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8. Kapitel

Kaum je in seinem Leben hatte sich Walter Relling in einem so unruhigen, zwiespältigen Gemütszustand befunden, und kaum je war er so wenig zufrieden gewesen mit sich selbst, als während der Tage, die seiner bedeutsamen Unterredung mit Herta von Lindow folgten. Mit aller Energie lehnte er sich gegen die Vorstellung auf, daß ihre Schönheit und der Liebreiz ihres Wesens sein Herz in Fesseln geschlagen hätten; aber all sein trotziges Widerstreben vermochte ihm das gestörte Gleichgewicht seiner Seele nicht zurückzugeben. Er nahm sich vor, nicht an sie zu denken, und doch tauchte zu allen Stunden des Tages ihre bezaubernde Gestalt vor ihm auf, doch glaubte er überall den süßen Wohllaut ihrer Stimme zu hören und ihre herrlichen Augen mit demselben feuchten Glanze, den er während jener Unterredung in ihnen wahrgenommen, auf sich gerichtet zu sehen. Er schob seine Besuche in der Villa Carla geflissentlich so weit als möglich hinaus, und doch zählte er in fieberhafter Unrast die Minuten, bis er seine Schritte jenem Ziel zulenken konnte.

Einmal hatte er sie am Bette des jungen Engländers gefunden, wie sie ihm aus einer für ihn eingetroffenen Zeitung vorlas. Es war ihm gewesen, als hätte ein ganz eigener Ausdruck des Entzückens auf Mr. Stountons hübschem Gesicht gelegen, und zu seiner eigenen Qual mußte er sich nun beständig ausmalen, wie vertraut sich möglicherweise während seiner Abwesenheit der Verkehr zwischen dem Patienten und seiner schönen, jungen Pflegerin gestalten möge. Es half ihm sehr wenig, daß er nicht müde wurde, sich einen Toren zu schelten, der sich von einem reizenden Gesicht und einem freundlichen Wort den Kopf verdrehen lasse, wie ein Student. Seine Gedanken kamen nun einmal nicht mehr von Herta los, und alles andere, was ihn sonst interessiert und beschäftigt hatte, verblaßte in seinem Geiste vollständig neben den leuchtenden Bildern, deren Mittelpunkt ihre holde Erscheinung bildete.

Heute war seine Sprechstunde stärker besucht gewesen als gewöhnlich, und rascher, als es sonst seine Art war, hatte er die Hilfesuchenden abgefertigt. Eben glaubte er den letzten Patienten angehört zu haben, als ihm das Mädchen zu seiner unangenehmen Überraschung meldete, es sei noch ein Herr da, der sehr dringend darum bitte, den Herrn Doktor noch sprechen zu dürfen.

»Lassen Sie ihn eintreten!« sagte er ziemlich kurz, und es war ein nicht gerade ermutigender Blick, mit welchem er den Besucher empfing. »Meine Sprechstunde ist eigentlich schon zu Ende und meine Zeit ist sehr knapp«, sagte er. »Wenn es sich also nicht um etwas Dringendes handelt, sollten Sie lieber morgen wiederkommen.«

Der Eintretende schien von dieser sonderbaren Begrüßung etwas eingeschüchtert. Er machte überhaupt den Eindruck eines Mannes, der sehr leicht einzuschüchtern sei. Von langer, hagerer Gestalt und eckigen Bewegungen, hatte er das Aussehen eines pensionierten Beamten oder Lehrers. Eine gewisse Zaghaftigkeit prägte sich in seinem ganzen Wesen aus, und zaghaft leise klang auch seine Stimme, als er erwiderte:

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, Herr Doktor, wenn ich ungelegen komme. Aber ich hatte so große Hoffnungen auf Ihren Rat gesetzt – und wenn Sie nur noch ein paar Minuten für mich erübrigen könnten –«

Mit ungeduldiger Handbewegung wies Relling auf den für die Patienten der Sprechstunde bestimmten Stuhl. »Nehmen Sie also gefälligst Platz. Womit kann ich Ihnen dienen?«

Behutsam stellte der Mann seinen blank gebürsteten Zylinderhut auf den Teppich, und ließ sich bescheiden auf eine Ecke des Stuhles nieder.

»Mein Name ist Bendemann, Herr Doktor, und ich möchte Sie wegen eines nervösen Magenleidens konsultieren, für das ich schon seit Jahren bei den verschiedensten Ärzten vergebens Heilung gesucht habe. Ich lebe nämlich nicht in dieser Stadt, sondern bin nur vorübergehend zum Besuch eines alten Freundes hier anwesend. Da hat man mir nun so viel von Ihrer Tüchtigkeit erzählt, daß ich mir sagte: wenn überhaupt noch jemand helfen kann, so ist es der Herr Doktor Relling.«

Die weitschweifige Redseligkeit des Mannes war wenig danach angetan, Rellings Laune zu verbessern. Er schnitt ihm die offenbar beabsichtigte ausführliche Krankengeschichte ziemlich kurz ab, indem er seinerseits zu fragen begann. Und schon nach kurzem Verhör hatte er die Überzeugung gewonnen, daß die vermeintliche Krankheit des Herrn Bendemann in der Hauptsache nur in seiner Einbildung bestand. Trotzdem fühlte er sich verpflichtet, die Untersuchung vorzunehmen, um die ihn der Patient in den dringendsten Worten bat. Und er konnte nicht verhindern, daß der Besucher während derselben aufs neue die Schleusen seiner höflichen Beredsamkeit öffnete.

