Balduin Möllhausen
Der Vaquero
Balduin Möllhausen

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Neunzehntes Kapitel.

Wochen und Monate gingen dahin, ohne daß die friedliche Stille im Kingschen Hause eine ernste Störung erfahren hätte. Nach wie vor regierte die energische Korporalswitwe streng militärisch darin; nach wie vor beschäftigte King sich unermüdlich in der Werkstatt, wo Bertrand ihm vielfach Gesellschaft leistete. Er war noch stiller und einsilbiger geworden. Eine gewisse träumerische Ruhe wollte nicht aus seinem Wesen weichen. Sie grenzte zeitweise an Zerstreutheit, so daß Bertrand den Eindruck gewann, als ob er bereue, mit seinen Schilderungen aus vergangenen Tagen bis zur äußersten Grenze gegangen zu sein.

Bestärkt wurde er in diesem Verdacht dadurch, daß er offenbar geflissentlich vermied, auch nur einmal den Namen Pardelstein auszusprechen oder mit einem Wort an King Bobs Lage zu rühren.

Dieser erholte sich inzwischen unter der treuen Pflege Bells von Tag zu Tag schneller, und die Zeit war absehbar, in der er auf einem Pferderücken sich wieder heimisch fühlen würde. Wohlthätig wirkte zugleich dies Bewußtsein auf seine Stimmung ein, die nur dann vorübergehend eine Trübung erfuhr, wenn er King gegenüber trat und durch irgend einen Umstand an sein Verhältnis zu ihm erinnert wurde. Er nannte ihn zwar Vater, allein sorglos wie einst, bevor der wilde Unabhängigkeitssinn ihn zu beherrschen begann, klang es nicht. –

Früher als es sonst seine Gewohnheit, hatte King sich in sein Schlafgemach zurückgezogen. Bei ihm befand sich Bertrand, den er aufgefordert hatte, noch eine Stunde mit ihm zu verbringen.

»Durch Nacht zum Licht,« hob er eintönig an, nachdem sie einander gegenüber Platz genommen hatten. »Lange habe ich um einen Entschluß gekämpft und gerungen, jetzt aber will ich keine andere Nacht darüber hingehen lassen, mag es immerhin eine traurige Aufgabe für mich sein, ohne Ihnen vorher einen klaren Blick in Verhältnisse und Ereignisse geboten zu haben, die bis zur Stunde in undurchdringlichem Dunkel zu erhalten meine Aufgabe gewesen. Geschah es nicht früher, so ist es am wenigsten auf Mangel an Vertrauen zurückzuführen, vielmehr auf die mich bewegenden Zweifel über meine fernere Handlungsweise. Ist es doch der als verschollen geltende Felix Pardelstein selber, der jetzt zu Ihnen spricht –«

»Ich ahnte es, ich ahnte es,« fiel Bertrand in seinem maßlosen Erstaunen ein, »verwarf indessen den sich häufenden Widersprüchen gegenüber den Gedanken daran ebenso schnell wieder als ungereimt.«

»Widersprüche,« fuhr King mit einem schmerzlichen Lächeln fort, »die bestehen zu lassen mich oft die schwerste Ueberwindung kostete. Die näheren Umstände, die mich einst von der Heimat forttrieben, kennen Sie. Wohlbehalten erreichte ich mit meinem Söhnchen England, wo ich mich zur Reise über den Ozean rüstete. Zog ich die längere Fahrt auf einem Segelschiff einer Dampfergelegenheit vor, so bestimmte mich der dumpfe Drang, nicht zu bald in das mir unbekannte Treiben hineinzugeraten, wo, wie ich wähnte, die Wogen eines sich unaufhaltsam überstürzenden Weltverkehrs über mir und dem armen Kinde zusammenschlagen würden.

Kaum an Bord, lernte ich einen Schotten und seine Frau kennen. Auch sie besaßen einen Sohn, ein munteres Kerlchen, das, etwas jünger als mein Lothar, bei jeder Gelegenheit kindlich treuherzig mir seine Vorliebe zu erkennen gab.

