Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Dreißigstes Kapitel.

Schluß.

Der Winter ist dahin! Knospen entfalteten sich zu Blättern und Blüten, in ihr grünes Hochzeitsgewand kleidete, der Frühsommer die Natur.

Der Dardanellfelsen! Vier Tagereisen weiter westlich in einer lieblichen Landschaft, lieblich durch die malerische Verteilung von Wald und Prärie, durch kleine Gehöfte mit daranstoßenden Gärten und Feldern, charakteristisch belebt durch Viehherden und braune Hirten und Jäger, erhebt sich auf dem Ufer eines kristallklaren Quellbaches eine etwas umfangreichere Blockhütte. Ähnlich errichtete Stalle und Schuppen, Anhäufungen von Stroh und Heu legen Zeugnis ab von der Art der Beschäftigung des Eigentümers.

Unter der auf Pfählen ruhenden Verlängerung des Schindeldaches des Vorderhauses, auf einem bettstellenartigen Gerüst sitzen mit untergeschlagenen Beinen zwei Eingeborene. Der jüngere, ein Mann von etwa sechzig Jahren und Besitzer des anspruchslosen Heimwesens, lauscht anscheinend teilnahmlos den Erzählungen des Gefährten, über dessen Haupt der Winter sechsundsiebenzig hingezogen sein mögen.

Opoth-lei-hoho ist's, der auf Gilbert Melvilles und Stoctons Verwendung den greisen Blackbird bei sich aufgenommen hat. Die brennende Pfeife wandert zwischen ihnen hin und her. Beide sind so zufrieden, wie es nach indianischen Begriffen nur möglich ist. Nach einem langen vielbewegten Leben betrachtet der Seminole die letzten sorgenfreien und mühelosen Tage als die vorbereitende Endstation vor seinem Eingehen in die glückseligen Jagdgefilde, wo ewige Jugend, unerschöpflicher Wildreichtum und die schönsten Squaws seiner harren. –

Der Cuyahoga rauscht und schäumt in seinem engen Felsenbett. Zu dem von ihm erzeugten dumpfen Getöse gesellt sich harmonisch der Gesang der sorglosen Vogelwelt, der Gesang fröhlicher Kinder. Wie einst unter den gewissenhaft überwachenden Augen Mariannes, so blüht die Schule jetzt unter der Zeitung des würdigen Geistlichen und seiner holden Frau Mary.

Stocton und Marianne haben sich in nächster Nachbarschaft ein stattliches Haus gebaut. Freundlich von außen, ist nichts verabsäumt worden, dessen ganzem Inneren den Ausdruck reicher, ansprechender Behaglichkeit zu verleihen. Ein großer, schattiger Garten, unter Schonung der edelsten Baumriesen dem Walde abgerungen, umgibt das verlockende Heim. Dessen sorgfältige Pflege bildet die Hauptbeschäftigung der beiden Gatten. Sie sind sehr glücklich. Es ist, als ob das Geschick es sich zur Aufgabe gemacht habe, sie im reichsten Maße für überstandenes Leid und unwiederbringlich Verlorenes zu entschädigen. Sie zählen die Jahre, innerhalb der die beiden ersten Töchter Marys ihre Stimmchen mit dem Jubel der kleinsten Schulkinder einen. Sie zählen die Monate und Wochen, nach deren Ablauf Frank, der auf zwei Jahre nach der Indianergrenze kommandiert worden war, heimkehrt und ihnen in Flora eine neue Tochter zuführt. Alljährlich, zur kühlen Herbstzeit, unternehmen sie einen längeren Ausflug nach dem Süden; alljährlich im Laufe der Sommermonate erhalten sie von dorther lieben Besuch. –