»Ich hatte Ihren Namen schon vor meiner Abreise in den Berliner Zeitungen gelesen, Herr Doktor«, sagte er.

Und als Relling ihm daraufhin verwundert bemerkte, daß er sich da doch wohl in einem Irrtum befinden müsse, zitierte er ihm beinahe wörtlich den Artikel, in welchem von dem Unfall des jungen Botschaftssekretärs erzählt wurde, und in welchem auch der Name des Arztes, der ihm die erste Hilfe geleistet, rühmende Erwähnung gefunden. Wie es schien, interessierte sich Herr Bendemann für dieses Vorkommnis überhaupt in sehr hohem Maße. Er war offenbar ein etwas altmodischer Herr, dem der neue Automobilsport ein Greuel war und der in dem Unfall des jungen Diplomaten etwas wie eine gerechte Strafe menschlichen Fürwitzes erblickte. Außerdem aber verfügte der bescheidene alte Herr ersichtlich über eine ansehnliche Dosis von Neugier, denn er stellte eine Anzahl von Fragen, deren naive Indiskretion Walter Relling stark befremdet haben würde, wenn nicht das ganze Gebaren des Mannes so deutlich das Gepräge einer starken Beschränktheit gezeigt hätte. Vermutlich glaubte der Mann, sich ihm angenehm zu machen, wenn er ein so lebhaftes Interesse für den Fall Stounton bekundete und sich dabei nach allen möglichen nebensächlichen Umständen erkundigte. Anfangs hatte er ihm mit kurzem ja und nein geantwortet. Als Herr Bendemann schließlich aber auch zu wissen begehrte, ob es wahr sei, daß zwei ganz alleinstehende Damen sich des jungen Mannes angenommen hätten, und daß sich außer ihm kein männliches Wesen in der Villa Carla befände, riß ihm doch die Geduld, und er ließ den geschwätzigen Fragesteller durch eine sehr unzweideutige Erwiderung erkennen, daß er nicht gesonnen sei, weitere Auskunft zu geben. Ziemlich unverblümt teilte er ihm auch seine Meinung über die wahre Natur der eingebildeten Krankheit mit. Aber der freundliche, alte Herr zeigte sich von alledem nicht im mindesten gekränkt, und während er sich langsam ankleidete, ging er ganz unbefangen auf ein anderes Thema über.

»Wenn ich mir noch eine bescheidene Anfrage gestatten dürfte – der Herr Doktor sind mit den hiesigen Verhältnissen gewiß besser vertraut, als irgend jemand – ein Arzt kommt ja in so viele Häuser. Sollte Ihnen vielleicht zufällig eine anständige Familie bekannt sein, in der man für eine tüchtige Wirtschafterin Verwendung hätte? Ich habe meine Nichte hierher mitgebracht, ein sehr ehrenhaftes und gesetztes Mädchen von ungefähr dreißig Jahren. Sie ist schon in mehreren großen Haushaltungen tätig gewesen, und die Stadt gefällt ihr so gut, daß sie am liebsten hierbleiben möchte.«

Relling, der eben im Begriff war, ein Rezept für seinen Besucher niederzuschreiben, hatte anfangs nur mit halbem Ohr zugehört. Plötzlich aber fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, daß ihm hier vielleicht der Zufall die gewünschte Gelegenheit bot, dem immer peinlicher werdenden Verhältnis zwischen ihm und seiner Kusine Elisabeth ein Ende zu bereiten. Er hatte, ihrem Wunsche entsprechend, schon am Tage nach jenem Gespräch durch die Zeitung eine Haushälterin gesucht, aber es war bis zu diesem Augenblick keine einzige Meldung darauf erfolgt. Warum sollte er nicht die Gelegenheit wahrnehmen, die ein günstiges Ungefähr ihm jetzt zu bieten schien? Der geschwätzige und allzu devote Herr Bendemann war ihm nicht sehr sympathisch, aber er machte ihm doch den Eindruck eines anständigen Mannes, und schließlich sollte er ja nicht ihn, sondern seine Nichte ins Haus nehmen. Aber er wollte unter keinen Umständen ohne Elisabeths Vorwissen und über ihren Kopf hinweg disponieren. Wenn sie etwa inzwischen anderen Sinnes geworden war, so sollte es in ihre Hand gegeben sein, durch die Ablehnung der ins Auge gefaßten Nachfolgerin alles beim alten zu belassen.

