Balduin Möllhausen
Der Vaquero
Balduin Möllhausen

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Siebzehntes Kapitel.

Die vier Mordgesellen hatten unterdessen den Hinterhalt verlassen, blieben aber noch im Schutze des in das Thal hineinragenden Strauchwerkes. Da sie vergeblich nach den beiden Vaqueros spähten, deuteten sie deren jähes Verschwinden als Flucht. Es wäre in solchem Falle ein leichtes gewesen, jetzt, nachdem sie King Bob fallen sahen, sich der Squattertochter zu bemächtigen. Im Begriff, nach dem jenseitigen Ufer hinüberzueilen, hemmten sie ihre Schritte, als aus der Schlucht ein unheimlicher Schrei zu ihren Ohren drang. Unentschlossen blieben sie stehen. Sobald aber der Schrei sich wiederholte und, wie ein entfliehendes Leben in sich bergend, verstummte, eilten sie in die Mündung zurück. Sie konnten nur argwöhnen, daß Freunde ihres unglückseligen Opfers eingetroffen seien und Margin bereits unter deren Händen sein Leben aushauche. Sich offen zu zeigen wagten sie daher nicht, sondern Deckung zwischen dem auf der Schluchtsohle wuchernden Gebüsch suchend, schlichen sie behutsam Schritt um Schritt in der Richtung davon, in der ihre Pferde standen, um, wenn es noch nicht zu spät, vor allen Dingen sich ihrer zu versichern. –

Die beiden Vaqueros hatten am wenigsten an Flucht gedacht. Ebenfalls ihren Weg sorglos verfolgend, wurden sie durch den ersten Schuß aus ihrem Gleichmut autgeschreckt. Wo er abgefeuert worden war, verriet ihnen das oberhalb eines Strauches zerrinnende Rauchwölkchen, wem er aber gegolten hatte, ging aus den Bewegungen King Bobs unzweifelhaft hervor. Anstatt ihnen zu folgen und sich ebenfalls den aus sicherem Hinterhalt entsendeten Kugeln auszusetzen, sprengten sie nach dem nördlichen Abhange hinüber, wo sie sich außerhalb des Gesichtskreises der verräterischen Angreifer befanden. Dort trugen ihre Mustangs, jede Unebenheit des schroffen Uferwand katzenartig ausnutzend, sie binnen kürzester Frist nach der Ebene hinauf.

Bevor sie deren Rand erreichten, fiel der zweite Schuß. Doch erst nachdem sie eine Strecke in vollem Jagen geritten waren, um den verborgenen Feinden in den Rücken zu kommen, belehrten der dritte Schuß und das darauffolgende Wehklagen Bells sie, daß King Bob tödlich getroffen worden sei. Zugleich entdeckten sie über das die Schlucht umsäumende Gestrüpp hinweg eine unbestimmte Bewegung.

Wähnend, von dort her bedroht zu werden, spornten sie ihre Pferde darauf zu. Ein halbes hundert Schritte trennte sie noch von der verdächtigen Stelle, als sie Margins ansichtig wurden.

Durch das Geräusch der eigenen, unruhig gewordenen Pferde gehindert, den nahenden Hufschlag zu unterscheiden, war er plötzlich mit Kopf und Schultern oberhalb des Uferrandes aufgetaucht. Das Gesicht hatte er in unverkennbarer Bestürzung rückwärts der Schluchtsohle zugekehrt, von wo aus er von Rabbit mit der angelegten Büchse bedroht wurde. Trotz der Warnung, beim ersten Schritt nach der Ebene hinauf eine Kugel zugesendet zu erhalten, strebte er verzweiflungsvoll, den Uferrand zwischen sich und den jungen Mandanen zu bringen. Sah er die beiden Reiter, die ihre Büchsen vor sich auf dem Sattel trugen, so hielt er sie für ungefährlich, oder das Entsetzen hatte ihn des Denkvermögens beraubt. Denn anstatt Rabbits Aufforderung Folge zu geben, schwang er sich über den letzten Absatz ganz nach oben, wo er, um das Gleichgewicht kämpfend, auf den Knieen liegen blieb und nach einem Halt für die Hände suchte. Rabbit hatte dagegen von ihm abgelassen, sobald der eine Vaquero eine kurze Strecke abwärts oberhalb des Ufers erschien und durch seine Bewegungen den beabsichtigten Angriff auf Margin verriet.

