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4. Kapitel

Es war eine Stunde nach Mitternacht, als zur Verwunderung der Pflegerin Herta von Lindow in das Krankenzimmer trat. Sie war in einen langen, weißen Schlafrock gekleidet, der gürtellos in weichen Falten an ihrer herrlichen Gestalt niederfloß. Mit lautlosen Schritten näherte sie sich dem Lager des Verunglückten, und nachdem sie eine Weile in sein blasses, regungsloses Antlitz geblickt hatte, wandte sie sich der Wärterin zu.

»Es ist noch alles unverändert, Schwester?« fragte sie. »Sein Zustand hat sich jedenfalls nicht verschlechtert?«

Schwester Monika schüttelte den Kopf.

»Ich habe nichts Besonderes bemerkt«, sagte sie in jener ruhigen Weise, die solchen an den Anblick von allerlei menschlichem Elend gewöhnten Personen bald eigentümlich zu werden pflegt. »Aber es kann sich wohl erst morgen zeigen, ob er Aussicht hat, es zu überstehen.«

»Und welches ist Ihre Meinung darüber?«

»Wie sollte ich es wissen? Das steht allein bei Gott.«

»Wollen Sie sich nicht jetzt ein wenig niederlegen, Schwester? Ich bin gern bereit, für ein paar Stunden Ihren Platz einzunehmen. Und Sie können mich ja über alles unterweisen, was ich etwa zu tun habe.«

Ihr großmütiges Anerbieten erfuhr jedoch eine ebenso freundliche als bestimmte Ablehnung. Und wenn Herta trotzdem blieb, so geschah es jedenfalls nicht, weil ihre Anwesenheit für den Patienten von irgendwelchem Nutzen gewesen wäre. Sie ließ sich an der anderen Seite des Tisches nieder, vor welchem Schwester Monika mit ihrem geistlichen Buche saß, und nachdem sie eine Weile das stille, keineswegs unschöne Gesicht der Diakonissin betrachtet hatte, fragte sie in ihrem liebenswürdigsten Tone:

»Sie kennen den Doktor Relling genauer, nicht wahr? Und Sie halten ihn jedenfalls für einen vortrefflichen Arzt?«

»Ich glaube, daß er es sehr ernst nimmt mit den Pflichten seines Berufes.«

»Und was denken Sie von seinem Charakter? Man hat mir so viel Rühmliches von ihm erzählt, daß ich ihn mir immer als einen ungewöhnlich edlen und hochherzigen Menschen vorstellte. Aber der persönliche Eindruck hat mich, offengestanden, ein wenig enttäuscht.«

»Man darf die Menschen wohl nicht immer nach dem ersten persönlichen Eindruck beurteilen, Fräulein von Lindow. Nur Gott allein sieht in die Herzen. Und ich weiß nicht, ob Doktor Relling edel ist oder nicht. Er opfert sich manchmal beinahe auf in seiner ärztlichen Tätigkeit; aber es hat dann immer den Anschein, als ob er es durchaus nicht um des Patienten willen täte. Ich habe ihn schon ganze Nächte am Bettchen eines kranken Arbeiterkindes sitzen und wie ein Verzweifelter gegen die Gefahr kämpfen sehen, die es bedrohte. Aber wenn es dem Herrn über Leben und Tod dann doch gefiel, das junge Dasein zu enden, so hatte der Doktor niemals ein Wort des Trostes für die jammernden Eltern. Und es ist oft etwas tief Verletzendes in der Art, wie er bei aller Sorgfalt für ihr leibliches Wohl seine Kranken behandelt.«

»Er ist eben kein gewöhnlicher Mensch, darüber kann man kaum im Zweifel sein, wenn man ihn nur ansieht. Es müßte eine sehr interessante Aufgabe sein, seine wahre Natur zu ergründen.«

Schwester Monika antwortete nicht. Ihr scharfes Ohr hatte ein leises Geräusch vom Krankenbett her wahrgenommen, und sie erhob sich rasch, um die Ursache zu erkunden. Herta von Lindow folgte ihrem Beispiel, und es geschah zufällig, daß die Augen des Verunglückten, von denen sich langsam, wie in schwerer Anstrengung, die Lider hoben, nicht das Gesicht der Wärterin, sondern das tief über ihn herabgeneigte Antlitz Hertas trafen.

Seine Lippen bewegten sich, und leise, wie ein fernes Flüstern, klang es in englischer Sprache an Hertas Ohr:

»Ruth, bist du es?« Und dann ein paar Sekunden später:

»Ach wie schön – wie wunderschön!«

Auch Schwester Monika hatte es gehört, aber sie verstand die Sprache nicht. Und als der Patient die Augen wieder geschlossen hatte, um allem Anschein nach in den vorigen Zustand tiefer Bewußtlosigkeit zurückzusinken, fragte sie nach dem Inhalt seiner Worte.

»Er glaubte in mir offenbar irgendein weibliches Wesen seiner Bekanntschaft zu sehen. Aber daß er überhaupt für einen Moment zu sich gekommen ist, dürfen wir doch wohl als ein günstiges Zeichen ansehen?«

Schwester Monika zog statt der Erwiderung ein wenig die Schultern in die Höhe und kehrte an ihren Platz zurück. Es war ihr augenscheinlich vollkommen recht, daß Herta, die sich auf ein niedriges Taburett neben dem Bett niedergelassen, zunächst keinen weiteren Versuch machte, das vorige Gespräch fortzusetzen. Ihr von der Lampe hell beschienenes, stilles Antlitz neigte sich über das Buch, dessen erbaulicher Inhalt ihr wohl schon über manche ähnliche Nacht hatte hinweghelfen müssen.