Deshalb sagte er:

»Die Familien, in denen ich als Arzt verkehre, pflegen mich nicht mit der Besorgung von Haushälterinnen zu betrauen, aber es trifft sich eigentümlich, daß ich selbst augenblicklich eine solche Dame suche. Es wäre nicht unmöglich, daß wir da zu einem Einverständnis gelangen. Gedulden Sie sich bitte noch einen Augenblick.«

Er ging zur Tür und bat Elisabeth, die sich wie gewöhnlich nebenan im Wohnzimmer befand, auf einen Moment hereinzukommen. In kurzen Worten teilte er ihr mit, was er soeben von seinem Besucher erfahren und fragte sie, ob sie geneigt sein würde, mit der Nichte des Herrn Bendemann Rücksprache zu nehmen.

»Ich lege alles in deine Hand, liebe Elisabeth – denn du weißt, daß ich in solchen Angelegenheiten vollkommen unbehilflich bin und mir über die Eignung einer Bewerberin durchaus kein Urteil würde bilden können – vielleicht ersuchst du den Herrn noch um einige nähere Auskünfte und teilst mir später mit, zu welcher Entschließung du gelangt bist.«

In diesem Augenblick schlug die Haustürglocke so heftig an, als ob sie von einer besonders ungestümen Hand in Bewegung gesetzt worden wäre. Und Elisabeth entfernte sich so schnell, wie wenn es ihr nicht unwillkommen wäre, daß sie dadurch der Notwendigkeit einer sofortigen Antwort enthoben wurde. Gleich darauf erschien sie wieder in der offenen Tür.

»Das Hausmädchen des Fräulein von Lindow ist da und bittet dich, sofort nach der Villa hinaufzukommen.«

Ohne an die Gegenwart des fremden Mannes zu denken, rief Relling die Botin herein.

»Was ist geschehen? Hat sich Mr. Stountons Befinden etwa plötzlich verschlechtert?«

»Ich weiß nicht, Herr Doktor«, erwiderte das hübsche Stubenmädchen, das Relling gegenüber stets einen schnippischen Ton anzuschlagen beliebte. »Die Frau Rätin hat mich beauftragt, den Herrn Doktor zu rufen. Und ich glaube, es ist sehr dringend. Ob es sich aber um den Engländer handelt, oder um jemand anderes, kann ich nicht sagen.«

»Es ist doch nicht etwa das Fräulein selbst?« Und der Ton, in welchem Relling das fragte, bewies zur Genüge, mit welcher Bestürzung ihn der Gedanke an die Möglichkeit erfüllte, daß Herta seiner ärztlichen Hilfe bedürfe.

Um die Lippen des Mädchens zuckte denn auch ein eigentümlich verständnisvolles Lächeln. Doch ob sie wirklich nichts wußte, oder ob es ihr nur gefiel, den unhöflichen Doktor durch die Ungewißheit ein wenig zu quälen, jedenfalls wiederholte sie mit einem Achselzucken, daß sie nichts Bestimmtes sagen könne, weil sie seit mehreren Stunden in der Küche gewesen sei, und weil man ihr nicht mitgeteilt habe, um was es sich handle.

Ohne auch nur noch eine Sekunde zu verlieren, machte sich der junge Arzt hastig zum Fortgehen bereit. Herrn Bendemann und seine Nichte hatte er offenbar vollständig vergessen, denn er gönnte dem alten Herrn, der ein aufmerksamer Zuhörer des kurzen Gesprächs mit Lisette gewesen war, nicht einmal einen Abschiedsgruß.

»Der Herr Doktor wird, wie es scheint, durch diesen Fall sehr stark in Anspruch genommen«, sagte Herr Bendemann, als er mit dem jungen Mädchen allein war, im Tone ehrerbietiger Anerkennung. »Ich habe selten einen so gewissenhaften Arzt gesehen. Man erzählte mir, daß er täglich mehrmals nach der Villa hinauf müsse.«

»Man kümmert sich hier eben um alles«, erwiderte Elisabeth in ihrer kühlen, immer etwas abweisenden Art. »Wollen Sie nun vielleicht die Güte haben, mein Herr, mir etwas Näheres über die Dame mitzuteilen, die Sie meinem Vetter als Haushälterin empfehlen wollen.«

Und Herr Bendemann beeilte sich, ihrem Wunsche zu willfahren. Wenn Walter Relling ein Zeuge ihrer weiteren Unterhaltung hätte sein können, so würde er sicherlich vollkommen beruhigt darüber gewesen sein, daß Elisabeth die ihr übertragene Aufgabe sehr ernst nahm, und daß es keineswegs ihre Absicht war, unter allen Umständen den Platz, den sie bisher in seinem Hause innegehabt, zu behaupten.


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