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14. Kapitel

Ungewöhnlich lange hatte Doktor Walter Relling heute in dem abgelegenen Hinterzimmer geweilt, in welches man auf sein Verlangen schon im Verlauf der ersten Nacht den kranken Herrn von Lindow gebracht hatte. Wenn er während der letzten Woche mehrmals täglich in der Villa Carla erschienen war, so hatte seine Liebessehnsucht viel weniger Anteil daran gehabt, als seine Sorge um den Patienten, dessen Zustand ihn sehr wenig zu befriedigen schien.

Er hatte auf die Fragen, welche die Rätin und Herta in bezug auf die Aussichten für eine Genesung an ihn richteten, stets ausweichend geantwortet, aber der Ausdruck seines ohnehin so düsteren Gesichts war für die Frauen sehr wenig ermutigend gewesen.

Auch heute hatte er, wie gewöhnlich, nur die Geheimrätin Bergner, die den Patienten mit bewundernswürdiger Aufopferung pflegte, in dem Krankenzimmer angetroffen. Er hatte lange Zeit dem Herzschlag des Kranken, der fast immer in einem Zustande völliger Teilnahmlosigkeit dalag, beobachtet. Dann hatte er ihm eine Einspritzung gemacht und hatte der Rätin erklärt, daß man ihn zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht unverzüglich rufen solle, wenn sich gewisse Symptome, die er ihr genau beschrieb, zeigen sollten.

»Sie fürchten doch nicht etwa, Herr Doktor, daß es mit ihm zu Ende gehen könnte?« fragte Frau Bergner besorgt. Aber sie erhielt auch diesmal keine bestimmte Erklärung.

»Wir haben jedenfalls Grund, die größte Sorgfalt aufzuwenden«, sagte er nur. »Übrigens wäre es mir sehr lieb, wenn ich Ihre Nichte sprechen könnte. Sie ist doch hoffentlich nicht auch heute, wie an den letzten Tagen, schon ausgegangen?«

Vor dem durchdringenden Blick, den er dabei auf ihr Gesicht richtete, und in dem sich ziemlich deutlich sein Mißtrauen spiegelte, schlug die Rätin die Augen nieder. Allerdings hatte sie von Herta auch heute den bestimmten Auftrag erhalten, sie unter irgendeinem Vorwande zu verleugnen; aber der Ton von Walter Rellings Frage raubte ihr den Mut dazu.

»Ich glaube wohl, Herr Doktor, daß Sie sie in ihrem Zimmer finden werden. Jedenfalls kann ja Lisette einmal nachsehen.«

Aber er lehnte die Vermittlung der Zofe ab.

»Es bedarf keiner Anmeldung«, sagte er kurz. »Wenn sie zu Hause ist, werde ich sie schon finden.«

Und er fand sie in der Tat. Ahnungslos hatte Herta auf sein Anklopfen die Aufforderung zum Eintritt ergehen lassen. Und sie war eine zu gute Schauspielerin, als daß sie nicht ihre unangenehme Überraschung bei seinem unerwarteten Anblick zu verbergen vermocht hätte.

»Ah, Sie sind es, Herr Doktor, – ich wußte gar nicht, daß Sie schon gekommen seien.«

Er antwortete nicht sogleich, sondern drückte die Tür hinter sich ins Schloß, und trat dann, sie unverwandt ansehend, auf sie zu.

»Was bedeutet das, Herta?« fragte er mit rauh klingender Stimme. »Weshalb weichst du mir seit einigen Tagen aus? Denn ich glaube nicht an den Zufall, der dich jedesmal abwesend sein ließ, wenn ich heraufkam.«

Mit gutem Geschick spielte sie die Erstaunte und Gekränkte.

»Ich verstehe dich nicht. Welche Ursache hätte ich denn haben sollen, dir auszuweichen?«

»Nun, wir wollen das vorläufig unerörtert lassen. Jedenfalls ist es mir lieb, daß ich dich wenigstens heute angetroffen habe. Denn ich bin leider gezwungen, dir eine schmerzliche Eröffnung zu machen.«

Das Erschrecken, das sich jetzt in ihren Zügen spiegelte, war jedenfalls kein erkünsteltes mehr.