Melvillehouse! Was Gregor einst voraussagte, ist eingetroffen. Wie ein Phönix aus der Asche ist die Plantage aus Schutt und Trümmern neu erstanden, und zwar in dem verhältnismäßig kurzen Zeitraum zweier Jahre. Verjüngt erheben sich das Herrenhaus und die Wirtschaftsgebäude, dagegen ist die Mehrzahl der Negerhütten abgetragen worden. Park und Gärten wieder herzustellen, kostete die geringste Mühe, indem es nur galt, die im ungehemmten Wachstum verwilderte Vegetation auf ein gefälliges Maß zurückzuführen. Wenn auch nicht mehr von Sklaven, so sind Felder und Magazinräume doch reich belebt von freien farbigen Arbeitern; es trägt der dankbare Boden nach vieljähriger Rast in doppeltem Maße. Außerdem ist ein umfangreiches Stück Land zu einer Koppel abgegrenzt worden, in der der junge Nachwuchs edler Pferde Sattel und Zaum sorglos entgegenreist.

Auch die alte Dina prophezeite richtig, als sie dem greisen Pompy beteuerte, daß eines von ihnen zuerst hinüber müsse, und zwar traf es den schwarzen Gentleman selber. Damit wurde eine große Sorge von Dinas Seele genommen, indem sie nunmehr nicht länger zu befürchten brauchte, daß Pompy, ihrer Pflege beraubt, verhungern und verkommen müsse. Bei ihr lebt nach wie vor Susanna, die ihre Tätigkeit zwischen der Küche des Herrenhauses und der heimatlichen Hütte ziemlich willkürlich teilt.

Dem greisen Pompy folgte Tante Sarah sehr bald nach. Still getragener Gram und herbe Selbstvorwürfe mochten zur Beschleunigung ihres Endes beigetragen haben. Seitdem sie ihr Herz wiederfand, wollte eine gewisse Schwermut nicht mehr aus ihrem Wesen weichen. Die liebreiche Begegnung von allen Seiten und die stete Beobachtung des sie umringenden Glückes wirkten sichtbar wohltuend, aber auch als eine peinvolle Mahnung verzehrend auf sie ein. Über ein mildes, schmerzliches Lächeln gelangte sie mit der Kundgebung ihrer freundlichen und dankbaren Gesinnungen nicht mehr hinaus. –

Ein klarer, warmer Herbsttag neigt sich seinem Ende zu. Auf dem an der erneuerten Parkeinfriedigung hinlaufenden breiten Wege wird der Hufschlag zweier Pferde vernehmbar, die sich in scharfem Trabe nähern. Eine kurze Strecke vor dem in lustigen Farben und zierlicher Vergoldung prangenden Baldachin mäßigen sie ihre Gangart zu einem leichten, federnden Schritt, und es werden die Gestalten Gregors und Thusneldas, der Besitzer von Melvillehouse, sichtbar. Wie einst in verwegenen Stellungen auf wild einherstürmenden Rennern, bieten sie auch jetzt in ihrer Gemeinsamkeit ein überaus anziehendes, vielleicht ein noch anziehenderes Bild. Wie mit den Pferden verwachsen, schmiegen sie deren Bewegungen die eigenen unbewußt an. Und edle, kostbare Tiere sind es, die sie reiten.

»So oft ich hier vorüber komme, gedenke ich des Tages, an dem wir als zwei Fremdlinge da drüben verkehrten,« bemerkt Gregor indem er mit der Reitpeitsche nach dem Baldachin hinüberweist.

»Seitdem änderte sich manches,« antwortet Thusnelda mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Glückseligkeit.

»Manches, Thusnelda,« bestätigt Gregor freundlich, und den ruhigen Ernst seines Antlitzes durchbricht es wie ein Sonnenstrahl, »manches, und keine Wandlung fand statt, die mit Freuden zu begrüßen wir nicht Ursache gehabt hätten.«

»Wer hätte das jemals für möglich gehalten? Gregor, bedenke doch: sechsundzwanzig Wochen und vier Tage ist er heute alt.«

Gregor lachte herzlich und fügte hinzu: »Und wer hätte dir jemals so viel Anlage zum Rechnungführen zugetraut?«

Thusnelda sendet einen träumerischen Blick in der Richtung nach dem Herrenhause hinüber. Ihre großen blauen Augen schwimmen in Entzücken.