Dieser mochte, da von unten kein Schuß erfolgte, sich bereits für gerettet halten, übersah aber, daß der eine Reiter, nach dem Beispiel Rabbits ebenfalls das Geräusch eines sich entladenden Gewehrs vermeidend, mit flinkem Griff den Lasso vom Sattelknopf nahm und beinahe ebenso schnell die geöffnete Schleife in Ringform über seinem Haupte kreisen ließ. Erst als er in vollem Rennen einen Kreis beschrieb, der ihn auf etwa zehn Ellen vor Margin vorüberführte, sah dieser verstört auf. Und noch immer ahnte er nicht, was ihm bevorstand, nicht einmal die Schlinge bemerkte er, die mit Blitzgeschwindigkeit die Luft durchschnitt und mit unglaublicher Genauigkeit um seinen Hals fiel.

Dann gab es freilich kein Zweifeln mehr. Sein unabwendbares Ende vor Augen, versuchte er unter Ausstoßen eines grauenhaften Hilferufes, sich von der Schlinge zu befreien, erreichte indessen nur, daß seine Finger miteingeschnürt wurden. Ein zweiter Schrei wilder Todesangst entwand sich seiner Kehle, als der Vaquero sein Pferd herumwarf und, den Lasso um den Sattelknopf windend, durch den heftigen Stoß ihm das Genick ausrenkte und ihn noch eine Strecke hinter sich her schleppte.

Von dem ersten Erscheinen Margins bis zu dem Zeitpunkt, in dem der Vaquero, die Schleife lockernd, sein Pferd von der Last des Entseelten befreite, waren kaum zwei Minuten verstrichen. Dann griff auch er zur Büchse, und dem Gefährten sich zugesellend, ritt er mit ihm langsam der Schluchtmündung zu. Ueber das Thal hinweg unterschieden sie, daß King Bob regungslos auf dem Rücken lag, Bell sein Haupt zwischen beiden Händen hielt und in herzerschütternder Weise ihn zu ermuntern suchte. Waren sie von Hause aus verwilderte, zügellose Gesellen, die keine Furcht, aber auch kein Zaudern kannten, wenn es galt, eines tückischen Feindes sich zu entledigen, so hatte der Anblick des Gefallenen ihre Wut auf den höchsten Gipfel gesteigert. Haß und erbarmungsloser Rachedurst beseelten sie.

In seltsamem Gegensatz zu ihrer keine Schranken kennenden Erregung stand die kalte Ruhe des jungen Mandanen, der sich zum gemeinsamen Handeln mit ihnen vereinigte. Durch ihn über die Zahl der Feinde unterrichtet, näherten sie sich behutsam der Schluchtmündung. Zu ihrer Enttäuschung waren die vier Mordgesellen schon vorbeigeschlüpft. Nur das die Sohle bedeckende Gebüsch regte sich noch in mäßiger Entfernung, indem sie unterhalb der sie deckenden Zweige ihren Pferden zuschlichen. Um nicht selbst von den Flüchtlingen zur Zielscheibe gewählt zu werden, entfernten sie sich eine kurze Strecke von der Schlucht. Dort stieg der eine Vaquero vom Pferde, und in Rabbits Begleitung vorauseilend, gewannen sie alsbald die Aussicht auf die kleine Blöße, wo die fünf Pferde unbeaufsichtigt standen. Sich niederlegend und das Haupt auf den Büchsenschaft geneigt, brauchten sie nicht lange zu warten.

Verstört um sich spähend, tauchten die Mordgesellen aus dem Gebüsch hervor. Doch bevor sie die Hände auf die Zügel ihrer Pferde legten, krachten zwei Schüsse von oben herunter. Die beiden vordersten brachen unter dem Feuer zusammen. Fast ebenso schnell verschwanden die anderen beiden im Gebüsch, wo sie ihre Flucht ungesehen fortsetzten. Den Versuch, sich beritten zu machen, hatten sie den ergrimmten Feinden gegenüber nicht mehr gewagt.

Durchdringender schallten Bells Hilferufe herüber. Dem Mandanen anheimgebend, die Verfolgung fortzusetzen, bestiegen die beiden Vaqueros ihre Pferde wieder, um sich zunächst von dem Zustande King Bobs zu überzeugen.

Als sie bei ihm eintrafen, hatte er eben die Augen aufgeschlagen und sah mit einem ergreifenden Ausdruck von Ratlosigkeit zu seiner jungen Frau auf.