»Um Gottes willen, es betrifft doch nicht meinen Vater? Du willst mich doch nicht darauf vorbereiten, daß – daß er sterben könnte?«

»Ich würde meine ärztliche Pflicht verletzen, wenn ich es dir länger verheimlichte. Was ich von Anfang an fürchten mußte, ist eingetreten; seine Krankheit hat in den letzten Tagen eine Wendung genommen, die das Schlimmste befürchten läßt.«

So wenig schien sie auf die Möglichkeit einer Katastrophe gefaßt gewesen zu sein, daß jetzt all ihre gewohnte Selbstbeherrschung sie verließ. Mit beiden Händen umklammerte sie die Lehne des Sessels, hinter welchem sie stand, und ihre schönen, weit geöffneten Augen waren mit dem Ausdruck einer namenlosen Angst auf Rellings Antlitz gerichtet.

»Aber das ist ja unmöglich – das kann ja nicht sein. Du mußt ein Mittel finden, ihn zu retten.«

»Wenn ich über ein solches Mittel verfügte, würde es natürlich deines Verlangens nicht erst bedurft haben. Aber ich sagte dir ja, wie bald wir Ärzte an die Grenzen unseres Könnens zu gelangen pflegen. Und hier ist aller menschlichen Voraussicht nach meine Kunst zu Ende.«

»Und wie lange kann es noch währen? Er wird doch nicht schon heute, nicht schon in diesen Tagen sterben?«

»Das entzieht sich jeder Voraussage. Wenn man barmherzig sein wollte, müßte man ihn eigentlich noch heute sterben lassen, denn alles, was ich tun kann, um das äußerste hinauszuschieben, ist im Grunde nur eine grausame Verlängerung seiner Qual.«

Sie trat auf ihn zu und erhob wie beschwörend die Hände.

»Aber du wirst es trotzdem tun, nicht wahr? Du wirst alles aufbieten, was du vermagst, um ihn so lange als möglich am Leben zu erhalten?«

»Das ist ja nun einmal meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Denn das Gesetz gestattet uns Ärzten kein Verfügungsrecht über das Leben unserer Patienten. Aber länger als eine Woche wird es selbst im günstigsten Falle schwerlich währen.«

Herta ließ die Arme sinken. Ihr eben noch so erregtes Gesicht wurde allmählich ganz starr. Und ihre Augen nahmen einen Ausdruck an, als ob sie über Walter Relling hinweg in irgendeine andere Welt hineinblickten.

»Eine Woche also!« wiederholte sie, mehr zu sich selbst, als zu ihm sprechend. »Eine Woche – im günstigsten Fall.«

Vielleicht hatte er eine andere Wirkung seiner Eröffnung erwartet als diese. Denn wenn er im ersten Augenblick noch hatte glauben können, daß es die Verzweiflung kindlichen Schmerzes sei, die sich in ihrem Benehmen offenbarte, so mußte ihn die Sonderbarkeit ihres jetzigen Verhaltens irre machen an der Natur ihrer Empfindungen.

War er doch in diesen letzten Tagen ohnedies in allem irre geworden an ihr. Und war er doch heute zur Villa hinaufgestiegen mit dem festen, unwiderruflichen Entschluß, sich endlich eine klare Antwort zu verschaffen auf die Zweifel, die ihn von Tag zu Tag peinigender quälten.

»Das ist das eine, Herta«, sagte er nach einem kleinen Schweigen. »Aber es ist noch nicht alles, was ich mit dir zu besprechen habe.«

»Noch mehr?« fragte sie, während sie noch immer starr vor sich hinaus ins Leere blickte.

»Ich denke, du solltest mir Zeit lassen, erst dies eine zu verwinden.«

»Es steht damit im Zusammenhang, und wir müssen darüber endlich einmal zur Klarheit gelangen. Diese unwürdige Heimlichkeit kann nicht länger währen, Herta! Ich leide darunter und büße von Tag zu Tag mehr an meiner Selbstachtung ein. Da du dich beharrlich weigerst, mir deine Gründe zu nennen, kann ich mich auch nicht von der Berechtigung dieser Gründe überzeugt halten. Und ich wünsche diesem Zustand ein Ende zu machen.«

»Welchem Zustand? Ich verstehe dich nicht recht. Wir können doch nicht gerade in diesem Augenblick unser Verlöbnis veröffentlichen.«

»Es handelt sich auch nicht so sehr um die Bekanntgabe unseres Verlöbnisses. Das steht für diesen Augenblick für mich erst in zweiter Linie. Aber wir können die Anwesenheit deines Vaters nicht länger verheimlichen. Wenn jener Fall eintreten sollte, auf den ich dich soeben vorbereitet habe, so müßte sie ja doch bekannt werden. Und ich wäre alsdann den schlimmsten Mißdeutungen meines bisherigen Verhaltens ausgesetzt.«

Herta trat einen Schritt von ihm zurück, und ihre rosigen Fingernägel gruben sich wieder mit krampfhaftem Druck in das Polster der Sessellehne.