Seit vier Tagen befanden wir uns auf See, als mein armer Junge erkrankte. Ihm zuliebe, für den Frau King – das war der Name der Familie – die zärtlichste Sorge trug, schloß ich mich enger an die guten Menschen an. Getreulich teilten sie sich mit mir in meine Befürchtungen und Hoffnungen; getreulich pflegte die junge Frau mit mütterlich leichter Hand den dahinsiechenden Kleinen und vertrat mich auf Stunden neben seinem Lager, wenn Jammer und Erschöpfung mich zu übermannen drohten. Doch wozu frommte alle Liebe, zu was die nimmer rastende Sorgfalt, mit der treue Augen die Atemzüge des kleinen Dulders überwachten? Zehn Tage schwankte die kindliche Seele zwischen dem schwächlichen Körper und den Wohnungen der Seligen, und dann – dann« – ein Schauder durchrieselte Kings oder vielmehr Pardelsteins Gestalt, sein Haupt sank auf die Brust. Er mochte indessen die auf ihm ruhenden Blicke schmerzlicher Teilnahme und banger Erwartung fühlen; denn wie von einem ihm vorschwebenden erschütternden Bilde sich gewaltsam losreißend, richtete er sich hastig empor und ruhiger floß von seinen Lippen: »und dann mußte ich mein Kind, meine einzige Hoffnung und Freude, dem Meere übergeben. Damit war das letzte Band gesprengt, das mich noch an die Welt fesselte. Grenzenlos war mein Schmerz. Was ich bei dem Gedanken litt, daß der vernichtende Schlag mir hätte erspart werden können, was ich litt, indem ich Vergleiche anstellte zwischen der Wirklichkeit und dem, was die rückwärts schweifende Phantasie vor mich hin rief, ist unbeschreiblich. Wähnte ich aber, fremdes Mitleid verschmähend, meinen Gram in mich verschließen zu können, so blieb das Mutterauge der Frau King nicht lange im Ungewissen über meine geistige Verfassung. Sie erriet vielleicht, daß den gänzlich Vereinsamten, der mit Gott und sich selbst zerfallen, nur ein leichter Entschluß von seinem Liebling tief unten auf schwarzem Meeresboden trennte. Und so rieben die beiden Gatten sich förmlich auf, mir freundlichen Trost zu spenden, meinen gebrochenen Mut neu zu beleben. Sogar ihren Kleinen wählten sie als Mittel, mich allmählich wieder mit dem irdischen Dasein auszusöhnen. Ahnungslos, daß sie mir dadurch das Herz zerfleischten, setzten sie den sich rührend zutraulich Anschmiegsamen auf meine Knie. Zum Schutzgeist erkoren sie ihn gewissermaßen, der mich vor einem letzten Schritt der Verzweiflung bewahren sollte. Und doch waren sie, die so menschenfreundlich Gesinnten, selbst des Trostes so bedürftig, daß ich nicht auf sie hinsehen konnte, ohne von Jammer durchzittert zu werden.

King, ein geschickter Mechaniker und Kunstschlosser, der daheim mit schweren Sorgen zu kämpfen gehabt hatte, befand sich nämlich in dem letzten Stadium einer unheilbaren Brustkrankheit. Beseelte ihn die Hoffnung, auf dem neuen Kontinent ergiebigeren Erwerb zu finden, so hatte die Zuversicht auf die heilende Wirkung einer langen Seereise seinen Entschluß, auszuwandern, zur Reife gebracht. Doch es sollte nicht sein. Denn Woche auf Woche ging zwischen Himmel und Wasser dahin, und mit jedem Tage wurde er elender und hinfälliger, bis er mir endlich heimlich eingestand, sein Ende nahen zu fühlen. Herzzerreißend waren die Klagen, daß nach seinem Hinscheiden die hinterlassene Witwe und ihr Kind in dem großen fremden Lande gänzlich hilflos daständen, herzzerreißend sein Flehen, mich ihrer zu erbarmen, sie mit Rat zu unterstützen, ohne den sie dem traurigsten Lose anheimfallen müßten.