Bells Hoffnung belebte sich. Ihre Verzweiflung niederkämpfend, sprach sie in rührendem Klageton: »Bob, mein armer Bob – die fürchterlichen Ahnungen – sie wollten mir das Herz brechen – mein armer Bob, geh nicht von mir, oder ich muß meinem Leben ebenfalls ein Ende machen –«

»Unsinn, Bell,« tröstete der Verwundete sie leise und kaum noch verständlich, »was sind Ahnungen? Ahne lieber, daß ich bald wieder im Sattel sitze.«

»Sie sind belohnt,« suchte der eine Vaquero in seiner rauhen Weise zu ermutigen; »der Vormann der Schurken, der dich mit deiner Frau zusammenschrieb, liegt mit gebrochenem Genick oben auf der Ebene; zwei andere fielen von unseren Kugeln im Gebüsch – mögen die Wölfe ihre verfluchten Knochen benagen – da, es knallt wieder. Das war Rabbits Büchse. Es wird einem vierten das Leben gekostet haben,« und indem er einen Blick über das Thal hinweg sandte, rief er: »Caramba! Wie ich sagte. Ihrer fünf waren es, und nur einer flüchtet und zu Pferde obenein. Schade um ihn. Er verdiente es nicht besser, als seine Mordgehilfen.«

In Bobs Augen leuchtete es matt auf. Angesichts des stummen, wilden Schmerzes, unter welchem Bell ihr Hände rang, trachtete er, seiner Stimme einen freieren Klang zu verleihen, indem er bemerkte: »Wenn je einem verruchten Kehlabschneider, so gebührte dem Margin, daß ihm das Genick zehnmal ausgerenkt wurde – doch seht lieber nach meiner Wunde. Im Rücken traf's mich, und vorn ging's wieder heraus – Arme und Beine kann ich noch rühren – es mag daher nicht so arg sein.«

Unter Bells Beistand begaben die Vaqueros sich ans Werk, seinen Wunsch zu erfüllen. Es war, wie er sagte: oberhalb des Herzens hatte die Kugel sich ihren Weg durch die Brust gebahnt. Der Blutverlust war indessen kein derartiger, daß ein jähes Ende zu befürchten gewesen wäre. Mehr konnte freilich nicht geschehen, als daß man frisches Wasser heraufholte, die Wunde auf beiden Seiten säuberte und fortgesetzt kühlte. Des weiteren wurden unter Mitwirkung Rabbits, der inzwischen eingetroffen war, Zweige herbeigeschafft, mittels deren man, um Bob gegen die sengenden Strahlen der höher steigenden Sonne zu schützen, eine Laube über ihm errichtete. Ihn ins Thal hinabzutragen, wo auf dem Ufer des Baches dichterer Schatten lockte, wagte man nicht.

»Und doch kann ich hier nicht bleiben,« erklärte King Bob, nachdem man ihn in eine erträglichere Lage gebracht hatte; ist Hilfe überhaupt noch möglich, so finde ich sie nur bei meiner alten Freundin. Sie wird wohl noch bei den Howitts weilen. Da mag Rabbit ein Pferd besteigen und zu ihr reiten. Weiß sie erst, wie es mir ergangen ist, sorgt sie für das weitere – «

Hier verließen ihn die Kräfte. Rabbit warf einen traurigen Blick auf ihn, einen zweiten auf Bell, die, in Jammer und Entsetzen aufgehend, sein Haupt wieder zwischen beiden Händen hielt. Dann schwang er sich auf eins der noch unter dem Sattel stehenden Pferde, und nachdem er das Thal gekreuzt hatte, eilte er in gestrecktem Galopp über die Ebene. –

Die Mittagszeit war herangekommen. King Bob lag, wie dem Leben nicht mehr angehörend. In kaum wahrnehmbaren Zügen entwand der Atem sich seiner wunden Brust. Bell kniete neben ihm. Während sie mit einem blätterreichen Zweig ihm Kühlung zufächelte, hingen ihre großen, nunmehr thränenleeren Augen an dem bleichen Gesicht. Heiliges Mitleid, geeint mit unergründlicher Liebe und unsäglichem Schmerz, offenbarte sich in ihren starren Blicken. Bitterkeit und seltsame Entschlossenheit umlagerten die fest aufeinander ruhenden Lippen. Sie mochte sich den Zeitpunkt vergegenwärtigen, in welchem der Atem des ihre ganze Lebenshoffnung in sich bergenden Verwundeten endlich ganz stockte. Doch auch die Ursache schwebte ihr vor, auf die sie glaubte das über sie hereingebrochene namenlose Elend zurückführen zu müssen.