Herta von Lindows Aufmerksamkeit aber gehörte jetzt nur noch ihrem jungen Gaste. Zum erstenmal hatte sie vorhin seine Augen gesehen, und es war ihr, als sei ihr erst in jenem Moment die ganze Schönheit seines Gesichts offenbar geworden. Es waren große, tiefblaue Augen gewesen, auf deren Grunde sie ein wundersames, fast unirdisches Leuchten wahrzunehmen geglaubt hatte. Und nun wartete sie mit sehnsüchtiger Ungeduld, daß sie sich abermals auftun möchten.

Es schien fast, als ob der Blick, der so unverwandt auf ihm ruhte, den Kranken irritierte. Er bewegte ein wenig den Kopf und ein heftiges Zucken der Lider bewies, daß der bisherige apathische Zustand von neuem zu weichen begann. Ein paarmal entrang sich ein leises Stöhnen seiner Brust und plötzlich sah Herta abermals die großen blauen Sterne auf sich gerichtet.

»Was ist das?« kam es schwach und tonlos von den bleichen Lippen. »Bin ich denn schon gestorben?«

»Nein – und Sie werden auch nicht sterben, sondern sehr bald wieder ganz gesund sein«, erwiderte Herta, indem sie ihr Gesicht dem seinen ganz nahe brachte, in seiner Sprache. »Leiden Sie große Schmerzen?«

Er lächelte und bewegte verneinend den Kopf. »Mir ist ganz wohl, aber ich glaubte, ich wäre tot und im Himmel.«

Herta wollte abermals etwas erwidern. Aber Schwester Monika, die an ihre Seite getreten war, legte die Hand auf ihre Schulter und mahnte:

»Sie dürfen nicht mit ihm sprechen, Fräulein von Lindow! Vollständige Ruhe ist für ihn jetzt das dringendste Bedürfnis.«

Aber der Patient würde ihre Antwort auch wahrscheinlich nicht mehr vernommen haben, denn das kurze Aufflackern seines Bewußtseins war schon wieder vorüber, und die Blässe, die sein Gesicht überzog, schien jetzt noch tiefer als vorhin.

»Es ist auch nicht gut, wenn Sie hier an seinem Bett sitzen bleiben,« fuhr die Pflegerin in ihrer sanften, aber darum nur um so bestimmter klingenden Aufrichtigkeit fort. »Man beunruhigt solche Kranken sehr oft schon dadurch, daß man sie ansieht.«

Eine kleine Unmutsfalte zwischen Hertas Augenbrauen zeugte davon, daß sie sich durch diese Zurückweisung verstimmt fühlte. Aber sie kam nicht mehr dazu, dieser Verstimmung Ausdruck zu geben, da in diesem Moment ein leises Klopfen vernehmlich wurde und gleich darauf das Gesicht der Geheimrätin in der Spalte der vorsichtig geöffneten Tür erschien.

»Was ist's?« fragte Herta. »Hat sich etwas Besonderes zugetragen?«

Aber die Tante antwortete ihr nur durch eine stumme winkende Gebärde. Und erst, als sie draußen im Vorzimmer außer dem Hörbereich der Diakonissin waren, sagte die Geheimrätin, deren tiefes Negligee erkennen ließ, daß sie durch irgend etwas aus dem Schlummer aufgestört worden war:

»Er ist da. Vor einer halben Stunde ist er gekommen.«

»Wer?« fragte Herta erbleichend. »Doch nicht mein Vater?«

»Gewiß – wer sonst als er. Er sagt, daß er schon mit dem Abendzuge eingetroffen sei, daß er aber bis Mitternacht gewartet hat, um von niemand gesehen zu werden. Er ist furchtbar ungehalten darüber, daß wir diesen fremden Menschen ins Haus genommen. Ich habe dich ja auch eindringlich genug gewarnt: doch du wolltest nicht auf mich hören.«

Mit einer ungeduldigen Bewegung warf Herta den schönen Kopf zurück. »Was frage ich nach seinem Unwillen! Warum hat er mich nicht von seiner bevorstehenden Ankunft benachrichtigt. Wenn er es infolgedessen jetzt schlecht getroffen hat, so ist es seine Schuld, nicht die meinige.«

»Er war sehr aufgeregt und ich hatte Mühe, ihn wenigstens einigermaßen zu beruhigen. Jedenfalls darfst du ihm nicht gleich mit dieser trotzigen Miene entgegentreten. Du weißt nicht, wessen man sich von ihm zu versehen hat, wenn er eine seiner jähzornigen Aufwallungen hat.«

»Pah, ich kenne ihn zur Genüge. Und ich fürchte mich nicht. Wohin hast du ihn geführt?«

»Er ist in meinem Zimmer. Und bis die unteren Räume für seine Aufnahme hergerichtet sind, wirst du mit ihm dort bleiben müssen. Aber ich bitte dich ums Himmels willen – keine laute Szene! In dieser nächtlichen Stille könnte sonst die Pflegerin leicht etwas von eurer Unterhaltung hören.«

Herta verschmähte es, ihr auf diese Warnung zu antworten, und sie ging raschen Schrittes durch mehrere Zimmer bis in das kleine, verhältnismäßig sehr einfach ausgestattete Gemach, dessen Fenster nach der Hinterseite des Hauses hinausging, und das der Geheimrätin als Boudoir diente.


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