Obwohl selbst bis zum Sterben gebeugt und belastet, hätte ich, ohnehin in Dankbarkeit den guten Menschen ergeben, die Empfindungslosigkeit eines Felsens besitzen müssen, um bei solchen Vorstellungen ungerührt zu bleiben. Es schwebte mir sogar vor, in der Sorge für die unglückliche Mutter und ihr Kind, in dessen zärtlich blickenden Augen ich die meines eigenen Sohnes zu erkennen glaubte, Ablenkung von meinem düstern Brüten zu finden, zugleich eine Aufgabe zu übernehmen, die meinem Leben einen Zweck und damit einen neuen, wenn auch nur geringen Wert verlieh. Feierlich gelobte ich dem Aermsten, seinen letzten Wunsch und Willen gewissenhaft zu erfüllen, zur Bekräftigung darauf hinweisend, daß mir selbst daraus eine wohlthätige Befriedigung erwachsen werde.

Von da an schloß ich noch herzlichere Freundschaft mit dem Kleinen. Wie auf King, blieb dies auch auf die ihre bangen Sorgen verheimlichende Mutter nicht ohne beschwichtigenden Einfluß. Unter heißen Thränen dankte sie mir immer wieder, so oft ich den munteren Knaben überwachte, während sie selbst in der Pflege des seinem Ende schnell entgegensiechenden Gatten sich verzehrte. Unendlich wohlthuend wirkte dann wieder auf mich ein, wenn ich beobachtete, daß King, schon seit Wochen ans Lager gefesselt, sich mehr und mehr beruhigte und mit dem Gedanken an das Unvermeidliche aussöhnte. Der Dank aber, den er mir in seinen traurigen, entsagenden Blicken darbrachte, wird mir unvergeßlich bleiben bis zum letzten Atemzuge.

Wie das Befinden derartig dem Tode Geweihter, je näher dem Abschluß, zuweilen um so lebhafter, sogar verheißend aufflackert, erging es auch King. Da benutzte er denn eine dieser guten Stunden dazu, abermals über seine bevorstehende Auflösung mit mir zu sprechen. Während seine Frau auf meinen Rat draußen auf Deck mit ihrem Liebling frische Luft schöpfte, händigte er mir seine und der Seinigen Familienpapiere ein. Beigefügt waren eine Anzahl Zeichnungen und Beschreibungen, die sich auf Erfindungen bezogen, wie solche bei Ausübung des Gewerbes aus seinem Kopf hervorgegangen waren. Nur eine war vollständig erläutert, wogegen andere noch des Prüfens und Vervollständigens bedurften. Alle übergab er mir mit der Bitte, zu versuchen, ob sie in dem neuen Weltteil eine günstigere Beurteilung erfahren würden, als ihnen in der Heimat zugewendet wurde. Auch das sicherte ich ihm zu, mich zu seiner Befriedigung darauf berufend, schon im Knabenalter, zwar nur spielend, mit Mechanik mich eifrig beschäftigt zu haben.

Abermals gingen einige Tage dahin, und die Fahrt zweier Wochen trennte uns noch von New York, als ich des Nachts an das Lager des Sterbenden gerufen wurde. Ich kam gerade noch früh genug, um einen letzten matten Händedruck von ihm in Empfang zu nehmen und das ihm erteilte Versprechen aus vollem Herzen zu erneuern. Er hatte mich verstanden; das verkündete der eigentümliche Zug des Friedens, der auf seinem abgezehrten Antlitz erstarrte.

Der Knabe schlief. Es störte mich also nichts, der verzweifelnden Witwe meine Aufmerksamkeit ausschließlich zuzuwenden und sie vor allen Dingen über die Zukunft ihres Kleinen zu beruhigen. Auf meine Beteuerung, ihn an Kindesstatt anzunehmen, wurde sie gefaßter, so gefaßt, daß es mich beängstigte. Sie herzte und küßte ihn wohl, jedoch trockenen Auges und wie geistesabwesend. Dann übergab sie ihn mir, um bei den Vorbereitungen zur Bestattung des Toten mit Hand anzulegen und ihm den letzten Liebesdienst zu erweisen.