»Du hast mir dein Wort gegeben, nichts zu verraten«, sagte sie tonlos. »Und es wäre eine Ehrlosigkeit, wenn du es jetzt brechen wolltest.«

Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer.

»Du solltest etwas weniger starke Ausdrücke wählen, liebe Herta! Ich habe dir kein Versprechen gegeben, das mich zwänge, gegen meine Ehre und mein Gewissen zu handeln.«

»Aber dein Gewissen kann dir unmöglich verbieten, das Geheimnis, das wir so lange festgehalten haben, noch für wenige Tage zu bewahren.«

»Ich sehe nur nicht ein, was damit gewonnen wäre. Dafür, daß man deinem Vater jetzt nichts anhaben würde, stehe ich ein. Einem Sterbenden gegenüber hat die irdische Justiz ihre Macht verloren.«

»Und wenn es sich nicht nur um meinen Vater handelte, sondern auch um mich? Würdest du es über dich gewinnen, mir zu all dem Kummer, den mir diese hoffnungslose Krankheit meines Vaters bereitet, auch noch andere peinliche Ungelegenheiten zu verursachen?«

»Was hast du mit dem Verschulden deines Vaters zu schaffen? Hast du mir nicht wiederholt ausdrücklich versichert, daß du keinen Anteil daran hast?«

»Und ich sagte dir damit nur die Wahrheit. Aber man wird mich zur Rechenschaft ziehen dafür, daß ich ihn so lange verborgen gehalten habe.«

»Du irrst. Auf eine Tochter finden die Bestimmungen des Strafgesetzes, die von der Begünstigung handeln, keine Anwendung. Und darüber, daß dir dein Verhalten in den Augen dieser Kleinstädter vielleicht schaden könnte, kannst du dich leicht hinwegsetzen, wie ich mich darüber hinwegsetzen werde. Aber die Situation wird sich jedenfalls für uns alle sehr viel peinlicher gestalten, wenn man erst durch den Todesfall erfährt, welche Geheimnisse sich hinter den Mauern der Villa Carla verbergen.«

»Ist dir die gute oder schlechte Meinung dieser Kleinstädter so gleichgültig, so kannst du es getrost darauf ankommen lassen«, sagte sie, sich mit echt weiblicher Geschicklichkeit sogleich der Handhabe bedienend, die seine eigenen Worte ihr gewährt hatten. »Da du nur deine Pflicht als Arzt getan hast, kann dir niemand etwas anhaben. Und wenn du trotzdem nach dieser Richtung hin irgendwelche Befürchtungen hegst, so erkläre ich dir hiermit feierlich, daß ich alles auf mich nehmen werde – ganz allein auf mich.«

»So nenne mir wenigstens die Gründe für all diese Unbegreiflichkeiten. Sage mir, welche Bewandtnis es mit der Schuld deines Vaters hat, und wie es geschehen konnte, daß du hier in Luxus und Überfluß lebtest, während er sich wie ein gehetzter Flüchtling verstecken mußte?«

Sie war natürlich auf dies Verlangen vorbereitet gewesen, und sie war gewappnet, ihm zu begegnen. Nicht mit Erklärungen, wie er sie von ihr forderte, sondern mit den Waffen der Frau. Wieder wie damals, als es ihr zum erstenmal gelungen war, ihn ihrem Willen gefügig zu machen, brach sie in Tränen aus und klagte, das unglücklichste Geschöpf auf Erden zu sein, das bei niemand Schutz und Beistand fände, nicht einmal bei dem Manne, der sie hatte glauben machen wollen, daß er sie liebe.

Aber es wurde ihr diesmal nicht so leicht wie in jener Stunde, ihren Zweck zu erreichen. Walter Relling hatte während der letzten Tage zu schwer unter der Ungewißheit gelitten, und ihr Benehmen hatte zu viel Zweifel in ihm wachgerufen, als daß jetzt durch ein paar Tränen alles hätte weggeschwemmt werden können.

