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2. Kapitel

Relling hatte erwartet, draußen wieder der Geheimrätin zu begegnen, die ihn vorhin empfangen. Aber in dem ersten Zimmer, das er durchschritt, war niemand. Und als er den Vorhang aufhob, der den Rahmen der Verbindungstür mit dem nächsten Gemache abschloß, sah er sich nicht der stattlichen Matrone, sondern einer jungen Dame von höchstens zwanzig oder einundzwanzig Jahren gegenüber.

Es war dieselbe, die er einmal unten in den Straßen der Stadt in Begleitung der hübschen Zofe gesehen hatte, das erkannte er auf den ersten Blick. Aber er vermochte nicht zu begreifen, daß ihre Schönheit ihm damals nur einen so flüchtigen Eindruck hinterlassen hatte. Denn wie sie jetzt in dem rötlichen Licht der hohen Säulenlampe vor ihm stand, schien sie ihm eher einem herrlichen Kunstwerk von Meisterhand, als einem lebendigen Wesen zu gleichen. Das wundervolle Ebenmaß ihrer mehr als mittelgroßen, aber noch immer völlig mädchenhaften Gestalt, die edle Form des von einer Fülle lose geordneten tiefschwarzen Haares umgebenen Hauptes, die leuchtenden dunklen Augen, der feine kleine Mund mit den sinnlich vollen, brennend roten Lippen, das matte Elfenbeinweiß des Antlitzes und des aus dem leicht ausgeschnittenen Sommerkleid hervortauchenden, schlanken Halses vereinten sich zu einem so reizvollen Gesamtbilde, daß Relling, in dessen arbeitsvollem Leben die Frauen bisher nur sehr wenig bedeutet hatten, dieser Fülle weiblicher Holdseligkeit wie einer ganz neuen Offenbarung gegenüberstand.

Er mochte in seiner wortlosen Überraschung wohl einen etwas unbeholfenen und linkischen Eindruck machen, denn für einen Moment huschte es wie ein kleines liebenswürdiges Lächeln über das Gesicht des Mädchens. Aber in der nächsten Sekunde schon trat sie auf ihn zu und indem sie ihm ihre schmale weiße, mit mehreren funkelnden Ringen geschmückte Hand entgegenstreckte, sagte sie so unbefangen und herzlich, wie man sonst nur zu einem alten Bekannten spricht:

»Da meine Tante vorhin versäumt hat, mich zu rufen, komme ich erst jetzt dazu, Ihnen für Ihr Erscheinen zu danken, Herr Doktor! Aber mein Dank ist jetzt nur um so wärmer. Denn der Medizinalrat hat mir gesagt, wie aufopfernd Sie sich um unsern unglücklichen Gast bemüht haben und welchen Gewinn er von Ihrer Geschicklichkeit haben wird.«

Relling hatte die dargebotene Hand ergriffen und hatte ihren warmen Druck erwidert, aber es war ihm nicht in den Sinn gekommen, sie an seine Lippen zu ziehen, wie es ein besser geschulter Kavalier an seiner Stelle wahrscheinlich getan haben würde.

»Ob er wirklich einen Gewinn davon haben wird, mein gnädiges Fräulein, steht doch noch sehr dahin«, sagte er mit einer Aufrichtigkeit, die seiner Meinung nach nichts Schmerzliches haben konnte, da der Verunglückte doch diesem jungen Mädchen ein völlig fremder war. »Wir haben getan, was in unseren Kräften stand, aber das Gelingen ist nicht unserer Entscheidung anheimgestellt.«

»Oh, ich hege die zuversichtlichsten Hoffnungen, seitdem ich ihn in Ihrer Behandlung weiß. Wenn man so viel Gutes und Rühmliches von Ihnen gehört hat, wie ich, – –«

»Sie hätten Rühmliches von mir gehört?« fragte er erstaunt. »Und wo wäre das geschehen?«

»Sie meinen, weil ich Ihnen fremd bin und weil Sie meinen Namen heute vielleicht zum erstenmal gehört haben, müßten auch Sie mir ein Unbekannter gewesen sein? Aber es ist nicht so. Wir haben viel mehr gemeinschaftliche Freunde, Herr Doktor, als Sie vermuten.«

»Das ist mir allerdings einigermaßen verwunderlich. Denn ich war bisher der Ansicht, daß ich die Namen der Freunde, die ich mir in dieser guten Stadt erworben, recht wohl an den Fingern einer Hand herzählen könnte.«

»Es mögen allerdings durchweg Leute sein, auf deren Freundschaft Sie sehr geringen Wert legen. Denn sie gehören alle zu jenen Armen und Elenden, mit denen die Mehrzahl unserer glücklichen Mitmenschen nicht gern zu schaffen hat. Ich bin genötigt, ein bißchen Wohltätigkeit auf eigene Hand zu üben, nachdem die vereinsmäßig organisierte Menschenliebe Ihrer guten Gesellschaft für meine Mitarbeit keine Verwendung hatte. Da komme ich dann oftmals zu Leuten, die ein sehr feines Gefühl für wahre Humanität und echte Nächstenliebe haben, da sie ja den Unterschied zwischen heuchlerischem Pharisäertum und echter Herzensgüte an ihrem eigenen Leibe erfahren müssen. Und aus dem Munde solcher Leute habe ich Ihren Ruhm vernommen. Es hat mich oft danach verlangt, Sie kennen zu lernen, weil ich der Meinung war, daß wir vielleicht vereint manches Gute wirken können. Aber es hat mir, offen gestanden, bisher immer an Mut gefehlt, den ersten Schritt zu tun.«