Es war unterdessen Tag geworden und das unabweisliche Ereignis, dessen ich mit Bangigkeit gedachte, sollte stattfinden. Als man die in Segeltuch eingenähte Leiche auf Deck schaffte, nahm ich den Knaben auf den Arm, bevor er deren ansichtig geworden. Um ihn nicht Zeuge des Versenkens und der etwaigen Wehklagen der Mutter werden zu lassen, ging ich mit ihm nach dem Vorderschiff hinüber. Ich hörte noch das kurze Gebet, das der Kapitän über den auf einem Brett nach der Brüstung hinaufgeschobenen Toten hin verlas. Es folgte das Brausen, unter dem die Fluten sich über dem Hinabgesendeten schlossen. Gleich darauf wiederholte sich das unheimliche Geräusch, und über das Schiff hin schallte der durch Mark und Bein dringende Ruf: »Mann über Bord!«

Wem er galt, ich brauchte nicht danach zu fragen. Jede andere Rücksicht, selbst die Liebe zu ihrem Kinde mißachtend und den Eingebungen wilder Verzweiflung nachgebend, war die Mutter dem Gatten in die Ewigkeit gefolgt, ich selbst aber der väterliche Beschützer des verwaisten Knaben geworden.

Als wir vierzehn Tage später landeten, hatte der kleine Robert sich bereits so eng an mich angeschlossen, daß er nach Mutter und Vater kaum noch fragte. Es verwischten sich die Erinnerungen an sie um so schneller, nachdem er sich daran gewöhnt hatte, mich Vater zu nennen. Und was im Bereich meines Könnens lag, ihm die Eltern zu ersetzen, das bot ich redlich auf.

Ich übergehe, zu welchen Mitteln ich griff, die letzten Spuren hinter mir zu verwischen und in der Heimat zu den Verschollenen gezählt zu werden. Aus der Doppelgestalt, in der ich anfänglich auftrat, ging ich schließlich als der Kunstschlosser Thomas King hervor. Dann bewirkte ich durch den Wechsel meines Wohnsitzes ohne Mühe, daß die anfänglich bedachtsam geschürten Gerüchte, den Sohn des verschwundenen Pardelstein angenommen zu haben, verstummten. Der junge Robert King fuhr freilich am besten dabei; denn nichts verabsäumte ich, das auch nur entfernt zu seiner Wohlfahrt und Sicherstellung seiner Zukunft beitragen konnte. Zu statten kam mir nebenbei, daß ich, um die Hinterlassenschaft des verstorbenen King mit Gewinn auszunutzen, gewissermaßen gezwungen war, das Schlosserhandwerk zu erlernen. Dann gingen die Jahre ziemlich eintönig dahin. Die Arbeit mit ihren überraschenden Erfolgen wehrte dem Versinken in düstere Grübeleien. Es erquickte mein Auge der Anblick meines Schützlings, der zu einem Hünen heranzureifen versprach, wovon freilich die herbe Frage an das Schicksal unzertrennlich blieb, weshalb es nicht mein eigener Sohn, der die Leere an meiner Seite ausfüllte.

Das ist also der vermeintliche Lothar v. Pardelstein. Ließ ich Sie bis zur jetzigen Stunde in der irrigen Ueberzeugung, so weiß ich, daß Sie der letzte wären, mein Verfahren vielleicht nachträglich noch zu verurteilen.«

Bertrand, noch immer unter dem förmlich betäubenden Eindruck der ungeahnten Aufschlüsse, verneigte sich zustimmend. Vor seinem Geiste zogen die Ereignisse vorüber, die ihn in nähere Beziehung zu King Bob brachten. Es erstand vor ihm die Gestalt des verwegenen Steppenreiters. Er vergegenwärtigte sich das Rätselhafte in dem Verkehr des stillen Kunstschlossers mit seinem Pflegesohn, wie in dem Wesen des jungen Mannes, der seiner Herkunft sich bewußt zu sein glaubte und die ihm durch Geburt vermeintlich zugefallenen Rechte und Bevorzugungen mit Hohn zurückwies, und dahin sank die heimliche Scheu vor dem ersten Zusammentreffen mit seiner Gönnerin.

»Die reichen Mittel, die mir aus den patentierten Erfindungen heute noch zufließen,« nahm Pardelstein nach einer Pause trüben Sinnens seine Mitteilungen wieder auf, »boten nur dürftigen Ersatz für das, was während der vielen Jahre unablässig an meinem Gemüt nagte und zehrte. Um so höher schätze ich dafür, durch sie befähigt worden zu sein, das dem verstorbenen King und seiner Frau mit in den Tod hinein gegebene Versprechen verhältnismäßig glänzend zu lösen.