Der Baldachin ist hinter ihnen zurückgeblieben. Vor ihnen in der Entfernung von etwa hundert Metern liegt der Vorgarten. Ein einfacher Schlagbaum mit niederhängendem Gitterwerk schließt die Einfahrt ab. Gregor hebt den Knopf der Reitpeitsche an die Lippen und sendet einen schrillen Pfiff nach dem Herrenhause hinüber, dadurch das Öffnen der Einfahrt anordnend. Fast gleichzeitig setzt Thusnelda ihr Pferd in Galopp.

»Thusnelda, Thusnelda!« ruft Gregor ihr warnend nach.

Thusnelda achtet des Rufes nicht, sondern schwingt die Reitpeitsche. Gregor folgt langsamer. Mißbilligend und doch mit einem Ausdruck des Stolzes schüttelt er das Haupt. Seine Blicke umfangen die schöne Gestalt in dem dunkelblauen Reitkleide, mit dem kleinen Federhut und dem lichtblonden, seidenartig wallenden Gelock, die mit unnachahmlicher Anmut und Sicherheit die Zügel führt. Wie ein Vogel fliegt der Schimmel über den Schlagbaum hinüber. Auf dessen anderer Seite hält Thusnelda an, und sich Gregor zukehrend, ruft sie ihm fröhlich zu: »Wer folgt?«

Gleich darauf befindet Gregor sich an ihrer Seite und in ehrbarem Schritt erreichen sie den Vorplatz des Hauses, wo zwei Stallknechte bereit stehen, die Pferde in Empfang zu nehmen.

Mit heiteren Grüßen ersteigen sie die Veranda, heitere Grüße schallen ihnen entgegen, glückliche Blicke wechseln hinüber und herüber. –

Gilbert Melville sitzt auf einem bequemen Lehnstuhl. Innerer Friede prägt sich auf seinem freundlichen Antlitz aus, indem er den Eintreffenden die Arme zum Willkommen entgegenstreckt. Flora, in den Händen einen Brief aus weiter Ferne, auf dem holden Antlitz noch die Spuren einer überschwänglichen Freude, mit der sie denselben ihrem Wohltäter vorgelesen hat, tritt hastig an Thusneldas Seite, um sie ins Haus hinein an das Lager eines kleinen Engels zu begleiten. Etwas abseits steht ein runder, reich gedeckter Tisch. An einem Nebentischchen, auf dem über einer Spiritusflamme Wasser siedet, ist Singsang eifrig beschäftigt. In seinem Äußeren offenbart sich die Würde von mindestens drei Mandarinen. Sein durch schwarze Seidenfäden heuchlerisch verlängerter Zopf berührt beinah den Fußboden. Hin und wieder sendet er aus den kleinen Schlitzaugen einen Blick zu den verschiedenen Familienmitgliedern hinüber, als ob er die belebende und erhaltende Kraft aller wäre. Kit Kotton, obwohl in die verantwortliche Stellung eines Majordomo emporgerückt, noch immer in einem sein ursprüngliches Gewerbe verratenden Anzuge, erscheint auf der Veranda und meldet respektvoll, daß das Abendessen zu jeder Minute angerichtet werden könne. Wasp, der sich sehr lebhaft an der Begrüßungsszene beteiligte, muß ihn verstanden haben, denn er folgt ihm in die Küche, wo auch für ihn in der üblichen Hundeweise gedeckt worden ist.

Die Sonne ist zur Rüste gegangen, hauchartig abstufenden Purpur bis zum Zenith emporsendend. Im klaren Äther tummeln sich lustig Fledermäuse. Süßer Duft entströmt den die Veranda schmückenden Topfgewächsen, wie den die Tragsäulen umschlingenden Geißblattranken. Holden Frieden atmet die Natur; holder Friede umlagert das Herrenhaus; holder Friede wohnt in der Brust jedes einzelnen der Bewohner von Melvillehouse.

Ende.


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