Als Ermutigung erschien ihr dagegen wieder, wenn King Bob nach langer Regungslosigkeit plötzlich wie im Schrecken auffuhr, sie mit einem eigentümlichen Ausdruck des Erstaunens ansah und wieder in Bewußtlosigkeit zurücksank. Er lebte wenigstens noch. Doch wie lange konnte es nur dauern, bis auch diese Zeichen sich nicht mehr wiederholten. Laut aufschreien hätte sie mögen in wilder Verzweiflung bei dem Gedanken, daß nichts, auch nicht die geringste Kleinigkeit, zu Gebote stand, durch die dem Todwunden Erleichterung zu verschaffen gewesen wäre; nichts als klares Wasser, womit sie, unter Beimischung einiger Tropfen Branntweins, seine Lippen netzte und seine Schläfen kühlte. Sollte er denn wirklich in gänzlicher Hilflosigkeit sterben? fragte sie sich immer wieder. Dahinsterben, ohne wenigstens geeignete Pflege erfahren zu haben? Wie die Minuten so träge dahinschlichen und endlich zu Stunden anwuchsen, und wie sie den ersten Anblick der alten Freundin mit dem rauhen, militärisch entschiedenen Wesen und dem goldenem Herzen herbeisehnte!

Nachdem die Sonne mit voller Mittagsglut auf die Laube niedergebrannt hatte, machte sich wohl eine leise Abkühlung bemerklich; allein lange dauerte es noch, bis abendliche Schatten erquickenden Tau mit sich brachten und den fiebernden Lungen Erfrischung zuführten. Die Vaqueros standen ihr wohl treu zur Seite, doch was vermochten sie mehr, als immer wieder zum Bach hinunterzusteigen und den Wasservorrat in den Feldflaschen und kleinen Gefäßen zu erneuern? Und als King Bob nach langer Bewußtlosigkeit endlich wieder mit wachsendem Verständnis zu ihr aufsah: Wie da ihre Augen sich aufs neue mit heißen Thränen füllten und tröstliche Worte von ihren bebenden Lippen flossen!

»Bell,« erwiderte er leise, »noch lebe ich – vielleicht brauche ich gar nicht von dir zu gehen – wenn nur der alte Drache kommen wollte –«

Verzweiflungsvoll spähte Bell über das Thal hinweg in die Ferne. Plötzlich verschärften sich ihre Blicke; dann leuchtete es in ihrem Antlitz auf, und als sei ihr eine Bürgschaft für seine Rettung zugetragen worden, rief sie aus überwallendem Herzen: »Sie kommt – Bob – sie kommt! Ich erkenne den Wagen,« und ihren Arm ausstreckend, wies sie in die Richtung, aus der er sich mit rasender Eile näherte.

»Gott sei Dank,« lispelte King Bob, und die Augen schließend, verfiel er abermals in einen ohnmachtähnlichen Zustand. Aber seine Züge hatten sich geebnet. Wie Befriedigung schlich es über sie hin.

Bells Aufmerksamkeit war jetzt geteilt. Oefter als bisher blickte sie von dem stillen Antlitz auf, um die Zeit bis zum Eintreffen des ersten Beistandes zu berechnen. Endlich, endlich hielt der Wagen auf dem jenseitigen Thalufer. Deutlich unterschied sie, daß zuerst Bertrand ihm entstieg. Ihm folgte Mutter Hickup, und dann – sie konnte nicht glauben, was sie sah – ihr Vater. Angstvoll überwachte sie, wie unter dem Leinwandverdeck eine vierte Gestalt sich regte, ihr jüngster Bruder, der mitgekommen war, um Wagen und Pferde zu bewachen, wogegen die drei ersteren sich mit Bündeln und einem Korb beschwerten und eiligst in das Thal hinabstiegen.

Ja, ihr Vater war es.

Als Rabbit ihm die furchtbare Botschaft übermittelte, hatte er anfänglich dagestanden, als wäre er zu Stein erstarrt gewesen. Die Schilderung, daß Margin die Mörder geführt habe, schien er zu überhören, ebenso die Kunde seines grauenhaften Endes. Sobald er aber vernahm, daß Bell, seine eigene, einzige Tochter, in grenzenloser Verzweiflung die Hände über dem Todwunden ringe, sich in einem Schmerz verzehre, der auch ihrem Leben ein Ende zu machen drohe, da erhielt sein hartes Gesicht eine Farbe und einen Ausdruck, als wäre er ebenfalls für ein bereits geöffnetes Grab bestimmt gewesen. Wie gebrochen sah er ins Leere. Erst als sein Blick die schnell entschlossene Korporalswitwe streifte, die mit regem Eifer und wunderbarer Umsicht die Vorbereitungen zum schleunigen Aufbruch betrieb und sich mit allem nur Verfügbaren ausrüstete, belebte seine knochige Gestalt sich wieder. Die gewohnte ernste Ueberlegung kehrte zurück.