Durch Nacht zum Licht. Meine Aufgabe auf dieser Seite des Ozeans ist gelöst, eine andere trat an deren Stelle, eine Aufgabe, die erheischt, sie zu begleiten. Bringe ich aber durch mein Erscheinen vor der Teuren nur oberflächlich verharschte Wunden wieder zum Bluten, so steht dem der unheilbare Gram gegenüber, der sich täglich erneuerte, so oft ich meinen Pflegesohn, dieses Urbild männlicher Kraft und Schönheit, bewunderte und ihn unwillkürlich mit einem zarten hinfälligen Kinde verglich, dem ich einst mit zitternder Hand die erloschenen Augen zudrückte. Ein stilles Winkelchen in ihrer Nachbarschaft, wo ich Gelegenheit finde, zeitweise im Verkehr mit ihr den ermüdeten Geist zu erquicken und das gealterte Herz zu erfrischen, ist das einzige, das ich noch ersehne. Verrauschten aber die einst glückverheißenden Hoffnungen, verwehten die holden Träume unter den über sie hinwegströmenden Zeiträumen, so blickt dafür um so klarer das geistige Auge. Nicht mehr gehemmt durch jugendliche Ueberschwenglichkeit, entscheidet der Kopf, wo früher das Herz allein sprach. Sind es aber keine duftenden Blüten, aus denen wir Kränze der Erinnerung winden, so mögen es unverwelkliche Immortellen sein, mit denen wir die Gräber unserer holdesten Lebenshoffnungen schmücken.«

Mit dem letzten Wort erhob er sich. Bertrand verstand ihn und schickte sich zum Gehen an. Bis vor die Hausthür hinaus gab Pardelstein ihm das Geleite. Schweigend trennten sie sich. Was sie bewegte, verriet der Druck, mit dem ihre Hände sich suchten.

 

Der Winter war dahin, der Weckruf des Frühlings sollte erklingen, und es nahte der Tag, an dem die in Kings Hause Vereinigten zum letztenmal Auge in Auge einander gegenüber treten sollten. Westlich zog es King Bob und Bell mit unwiderstehlicher Sehnsucht; östlich stand der Sinn Pardelsteins und Bertrands, wogegen Mutter Hickup ihre Häuslichkeit so weit vergrößerte, daß Independence und ihr Auserkorener zu jeder Stunde ihre gemeinschaftliche Wohnung bei ihr fanden. Eine Woche vor dem zum Aufbruch bestimmten Termin wurde ihre Hochzeit in würdiger Stille gefeiert. Die eindringlichen Worte des Geistlichen erhielten demnächst noch eine besondere Bekräftigung durch Mutter Hickup, die unter Thränen der Rührung die guten Lehren über die einer jungen Frau geziemende Subordination und die Ehestandskriegsartikel im allgemeinen mit einem angemessenen Vorrat charakteristischer Weisheitssprüche aus dem Goldschatz des unsterblichen Korporals Knockhimdown durchschoß. Dann ging alles seinen gewohnten ruhigen Gang weiter, als ob höchstens ein milder befruchtender Regenschauer über das Haus und dessen Umgebung hingezogen wäre. Nur die Vorbereitungen zur Abreise beider Parteien wurden mit erhöhtem Eifer betrieben.

King Bob und seine schöne junge Frau waren die ersten, die ihre Fahrt den Missouri hinauf antraten. Zwei Tage vorher hatte Pardelstein seinen nunmehr wieder gänzlich hergestellten Schützling zur späten Abendstunde zu sich entboten. Zunächst händigte er ihm zu seinem starren Erstaunen einen auf seinen Namen und Santa Fe in Neumexiko lautenden Wechsel über achtzehntausend Dollars ein, mit dem Rat, das Geld in Grundbesitz oder zur Vergrößerung seines Viehstandes anzulegen. Dann vertiefte er sich in eine lange Erzählung, da beginnend, wo er ihn als hilflosen Knaben an sich kettete. Ueber seine Geburt erteilte er ihm die weitreichendste Auskunft. Zugleich übergab er ihm die darauf wie auf seine Eltern bezüglichen Papiere. Ferner rief er ihm ins Gedächtnis, wie er seiner Erziehung die peinlichste Aufmerksamkeit zugewendet habe, die Erfolge seiner Mühen und Sorgen zwar hinter den gehegten Erwartungen zurückgeblieben seien, er aber trotz mancherlei Täuschungen die Wendung nicht beklage, die sein Leben genommen habe. Er sei glücklich geworden, das genüge. Gelöst sei das seinen Eltern verpfändete Wort, und um die letzte Bitterkeit von ihm auszuscheiden, beteuerte er, was auch immer an bösen Erfahrungen er über sich habe ergehen lassen: es sei vergeben und vergessen. Ein herzliches, freundliches Andenken sei alles, was er von ihm erwarte.