Er machte sie in ruhigen, aber entschiedenen Worten auf das Törichte und Unlogische ihrer Vorwürfe aufmerksam. Er versicherte ihr, daß er gerade deshalb, weil er bereit sei, ihr beizustehen, vollen Anspruch auf ihr rückhaltloses Vertrauen habe. Und er gab ihr, da er mit alledem nicht imstande war, ihre wirkliche oder erheuchelte Erregung zu beschwichtigen, nicht undeutlich zu verstehen, wieviel Grund zum Mißtrauen sie ihm seit jenem Augenblick gegeben habe, den er als den Augenblick ihres Verlöbnisses betrachtete.

Da schlug sie denn eine andere Taktik ein. Sie trocknete ihre Tränen und umschlang mit beiden Armen seinen Nacken, um ihr holdseliges Köpfchen an seiner Brust zu betten.

»Vergib mir, Walter, ich weiß ja, daß ich dir unrecht tue, daß du der beste und hochherzigste aller Menschen bist. Aber ich bin so unglücklich. Es stürmt so viel auf mich ein. Und manchmal ist es mir, als ob ich unter der Last dieses Unglücks zusammenbrechen müßte. Laß mir nur Zeit, ein wenig zu mir selbst zu kommen. Gewiß sollst du alles erfahren; denn niemand in der Welt hat einen besseren Anspruch darauf als du. Und ich will keine Geheimnisse vor dir haben. Aber nicht heute darf es sein – nicht heute und morgen. Mir ist, als ob ich mich eines schweren Unrechts gegen diesen armen Kranken schuldig machte, wenn ich dir sein Geheimnis preisgebe. Und er ist doch mein Vater, das darfst du nicht vergessen.«

Und als er im ersten Moment durch ihre hingebende Zärtlichkeit ebensowenig überzeugt war, als ihn zuvor ihre Klagen und Tränen hatten überzeugen können, fuhr sie noch eindringlicher fort: »Sieh, ich würde ja glücklich sein, wenn ich dir mein Herz ausschütten könnte. Denn es verlangt mich so sehr nach Teilnahme und Trost. Aber ich bin nicht so selbstsüchtig, nur an mich allein zu denken. Und um deinetwillen ist es notwendig, daß ich noch schweige. Du sagst, daß du unter dem Zwiespalt leidest, in den deine Liebe zu mir dich gebracht hat. Aber dieser Zwiespalt würde nur noch verhängnisvoller werden, wenn ich dir alles sagte. Ist das Schreckliche wirklich unabwendbar geworden, und muß ich mich darauf gefaßt machen, meinen unglücklichen Vater zu verlieren, so wird ja der Augenblick, in welchem du alles erfährst, bald genug erscheinen. Und diese wenigen Tage noch kannst du dich doch gedulden.«

Der unwiderstehliche Reiz ihrer Schönheit, der bestrickende Zauber, den sie, sobald sie es wollte, auf jeden Mann ausübte, er erwies sich endlich auch diesmal mächtiger als Walter Rellings Vorsätze und seine vernünftigen Entschlüsse.

Als er eine halbe Stunde später die Villa verließ, hatte er sich nicht nur zu dem Versprechen hinreißen lassen, daß er über die Existenz dieses geheimnisvollen Patienten auch weiter unverbrüchliches Schweigen bewahren werde, sondern er hatte sich auch damit zufrieden gegeben, die Aufklärungen, die er unbedingt noch heute hatte erhalten wollen, bis zu jenem Tage verschoben zu sehen, wo Hertas Vater von keinem irdischen Richter mehr würde zur Rechenschaft gezogen werden können.

Wohl war er bitter unzufrieden mit sich selbst; denn der Taumel der Sinne, in den Hertas Zärtlichkeit ihn aufs neue versetzt hatte, war fast schon in dem nämlichen Augenblick verflogen, da ihre berauschende Persönlichkeit nicht mehr auf ihn wirkte. Aber ein gegebenes Wort bedeutete für ihn ein Gesetz, gegen das es keine Auflehnung gab, und so durfte Herta von Lindow, die, hinter der Gardine ihres Zimmers verborgen, mit einem nichts weniger als liebevollen Blick dem Fortgehenden nachsah, vollkommen sicher sein, daß sie wenigstens bis zum Eintritt der Katastrophe nichts von seiner Indiskretion zu fürchten habe. Es war nur eine kurze Frist, die sie damit gewann; aber vielleicht war es Zeit genug, wenn man sie entschlossen zu nützen verstand.


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