»Reite nach dem Lager des Kapitäns und schone die Pferdeknochen nicht,« befahl er dem jungen Mandanen. »Vermelde ihm, was du heute erlebtest. Bitte ihn in meinem Namen, er möchte dir seinen Chirurgen mitgeben und darauf achten, daß er sich mit allem versehe, was er für notwendig und heilsam bei der Behandlung eines Schwerverwundeten halte.« Und zu Ben, dessen Brüdern und Arrowmaker: »Ihr bürgt für die Sicherheit der Mutter und des Lagers. Sind wir von Räubern und Mördern umringt, so gebietet die Selbsterhaltung, jeden über den Haufen zu schießen, der sich den Wagen oder unseren Tieren auf zweihundert Ellen nähert. Das laßt euch gesagt sein. Ich selbst werde die gute alte Lady begleiten. – Und du,« wendete er sich an den jüngsten Sohn, »steigst mit auf. Wer weiß, vielleicht kannst du dich da nützlich machen.«

Da reichte Mutter Hickup ihm treuherzig die Hand. »So recht, Mann,« hob sie sichtbar bewegt an, »wäre Ihnen nicht mehr beschieden, als mit meinem armen Bob, bevor er die Augen auf ewig schließt, ein paar versöhnliche Worte auszutauschen, so würde das in Ihrem Sterbestündchen noch eine Wohlthat für Sie sein. Doch ich hoffe das Beste. Denn solange noch ein Funken Leben vorhanden, gerade groß genug, um ein Stück Baumzunder ins Glimmen zu bringen, kann man dem Tode eine Nase drehen.«

Howitt nickte ausdruckslos. Was zu derselben Zeit in seinem Inneren vorging, blieb sein eigenes Geheimnis. Aber erraten ließ es sich aus der an ihm ungewöhnlichen Dringlichkeit, mit der er zur Eile trieb und schließlich auf dem Wagen neben Bertrand Platz nahm. Mutter Hickup führte Leine und Peitsche, und vertraut mit dem vor ihr liegenden Wege, erhielt sie die Pferde in einer Gangart, wie es die traurige Gelegenheit gebot. –

Als Bell ihres Vaters ansichtig wurde, wie er oberhalb des Uferrandes auftauchte und seinen Begleitern voraus auf die Laube zuschritt, fühlte sie das Blut aus ihrem ohnehin bleichen Antlitz zurücktreten. Die alte Scheu vor dem bis zur Unbarmherzigkeit strengen Familienoberhaupt regte sich; doch schon nach einigen Atemzügen beherrschte finstere Entschlossenheit sie wieder. Einen Blick herzzerreißenden Jammers warf sie auf den anscheinend Schlummernden, und sich leise erhebend, schlich sie von ihm fort. Nach einigen Schritten stand sie vor ihrem Vater.

»Du bist gekommen, um den besten Mann der Welt sterben zu sehen,« redete sie ihn mit einer Härte an, daß Howitt die ihm auf den Lippen schwebenden Worte väterlicher Begrüßung zurückdrängte; »gehe hin und betrachte ihn. Weide dich an seinem Anblick. Von deiner Schwelle verjagt und vertrieben, ist an ihm dein Wunsch in Erfüllung gegangen. Er wird dich nicht mehr hindern –«

»Bell, meine Tochter,« begann Howitt einfallend, und wie unter einer erdrückenden Bürde beugte er seinen Nacken, »wenn du vergißt, daß es dein Vater ist, zu dem du sprichst, so gedenke wenigstens deiner Mutter und deiner Brüder. Dein Elternhaus –«

»Ich besitze kein Elternhaus mehr, das sagtest du selber,« unterbrach Bell ihn leidenschaftlich, und Thräne auf Thräne entstürzte ihren Augen, »keinen Vater, keine Mutter, keine Brüder. Nur ein Mann ist noch mein eigen, und dem gelobte ich Treue bis in den Tod. Zu ihm allein gehöre ich. Er ist mein Alles,« und wie beschwörend erhob sie die rechte Hand, »wo er bleibt, da ist meine Heimat. Ich bestätige es mit den heiligsten Eiden. Legen Sie ihn in die Erde, dann mögen sie das Grab breit genug schaufeln, daß ich Platz an seiner Seite finde. Denn ohne ihn giebt es kein Leben für mich; mit ihm vereint will ich von dannen gehen.«

Sie hatte mit unheimlicher Entschiedenheit gesprochen, mit einem so erschütternden Ausdruck namenlosen Schmerzes, daß Bertrand und sogar seine alte Freundin nicht hervorzutreten wagten, ihr Vater auf sie hinsah, wie auf eine Rachegöttin, die, der Erde entstiegen, ihn mit Schlangengeißeln bedrohte. Aber auch ihre Stimme hatte sie in der gewaltigen Erregung erhoben, daß die Worte verständlich unter das Laubendach drangen. Doch bevor das plötzlich eingetretene dumpfe Schweigen von anderer Seite gebrochen wurde, ertönte King Bobs matte Stimme.

