme, junge Mann durchkommen sollte, ist es ohne alle Frage zum größten Teil Ihr Verdienst. Denn ich würde, offen gestanden, nicht den Mut gehabt haben, so energisch vorzugehen. Aber nun muß ich mich verabschieden, ich habe unten in der Stadt noch ein paar Schwerkranke, die vermutlich schon lange mit Schmerzen auf mich warten.«

Relling war nicht ganz im reinen darüber, ob in der Anerkennung, die der ältere Kollege seinem energischen Vorgehen gezollt hatte, nicht etwas wie eine verschleierte mißbilligende Kritik gewesen war. Aber er zerbrach sich darüber auch nicht lange den Kopf, sondern erteilte der aufmerksam lauschenden Schwester Monika, zu deren Tüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit er auf Grund zahlreicher Erfahrungen volles Vertrauen hegen durfte, diejenigen Anweisungen, deren Befolgung ihm für die nächsten Stunden von Wichtigkeit erschien. Etwa zwanzig Minuten noch brachte er so in dem improvisierten Krankenzimmer zu, dann erachtete auch er ein längeres Verweilen für überflüssig und nachdem er der Pflegerin eingeschärft hatte, bei der geringsten bedenklichen Veränderung im Zustande des Patienten sofort nach ihm zu senden, verließ er das Gemach.


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