Während dieser Mitteilungen hatte King Bob anfänglich schüchtern, dann aber mit wachsendem Erstaunen gelauscht. Ernste Teilnahme prägte sich in seinen Zügen aus. Je weiter Pardelstein mit seinen Schilderungen gelangte, um so auffälliger trat ein eigentümliches Gepräge aufrichtiger Bewunderung und Dankbarkeit auf seinem Antlitz zu Tage, bis endlich Rührung es nur noch allein beherrschte. Immer wieder drückte er des väterlichen Freundes Hände, aus überströmendem Herzen beteuernd, daß nunmehr die letzten Zweifel von seinem Gemüt gewichen seien, kein beglückenderes Los ihm habe zufallen können, als es ihm von dem treuen Beschützer über alle Hindernisse hinweg bereitet worden.

»Das höre ich gern von dir,« versetzte Pardelstein schwermütig, »es bedarf daher wohl nur einer Andeutung, um zu erreichen, daß du weder Mutter Hickup noch Independence mit dem vertraut machst, was zwischen uns zur Sprache kam. Von dem Gelde magst du ihnen erzählen, und ich weiß, sie freuen sich darüber; dagegen bleibst du vorläufig noch für sie mein leiblicher Sohn, schon allein um der unzähligen Fragen willen, mit denen sie in ihrer Teilnahme uns umbringen würden. So sollen sie auch erst nach meiner Abreise erfahren, daß dieses Grundstück ihr unumschränktes Eigentum geworden ist.«

Mitternacht war längst vorüber, als sie sich voneinander trennten. Draußen strichen die ersten Frühlingslüfte durch die kahlen Wipfel des Hains. Der nahe Missouri rauschte geheimnisvoll, indem er, durch Aufnahme unberechenbarer Schneegewässer bis beinahe zu den Uterrändern emporgewachsen, die nachgiebigen Lehmwände eifrig benagte. Hin und wieder krachte und polterte es dumpf, wenn die auf seinem langen Wege entwurzelten Baumstämme wie die Trümmer zerstörter Treibholzinseln heftig zusammenstießen, gleichsam Arm in Arm weiterglitten oder, von der Strömung fester gepackt, herumschwangen und sich wieder voneinander trennten. Das Haus lag still. Es schien zu träumen von den nicht allzufern vor ihm liegenden Zeiten, in denen massive Bauwerke und Kunststraßen es gewissermaßen verschlingen sollten.

Es ist Sonntag. Bruthitze verkündend, entsendet die Frühsonne ihre schrägen Strahlen über die Provinz Neumexiko. Der nächtliche Tau ist noch nicht vollständig verdunstet. Die von Pferden und Rindern belebten weitgedehnten Grastluren scheinen zu dampfen. Wie ein Flor hängt es vor dem blauen Santa Fe-Gebirge. Nahe der unregelmäßigen Waldgrenze taucht hie und da ein Rancho auf. Ein größeres Gehöft lehnt sich gewissermaßen an einen gesonderten Hain.