»Bell,« rief er unter unverkennbarer schwerer Anstrengung, »kam dein Vater den weiten Weg zu dir, so führe du selber ihn die letzten Schritte bis hierher – ich will zu ihm reden, bevor es vorbei mit mir ist – ich will zu ihm reden auch für den Fall, daß ich die Verwundung überlebe –«

Schon nach den ersten Worten kniete Bell wieder neben ihm. Seine Hände sanft ergreifend, bedeckte sie sein Gesicht mit Küssen und heißen Thränen.

»Bell – deinen Vater rufe,« wiederholte King Bob dringender, »laß mich nicht sterben, ohne mit ihm gesprochen zu haben –«

Und als Bell, wie einem Befehl von oben gehorchend, Howitt herbeiwinkte, ließ dieser sich auf der anderen Seite des Todwunden nieder.

»Bob, du darfst nicht sterben,« sprach er wie nach Atem ringend, jedoch laut, als hätte er dem Tode zu gebieten vermocht, »nein, Bob, ich verlor genug an einem Sohn. Du sollst und mußt leben zu deinem und Bells Glück, zu eurer Eltern Freude. Ich war grausam gegen dich. Ich konnt's nicht ertragen, daß meine einzige Tochter von meinem Herzen gerissen werden sollte, daß sie einen Fremden über ihre Eltern stellte; damit beruhige dich. Binnen einer Stunde ist der Chirurg hier – der wird sein Bestes thun, und ein Mann wie du übersteht das Schwerste, woran hundert andere zu Grunde gehen.«

Während Howitt sprach, sah King Bob, wie von neuem Leben durchströmt, zu ihm auf. Erstaunen prägte sich in seinen Zügen aus, zugleich erhellte sie ein eigentümlicher Ausdruck wehmütiger Freude. Bell hatte bei den versöhnlichen Worten die Hände vor ihr Antlitz geschlagen.

»Zu spät, Vater, zu spät –« hob sie heftig schluchzend an.

Sanft vermittelnd fiel King Bob ein: »Nein, Bell, nicht zu spät, wenn ich es überlebe, nicht zu spät, um bei deinen Eltern ein gutes Andenken zu hinterlassen und, wenn es nicht anders sein kann, mit einem letzten freundlichen Trost von dir zu scheiden.« Er reichte Howitt die Hand und fuhr nach einigen röchelnden Atmzügen leise fort: »Ich war ein wüster Geselle, aber Treue und Ehrlichkeit litten nicht darunter. Da werden Sie jetzt sicher meine vielleicht letzte Bitte erfüllen. Sollte ich sterben, so gehört mein Eigentum Bell – viel ist es nicht –«

»Nichts will ich ohne dich – mein Leben ist das deinige – du nimmst es mit fort –« fiel Bell ein.

Freundlich schnitt King Bob das weitere mit den Worten ab: »Laß mich endigen, bevor es wirklich zu spät ist. Du sollst und mußt leben, auch wenn ich nicht mehr bin, um den Eltern den Kummer zu sühnen, den wir ihnen bereiteten. Sie aber werden ihren guten Willen dadurch beweisen, daß sie Besitz von meinem Eigentum ergreifen und es für dich – hoffentlich auch für mich selber – in guter Ordnung halten – ja, Daniel Howitt, das versprechen Sie mir heilig, und wie auch alles verlaufen mag: ich will zufrieden sein.«

»Wie du sagst, soll es ausgeführt werden,« versetzte der zähe alte Squatter, indem er die schwielige Hand über King Bobs feuchte Stirn hingleiten ließ und seine dichten Locken zur Seite strich, »doch gieb jetzt die Gedanken auf an traurige Möglichkeiten –«

»Nein, Bob, davon nichts mehr,« versetzte die ehrliche Korporalswitwe, der dicke Thränen auf den sonnverbrannten Wangen perlten, »und Sie, Daniel Howitt, und du, Bell, schafft Raum jetzt. Hier giebt es Notwendigeres zu thun, als schwermütige Worte auszutauschen.«