Sie hatte rasch und lebhaft gesprochen, mit einer weichen, angenehmen Stimme, die Relling wie Musik in den Ohren klang. Er hatte sie immerfort angesehen, und während sie ihm Artigkeiten sagte, die ihn aus jedem andern Munde nur peinlich berührt haben würden, hatte er beim Anblick ihrer prächtigen, weißen Zähne gedacht, wie makellos und bis ins kleinste vollkommen doch ihre wundersame Schönheit sei. Nun, da sie schwieg, war er um eine Antwort verlegen. Und das, was ihm eben einfiel, konnte naturgemäß wenig danach angetan sein, sie zu befriedigen. Denn mit der rauhen Aufrichtigkeit, die ihm in einem harten Daseinskampfe eigentümlich geworden war, sagte er:

»Die Anerkennung und die sogenannte Dankbarkeit der Leute, von denen Sie da reden, mein gnädiges Fräulein, ist im Grunde herzlich wenig wert. Und ich fürchte, daß Sie meine Herzensgüte gewaltig überschätzen, wenn Sie glauben, daß ich mich nur aus reinster Menschenliebe mit der Armenpraxis befasse. Das gehört eben einfach zu den Pflichten des Berufes. Wenn ich an einem Krankenbett stehe, sehe ich eben nur noch den Patienten, und es ist mir verteufelt gleichgültig, ob er reich oder arm, hoch oder niedrig geboren ist. Im übrigen habe ich bisher kaum jemals den Eindruck empfangen, daß mich die Leute übermäßig lieben.«

Fräulein von Lindow lächelte.

»Vielleicht wagen sie es nur nicht, Ihnen das zu zeigen, denn Sie sind auch ein wenig gefürchtet, das will ich Ihnen nicht verhehlen. Und eben deshalb getraute ich mich bisher nicht, Ihre Bekanntschaft zu suchen. Nun aber, da dieser an und für sich so unglückliche Zufall uns einmal zusammengeführt hat, gebe ich Sie auch nicht so rasch wieder frei.«

Er wußte nicht recht, was er aus ihrem so freimütig entgegenkommenden Benehmen zu machen habe. Im allgemeinen war er den Frauen von freieren Manieren nicht sehr zugetan. Und er würde jeder anderen gegenüber wahrscheinlich die Empfindung gehabt haben, daß diese Schmeicheleien und dieses Anerbieten einer unverlangten Freundschaft in hohem Maße unpassend seien. Von den roten Lippen dieses bezaubernden Geschöpfes aber wirkte alles so ganz anders. Es war eine Frische und Natürlichkeit in ihrem Wesen, die gar keine Kritik aufkommen ließ, und zugleich eine Vornehmheit und Würde, die jede Mißdeutung ausschloß. Walter Relling entzog sich diesem Eindruck nicht, aber er konnte doch auch nicht vergessen, daß ihre Bekanntschaft erst nach Minuten zählte, und er war keine von den Naturen, die sich einem neuen Menschen sogleich frei und rückhaltlos zu geben vermögen.

»Wenn Sie glauben, mein gnädiges Fräulein, daß ich Ihnen irgendwie von Nutzen sein kann, so bitte ich über mich zu verfügen. Aber ich warne Sie noch einmal, meine Nächstenliebe allzu hoch einzuschätzen. Über die Grenzen meines ärztlichen Berufes hinaus kümmere ich mich nur sehr ungern um die Angelegenheiten meiner Mitmenschen.«

»Nun, es könnte doch sein, daß mir einige Beweise vom Gegenteil zur Kenntnis gekommen sind. Aber darüber können wir ja ein andermal sprechen. Jetzt handelt es sich vor allem um unseren Patienten. Seine Verletzungen sind sehr schwer?«

»So schwer, daß man sie ohne Übertreibung als lebensgefährlich bezeichnen kann.«

»Aber Sie rechnen trotzdem darauf, ihn durchzubringen?«

»Ich kann in dieser Hinsicht meine Hoffnungen nur auf die Stärke seiner Konstitution setzen. Und es scheint ja, daß sie eine vortreffliche ist. Diese Engländer, die von Kindesbeinen an die Kräfte ihres Leibes kultivieren, haben da vor anderen Sterblichen immer einiges voraus. Und Ihr Schützling zumal ist dem Aussehen nach ein junger Athlet.«

»Ich freue mich von Herzen, das zu hören. Als ich ihn vorher in seiner kraftvollen Schönheit vor mir sah, wollte es mir auch ganz unmöglich scheinen, daß er das Opfer eines so plumpen Ungefährs werden könnte. So grausam kann die Vorsehung doch nicht gegen eines ihrer bevorzugten Geschöpfe sein.«

Relling zuckte die Achseln.