Vor dem aus ungebrannten Ziegeln errichteten geräumigen, würfelähnlichen Wohnhause im Schatten der breiten Veranda sitzen Howitt und seine alternde Lebensgefährtin. Schon zur frühen Morgenstunde sind sie von ihrem, eine Viertelstunde entfernten Rancho herübergekommen. Andächtig waren sie einhergeschritten, als hätten sie sich auf dem Wege zur Kirche befunden. Zwischen den Knieen Howitts, noch immer das Urbild eines granitenen Squatters, steht ein vierjähriger blondgelockter Knabe, in kindlich zutraulicher Weise plaudernd und erzählend. Aufmerksam, als wären die kleinen Rosenlippen des Born ewiger Weisheit gewesen, lauscht Howitt. Immer wieder gleitet die harte Hand schmeichelnd über das dichte weiche Seidenhaar des Kleinen, und wo nur immer thunlich, nennt er ihn seinen eigenen Adam. Ein noch jüngerer Knabe sitzt auf der Großmutter Schoß und läßt als King Bob deren Liebkosungen mit unerhörtem Gleichmut über sich ergehen. Vor den alten Leuten steht Bell, auf den Armen ein liebliches kleines Mädchen, Bell in der vollen Anmut einer glücklichen Hausfrau und Mutter. Der Stolz, der sie angesichts der freundlichen Gruppe erfüllt, weicht allmählich vor einem träumerischen Ausdruck. Sie mag sich die Stunde vergegenwärtigen, in der sie mit ihrem Auserkorenen aus dem elterlichen Hause fortgewiesen wurde, sich fragen, ob der vor ihr sitzende alte Mann wirklich derselbe, der einst seine Vatergefühle grausam verleugnete.

Wohl hatte die Trauer um den ihm meuchlerisch entrissenen Sohn an seinem Herzen genagt und dem verwitterten Gesicht das Gepräge tiefer Schwermut verliehen, doch nur so lange, bis sie ihm ihren Erstgeborenen darreichte, und dieser wie ein vom Himmel entsendeter Ersatz gerührt in Empfang genommen wurde.

»Wo mag Bob zur Zeit weilen?« fragt sie, eine kurze Pause in dem Geplauder der beiden Knaben ausnutzend.

»Er muß am Missouri eingetroffen sein,« antwortet Howitt. »Zwei Monate wird er so ziemlich mit dem Ochsengespann gebraucht haben.«

»Ob aber wohlbehalten?« meint Bell besorgt.

»Wohlbehalten,« entscheidet Howitt, »wer um die Wohlfahrt eines King Bob bangt, unterschätzt ihn, rechne ich.«

Durch die Entfernung gedämpft, tönt das Läuten der Kirchenglocken von Santa Fé herüber.

Howitt neigt das Haupt und sieht ernster auf seinen Liebling. Wie segnend ruht die schwielige Hand auf den lichtblonden Locken. Nachdem ihm im Laufe vieler Jahre in abgeschiedener Wildnis das Glockengeläute fremd geworden, kann er es nicht mehr hören, ohne jedesmal tief ergriffen zu werden. Umringen ihn nicht die schweren Mauern des Gotteshause und hört er nicht die frommen Worte des Geistlichen, so ist ihm doch, als habe er, in andächtiges Gebet versunken, vor einem Altar gekniet. Und der Himmel wölbt sich ja so blau und klar über ihm, und die Luft ist voll Sonnenschein. In dem nahen Hain singen und zwitschern die sorglosen Vögel ihre Jubellieder. Wie aus lichten Höhen, den Wohnungen der Seligen entsendet, schmiegen die kosenden Kinderstimmen sich zärtlich an sein altes Herz an.

 

Der Tag, der in weiter Ferne King Bobs Angehörige unter dessen Dach einte, neigt sich dem Ende zu. Die sinkende Sonne blickt über den Missouri hinüber und vergoldet das Schindeldach des Hauses des alten Kunstschlossers und über dieses hinweg die Wipfel des schattigen Hains. Einzelne Strahlen sendet sie zwischen den Stämmen hindurch, wie die glücklichen Menschen suchend, die sich in heiterem Verkehr um den Tisch reihen.

Den Ehrenplatz in der rechten Bankecke hat Mutter Hickup eingenommen. Neben ihr sitzt King Bob, das Bild eines selbstbewußten Karawanenführers. Von Kansas, der Endstation, hat er sich auf einige Tage fortgestohlen, um seinem alten Drachen einen kurzen Besuch abzustatten. Ihnen sitzen gegenüber der lustige Jerry, zur Zeit Prokurist, und seine Frau, das mannhafte liebliche Soldatenkind. Abseits auf dem Rasen tummeln sich ein vierjähriger Knabe und ein dreijähriges Mädchen mit dem noch immer erträglich rüstigen Kornett.