Howitt zur Seite drängend, begann sie mit kundigen Händen die Wunde auf beiden Seiten freizulegen und zu prüfen. »Eine dumme Geschichte allerdings,« plauderte sie unterdessen aufmunternd weiter, »allein was bedeutet ein gesunder Schuß im Vergleich mit einem regelrechten Tomahawkhieb in die Schläfe und dem Verlust eines unersetzlichen Skalps – her mit dem Korb,« befahl sie ins Freie hinaus, und nachdem er ihr gereicht worden, goß sie von dem Inhalt einer bauchigen Korbflasche in eine Blechtasse. »Das trinke, mein Jüngelchen,« riet sie zärtlich, die Tasse an King Bobs Lippen hebend, »der feinste Sherry – der ist noch von dem Vorrat deines leiblichen guten Vaters – trinke aus, Junge. Sechsundfünfzig und ein halber Tropfen davon schaden keinem kranken Säugling, wie mein seliger Knockhimdown zu sagen pflegte, wenn er sich 'nen Grog mischte und mit dem Wasser haushälterisch verfuhr – so – so, das wird dein Blut anregen und das verlorene ersetzen –«

»Schlafen!« lispelte King Bob, die Augen wieder schließend.

»Ja, schlafen, mein Jüngelchen. Ist der Chirurg erst da, soll's nicht lange dauern und du fühlst dich komfortabler, behaupte ich,« und nachdem sie ihm eine solche Lage gegeben hatte, daß die beiden Wundöffnungen zugänglich blieben, schlich sie mit Howitt ins Freie hinaus, Bells sorgsamen Händen die weitere Pflege anvertrauend.

Wenn irgend etwas ermutigend auf alle Anwesenden einwirkte, so war es das zuversichtliche Auftreten der energischen Korporalswitwe. Sogar der unveränderten Redseligkeit und den von ihr unzertrennlichen wunderlichen Einschaltungen durfte ein gewisser beschwichtigender Einfluß nicht abgesprochen werden. Howitt hatte seine überlegende Ruhe zurückerkämpft; seine Haltung war eine andere geworden. Dagegen verrieten die sich schärfer ausprägenden Furchen in seinem Gesicht fortgesetzt tiefe Besorgnis, auch wohl den marternden Gedanken, daß den beiden jungen Leuten der verhängnisvolle Ritt hätte erspart bleiben können.

Da das Kreuzen des Thales mit dem Wagen auf zu große Schwierigkeiten stieß, begaben Howitt, Bertrand und die beiden Vaqueros sich hinab, um aus geeigneten schlanken Baumstämmchen, Ranken und Zweigen eine Bahre zu King Bobs Beförderung herzustellen.

Sie waren eben damit fertig geworden, als der Kapitän in Begleitung Rabbits, des Chirurgen und mehrerer Dragoner eintraf. Bereits vertraut mit allen Vorgängen, beobachtete er gemeinschaftlich mit Bell und Frau Hickup die Hände des Chirurgen, während er dem Verwundeten den ersten Verband anlegte. Nach dessen Ausspruch war eine unmittelbare Lebensgefahr nicht vorhanden, das weitere aber von der sorgfältigsten Behandlung und Pflege zu erhoffen. Die Reise nach Neumexiko kam überhaupt nicht in Frage. Dringend riet er dagegen, ihn baldigst nach der anderen Seite des Thales hinüberzutragen und ihn dort in dem Wagen unterzubringen.

Als nächstes Ziel galt Howitts Lager. Von dort aus sollte er in kurzen Tagesreisen nach Fort Riley befördert werden, um vorläufig daselbst zu bleiben. Von dem Verlauf der Heilung sollte es dann abhängen, wie bald seine Uebersiedelung an den Missouri zu bewirken sei.

Bertrand, welcher King Bob zur Seite zu bleiben wünschte, bot der Kapitän an, die ihm in dem Fort gebotene Gastfreundschaft so lange zu genießen, wie es durch seines Schützlings Befinden bedingt werde.

Ueber das Ende Margins, des unzweifelhaften Urhebers des Mordanschlages, sprach er sich dahin aus, daß durch die schnelle Handlung der gewandten Vaqueros viele lästige Untersuchungen, Margin selber aber öffentliche Schmach und Schande wie eine langwierige Kerkerhaft erspart worden seien. Baxter sollte die Aufgabe zufallen, dafür zu sorgen, daß sein Freund wie dessen erschossene Werkzeuge nicht eine Beute der Wölfe würden. Unter Zurücklassung des Chirurgen verabschiedete der menschenfreundliche Kapitän sich mit einem wohlgemeinten »Auf Wiedersehen«.