»Nach dieser Richtung hin habe ich mir allerdings das Vertrauen in die Logik des Schicksals so ziemlich abgewöhnt. Sie haben die Angehörigen des Verunglückten bereits benachrichtigt?«

»Wir haben sogleich an die englische Botschaft in Berlin telegraphiert, da uns der Diener sagte, daß Mr. Stounton dort beschäftigt sei, aber die Eltern des jungen Mannes leben in England, und es dürfte darum immerhin einige Zeit vergehen, ehe einer seiner Angehörigen hier eintreffen kann.«

»Und so lange gedenken Sie ihn in Ihrem Hause zu behalten?«

»Ja, was sollten wir denn anderes tun? In Doktor Hellwigs Krankenhaus, das eigentlich ja nur ein Siechenasyl für die hilflosen Ortsarmen ist, können wir ihn doch nicht bringen. Und glauben Sie, daß er einen Transport in die Hauptstadt vertragen würde?«

»Es wäre sein sicherer Tod. Aber ich darf Ihnen nicht verhehlen, daß Sie viel Mühsal und Unbequemlichkeit von seiner Pflege haben werden.«

»Das erschreckt mich nicht. Und ich denke, es wird ihm bei uns an nichts fehlen. Der Medizinalrat sagte mir zu meiner Freude, daß Sie sich bereit erklärt haben, die weitere Behandlung zu übernehmen.«

»Da der Kollege es so wünschte, blieb mir wohl nichts anderes übrig.«

»Und wann dürfen wir auf Ihr Wiederkommen rechnen?«

»Wenn nicht besondere Umstände mein früheres Erscheinen notwendig machen, werde ich morgen früh nachsehen. Die Pflegeschwester ist übrigens von mir über alles Erforderliche instruiert worden.«

»So werde ich mir bei ihr Rats erholen, was ich zu tun habe, wenn ich sie in der Nachtwache ablöse.«

Relling blickte erstaunt auf die vornehme, aristokratische Erscheinung, die er sich durchaus nicht in der Rolle einer Krankenpflegerin vorzustellen vermochte.

»Wie, mein gnädiges Fräulein, Sie selbst wollten sich solchem Samariterdienst unterziehen?«

»Aber warum denn nicht?« lächelte sie. »Trauen Sie mir die nötigen Fähigkeiten nicht zu?«

Es lag ihm auf der Zunge, ihr zu antworten, daß er sie nach dem Eindruck, den ihre Persönlichkeit auf ihn gemacht hatte, jeder Leistung fähig halte, die zu vollbringen sie sich vorgenommen. Aber er hegte einen instinktiven Abscheu gegen alles, was wie eine leere Phrase klingen könnte. Und so sagte er mit einer Trockenheit, die beinahe etwas Unhöfliches hatte:

»Darüber habe ich selbstverständlich keine Meinung. Aber für diese erste Nacht dürfte es doch am zweckmäßigsten sein, wenn Sie alles der Erfahrung der Diakonissin überlassen. Ich weiß, daß sie unbedingt zuverlässig ist und sich auf dergleichen versteht.«

Wie ein leichter Schatten des Mißmuts glitt es über das schöne Gesicht des Mädchens. Aber wenn seine wenig verbindliche Erwiderung sie unangenehm berührt hatte, so wurde sie doch sehr schnell wieder Herrin über die verdrießliche Regung. Und als sie ihm nun zum Abschied wiederum die Hand reichte, war ihr Benehmen ganz so gewinnend freundlich, wie zuvor.

»Auf Wiedersehen, Herr Doktor! Und bleiben Sie eingedenk, daß Sie der Menschheit einen vielleicht mehr als gewöhnlichen Dienst erweisen, wenn sie ihr gerade diesen jungen Mann zu erhalten suchen.«

Ihre letzten Worte gingen ihm beständig im Kopfe herum, während er den Rückweg in die Stadt hinab einschlug. Es war etwas für ihn Peinliches darin gewesen, etwas, das ihn verstimmte. Wie in aller Welt kam sie dazu, anzunehmen, daß dieser junge Mensch, den sie doch nur im Zustande tiefster Bewußtlosigkeit gesehen, ein so kostbares Mitglied der menschlichen Gesellschaft sei! Sollte das Interesse, das sie an ihm nahm, die Opferwilligkeit, mit der sie sich sogar der ungewohnten und lästigen Arbeit einer Krankenpflegerin unterziehen wollte, doch noch andere Ursachen haben, als bloßes Mitleid? Erst jetzt fiel es ihm wieder ein, mit welcher Bewunderung sie von der kraftvollen Schönheit des Verunglückten gesprochen. Und es regte sich etwas wie Groll in ihm gegen den armen Verwundeten, an dessen Lebensfaden die Parze vielleicht schon ihre unbarmherzige Schere gesetzt hatte. Aber er schüttelte unmutig den Kopf, da er sich auf dieser Regung ertappte.

»Pah, was kümmert es mich, wenn sie ein Weib ist, wie alle anderen? Was habe ich mit diesem Fräulein von Lindow zu schaffen?«


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