King Bob hat eben die letzten, nicht mehr ganz jungen Briefe Pardelsteins vorgelesen, die von seinem und der zu ihm Gehörenden Wohlergehen zeugten. Daran anknüpfend, bemerkt er:

»Mir erscheint es noch immer wie ein Märchen, daß der stille, anspruchslose Schlossermeister sich plötzlich in einen hochgeborenen Herrn umwandelte.«

Mutter Hickup nimmt die Pfeife aus dem Munde, streicht ihr kurzes, fast ganz weißes Gelock mit einer ähnlichen Würde wie einst der berühmte Korporal seinen Schnurrbart und erklärt gelassen: »Ob Edelmann oder Grobschmied: auf das Innere kommt es an, wie schon der selige Knockhimdown zu sagen pflegte, wenn er eine erblindete schäbige Flasche auf ihren Inhalt prüfte.«

»Und darin war er groß, was ihm sogar im Himmel noch angerechnet wird,« fügt King Bob verschmitzt lächelnd hinzu.

Mutter Hickup wirft Independence einen bezeichnenden Blick zu, die alsbald ins Haus eilt, und mit der Pfeife über die Schulter auf King Bob weisend, fährt sie zu Jerry gewendet fort: »Immer noch der alte: verwegen, großmäulig und gottesfürchtig, und so wird's bleiben bis zum letzten Appell. – Knockhimdown!« ruft sie zu den Kindern hinüber.

Der Name ist kaum ihren Lippen entflohen, als der Knabe emporschnellt, spornstreichs zu ihr eilt und sich militärisch in die Brust wirft.

Mutter Hickup kehrt sich King Bob zu, und mit einer Strenge, aus der ihr inniges Behagen hervortönt, hebt sie an: »Das nennt man Disziplin, wie ich wünsche, daß das Goldkind, die Bell, sie dir allmählich eindrillen möge. Von dem unschuldigen Bürschchen aber magst du lernen, wie man beim Aussprechen eines großen Ehrennamens salutiert. Aber freilich, mancher lernt's nie, behaupte ich.«

Noch lacht man, Beifall spendend, als Independence erscheint und eine Flasche nebst Gläsern auf den Tisch stellt. Die letzten Worte der Mutter hat sie gehört, und deren Seltsamkeiten freundliche Rechnung tragend, bemerkt sie zuvorkommend: »Ein kräftiger Trunk außer der Zeit ist besser als den ganzen Tag gar nichts.«

Den Hut höflich lüpfend, fügt King Bob feierlich hinzu: »Wie schon der selige Knockhimdown behauptete, wenn er zwischen dem ersten und zweiten Frühstück einen Grog mischte.«

Mutter Hickup nickt geschmeichelt. »Ein großes Wort, ein wahres Wort,« bestätigt sie, während sie die Flasche entkorkt und die Gläser füllt, und nach der Pause einer Minute das ihrige ergreifend, fährt sie fort: »Der erste Tropfen dieses edlen Madeiras gilt dem Andenken unseres unvergeßlichen Wohlthäters King v. Pardelstein, ihm und seinem jungen Freund Bertrand, dessen lieblicher Frau und ihrem hübschen Kindersegen. Dann aber der Erfüllung meines Wunsches, das Goldkind samt der ganzen Nachkommenschaft vor meinem Altwerden noch einmal wiederzusehen.«

Die Gläser klirren. Der kleine Knockhimdown und dessen herbeigeeilte Schwester arbeiten sich unter dem Jubelgebell Kornetts nach dem Schoß der Großmutter hinauf, und dann folgt ein Herzen, Würgen und Mißhandeln, daß die tapfere Korporalswitwe, vor Wonne halb erstickt, in ihrer Not nicht weiß, wo sie mit der hochgehobenen brennenden Pfeife und dem in der anderen Hand gehaltenen halbvollen Glase bleiben soll.

Die Sonne ist unterdessen tiefer hinabgesunken, infolgedessen sie zwischen den Stämmen hindurch eine freiere Aussicht gewinnt. Jetzt scheint sie still zu stehen, um, nachdem sie im Laufe des Tages auf ihrer Wanderung so viel Leid und Verrat unter dem ewig hadernden Menschengeschlecht beobachtete, vor dem Schlafengehen sich noch einmal so recht mit Muße an einer Scene heiligen Friedens und ungetrübten Glückes zu weiden. Sie hat ihren blendenden Strahlenkranz abgelegt, ist vor Freude ganz rot geworden.


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