King Bob lag um diese Zeit so bequem gebettet, wie es die bescheidenen Mittel nur erlaubten. Die letzten Vorbereitungen zum Aufbruch waren bald beendigt. Neben King Bob saßen, stets hilfsbereit, Bell und der Chirurg. Mutter Hickup führte wieder die Zügel. Langsam, Schritt für Schritt, bewegten die Pferde sich einher. Unter der geübten Hand der bedächtigen Korporalswitwe jede Unebenheit des Erdbodens meidend, rollte der Wagen ihnen nach. In geringer Entfernung folgten die Vaqueros und Rabbit. Howitt, der Bells Pferd bestiegen hatte, ritt neben dem Wagen. Ihm zur Seite hielt sich Bertrand, den King Bobs Billy willig auf seinem Rücken duldete, wogegen Howitts jungem Sohne das Pferd des Chirurgen übergeben worden war. Das Verdeck hatte man ringsum aufgeschürzt, um den kühlen Luftzug unter ihm hindurchstreichen zu lassen. King Bob lag mit geschlossenen Augen. Todesmattigkeit hatte sich seiner bemächtigt. Er schien die Empfindung für die unvermeidlichen leichten Erschütterungen des Wagens verloren zu haben. Wie sein guter Engel überwachte Bell ihn unablässig mit thränenschweren Augen.

Und so war es ein Trauerzug, der seinen Weg über die abendlich stille Prairie verfolgte. Ein Trauerzug, und doch begannen hie und da schüchterne Hoffnungen sich zu regen. Man klammerte sich gewissermaßen an die Ueberzeugung an, daß so viel Kraft und froher Lebensmut, wie sie King Bob von jeher auszeichneten, nicht für ein verfrühtes Grab bestimmt sein könnten, die in feierlicher Eintönigkeit sich ausdehnenden, vom Abendrot zauberisch beglänzten Grasfluren nicht des verwegensten Steppenreiters beraubt werden dürften.

Die Nacht in Howitts Lager war für den Verwundeten verhältnismäßig günstig verlaufen, so daß man beschloß, noch selbigen Tages beim Beginn der abendlichen Kühle die Fahrt nach Fort Riley fortzusetzen. Auch Howitt und die Seinigen, denen Arrowmaker und der junge Mandane mit ihren vier Pferden sich anschlossen, rüsteten sich zum Aufbruch. Er sollte folgenden Morgen erfolgen. Sehnten sich doch alle, eine Landschaft zu verlassen, in der sie so viel Schreckliches erlebten.

King Bobs und Bells dringendster Wunsch ging seiner Erfüllung entgegen. Unter der beiden Vaqueros Führung gedachte Howitt, sich der einen oder der anderen Herde anzuschließen und mit ihr nach Neumexiko zu wandern. Bei sich trug er ein Schreiben des Kapitäns, durch welches seine Bevollmächtigung, auf King Bobs Grund und Boden sich niederzulassen, beglaubigt wurde.

Herzzerreißend war der Abschied Bells von Vater und Mutter, um so ergreifender, weil alle sich mühten, das sie fast überwältigende Wehgefühl zu bemeistern. King Bob, ohnehin todesmatt, vermochte vor Rührung kaum zu flüstern: »Die Freude, daß Bell ihre Eltern wiederfand, die auch die meinigen sein wollen, ist mit dem verräterischen Schuß nicht zu teuer bezahlt, gleichviel, wie alles noch endigt.«

»Auf Wiedersehen, Bob, auf ein glückliches Wiedersehen am Rio Grande,« entgegnete Howitt mit wehmutvollem Ernst, und hastig kehrte er sich ab.

Nachdem Baxters Zelt und das Lager der Freibeuter hinter den Reisenden zurückgeblieben waren, gesellte der Kapitän sich zu ihnen, um sie eine Strecke zu begleiten. Dem Chirurgen händigte er einen Brief an den Kommandanten des Forts ein. Dessen Inhalt betraf die Aufnahme des Verwundeten und seiner Freunde. Zugleich hatte er die Verhältnisse der von den südstaatlichen Agenten ins Werk gesetzten Besiedelung des Territoriums beleuchtet und erläutert. Einige Tage wollte er noch warten, um das Treiben der gesetzlosen Bande zu überwachen und, wenn möglich, die Hauptschuldigen zur Rechenschaft zu ziehen.

Baxter hatte sich nicht mehr bei ihm sehen lassen. Seit der letzten Begegnung mit Howitt und den bei dieser Gelegenheit in Gegenwart des Kapitäns erfahrenen Beschimpfungen wich er ihm scheu aus. Dieser wurde dadurch des Verkehrs mit jemand überhoben, der in seinen Grundsätzen sich kaum von den Mitgliedern der von ihm angeworbenen sogenannten Kolonisationsgesellschaft unterschied.


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